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Als Prinzessin von Weslorien ist es Amelias Pflicht, eine standesgemäße Partie zu machen. Dafür wird sogar eine Heiratsvermittlerin engagiert, die Amelia einen langweiligen Kandidaten nach dem anderen präsentiert. Hinzu kommt der Ärger mit ihrem Nachbarn Joshua Parker, dem Duke of Marley. Der Duke ist gut aussehend, aber verschlossen und geradezu unerträglich schlagfertig – ständig gerät sie mit ihm aneinander! Doch ihre hitzigen Wortgefechte entfachen noch ein ganz anderes Feuer in ihr, und schon bald verzehrt Amelia sich nach mehr von Joshua – viel mehr, als es einer Prinzessin erlaubt ist …
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Seitenzahl: 476
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2022 by Dinah Dinwiddie Originaltitel: „The Duke Not Taken“ erschienen bei: HQN Books, Toronto
© Deutsche Erstausgabe 2024 in der Reihe HISTORICAL GOLD, Band 403 Übersetzung: Nina Hawranke
Abbildungen: Harlequin Books S. A., Hofmeester / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751526968
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Julia London
Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA Today. Sie lebt mit ihrer Familie in Austin, Texas.
März 1858
Hauptstadt St. Edys
Weslorien
Es hieß, Prinzessin Amelia habe sich in einen Lakaien verliebt.
„Schon wieder?“, fragte ihre Schwester entgeistert.
Verliebt war etwas zu hoch gegriffen, fand Amelia, aber selbst wenn es so gewesen wäre, hätte man es ihr schwerlich anlasten können, bedachte man, wie bitterkalt und lang der weslorianische Winter war. Was hätte sie tun sollen an all den müßigen Tagen im Palast von Rohalan, an denen sich die Sonne nur wenige Stunden lang zeigte? Während draußen der Wind geheult hatte und der Regen herabgeprasselt war, hatte Amelia vor den großen Kaminen ausgeharrt, weil es zu kalt gewesen war, sich weit von ihnen zu entfernen. Und wenn sie an jenen Tagen kein weiteres Wort hatte lesen und keinen Bissen mehr hatte essen und sich an keiner weiteren grässlich öden Konversation hatte beteiligen können, hatte sie sich nach anderer Kurzweil umgesehen. Doch wer hätte ihr darin Gesellschaft leisten können, außer einer Zofe und dem einem oder anderen Lakaien?
Wie dem auch sein mochte, war es nicht längst einerlei? Der letzte Lakai war auf die Burg von Astasia versetzt worden, und der Frühling war da, und alles war glänzend und grün und in strahlenden Sonnenschein getaucht.
Doch ihre Schwester Justine, die Königin von Weslorien, konstatierte: „Momentan ertrage ich deinen Anblick nicht“, und wandte den Kopf ab. „Lakaien küssen“, wiederholte sie, so als erschiene ihr die bloße Vorstellung abwegig, so als hätten sie und Amelia nicht einen Gutteil ihrer Jugend damit zugebracht, sich ebendies auszumalen.
Ihre Zofe Lordonna hatte ihr zugeraunt, dass der Lakai sich dem obersten Butler anvertraut habe, der es wiederum dem Prinzgemahl zugetragen habe. Amelia hatte erwartet, ein gerüttelt Maß an Wie konntest du? und Das hättest du nicht tun sollen und Versprich mir, Amelia zu hören, und war voll und ganz bereit gewesen zu versprechen. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass sie sich entschuldigen und schwören würde, es werde, ja könne nie wieder vorkommen, woraufhin sie alle sich etwas viel Unterhaltsamerem würden zuwenden können: der anstehenden gesellschaftlichen Saison. Es würde Bälle und Galas geben, und Amelia konnte es kaum erwarten, etwas Neues, etwas anderes zu sehen als dunkle, kalte Räume. Sie brauchte Licht und frische Luft und die Wärme der Sonne. Sie brauchte Gelächter und Frohsinn. Sie brauchte Aufmerksamkeit, sie brauchte Leben. Ohne all dies meinte sie zu verwelken.
Sie hatte die Privatgemächer ihrer Schwester mit hohen Erwartungen betreten … doch ihre Hoffnung war sogleich zerschmettert worden, als sie sah, wer sich alles eingefunden hatte.
Justine saß da, die Hände im Schoß verschränkt, die Finger ineinander verkrampft. Ein sicheres Zeichen ihrer Nervosität – die sich, wie Amelia gerechterweise einräumen musste, seit ihrer Thronbesteigung sehr gebessert hatte, ihr aber dennoch von Zeit zu Zeit zu schaffen machte. Amelia hatte nie unter Nervosität gelitten, den Heiligen sei Dank – Langeweile war das Kreuz, das sie zu tragen hatte. Sie war zu rastlos, zu sehr von dem Drang erfüllt, Abenteuer zu erleben. Alle Welt sprach über Justines schwache Nerven und darüber, wie unwohl sie sich unter vielen Menschen fühlte. Niemand indes sprach darüber, wie unwohl sich Amelia fühlte, wenn es ihr an einem Zeitvertreib mangelte.
Hinter ihrer Schwester stand deren überaus attraktiver Gatte, der Prinzgemahl und Schwägerinnenverräter William Douglas of Scotland. Er begegnete ihrem Blick und zuckte mitfühlend zusammen, was Amelia nicht unbedingt als gutes Omen wertete.
„Amelia, mein Schatz. Was hast du getan?“
Der gereizte Tonfall gehörte niemand anderem als ihrer Mutter, Dowager Queen Agnes. Sie saß an einer Staffelei, einen jungen Mann in Malerkittel neben sich. Ihre Mutter malte nicht, sondern deutete auf die Leinwand und erklärte dem Herrn gedämpft, was der Szene hinzugefügt werden sollte. Es war ein absonderliches Talent der Königinwitwe, durch jemand anderen zu malen. Konnte jemand, der nicht selbst über eine künstlerische Ader verfügte, einfach die Begabung eines anderen requirieren? Amelia hätte dies verneint, aber ihre Meinung interessierte ja niemanden.
Ihre Mutter funkelte sie erbost an. Ein weiteres ungutes Vorzeichen.
Bei der anderen Person im Zimmer handelte es sich um Dante Robuchard, den Premierminister. Er stand am Fenster und tat so, als ließe er den Blick über die Umgebung von Rohalans Palast schweifen. Er hatte sich gerade so im Amt halten können, nachdem vergangenen Herbst eine Neuwahl gefordert worden war. Seither wich er nicht von Justines Seite, als ob er befürchtete, jemand könnte eine neue Abstimmung veranlassen, sobald er den Raum verließe. Amelia hätte dies umgehend getan, hätte sie sich mit derlei Prozessen ausgekannt.
Diese vier Menschen allein hätten ausgereicht, Amelia nach einer Stärkung verlangen zu lassen. Doch es war die fünfte Person im Zimmer, die Übelkeit in ihr aufsteigen ließ. Jene Person stand vor dem Kamin, die Hände dem Feuer entgegengestreckt, um sich zu wärmen. Und als sie sich umdrehte, bedachte sie Amelia mit einem blendenden Lächeln und trällerte: „Königliche Hoheit! Welch Freude, Sie nach all der Zeit wohlauf zu sehen!“ Sie sank in einen tiefen, wenn auch nur gespielt devoten Knicks.
„Nein“, hauchte Amelia.
Lady Lila Aleksander. Die Kupplerin. Die Frau, die vor drei Jahren damit betraut worden war, Justine zu einer guten Partie zu verhelfen, nur um ein Desaster epischen Ausmaßes heraufzubeschwören. Wobei Amelia an William nichts zu beanstanden hatte – nun, abgesehen davon, dass er Justine einfach alles getreulich weitererzählte. Aber sie hatte einiges an den Kandidaten auszusetzen gehabt, die Justine präsentiert worden waren, bevor sie erkannt hatte, dass sie ihre wahre Liebe die ganze Zeit in Gestalt von William vor sich gehabt hatte. Keiner der anderen war als Heiratskandidat für eine künftige Königin infrage gekommen.
„Wie lange ist es her?“, fragte Lady Aleksander munter.
„Justine ist vor drei Jahren gekrönt worden“, erwiderte Amelias Mutter.
„Und Amelias Affäre mit dem Soldaten liegt anderthalb Jahre zurück“, ergänzte Justine.
„Es war keine richtige Affäre.“ Amelia schniefte. Dabei war es durchaus eine solche gewesen.
