Verbrennungen - Horst Warnatsch - E-Book

Verbrennungen E-Book

Horst Warnatsch

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Beschreibung

Ein neuer Fall für das LKA 45 in Hamburg, unter anderem zuständig für Brandstiftungsdelikte und Brandursachenermittlung, wenn es zu Todesopfern gekommen ist. Aber auch Brandserien werden übernommen, sofern Erfolg versprechende Spuren erkennbar sind. Das Ermittler-Team Sammy Saalfeld und Theo Kaufmann hat es dieses Mal mit einer Serie von kleinen und größeren Brandlegungen zu tun, die einen ähnlichen Ablauf und ein ganz bestimmtes gemeinsames Ziel erkennen lassen: nämlich Menschen und Institutionen an den Pranger zu stellen, deren Fehlverhalten von den zuständigen Ämtern unzureichend geahndet wurden. Ein Schwerpunkt bildet sich im Hamburger Stadtteil Ottensen, im Nernstweg, heraus. Dann brennt es in genau dieser Straße; in einer Altbauwohnung, die, wie Saalfelds Recherchen ergeben, zeitweise Bleibe und Spielwiese für einen pädophil veranlagten Menschen gewesen ist. Die Kripo vermutet, dass sie ihren Täter womöglich in einem der Mietshäuser gegenüber finden könnten, weil die Geschehnisse von dort gut zu beobachten gewesen wären. Die Angelegenheit ist insofern dringlich, weil eine Woche zuvor ganz in der Nähe die Leiche eines 11jährigen Jungen aufgefunden worden ist. Die Ermittlungen sind ein Geduldsspiel, führen dann völlig unerwartet in menschliche Abgründe, wie sie Saalfeld und Kaufmann nie für möglich gehalten haben.

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Verbrennungen

Das Feuer, das er sich zum Freund gemacht …

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1: Mittwoch, 3. Juni

Kapitel 2: Donnerstag, 4. Juni

Kapitel 3: Donnerstag, 4. Juni

Kapitel 4: Donnerstag, 4. Juni

Kapitel 5: Samstag, 6. Juni

Kapitel 6: Montag, 8. Juni

Kapitel 7: Montag, 8. Juni

Kapitel 8: Mittwoch, 10. Juni

Kapitel 9: Mittwoch, 10. Juni

Kapitel 10: Donnerstag, 11. Juni

Kapitel 11: Freitag, 12. Juni

Kapitel 12: Samstag, 13. Juni

Kapitel 13: Montag, 15. Juni

Kapitel 14: Mittwoch, 17. Juni

Kapitel 15: Donnerstag, 18. Juni

Kapitel 16: Freitag, 19. Juni

Kapitel 17: Samstag, 20. Juni

Kapitel 18: Die Zeit danach

Impressum neobooks

Kapitel 1: Mittwoch, 3. Juni

Da tragen sie den kleinen weißen Sarg mit routinierter Trauer zur letzten Ruhestätte. Vier Männer in Schwarz, gemessenen Schrittes, eine kleine trist gekleidete Trauergemeinde im Gefolge. Viele Kinder sind darunter.

Vorhin, in der kleinen Kapelle, hatte der Pastor bewegende Worte gefunden:

"Sogar diese Geschichte kann man neu erzählen - indem man sie mit der Liebe Gottes in Verbindung bringt." ... "Wir können sicher sein, dass Marc-Leon nun bei Gott ist und dass es ihm dort gut geht." ... "Gott wird alle Tränen sammeln, die wir vergießen, so dass niemand allein mit ihnen ist." ... "Ihr werdet fragen, wo Gott an diesem Abend gewesen ist, als Marc-Leon von einem unbekannten Menschen aus seiner behüteten kleinen Welt gerissen wurde, als das Leben eines elfjährigen Jungen nach einer hoffentlich nur kurzen Zeit des Leidens gewaltsam beendet wurde! Ich sage:Gott war auch da, mit seiner Liebe bei ihm, hat ihn nicht allein gelassen. Und eines Tages werden wir alle in der neuen Welt Gottes mit Marc-Leon wieder zusammen sein, während der Sünder mit seinem Gewissen und seinen Qualen für sich bleiben wird - sofern er nicht einen Weg zur Reue findet...."Hinter den tränennassen Augen der Mutter fehlte jeglicher Glaube.

NDR Fernsehen,Hamburg Journal. Die Stimme des Berichterstatters hörte er nicht. Er wusste aus der Zeitung, dass die Polizei zur Person des Kinderschänders noch keinerlei Hinweise erlangt hat. Und als der Sarg in die Grabstätte hinabgelassen wurde, schaltete er das Fernsehgerät aus.

Vorhin, in der kleinen Kapelle, nachdem die salbungsvollen Worte des Pastors verklungen waren, war keine Orgelmusik zu hören, nein, da wurde das Lieblingslied von Marc-Leon gespielt. Ein paar Zeilen des Refrains hatte er behalten:

Wärst du ein Zauberer /

dann gäb's nur Sonnenschein /

wärst du ein Zauberer /

wär niemand mehr allein /

wärst du ein Zauberer, ein Zauberer, ein Zauberer, ein Zauberer /

dann würden alle Menschen Freunde sein.

Die Melodie wollte ihm nicht aus dem Kopf. So eine schöne Melodie! Gott, wie hieß der Sänger nur noch? Im Refrain ein Knabenchor, der so sehr nach Freundschaft und Zusammenhalt klang.

Als er die Stimmen hörte, gab es kein Halten mehr. Ihm liefen die Tränen, Augen und Wangen klitschnass, und in seine Trauer über den Tod des kleinen Jungen mischte sich Wut auf den Mann, der Hand an ihn gelegt hatte.

So ein netter Junge! Sie zeigten ein Foto von ihm aus unbeschwerten Tagen. Da lächelte er, mit leicht zusammengekniffenen Augen in die Kamera; offenbar blendete ihn die Sonne. Ein schmales Gesicht, volles, mittelblondes Haar, nackenlang, ein wenig zerzaust vom Herumtollen; dunkle Augen, Augenbrauen mit einem schwach ausgeprägten energischen Zug und leicht geöffnete, volle Lippen, die große, schön gewachsene Zähne zeigten. Zwischen den oberen Zähnen gab es vorn eine schmale Lücke. Er trug ein kaffeebraunes Sweatshirt mit einer Aufschrift, die man nicht entschlüsseln konnte. Von seinem Peiniger gab es nicht einmal eine Phantomzeichnung.

Den Friedhof, wo der Junge beigesetzt wurde, kannte er. Ein kleiner Friedhof am Ende des Holstenkamps. Ganz in der Nähe vom Bahrenfelder Forsthaus. Und nicht weit von dort wohnte der Junge auch. In der Wittenbergstraße, wurde gesagt. Sie hatten in dem Bericht viele Einzelheiten preisgegeben und gefragt, ob er jemandem aus der Bevölkerung aufgefallen ist, als er auf seinem Fahrrad nach Ottensen zu seiner Großmutter gefahren war.

Wenn man sich das nur vorstellte! Hierher nach Ottensen. Eigentlich führte ihn der Weg fast nur entlang von Hauptstraßen, für einen Elfjährigen eine sichere Strecke, selbst in der Abenddämmerung. Irgendwo auf dem Weg sollte das Verbrechen dann verübt worden sein, vielleicht sogar gar nicht weit vom Wohnort der Oma. Sicher nicht! Denn die Oma wohnt in der Großen Rainstraße, unweit vom Bahnhof Altona und gerade mal ein paar Häuserblocks von hier entfernt!

Gefunden hatten sie den Jungen auf einer kleinen, baumbestandenen Grünfläche hinter dem Haus Barnerstraße 10. Mit Kopf und Füßen in zwei große Industriemüllsäcke gesteckt und dann in einen Teppich gerollt!