Justine ignorierte sie und fuhr fort: „Vor sechs Monaten hatte sie ihren ersten Flirt mit einem Lakaien und vor gerade einmal drei Wochen ihren zweiten! So lange ist es her.“
„Schön“, meinte Amelia und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich denke, wir haben verstanden, was du uns sagen willst, Jussie.“
„Wie ich sehe, waren Sie recht rührig, Königliche Hoheit“, zwitscherte Lady Aleksander. „Gab es denn keine geeigneten Verehrer, die um Ihre Hand angehalten haben?“
„Geeignet?“ Das brachte Amelia ins Grübeln. Was genau bedeutete das? Geeignet in Robuchards Sinne? Oder in ihrem eigenen? „Der eine oder andere hat mir durchaus gefallen.“
„Leider wäre keine dieser Verbindungen der Monarchie dienlich gewesen.“ Robuchard hatte offenbar beschlossen, sich ins Schlachtgetümmel zu stürzen, und sein Ton suggerierte, dass Amelias Säumigkeit, eine gute Partie zu machen, das größte Ungemach darstellte, welches Weslorien hatte zustoßen können. Und was meinte er damit, dass keine der Verbindungen „der Monarchie dienlich gewesen“ wäre? Was sollte der Unfug?
„Über einige Dinge kann man schlicht nicht hinwegsehen“, fügte er an, vermutlich, um seinen Unfug näher zu erläutern, so als wären die fraglichen Gentlemen allesamt verräterische Meuchelmörder gewesen.
„Mit anderen Worten“, warf William ein, „die Versuche, Amelia zu einem anständigen Gatten zu verhelfen, sind an der Politik sowie an, nun, ihrer tiefen Abneigung gegenüber zahlreichen weslorianischen Edelmännern gescheitert.“ Er sah Amelia in die Augen, eine stumme Provokation, ihm zu widersprechen.
„Was? Soll ich mich an den erstbesten blaublütigen weslorianischen Gecken binden, der den Palast betritt? Ist es das, was ihr wollt?“
„Ah, ich glaube, ich verstehe das Problem“, bemerkte Lady Aleksander mit einem Nicken in Williams Richtung.
„Es gibt kein Problem!“, beharrte Amelia.
Leider gab es durchaus eines. Natürlich gingen alle davon aus, dass sie das Problem war. Sie sahen in ihr das unverbesserliche Flittchen, unfähig, die Finger von Lakaien zu lassen. Dabei war das eigentliche Problem, dass niemand sie verstand. Justine hatte Verständnis für sie gehabt, bevor sie Königin geworden war, doch seitdem war sie so sehr mit königlichen Angelegenheiten beschäftigt, dass sie nur wenig Zeit für ihre Schwester erübrigen konnte.
Amelia fand, dass sie ein allzu behütetes Leben führte. Sie war sechsundzwanzig und hegte Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Hier hatte sie nichts zu tun, und es fuchste sie, sich nutzlos zu fühlen, wenn sie nicht gerade bei einer Einweihung ein Band durchschnitt oder als Schirmherrin einer Wohltätigkeitsveranstaltung fungierte. Sie war die Ersatzerbin, deren einzige Pflicht darin bestand, im langen Schatten ihrer Schwester darauf zu warten, dass sie gebraucht wurde. Falls das je der Fall sein sollte.
„Würde es Sie interessieren zu erfahren, was ich denke?“, fragte Lady Aleksander.
„Nein“, entgegnete Amelia im selben Moment, als Justine rief: „Ja, bitte!“
„Ich denke, Königliche Hoheit, dass Sie jemanden verdient haben, der Ihren Abenteuergeist teilt.“
„Abenteuergeist“, wiederholte Amelias Mutter gedehnt. „Welch eigentümliche Umschreibung.“
„Einen Augenblick …“ Es lag auf der Hand, was geschehen würde, und Amelia bemühte sich fieberhaft, auf einen Ausweg zu sinnen. „Sie können unmöglich meinetwegen hier sein, Madam. Da bin ich mir ganz sicher, denn ansonsten hätte es bestimmt irgendwer erwähnt.“ Sie sah ihre Schwester anklagend an.
„Herrgott, Amelia. Es ist ja nicht so, als wäre sie hier, um dich zum Galgen zu geleiten“, erwiderte ihre Mutter verärgert.
„Noch nicht“, murmelte Justine.
„Und ehrlich gesagt, mein Schatz, bist du selbst schuld“, fügte ihre Mutter an. „Was sollen wir deiner Meinung nach mit dir machen?“
„Ihr müsst gar nichts mit mir machen, Mutter! Ich bin eine erwachsene Frau und weiß genau, was ich empfinde und was ich will. Du könntest mich einfach fragen, was ich gerne täte. Ich würde gern etwas Nützliches tun. Mit allem gebotenen Respekt, Lady Aleksander, ich habe Ihre Dienste nicht nötig.“
„Verstehe“, meinte Lady Aleksander, und fast wäre Amelia vor Erleichterung in sich zusammengesunken. „Niemand glaubt je, mich zu brauchen. Sind das etwa Teeküchlein?“, fragte sie, auf die Anrichte weisend.
„Ja“, antwortete Justine. „Keine Ahnung, wie ich habe annehmen können, wir würden wie zivilisierte Menschen beisammensitzen und Tee trinken. Ich muss von Sinnen gewesen sein. Amelia, Liebes, Lila ist hier, um dir zu helfen. Nicht weil du sie brauchst, sondern weil unsere Versuche, einen geeigneten Gatten für dich zu finden, erfolglos geblieben sind. Und übrigens, du versiehst durchaus nützliche Aufgaben. Ich habe dich erst kürzlich zur königlichen Schirmherrin der neuen König-Maksim-Bibliothek ernannt!“
Amelia musste eine Hand zur Faust ballen, um nicht verzweifelt aufzuschreien. Als sie auf Justines Bitte hin die neue Bibliothek eröffnet hatte, war sie die einzige Person unter fünfzig gewesen. Es hatte Tee und Gebäck gegeben, jedoch keinen einzigen Tanz oder auch nur ein beschwingtes Lied. „Das ist nicht gerade die Art Betätigung, die mir vorschwebt.“
Justine seufzte und schaute sich im Zimmer um. „Würden Sie alle uns bitte kurz entschuldigen?“
„Lassen Sie sich so viel Zeit wie nötig“, erwiderte Lady Aleksander fröhlich. „Dürfte ich mir wohl ein Teeküchlein nehmen?“
Justine erhob sich, packte Amelia am Ellbogen und führte sie resolut ans andere Ende des Zimmers, wo niemand sie hören konnte. „Du gebärdest dich wie ein Trotzkopf“, zischte sie hitzig, wobei sie über die Schulter zu den anderen hinüberlugte. „Bist du wirklich überrascht? Du bist sechsundzwanzig, Amelia. Du küsst Lakaien. Hast du vor, so fortzufahren, bis du etwas Unverzeihliches anstellst, sodass kein Mann dich mehr heiraten will?“
Amelia blieb der Mund offen stehen. „Und deine Lösung besteht darin, mich an den Meistbietenden zu verschachern?“
„Mein Gott“, stieß Justine aus, ins Deutsche verfallend, die Sprache ihrer beider Mutter, die auch sie und Amelia so weit beherrschten, dass sie fließend fluchen konnten. „Meine Lösung sieht vor, dir zu helfen, glücklich zu werden. Jemanden zu finden, mit dem du dein Leben teilen kannst, zu deinen Bedingungen. Jemanden, der zu deiner Familie und deiner Position als Mitglied des Königshauses passt. Und sei ehrlich, willst du das nicht auch? Du hast dir immer gewünscht, zu heiraten und eine große Familie zu gründen. Und dennoch lässt du dich auf müßige Tändeleien ein.“
Amelia keuchte. „Das ist ungerecht, Justine. Ich genieße hier keinerlei Freiheit – du weißt das.“
„Sie könnten es wie folgt betrachten, Königliche Hoheit.“
Beide Schwestern fuhren zusammen – sie hatten nicht gehört, dass Lady Aleksander zu ihnen getreten war. „Sie werden eine vergnügliche Saison in England erleben.“
Amelia wollte etwas einwenden, doch der letzte Satz ließ sie innehalten. England – und vor allem London – war etwas gänzlich anderes, als von einer Kupplerin im Palast von Rohalan in St. Edys einer Handvoll Heiratskandidaten vorgeführt zu werden. „London?“
„Ein herrlicher Landsitz“, erläuterte Lady Aleksander, während sie ihren Kuchen aß. „Gar nicht weit entfernt von London.“
„Ein Landsitz?“ Das klang nicht gerade nach einer Saison in den feinsten Kreisen, sondern eher nach einer Bestrafung.
„Sie werden unter Freunden sein. Es wird Feste und Bälle geben. Alles, was mondän ist. Erinnern Sie sich an Lord Iddesleigh?“, fragte Lady Aleksander.
Iddesleigh! Beckett Hawke, Earl of Iddesleigh. Und ob sie sich an ihn erinnerte, aber er war viel zu alt für sie. „Er ist verheiratet …“
„Oh, ja, das ist er, und zwar glücklich verheiratet. Er und seine Frau sowie seine entzückende junge Familie haben sich auf seinem Landsitz niedergelassen. Ich weiß nicht, ob Sie je das Vergnügen hatten, die englische Provinz im Frühling und Sommer zu bereisen, aber sie ist überaus …“
„Was haben Iddesleigh und dessen entzückende Familie mit mir zu tun?“
„Sie haben Sie eingeladen, den Sommer bei ihnen zu verbringen!“
Amelia warf Justine einen erbosten Blick zu. „So, eingeladen haben sie mich, ja?“
„Sie waren der Idee gegenüber höchst aufgeschlossen!“, korrigierte Lady Aleksander sich behutsam. „Und Lord Iddesleigh hat mir versichert, es werde Bälle und dergleichen geben.“
„Und dergleichen“, echote Amelia.