Gott, irgendwie musste der Täter ihn ja nach dort hingeschafft haben! Hatte das denn niemand mitbekommen?

Wärst du ein Zauberer / dann gäb's nur Sonnenschein,....

Ihm wollte diese wunderschöne Melodie einfach nicht mehr aus dem Kopf.

*

Dann saß er eine ganze Weile da und starrte auf den dunklen Bildschirm. Er saß auf seinem Lieblingsplatz. Ein Zeitungsstapel als Sitzfläche, zwei etwas höhere als Armlehne. Für den Rücken waren hinter ihm bunte Kissen und ein hellbrauner, flauschiger Teddybär angeordnet. Den Sitzplatz hatte er so ausgerichtet, dass er zur Rechten aus dem Fenster bis auf die Straße hinunter schauen konnte. Manchmal ersparte der Blick nach draußen das Fernsehprogramm. Es gab immer etwas zu beobachten und wenn es mal nichts zu beobachten gab, füllte seine Fantasie Häuser und Straßen. Gleich unter dem Fenster der alte vergilbte Heizkörper, der in der kälteren Jahreszeit für besonderes Wohlbehagen sorgte. Und vis-à-vis, neben dem alten Wohnzimmerschrank, sein neuer weißer Flachbildfernseher.

Er mochte den Geruch von Zeitungen. Die ganze Aktualität und Relevanz lagen darin! Sog er ihn ein, war es, als würde der Informationsfluss direkt in sein Gehirn münden. Die Zeitungen stapelten sich rings um den Wohnzimmertisch und ersetzten Sofa und Sessel. Damit er überall hingelangen konnte, hatte er Schneisen gelassen, die wie Straßenschluchten wirkten.Bild-Zeitung undHamburger Abendblatt. Alle Exemplare durchgelesen und alle Artikel eingerahmt, die ihn besonders bewegten. Die über Marc-Leon verteilten sich im Mai über einige Tage und jedes Mal war ein Bild von dem Jungen eingefügt. Das Portrait vom 27. Mai war besonders gelungen und die Vorstellung, dass es ihn nicht mehr gab, bereitete ihm ziemliche Schmerzen. In derBildvom 28.5. konnte man ihn unbeschwert auf der sonnenüberfluteten Segelyacht seiner Eltern sehen. Vater, Mutter und die ältere Schwester, alle waren an Deck.

Warum?, fragte er sich. Warum hatte es so kommen müssen?

Und was das alberne Gerede vom Pastor nur sollte!Dass Marc-Leon nun bei Gott ist und es ihm dort gut geht!Wie könnte ein 11jähriger so denken, wenn ihm eigentlich noch so viel irdische Zukunft bevorstand? Oder.....Gott war auch da, mit seiner Liebe bei ihm, hat ihn nicht allein gelassen.Ist es von Vorteil, zwar leider gestorben, nur eben nicht allein gestorben zu sein?

Und wie schön: Jemand sorgt sich um ihn in der Zeitnachdem Ableben, jemand, den er nie zu Gesicht bekommen und von dem er eigentlich mehr erwartet hatte.

Wie werden Mutter und Vater die Erinnerungen an ein fröhliches Kinderlachen los, wenn Gott Trost spendet und es das Lachen nie mehr geben würde? Seine Aufgabe wäre es doch gewesen, die Signale für jedermann erkennbar zu machen, die Signale, die abnorme Menschen mit sexuellen Abirrungen aussenden. Seine Aufgabe wäre es gewesen, das Schicksal so zusammenzufügen, dass Täter und Opfer einander nicht begegnen.

Gott hat also jämmerlich versagt!