„Und dergleichen, Amelia!“, warf ihre Mutter gestreng ein. „Hör gefälligst auf, alles zu wiederholen, was die Dame sagt!“
Justine legte ihr eine Hand auf den Arm. „Amelia, pass auf. Du wirst unter Leute kommen, und solltest du einen geeigneten Junggesellen kennenlernen, der dir gefällt, so würde sich dies in einem angemessenen Rahmen vollziehen und ohne dass die weslorianischen Zeitungen jeden Blick und jedes Lächeln kolportieren.“
Nun, das klang in der Tat verlockend. Die weslorianischen Zeitungen hatten mit der Verbreitung von Gerüchten über sie für gehörigen Wirbel gesorgt. Sie hatten verbreitet, Amelia habe eine lose Moral – was vermutlich stimmte – und sei kindisch – was keineswegs zutraf. Zudem hatten sie Amelia für unsympathisch befunden. Sie musste zugeben, dass dies nicht unbedingt von der Hand zu weisen war, wenngleich Justine es als Unsinn abgetan hatte.
Dennoch konnte Amelia dem Vorhaben, sie außer Landes zu schicken, nichts abgewinnen. „Macht ihr euch keine Sorgen darüber, dass niemand da sein wird, der mich im Auge behält? Habt ihr vergessen, dass keiner von euch mir vertraut?“
„Ich vertraue darauf, dass Lordonna und meine Freundin Lila Aleksander dich im Auge behalten werden.“
Amelia warf Letzterer einen flüchtigen Blick zu.
Lady Aleksander wischte sich einen Krümel von den Lippen und verkündete frohgemut: „Ich werde Sie begleiten! Ich werde dafür sorgen, dass Sie sich auf Iddesleigh gut einleben und alles reibungslos verläuft.“
„Und selbstverständlich werden wir Sie nicht allein ziehen lassen, Königliche Hoheit“, versicherte Robuchard. „Weslorien wird in Ihrem Gefolge bestens repräsentiert sein.“
In Amelias Kopf drehte sich alles. Sie alle hatten dies geplant. Hinter ihrem Rücken. Es war eindeutig nicht allein Justines Idee. Amelia schaute einen jeden von ihnen an. „Werde ich … werde ich verbannt?“
„Nicht doch!“, riefen alle im Chor, wenn auch der Überzeugungsgrad variierte. Bis auf Justine, die beteuerte: „Nicht verbannt.“
Amelia starrte ihre Schwester fassungslos an.
Wenigstens blickte Justine angemessen betreten drein. „Ich habe wirklich geglaubt, du würdest dich freuen – du magst England.“
„Ich mag London.“
„Du wirst ganz in der Nähe sein.“ Justine legte ihr einen Arm um die Schultern. „Und dort wirst du mehr Abwechslung haben.“ Sie neigte sich ihr zu und flüsterte: „Bedenke auch, dass Mutter nicht zugegen sein wird, um dir unablässig ihre Meinung aufzudrängen.“
„Wie war das?“, fragte ihre Mutter aufs Stichwort.
„Weißt du noch, wie begeistert alle in England darüber waren, dass zwei königliche Prinzessinnen unter ihnen weilten?“
Natürlich wusste sie das noch – wie hätte sie es vergessen können? Sie beide hatten auf Schritt und Tritt für Aufsehen gesorgt, und Amelia hatte es geliebt, ja hatte sich in all der Aufmerksamkeit regelrecht gesonnt.
„Aber dieses Mal wird die Bewunderung allein dir gelten.“
Es ließ sich nicht leugnen, dass Justine ihre Schwester kannte – sie wusste, wie oft Amelia im Laufe ihres Lebens zugunsten von ihr, der Erbin, ignoriert, ausgeschlossen und verschmäht worden war. „Was, wenn all deine Mühen vergebens sind, weil niemand mir zusagt?“, fragte Amelia im Flüsterton. „Du weißt, dass meine Liebe einem Strohfeuer gleicht.“
„Dein Begehren, mein Schatz. Ich glaube nicht, dass du dich je verliebt hast. Das ist etwas ganz anderes. Und solltest du niemanden finden, der dir gefällt, wirst du rechtzeitig zur kleinen Saison im Herbst zurück in St. Edys sein. Betrachte es als Tapetenwechsel.“
Amelia verdrehte die Augen. Doch der Gedanke an Abwechslung gefiel ihr. Ein Abenteuer zu erleben, ganz allein, ohne Justine oder ihre Mutter oder sonst irgendwen. Und sie hätte durchaus gern einen Gentleman gefunden, der ihr Herz eroberte. „Also gut“, entschied sie. „Ich werde gehen.“
März 1858
Devonshire, England
Die Fenster standen offen und ließen den Morgen ein. Kein Lüftchen regte sich, und die Hitze, ungewöhnlich groß für diese Jahreszeit, machte sich bereits bemerkbar. Seit Wochen war kein Tropfen Regen gefallen, und die Schwüle schien das ganze Hollyfield-Anwesen zu lähmen.
Joshua Parker, der Duke of Marley, lag in seinem Bett. Er hatte die Decke mit den Füßen zu Boden befördert und sein Nachthemd quer durchs Zimmer geschleudert. Sein Haar auf dem Kissen war feucht. Er schlief nicht, sondern dämmerte mit geschlossenen Augen vor sich hin und sehnte sich nach einer Brise.
Plötzlich vernahm er aus der Ferne Gesang.
Sein erster Gedanke lautete, es handele sich um Engel, die sich endlich seiner erbarmt hätten und ihn holen kämen. Vielleicht sangen sie auch eine Messe für ihn, derweil er hinab in den Hades fuhr. Heiß genug war es allemal.
Die engelsgleichen Laute kamen näher, bis sie nicht länger nach Engeln, sondern vielmehr nach Kindern klangen.
Kinder?
Was hatten Kinder in Hollyfield zu suchen? Hier war kaum eine Menschenseele, bis auf den Butler, der ironischerweise Mr. Butler hieß. Und Mr. Martin, Joshuas Kammerdiener. Und Mrs. Chumley, seine Köchin, sowie Miss Halsey, die Haushälterin mit der angsteinflößenden Miene. Er zog es vor, die Frau nur mit dem Nachnamen anzureden, um Zeit zu sparen. Wie er, hielt auch Halsey sich nicht mit überflüssigen Worten auf. Und zu guter Letzt gab es noch ein einsames Zimmermädchen, das er gelegentlich mit einem Staubwedel von Raum zu Raum huschen sah.
Auf keinen Fall jedoch gab es hier Kinder.
Als Joshua noch verheiratet gewesen war, hatte es in Hollyfield von Bediensteten nur so gewimmelt. Man hatte keinen Schritt tun können, ohne über einen Lakaien, ein Zimmermädchen oder einen Stallburschen zu stolpern. Doch die meisten hatte er nach dem Ableben der Duchess entlassen, denn wozu hätte er sie behalten sollen?
Der Gesang kam näher. Er zerrte an Joshuas Nerven. Erstens, weil keines der Kinder den Ton traf. Zweitens, weil eines der Kinder offenbar schluchzte. Und drittens, weil ein anderes immer einen Takt hinterherhinkte. Was sangen sie da überhaupt, ein Kirchenlied? Wer zum Teufel ließ Kinder bereits am verfluchten Morgen Kirchenlieder schmettern?
Er setzte sich auf und strich sich die feuchte Haarlocke zurück, die ihm ins Auge gefallen war. Am Fußende des Betts hob Jagdhund Merlin den Kopf und schaute über die Schulter zu ihm herüber. Bethan lag wie hingegossen auf dem Fußboden, auch er bemüht, sich möglichst kühl zu halten, wobei ihm die Zunge seitlich aus dem Maul hing. Und Artemis, der Kater, thronte auf der Fensterbank, kehrte der Landschaft draußen den Rücken und betrachtete Joshua in stummer Verachtung.
Joshua stieg aus dem Bett und machte einen Schritt über Bethan hinweg, um zum offenen Fenster zu gelangen. Artemis sprang elegant vom Sims auf den Boden und kletterte über Bethan hinweg, als wäre dieser ein Kleidungsstück. Vielleicht hielt Artemis ihn tatsächlich für ein solches – Joshuas Garderobe lag überall im Zimmer verstreut. Er hatte Mr. Martin gestern nicht in sein Zimmer gelassen.
Der Gesang brach ab. Ebenso wie das Schluchzen. Joshua reckte den Hals, um den Weg am Fluss zu überblicken. Er konnte niemanden entdecken, kratzte sich am Kinn und löste sich vom Fenster. Just in dem Moment setzte der Gesang erneut ein. „Jauchzt, all ihr Wesen, und frohlockt“, sangen sie, „zu ehren unsern Herrn und Gott. Hal-le-luuuuuu-ja.“
Bethan hob einen Hinterlauf und kratzte sich hingebungsvoll die Flanke.
Joshua knallte die Fenster zu. Artemis verschwand unter dem Bett, und Merlin schnarchte weiter.
„Euer Gnaden?“
Mit trübem Blick sah Joshua sich um. Sein Butler stand auf der Schwelle und schaute sich blinzelnd um, ehe er den Blick auf die Zimmerdecke heftete.
„Du Sonne, die du golden scheinst“, intonierten die Kinder, und ihre Stimmen drangen durch die Fensterfugen.
„Wer sind diese Kinder?“, knurrte Joshua, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Kinder?“, fragte Butler, den Blick nach wie vor gen Decke gerichtet.
„Hören Sie sie etwa nicht?“ Kurz glaubte Joshua, er hätte vielleicht den Verstand verloren. Es gab Momente, in denen er dies nicht ausschließen konnte.
„Ah, doch, ich höre sie“, erwiderte Butler.
Er hielt ein Silbertablett, bemerkte Joshua, auf dem ein cremeweißer Briefumschlag lag. „Was ist das?“
„Der ist aus Iddesleigh eingetroffen, Euer Gnaden.“
Nicht schon wieder. Beckett Hawke entpuppte sich als höchst lästiger Nachbar. „Ist denn niemandem mehr ein friedlicher Morgen heilig? Muss man unbedingt in aller Herrgottsfrühe Choräle trällern und Briefe zustellen?“
Zaghaft löste Butler den Blick von der Decke, jedoch nur für einen Augenblick, um sogleich den Kaminsims zu fixieren. Was war mit ihm los? Joshua sah an sich hinab. Seine Unterhose stand offen und enthüllte das schlaffe Instrument zur Zeugung zukünftiger Parkers. Wer achtete schon auf seine Aufmachung, wenn ihm Kinder ins Ohr kreischten?
Er ging zum Fußende seines Betts, zog seinen Morgenmantel unter Merlin hervor, legte ihn an und schlang ihn sich um den Leib. „Also gut. Her damit.“ Er streckte die Hand nach dem leidigen Briefumschlag aus.
Butler riskierte einen flüchtigen Blick auf ihn und trat vor, als näherte er sich einem schlafenden Riesen. Just als Joshua den Umschlag vom Tablett nahm, setzte der Gesang erneut ein. „Was zum Teufel?“ Steif schritt er zum Fenster und stieß es wieder auf.
Da waren sie. Das bedeutete, er hatte nicht den Verstand verloren, denn die Kinder dort, ungefähr ein Dutzend, waren höchst real. Und allesamt Mädchen, deren Kleider in allen erdenklichen Pastelltönen von Rosa und Gelb und Blau leuchteten, eine schier schwindelerregende Palette. Hand in Hand folgten sie in Zweiergrüppchen einem Herrn mit langem schwarzem Mantel und einem breitkrempigen schwarzen Hut. „Was hat es damit auf sich?“, verlangte Joshua zu wissen und wies erbittert auf die Mädchen.
Der Herr, der sie anführte, blieb auf dem Weg stehen. Er sprach zu den Mädchen, woraufhin sie abermals verstummten. Er bückte sich und zeigte auf etwas. Die Mädchen scharten sich um ihn und schauten hinab.
Bethan stand auf und schob seine Schnauze in Joshuas freie Hand. Joshua kraulte ihm geistesabwesend den Kopf, derweil Butler zögerlich näher trat, um einen Blick hinauszuwerfen.
„Ah“, meinte er. „Lord Iddesleigh hat im ehemaligen Wildhüterhaus eine Mädchenschule eingerichtet.“
„Eine Schule?“, wiederholte Joshua. „Eine Mädchenschule?“
„Ja, Euer Gnaden. Soviel ich weiß, hat Iddesleigh eine oder zwei Töchter.“
Er hatte fünf. Himmelherrgott, irgendwann musste ein Mann doch einsehen, dass er keinen Sohn mehr zeugen würde, und die Finger von seiner Frau lassen.
„Er und seine Gattin haben eine richtige Schule für sie gegründet und eigens einen Rektor eingestellt.“
„In einem Wildhüterhaus?“
„Ich glaube, es handelt sich um eine vorübergehende Unterbringung, Euer Gnaden.“
Unterhalb von ihnen zog eines der Mädchen ein anderes an den dunklen Haaren. Letzteres schrie auf und packte die Angreiferin am Kleid. Die beiden begannen zu raufen wie Trunkenbolde in einem Wirtshaus.
„Wünscht Ihr Tee?“, erkundigte sich Butler, als nähme er das Handgemenge dort unten gar nicht zur Kenntnis.
Joshua beobachtete, wie der Herr in Schwarz die Mädchen zu trennen versuchte. Die beiden, deren Haarschleifen teils an den Haarspitzen baumelten und teils in den Staub getrampelt worden waren, redeten zeitgleich auf ihn ein. Joshua hatte deutlich gesehen, dass das größere Mädchen angefangen hatte, und erwog, es dem Herrn zuzurufen.
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bevor er sich vom Fenster abwandte und auf die Kaminuhr schaute. Es war halb vier Uhr nachmittags. Halb vier. Bei Gott, er hätte sich schämen sollen, erst zu dieser Stunde aus den Federn zu steigen. Aber das tat er nicht. Kein bisschen. Im Gegenteil. Den Brief in der Hand, begab er sich zurück zu seinem Bett und ließ sich rücklings darauf nieder, neben Merlin, der sich sogleich umdrehte und ihm den Kopf auf den Oberkörper legte. „Keinen Tee, Butler. Danke.“ Er erbrach das Siegel und faltete den Brief auseinander.
Eine weitere Einladung zum Dinner. Nicht weniger enthusiastisch als die vorangegangenen und mit der Beteuerung versehen, dass der Verfasser kein Nein akzeptiere. Joshua reichte Butler die Einladung. „Nein“, sagte er.
Er hatte weder Muße noch Geduld für gesellschaftlichen Umgang. Er hatte genug damit zu tun nachzudenken. Und nun, da ihm diese Mädchenschule so unverhofft in die Quere geraten war, auch damit zu handeln. Natürlich würde er strategisch vorgehen müssen. Als Duke of Marley konnte er schlecht als Gegner weiblicher Bildung auftreten. Andererseits konnte er auch unmöglich der Duke sein, der diese Mädchen stillschweigend ertrug.
Nicht nach allem, was er durchgemacht hatte.
Nicht nach allem, was er getan hatte.
Nein, er würde auf einen subtilen Weg sinnen müssen, seiner Haltung Ausdruck zu verleihen.
April 1858
England
An Ihre Majestät, Königin Justine,
liebste Schwester, ich bete darum, dass Du wohlauf und frohen Mutes bist, da ich aufrichtig hoffe, dass dies zumindest auf einen von uns zutrifft. Ich habe Dir viel zu berichten und möchte mit der Feststellung beginnen, dass Devonshire ein furchtbarer Fehler war. Obwohl ich es allein Dir anlaste, dass Du mich hergeschickt hast, bin ich Dir nicht gram. In Wahrheit bin ich weit enttäuschter über mich selbst, weil ich mich von Dir habe überreden lassen, dies sei eine gute Lösung. Hätten wir uns nicht denken können, dass sich Iddesleigh House als genauso öde wie der Palast von Rohalan erweisen würde, nur schlimmer, weil es sich meilenweit fernab von jeder anständigen Gesellschaft befindet? Es liegt keineswegs „in der Nähe“ von London, sondern eine Tagesreise entfernt, und das auch nur mit den schnellsten Pferden. Es befindet sich so tief in der Provinz, dass ich in meinen ersten Tagen hier nur eine Handvoll Besucher empfangen habe, und sie alle waren steinalt.
Ich vermisse Dich schrecklich! Im Grunde habe ich hier niemanden zum Reden. Lordonna ist, wie Du weißt, recht zugeknöpft und behält ihre Meinung für sich. Somit bleibt mir nur Lila. Aber die hält sich derzeit in London auf, um Gentlemen ausfindig zu machen, die sich eventuell dazu überreden ließen, den weiten Weg hierher auf sich zu nehmen und dem Ball beizuwohnen, den Lord und Lady Iddesleigh unbedingt zu meinen Ehren ausrichten wollen. Die Aussicht auf einen Ball gefällt mir durchaus, weniger die Aussicht darauf, dass nur Greise ihn besuchen werden. Mit wem soll ich tanzen?