Seit diesem schrecklichen Ereignis hatte er eine ungeheure Wut auf alles, was mitKirchezusammenhing. Das regelmäßige Glockengeläut der Osterkirche ein paar Häuserblocks entfernt und seine eigene Vergangenheit, auf die der schwarze Schatten von zwei Jahren Konfirmandenunterricht und seiner Konfirmation fällt, die er eigentlich nie gewollt hatte. Und wenn er nur an das kirchliche Zeltlager vor den Toren Hamburgs dachte! Wie der eine ehrenamtliche Begleiter seine homophilen Neigungen auszuleben versuchte! Wie kann man Gott vertrauen, wenn er nicht einmal im eigenen Haus für Ordnung sorgt!

Ächzend stemmte er sich aus seinem Lieblingsplatz heraus. Dabei rutschte die Tüte Kartoffelchips auf den Boden und ergoss den verbliebenen Inhalt auf den alten Perserteppich. Mit seinem braunen Kunstlederpantoffeln zerquetschte er die kleinen knusprigen Scheiben zu Krümeln, als müsste er sich lästigen Getiers erwehren. Ein Mann, Ende 20, von unsportlicher Statur, mit schmalen Schultern und breiten Hüften, darüber ein nachlässig geknöpftes, rot-schwarz kariertes Flanellhemd und eine fleckige, dunkelblaue Jogginghose, die er nur zu Hause trug.

Er trat an das Fenster, das vor der dunklen Fassade des alten Wohnhauses gegenüber ein schwaches Spiegelbild von ihm erzeugte. Nur nebenher nahm er von seinem blassen Gesicht Notiz; ein rotbrauner, zotteliger Vollbart und ungekämmte, lockige Haare rahmten die weiße Haut ein.

In unbestimmte Gedanken versunken beobachtete er die Passanten in seiner Straße. Jugendliche Türken, die gerade gestikulierend Richtung Bahrenfelder Straße tänzelten, eine dickliche Frau mit langem schwarzen Mantel und Kopftuch, die, gefolgt von einem krummbeinig dahin schlurfenden kleinen Jungen, eine Kinderkarre voller Aldi-Tüten vor sich her schob. Und eine junge Frau mit kurzen roten Haaren und Joggingschuhen fiel ihm noch auf. Sie trug eine dunkle Umhängetasche, lässig übergeworfen, und hatte einen forschen, federnden Gang, so wie er ihn bei Frauen so mochte.

Wärst du ein Zauberer, dann gäb's nur Sonnenschein.

Ein Auto fuhr langsam Richtung Gaußstraße, dann ein gelber Kleintransporter, der abbremsen musste, als die Rothaarige die Straße überquerte.

Obwohl die Motoren heutzutage schon sehr leise waren, die Fahrgeräusche wurden in der Häuserschlucht manchmal zu einem Fortissimo. Das passierte vor allem dann, wenn ein paar Überdrehte im niedrigen Gang den Motor aufheulen ließen. Einige junge Türken kannten da keine Gnade. Wenn bei sommerlicher Hitze auch noch die Seitenscheiben hinuntergelassen waren, boten die Hausfassaden einen idealen Resonanzboden für ihre traditionelle Popmusik. Ihn traf es dabei besonders, weil das Haus, in dem er wohnte, wohl als einziges noch nicht schallisoliert war.

Wie er sich darüber ärgerte! Gleich einer Welle puren Adrenalins kam plötzlich der ganze Zorn auf den Vermieter in ihm hoch. Monat für Monat kassierte der den Mietzins, der am oberen Limit lag, wohingegen für ihn Wohnqualität und zeitgemäßer technischer Standard Fremdworte waren. Dem Pallmann gehörten in Ottensen und BahrenfeldeinigeGebäude und wie er wusste, ließ er sie systematisch verkommen. Er hatte nicht vergessen, wie man sich in der Nachbarschaft über dieses Thema austauschte.