Ich habe mir Iddesleigh als prachtvolles englisches Landhaus vorgestellt, und daran ist allein Lila schuld, denn sie hat ein großes Landhaus beschrieben. Sie neigt überhaupt dazu, alles zu beschönigen. Und die Landschaft, die wir auf der Hinreise durchquert haben, war auch recht pittoresk mit ihren sanften Hügeln, die von der untergehenden Sonne in Gold- und Rosatöne getaucht wurden. Wir sind an manch herrschaftlichem Haus im georgianischen Stil vorbeigekommen. Erinnerst Du Dich an unseren Lehrer Monsieur Klopec und sein Faible für Architektur? Offenbar habe ich ihm aufmerksamer gelauscht, als mir bewusst war, denn ich habe den Stil sofort erkannt.
Ich hatte allen Grund anzunehmen, dass Iddesleigh genauso prächtig sei wie die Häuser auf unserem Weg. Ich habe mir weitläufige Gärten und einen Ballsaal ausgemalt, der so riesig ist, dass mindestens vier Lüster nötig sind, um ihn zu erleuchten. Ein Landsitz, durchaus angemessen, von einer königlichen Prinzessin, wenn nicht gar von Königin Victoria höchstselbst besucht zu werden. Ich war voller Vorfreude, bis mir kurz vor Ende unserer langen Reise nach Iddesleigh ein Omen Anlass zu der Vermutung gab, dass es anders als erwartet kommen könnte. Du wirst mir nicht glauben, was ich nun schreibe, aber fast hätte mich der Sensenmann geholt, keine fünf Meilen vor Iddesleigh! Ein Reiter, der buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht und aufs Waghalsigste an unseren Kutschen vorbeigeprescht ist. Er war ganz in Schwarz gewandet und saß auf einem riesigen Rappen. Die Straße war eng an jener Stelle, und er ritt so nah an uns vorbei, dass ich fürchtete, er könnte gegen die Kutsche prallen und uns alle umbringen. Erst im allerletzten Moment wich er aus, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Er donnerte an uns vorbei und verschwand die Straße entlang. Der Kutscher hat ihm grässliche Schimpfworte hinterhergebrüllt, aber der Reiter hat ihn gar nicht beachtet.
Grundgütiger, das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, aber das Herz schlug mir bis zum Halse, und ich konnte kaum atmen. Ich habe Lordonna angesehen, die ebenso erschrocken wie ich dreinblickte. Ich fragte sie, wer das gewesen sein könne. Vielleicht Lord Iddesleigh, meinte sie, doch das erschien mir unwahrscheinlich – soweit ich mich entsinne, ist er ein eher sanftmütiger Mensch, der nicht zur Eile neigt.
Der Reiter kam und verschwand so rasch und wirkte so finster und bedrohlich, dass er mich sogleich an den Sensenmann erinnerte. Er sah genauso aus, wie Hortensia ihn uns beschrieben hat. Erinnerst Du Dich an Hortensia? Sie war unser Kindermädchen, wenn auch nur wenige Wochen lang. Einmal habe ich Mutter sagen hören, sie habe schon Brot gehabt, das sich länger gehalten hätte. Aber Hortensia war lange genug da, um einige Weisheiten weiterzugeben: Hüte dich vor dem Sensenmann, lautete eine. Der Leibhaftige beobachtet dich immerzu und sieht dich auch jetzt, eine andere.
Wie dem auch sei, einige Meilen nach der Begegnung mit dem Sensenmann erreichten wir Iddesleigh House, das mich sehr überrascht hat, und zwar nicht im positiven Sinne. Abgesehen von der Größe, ist es in jedweder Hinsicht unscheinbar. Ein nicht unbeträchtlicher Teil ist mit einem Baugerüst versehen, was auf verschiedene Stadien der Instandsetzung oder Schlimmeres – Abriss – hinweist. Bei der einen Hälfte des Hauses handelt es sich anscheinend um die Überreste einer mittelalterlichen Burg, und die andere Hälfte wirkt, als wäre sie nach und nach hinzugefügt worden. Das Ergebnis ist ein verstörendes Gemenge aus architektonischen Stilen, bei deren Anblick Monsieur Klopec die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Die Gartenanlage ist überaus schlicht gehalten und besteht nur aus einem gepflegten Rasen und einem Bowls-Platz. Es gibt keinen Irrgarten und keine Blumenbeete. Nicht einmal einen Springbrunnen oder eine Statue, um das Auge zu erfreuen!
Meine Räumlichkeiten sind vermutlich annehmbar. Ich verfüge über ein Schlafzimmer, einen Salon, ein Ankleidezimmer und ein Badezimmer sowie über eine angrenzende Kammer für Lordonna. Die Ausstattung ist tadellos, wenn auch nicht so erlesen wie die meiner Gemächer im Palast von Rohalan. In der allerersten Nacht gab es einen heftigen Platzregen, und dabei ist Wasser durchs Dach gedrungen und auf die Chaiselongue getropft, und in den Tagen darauf musste ich eine Horde Handwerker ertragen, die über mir gehämmert haben, um das Dach zu reparieren.
Das Haus ist so groß, dass Lady Iddesleigh zwei Nachmittage brauchte, um es mir in seiner faden Gesamtheit zu zeigen. „Es ist sehr groß“, hat sie mir überflüssigerweise erläutert, und das mehr als einmal. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber die Dame neigt dazu, sich zu wiederholen. Und schließlich meinte sie, das Haus sei im Grunde ungeeignet für eine große Familie.
Ich sagte, dass ich das nicht verstünde, da doch jeder seinen eigenen Flügel beziehen könne. Daraufhin erwiderte Blythe – oh, ich soll sie Blythe und ihren Gatten Beck nennen, weil sie auf einen familiären Umgang bestehen. Blythe erwiderte also, sie seien dabei, einen zusätzlichen Flügel für ihre kleine Kinderschar zu bauen. Ich lachte, was ich wohl nicht hätte tun sollen, denn sie warf mir einen seltsamen Blick zu. Ich erklärte, dass ihre Kinderschar nicht klein, sondern recht groß sei und ich noch nie von jemandem mit so vielen Töchtern gehört hätte. Ihrer Miene nach habe ich sie gekränkt. Zwar war ich mir keiner Schuld bewusst, aber ich habe sie dennoch um Verzeihung gebeten und erklärt, dass fünf Kinder in meinen Augen recht viele seien. Sie entgegnete, in ihren Augen seien fünf Kinder gerade richtig. Ja, wenn man vorhat, eine eigene Armee aufzustellen und die Königin zu stürzen; jedenfalls fällt mir nicht ein, weshalb man sonst so viele Kinder bräuchte.
Wirklich, Jussie, die Töchter sind das Interessanteste auf Iddesleigh. Sie sind zwischen zwei und acht Jahre alt. Mathilda, die von den Mädchen Tilly genannt wird, ist die Älteste. Sie sieht alles, was ihre Eltern sagen, höchst kritisch und verhält sich ihren Schwestern gegenüber ein wenig tyrannisch. Sie gängelt sie ungefähr so, wie Mutter Dich und mich gängelt, indem sie uns ständig herumkommandiert. Bitte lass diesen Satz aus, sollte sie darauf bestehen, dass Du ihr diesen Brief vorliest. Maren ist mit sieben Jahren die Zweitälteste. Sie ist auch die Stillste von allen. Ihr Vater hofft, dass dies auf einen gewissen Lerneifer hindeute, aber da ihre Schwestern sie nie zu Wort kommen ließen, sei er nicht überzeugt davon. Maisie ist sechs, behauptet jedoch, sieben zu sein, was wiederum Mathilda ärgert, weil sie eine solch offenkundige Unwahrheit nur schwer erträgt. Margaret, die von den Mädchen manchmal „Peg-leg Meg“ genannt wird, obwohl sie zwei völlig gesunde Beine hat, ist vier. Und die Jüngste, die kleine Birdie, ist erst zwei.
„Birdie?“, habe ich Beck gefragt. „Nicht Miranda oder Mariah?“
Er sagte, das M sei ihnen langweilig geworden, weshalb sie zu einem anderen Buchstaben des Alphabets übergegangen seien. Sie hätten sich auf B geeinigt, und falls sie weitere Kinder bekommen sollten, hätten sie eine breite Auswahl an Namen, die mit B beginnen. Himmel, Jussie, noch mehr Kinder? Ich glaube, sie sind verrückt!
Oh, und fast hätte ich Alice vergessen, den kleinen weißen Hund, der den Mädchen überallhin folgt. Wobei Alice unzweifelhaft ein Rüde ist, aber weißt du, ich fürchte, die Erklärung ist dermaßen absurd, dass ich nicht gewagt habe zu fragen, wieso er einen weiblichen Namen trägt.
Die Mädchen haben ihren Spaß daran, meine Sachen zu durchstöbern und den Schmuck und die Accessoires anzulegen. Ihre Fragen und Theorien über das königliche Leben sind ungemein vergnüglich. Ich lasse ihnen ihre Fantasien, denn in Wahrheit ist das Leben einer Ersatzerbin wenig glamourös.
Auch ihr Vater ist auf seine Weise unterhaltsam, nur auf seine Frau habe ich offenbar keinen guten ersten Eindruck gemacht. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wieso, schließlich bemühe ich mich zu helfen, wo ich kann. Es ist schwerlich mein Fehler, dass allmorgendlich Chaos ausbricht, wenn es für die älteren Töchter Zeit ist, zur Schule zu gehen, und für die jüngeren, sich in die Kinderstube zu begeben. Lärm und Geschrei sind so überwältigend, dass ich mich eines Morgens erboten habe, die älteren Mädchen zur Schule zu bringen, nur um dem ein Ende zu setzen. Lord und Lady Iddesleigh sind furchtbar unorganisiert.
Letztes Wochenende ist Lila aus London zurückgekehrt, um mir von diesem und jenem Herrn zu berichten. Sie hat mich schon wieder gefragt, welche Ansprüche ich an einen Gatten stelle. Bei dem Gedanken an all die Gentlemen, die meine Bekanntschaft machen wollen, gerät sie ganz aus dem Häuschen.
Danach jedoch hat sie mich gefragt, ob sie mir einen Rat erteilen dürfe. Natürlich war ich gespannt darauf zu erfahren, welchen Rat sie für mich hat, und bat sie fortzufahren. Sie sagte, es sei besser, den Iddesleighs meine Meinung nicht kundzutun, sofern ich nicht ausdrücklich darum gebeten würde. Ich sage Dir, Jussie, ich habe herzlich gelacht. Schließlich habe ich nichts dergleichen getan! Ich forderte sie auf, mir zu erklären, was ich angestellt hätte. Sie antwortete, einige Eltern würden es nicht gutheißen, darüber belehrt zu werden, wie sie ihre Kinder erziehen sollten. Sie meinte, dass ich als königliche Prinzessin wahrscheinlich in allen möglichen Belangen um meine Meinung gebeten würde und daher annähme, meine Ansichten wären auch in dieser Hinsicht gefragt. Ich wollte von ihr wissen, was in aller Welt sie da rede, woraufhin sie entgegnete, ich hätte besser nicht vorschlagen sollen, wann die Kinder zu Bett zu gehen hätten. Warum nicht, frage ich Dich? Wirklich, würden diese Mädchen zu einer vernünftigen Zeit schlafen gehen, wären sie morgens erträglicher. Es ist nicht meine Schuld, dass die Iddesleighs zu allem zu spät kommen – zum Frühstück, zum Dinner, zur Kirche. Ich habe Lila dargelegt, dass ich ihnen nur helfen wolle.
Lila musste mir zugestehen, dass ich selbstverständlich nur helfen wolle, sie wandte jedoch ein, manchmal sei ich darin ein wenig eksessief. Exsessiv. Ich kenne das Wort nicht, das sie benutzt hat, aber vermutlich meinte sie, ich sei zu vorlaut? Was immer es heißt, es war kein Kompliment.
Sie sagte, es sei ganz natürlich, dass eine königliche Prinzessin helfen wolle, wo immer sie die Notwendigkeit dazu sehe, aber in diesem Fall sei es womöglich angeraten, mich anderen Dingen zuzuwenden. Ich fragte Lila, welchen Dingen ich mich denn zuwenden solle, da es rein gar nichts gebe, womit ich mich beschäftigen könne.
Nun, wie dem auch sei, ich habe das Problem selbst gelöst. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Mädchen jeden Tag zur Schule zu begleiten. Die Landschaft ist herrlich, und ich habe festgestellt, dass ich es außerordentlich genieße, spazieren zu gehen.
Du wirst mir nicht glauben, was vor zwei Tagen passiert ist. Ich habe den Sensenmann wiedergesehen! Das wäre nicht geschehen, hätte ich die Mädchen nicht zur Schule gebracht. Und hätte ich ihn nicht erblickt, wäre ich nicht zur Schule zurückgekehrt, wo ich doch tatsächlich eine Beschäftigung fernab von Iddesleigh für mich gefunden habe. Aber diese Neuigkeit muss warten – ich höre Blythe nach mir rufen. Hoffentlich ist es ein Besucher! Wie gern ich einen Besucher empfangen würde. Einen jungen Besucher. Ich schreibe Dir bald wieder.
Deine A.
Das Wetter hatte sich seit Amelias Ankunft auf Iddesleigh von seiner besten Seite gezeigt, doch an diesem Morgen war es stark bewölkt, und leichter Nebel lag über dem Weg zur Schule. Amelia und die Mädchen rüsteten sich mit Schuten und kurzen Mänteln.
„Sind Sie sicher, Königliche Hoheit?“, fragte Blythe, während sie zur Vordertür hinausspähte. „Ich könnte Garrett mit der Kutsche vorfahren lassen.“
„Papperlapapp. Bis er angespannt hat, sind wir längst bei der Schule.“
„Aber ich möchte nicht, dass Sie sich erkälten.“
Dafür war mehr nötig als ein bisschen Nebel. „Keine Sorge“, beharrte sie. „Ich gehe gern zu Fuß. Das tun wir alle, nicht wahr?“, fragte sie die Mädchen.
„Ja!“, schrie Maisie und untermalte ihre Antwort, indem sie zur offenen Tür hinausstürmte und auf die erstbeste Pfütze zusteuerte.
„Maisie!“, rief ihre Mutter, aber es war zu spät. Ihre Tochter war mit beiden Füßen in die Pfütze gesprungen und hatte sich den Mantel nass gespritzt.
„Sehen Sie? Alles bestens“, befand Amelia zuversichtlich.
Blythe wirkte wenig überzeugt. Aber sie stand auf verlorenem Posten, denn Mathilda und Maren waren bereits draußen, ebenfalls unbeeindruckt von der feuchten Witterung.
Amelia folgte den Mädchen und scharte sie um sich, und gemeinsam gingen sie die Straße entlang.
Als sie dicht gedrängt im engen Eingangsbereich der Schule standen, wies Mathilda darauf hin, dass Maisies Saum ruiniert sei. „Mutter wird böse sein.“
„Nein, wird sie nicht“, widersprach Maisie.
„Wird sie doch.“
„Wird sie nicht.“
„Doch.“
Maren hängte ihre Schute an einen Wandhaken, schob sich wortlos zwischen ihren Schwestern hindurch und ging ins Klassenzimmer. Beck hatte recht – sie war die Klügste unter den Mädchen.
„Also gut“, mischte Amelia sich ein und trat zwischen die beiden Streithähne. „Da Maisies Saum getrocknet ist, bis eure Mutter ihn zu sehen bekommt, bleibt abzuwarten, wie verärgert sie tatsächlich sein wird.“
„Siehst du?“ Maisie warf ihre Schute über die Schulter, ohne darauf zu achten, wo sie landete, ehe sie hüpfend ins Klassenzimmer entschwand. Mathilda seufzte vernehmlich, hob die Schute auf und reichte sie Amelia. „Nie glaubt mir jemand. Mutter wird außer sich sein.“ Sie drückte Amelia auch ihre eigene Schute in die Hand und schritt zum Klassenzimmer.
Amelia blickte auf die beiden Schuten hinab. Sie war eine Kammerzofe. Sie hatte die weite Reise auf sich genommen, nur um als Kammerzofe zu fungieren. Nachdem sie die Schuten an die Wandhaken gehängt hatte, wandte sie sich zum Gehen und wäre beinahe mit Mr. Roberts, dem Rektor, zusammengestoßen.
„Oh! Miss Ivanosen. Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Mr. Roberts.“ Als sie die Mädchen zum ersten Mal herbegleitet hatte, war der freundliche Schulleiter von ihrem Anblick sichtlich verwirrt gewesen. Aus einer Laune heraus hatte sie sich ihm als Miss Ivanosen vorgestellt in dem Glauben, er werde schon wissen, wer sie sei. Der arme Mann hatte es nicht gewusst. Offenbar stürzte ihn so gut wie alles in Verwirrung, und jeden Tag suchte er verzweifelt nach verlorenen Dingen – sei es seine Brille oder der Türschlüssel.
Heute Morgen standen seine Haare in alle Richtungen ab.
„Ist alles in Ordnung, Sir?“
„Oh, ganz vortrefflich, Madam, vielen Dank. Allerdings kann ich die Schulglocke nirgends finden. Man braucht eine Schulglocke, damit alles seine Ordnung hat.“
„Die braucht man“, pflichtete sie ihm bei. „Soll ich Ihnen bei der Suche helfen?“
Seine Miene entspannte sich vor Erleichterung. „Wären Sie so freundlich?“ Er schaute über die Schulter. Zwei Mädchen waren just eingetreten und stellten bestürzt fest, dass keine Haken mehr für ihre Schuten frei waren.
Amelia machte ihnen höflich Platz.
Nun gut, wo mochte sich die Schulglocke verstecken? Nicht in der Eingangshalle – die war zu klein. Sie spähte ins Klassenzimmer, wo die Mädchen in Zweier- und Dreiergrüppchen beisammenstanden und alle gleichzeitig plapperten. Dort war sie auch nicht, denn ansonsten hätte irgendwer sie längst geläutet. Vermutlich Maisie.
Sie wandte sich einem engen Kämmerlein zu, das als Büro diente. Wie irgendwer darin arbeiten konnte, war ihr ein Rätsel – denn hier herrschte ein wildes Durcheinander. Mehrere Zoll hohe Aktenberge türmten sich auf dem Schreibtisch. Auf einem Stuhl hatte irgendwer aufs Geratewohl Bücher und Schiefertafeln gestapelt. Auf dem Fußboden lagen diverse Mäntel und Stiefel sowie Angelausrüstung. Spazierstöcke verschiedener Größe lehnten in einer Ecke. Vor dem Fenster hingen zwei leere Vogelkäfige; die Regale waren vollgestopft mit Büchern; und eine gestrickte einäugige Stoffkatze thronte auf einer Kommode und starrte Amelia an.
Aber dort, unübersehbar auf einem Stapel Unterlagen, lag die Schulglocke. Amelia stieg über einen Eimer, um sie aufzuheben. Dabei fiel ihr Blick auf das oberste Blatt, das unter der Glocke lag. Es handelte sich um einen Brief. Er war auseinandergefaltet, als habe Mr. Roberts beabsichtigt, ihn zu lesen, sei jedoch fortgerufen worden und habe seine Glocke dort liegen lassen, um den Brief nicht zu vergessen. Amelia neigte den Kopf zur Seite, um den Inhalt zu überfliegen. Ein Gentleman bat um die Aufnahme seiner Tochter an der Schule.
Sie fragte sich, wo man diese Tochter unterbringen wolle – die Schülerinnen stapelten sich praktisch schon jetzt bis unters Dach.
Achselzuckend ging Amelia ins Klassenzimmer. Sie hielt die Glocke hoch, damit Mr. Roberts von seinem Platz vor der Klasse aus sehen konnte, dass sie wieder aufgetaucht war. Behutsam stellte sie die Glocke aufs Fensterbrett, und er winkte ihr dankend zu.
Während sie die Schule verließ, hörte sie die Glocke läuten und Mr. Roberts mit klarer, kräftiger Stimme feierlich verkünden: „Wohlan, junge Damen, Zeit, mit dem Unterricht zu beginnen!“
Amelia trat nach draußen auf den Weg. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, wie sie erfreut feststellte. Sie konnte ihren Spaziergang ausdehnen. Wer hätte gedacht, dass sie sich je für lange Streifzüge erwärmen würde? In Weslorien hatte sie nur selten Gelegenheit, zu Fuß zu gehen – immerzu standen Kutschen, Pferde und Wachen bereit. Aber sie fand so viel Gefallen daran, dass sie Lordonna gebeten hatte, ihr ein Paar robuste Wanderstiefel zu besorgen. Lordonna hatte versprochen, dies umgehend zu tun, hatte jedoch besorgt dreingeblickt, als hielte sie es insgeheim für unziemlich, dass Prinzessinnen durch die Lande streiften.
Vermutlich war es das auch.
Was Amelia an ihren langen Wanderungen besonders gefiel, war nicht nur der Umstand, dass sie dadurch beschäftigt war, sondern auch, dass niemand sie behelligte. Keiner schien sie auch nur zu bemerken. Selbst ihre beiden weslorianischen Leibwächter, zu ihrem Schutz abkommandiert, hatten befunden, dass es kaum schaden konnte, wenn sie umherspazierte. Nun saßen sie mit den englischen Stallburschen vor den Stallungen und frönten dem Glücksspiel, derweil sie die Gegend erkundete.
Amelia trug auf ihren Wanderungen stets ein schlichtes braunes Kleid. Es war das einzige in ihrer umfangreichen Garderobe, das sie guten Gewissens Schmutz und Nässe aussetzen konnte. Ihr Schultertuch und ihr kurzer Mantel waren ebenfalls unscheinbar, und sie fand Vergnügen an dem Gedanken, dass sie wahrscheinlich wie ein Bauernmädchen auf dem Weg zum Markt aussah. Vielleicht würde sie eines Tages die lange Strecke bis ins Dorf bewältigen und mit einem Huhn zurückkehren. Wie lustig das wäre! Ob irgendwer sie damit erkennen würde? Die neu entdeckte Anonymität gefiel ihr. Nie zuvor hatte sie frei umherstreifen können, und als sie dies Beck gegenüber erwähnte, hatte er lachend erwidert: „Sie sind in Devonshire, Königliche Hoheit. Hier passiert nicht viel.“
Meist schlenderte sie, so wie heute, die Straße entlang und blieb dann und wann stehen, um sich an die Steinmauer zu lehnen und den Schafen zuzuschauen. Sie war so oft an ihnen vorbeigekommen, dass sie die Tiere inzwischen als Freunde betrachtete – zwar kam keines von ihnen je an die Mauer, um sie zu grüßen, aber dennoch.
Die Zufahrt zur Schule war durch einen alten steinernen Bogen gekennzeichnet, genau dort, wo der Pfad, der quer durch dieses Tal lief, die Hauptstraße kreuzte. Amelia trat auf die Straße und bewunderte den Bogen mit den gemeißelten Putten. Es leuchtete ihr nicht ein, wie ein bescheidenes Anwesen wie dieses zu solch einem himmlischen Bogen gekommen war. Auf der Suche nach einem Hinweis musterte sie die Putten so eingehend, dass sie den Reiter nicht bemerkte, der in halsbrecherischem Tempo um eine Straßenkurve kam und auf sie zuhielt. Als das Geräusch sie endlich aufblicken ließ, hatte der Reiter sie fast erreicht. Erschrocken aufschreiend, sprang sie in einen flachen Graben neben der Mauer, wobei sie mit einer Hand unwillkürlich ihre Schute festhielt, damit der Luftwirbel im Sog des vorbeipreschenden Pferdes ihn ihr nicht vom Kopf peitschte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie erkannte, dass es der Sensenmann war, der da an ihr vorbeijagte. Sein Pferd ließ mit den Hufen Schlamm aufspritzen, der ihr auf Kleid und Gesicht klatschte. Es war derselbe Mann, der beinahe ihre Kutsche gerammt hätte.
Amelia stieß einen spitzen Schrei aus, vor Überraschung oder auch Angst, was den Reiter bewog, sein Pferd einige Schritte von ihr entfernt zu zügeln. Er wendete und trabte zu ihr zurück, um sie zu mustern. Er war groß, und seine Schultern wirkten in seinem schwarzen Mantel sehr breit. Er hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen, und sein dunkler Bart war längere Zeit nicht gestutzt worden. Der Mann stieg nicht ab, um ihr zu helfen. Er machte auch keine Anstalten, dies zu tun, weshalb sie allein aus dem Graben stieg. Kurz glaubte sie, er würde sich nicht einmal zu einer Antwort herablassen, doch schließlich sagte er: „Verzeihung.“
Amelia starrte ihn an. „Verzeihung? Ist das alles, was Sie anzubringen haben? Das würde man zu jemandem sagen, den man versehentlich an einem Marktstand anrempelt.“ Sie trat zurück auf die Straße. „Sie hätten mich beinahe umgebracht. Womöglich hätte meine Leiche tagelang in diesem Graben gelegen, bevor irgendwer mich gefunden hätte.“
„Jeder Passant würde eine Leiche in diesem Graben mühelos entdecken.“
„Sie hätten mich fast niedergeritten!“
„So mag es Ihnen erschienen sein, aber ich kann Ihnen versichern, ich habe ausreichend Abstand zu Ihnen gehalten. Sobald ich Sie gesehen habe, bin ich nach links ausgewichen. Sind Sie verletzt?“
„Nein!“ Demonstrativ wischte sie sich Schlammspritzer von der Vorderseite des Kleides. „Aber dank Ihres Ausweichmanövers bin ich über und über mit Morast bedeckt.“
„Ich bitte abermals um Entschuldigung.“ Er wies mit einem behandschuhten Finger auf sie und machte eine kreisende Bewegung. „Sie haben da etwas an der Wange.“
Amelia hob eine Hand, um sich Schlamm von der Wange zu wischen.
„An der anderen.“
Wütend wischte sie sich über die andere Wange. „Sie sollten besser achtgeben.“
„Sie haben recht, ich sollte in vielerlei Hinsicht besser achtgeben. Und Sie sollten nicht auf der Straße herumstehen.“
Er sagte es, als wäre das Vorgefallene allein ihre Schuld. „Ich habe nicht auf der Straße herumgestanden. Ich bin spazieren gegangen und habe kurz innegehalten.“
„Was sich durchaus mit stehen bleiben gleichsetzen ließe.“
Sie meinte, sich verhört zu haben. „Sie können mir glauben, Sir, hätte ich gewusst, dass hinter der nächsten Kurve der Sensenmann auf mich wartet, hätte ich nicht innegehalten.“
„Der Sensenmann.“ Er schnaubte, ehe er eine Uhr aus der Tasche zog, einen Blick darauf warf und sie zurück in seinen Mantel steckte. „Ich möchte mich nochmals dafür entschuldigen, Sie erschreckt zu haben. Sofern Sie unverletzt sind, Madam, werde ich Sie nun wieder spazieren gehen und innehalten lassen.“ Damit fasste er sich an die Hutkrempe und trieb sein Pferd an. Die beiden sprengten die Straße entlang und ließen dabei eine Wolke aus Schlamm und Wasser aufstieben.
Amelia war fassungslos. Sie sah auf ihr besudeltes Kleid hinab. Und wie zum Hohn begann es prompt zu regnen.
Die Schule lag viel näher als Iddesleigh House, weshalb sie sich dorthin wandte.
Einige Minuten darauf schlüpfte sie in die Eingangshalle und legte sogleich Schute und Mantel ab, beides tropfnass. Mr. Roberts kam aus dem Klassenzimmer und starrte sie offenen Mundes an.
„Beachten Sie mich gar nicht, Mr. Roberts. Ich wurde auf der Straße fast niedergeritten.“
„Wie bitte? Sind Sie unversehrt?“
„Es geht mir gut. Ich bin nur ein wenig schmutzig und nass. Dürfte ich mich in Ihr Büro setzen, bis es aufhört zu regnen?“
„Ja, natürlich. Sie sollten einen Tee trinken, um sich aufzuwärmen. Kommen Sie, kommen Sie.“ Mit einer Geste forderte er sie auf, ihm ins Büro zu folgen.
Er trat an den kleinen Herd im Zimmer und nahm einen Topf herunter.
„Bitte machen Sie sich keine Umstände, Mr. Roberts. Sie müssen sich um Ihre Schülerinnen kümmern.“
„Die Mädchen arbeiten auf ihren Schiefertafeln. Ich werde nur rasch etwas Teewasser aufsetzen.“
„Nicht nötig. Sobald der Regen nachlässt, mache ich mich wieder auf den Weg.“
Er stellte den Topf beiseite und eilte zu dem einzigen Stuhl in der Kammer, um ihn für sie freizuräumen. „Bitte entschuldigen Sie die Unordnung. Ich bin ein wenig überfordert mit den vielen Schülerinnen. Wir haben sechs mehr als geplant, und ich fürchte, die nötigen Schreibarbeiten sind dabei ins Hintertreffen geraten.“
Aus dem Klassenzimmer drang Gekicher.
„Das ist eine Menge Papier“, bemerkte Amelia.
Er seufzte. „Vorwiegend Bewerbungsschreiben von Eltern, die ihre Töchter auf unsere Schule schicken möchten. Ich habe vor, alle Namen zu notieren und seiner Lordschaft vorzulegen, damit er darüber entscheiden kann. Aber wir können sie unmöglich unterbringen, bevor wir nicht weitere Räumlichkeiten und Lehrer haben. Es sind bereits jetzt zu viele Mädchen.“
„Das darfst du nicht, Tilly!“, rief eine Amelia unbekannte Stimme.
Mr. Roberts steckte den Kopf aus der Bürotür. „Den Blick auf die Schiefertafeln, junge Damen! Ich habe euch alle im Auge!“ Er drehte sich wieder zu Amelia um. „Ich bitte um Verzeihung, aber …“
„Vielleicht könnte ich behilflich sein“, entfuhr es Amelia. Was war in sie gefahren? Das passte nicht zu ihr. Doch sie genoss die Spaziergänge, und sie mochte die Mädchen und Mr. Roberts. „Ich kann hervorragend schreiben, und das in mehreren Sprachen. Ich könnte die Liste erstellen.“
Mr. Roberts sah sie befremdet an. „Aber Sie sind Lord Iddesleighs Gast.“
„Den ganzen Sommer lang. Und ich habe nichts, womit ich mich beschäftigen könnte. Bitte, Mr. Roberts. Ich würde sehr gern helfen, falls ich kann.“ Es überraschte sie, wie ernst es ihr war.
„Das sage ich Mr. Roberts!“, rief ein Mädchen.
Plötzlich wankte Mr. Roberts schwerfällig zum Schreibtisch. „Ich wäre ein alter Narr, würde ich Ihr Hilfsangebot ausschlagen.“ Er hob die Briefe auf. „Wenn Sie die hier einfach durchsehen und erfassen könnten, wie viele Mädchen um Aufnahme bitten, wäre ich Ihnen überaus verbunden. Und natürlich, aus welchem Dorf sie kommen und wie sie heißen.“ Er kramte herum und fand Papier und Bleistift.
„Na also, ich habe alles, was ich brauche“, beteuerte Amelia. „Gehen Sie nur zu Ihren Schülerinnen, Mr. Roberts.“
„Danke, Miss Ivanosen. Ich danke Ihnen.“ Er ließ sie allein und kehrte ins Klassenzimmer zurück. Sie hörte, wie er eine Schülerin, die offenbar von ihrem Platz aufgestanden war, sanft tadelte.
Amelia machte es sich auf dem Stuhl bequem und nahm den Briefstapel zur Hand. In den ersten beiden Briefen wurde schlicht um nähere Informationen über die Schule gebeten. Einer der Verfasser schrieb, seine Tochter habe zwar eine Bildung genossen, diese sei jedoch auf hauswirtschaftliche Fächer beschränkt, und er habe gehört, die Mädchenschule von Iddesleigh lehre auch Naturwissenschaften. Er wolle seiner Tochter die Möglichkeit eröffnen, sich diese zu erschließen.
Das erstaunte Amelia. Sie hatte dieselbe Ausbildung wie ein Junge erhalten – Naturwissenschaften, Sprachen, Rechnen, Astronomie. Ein weiterer Brief klang ganz ähnlich. Anschließend jedoch stieß sie auf ein Schreiben, das sie gleich zweimal las – zuerst verwirrt, danach so amüsiert wie fasziniert.
Der Absender, ein anonymer Einwohner, beschwerte sich über den Lärmpegel der Schule. Amelia musste lachen. Hier ging es in der Tat recht laut her. Der Stil des Briefes erinnerte sie stark an ihre österreichische Großmutter, die sich bis zu ihrem Tod nie über irgendetwas gefreut hatte – alles hatte ihr Missfallen erregt. Ihre Großmutter war so unleidlich gewesen, dass Justine und Amelia sich einen Spaß daraus gemacht hatten, allem zuzustimmen, was die alte Frau gesagt hatte. Je, die Dienstboten seien abscheulich. Je, das Essen sei fade. Je, die Soldaten, die in Formation vorbeimarschierten, seien zu laut.
Seltsamerweise hatte diese Bestätigung ihre Großmutter dann doch gefreut. „Siehst du?“, hatte sie ihre Tochter, Amelias Mutter, gefragt und sie dabei gegen den Arm geknufft. „Sie sind zu laut.“
Als Mr. Roberts ungefähr eine Stunde später vorbeischaute, hatte Amelia die Briefe sortiert. Ein Stapel enthielt die allgemeine Korrespondenz. Ein weiterer bestand aus Bewerbungsschreiben, und obenauf lag eine säuberliche Namensliste für ihn. Während sie sich die feuchte Schute aufsetzte, sagte sie: „Da ist noch ein Brief, ohne Unterschrift. Eine Beschwerde, wie ich leider sagen muss.“
„Oh, ja.“ Er nickte. „Die erhalten wir regelmäßig.“ Er deutete auf einige Schreiben, die hinter ihr in einem Regalfach lagen. „Der Verfasser heftet sie bei Nacht und Nebel an die Tür.“
„An die Tür?“ Welch merkwürdiges Gebaren. „Wer tut so etwas?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
Nun war Amelia umso überzeugter davon, dass es sich um ein altes Weiblein aus der Umgebung handelte. Sie schloss die Bänder ihrer Schute unter dem Kinn. „Soll ich morgen wiederkommen und fortfahren?“
Mr. Roberts wirkte erpicht darauf zuzustimmen, erwiderte jedoch: „Das kann ich Ihnen unmöglich zumuten.“
„Es ist keine Zumutung, wenn ich es freiwillig anbiete. Ich könnte einige der Briefe in Ihrem Namen beantworten.“
„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen auf ewig dankbar, Miss Ivanosen. Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Vielen Dank.“
Und sie war froh darüber, eine Beschäftigung zu haben.
Damit war es abgemacht.
Joshua hatte die Unart, spätnachts umherzuwandern und mondbeschienenen Pfaden zu folgen, ohne Sorge um Leib und Leben. Weshalb hätte er sich sorgen sollen? Hier passierte nie etwas. Sein Leichtsinn wäre ihm gar nicht bewusst gewesen, hätte Mr. Darren, sein Anwalt, nicht höchst entsetzt reagiert, als Joshua es erwähnt hatte. Mr. Darren hatte angemerkt, dass ein Duke, der des Nachts allein umherstreifte, leichte Beute für Diebe und Mörder sei.