Seine Gedanken gingen oftmals diesen Weg. Immer im Kreis herum. Es genügte nicht, diesem Manne nur einen einzigen Denkzettel zu verpassen. Man müsste ihn immer und immer wieder ärgern und nicht zur Ruhe kommen lassen. Vielleicht sollte er keine Zeit verlieren und sich zum Terminator, zum Vollstrecker aufschwingen.

Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als etwas passierte, das er intuitiv als bedeutsam einstufte. Beinahe unbemerkt war ein Junge aus dem Haus schräg gegenüber auf die Straße getreten. Der Junge war nicht groß, vielleicht einen Meter fünfzig. Er trug eine olivgrüne Cargohose; das T-Shirt in einer etwas helleren Tönung und an den Schultern dunkelblau abgesetzt. Auf der Vorderseite prangte eine große, weiße "78". Sogar hier vom Fenster aus konnte er erkennen, dass seine Turnschuhe nicht ganz billig gewesen sein dürften. Seine gesamte Erscheinung zeigte, dass er aus gutem Hause stammte. Dunkelbraunes, schulterlanges Haar, dessen Wellen im ersten Lichtschein der Parterrefenster seidig glänzten. Ein oval geformtes Gesicht mit schwungvollen Augenbrauen und wachen dunklen Augen, so wach, dass der Mann am Fenster instinktiv zurück wich und sich hinter dem Vorhang verbarg. Es schien, als wollte der Junge jeden Moment zu ihm herauf schauen.

Er wusste, der Kleine wohnte dort drüben nicht. Nirgendwo hier in der Umgebung. Ihm wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass er vielleicht auch in dieser merkwürdigen Wohnung zu Besuch war, in die er schon ab und zu mal Kinder oder Jugendliche hineingehen sah. Er wohnte hier lange genug um zu wissen, dass in dem Haus nur alte Leute und zwei ausländische Familien mit Kleinkindern wohnten. Anfangs dachte er, die Jungen wären vielleicht Babysitter, bis er im vorletzten Monat bemerkte, wie ein 13-, höchstens 14jähriger das Haus betrat und kurz darauf in der zweiten Etage das Licht anging. Flüchtig sah er den Jungen im Hintergrund, ehe eine hagere, langhaarige Gestalt die Fenstervorhänge zuzog. Später hatte er den Mann einmal beiAldiund einmal am Kinderspielplatz gegenüber der Osterkirche gesehen. Ein ungepflegt wirkender Zeitgenosse mit schlabbrigem Wollpulli und Blue Jeans, die wer weiß wie lange keine Waschmaschine mehr durchlaufen hatten.

Er hatte ein schmales, graues Gesicht mit ausgeprägter Faltenbildung. Das graue Haar war in der Stirn ausgedünnt, und hinten fiel es lang und ungepflegt bis über die Schultern. Schwer einzuschätzen, wie alt dieser Mann war. Er sah aus wie sechzig, konnte aber auch Anfang fünfzig sein, so forsch, wie er sich fortbewegte.

Er hätte sich gern ins Treppenhaus hineingewagt um herauszufinden, welcher Name an der Wohnungstür steht. Aber er traute sich bisher nicht. Immer, wenn er die Haustür aufdrückte - der automatische Schließmechanismus schien defekt zu sein - , hörte er irgendwelche Geräusche, oder es kam tatsächlich jemand die Treppen herunter.

Der Kerl wohnte dort auch nicht, das könnte er beschwören! Wenn er neu eingezogen wäre, hätte er entweder vom Umzug oder von der Renovierung etwas mitbekommen müssen, selbst wenn er nicht immer zu Hause war.

Die Nackenhaare stellten sich ihm auf bei der Vorstellung, dass der Junge eben beidiesemMenschen in der Wohnung war!

Er trat wieder vor und schaute aus dem Fenster. Der Junge verschwunden und die Vorhänge drüben zugezogen. Und sie waren nicht zugezogen, weil etwa die Schlafenszeit bevorstand. Sie verbargen irgendein schmutziges Geheimnis, davon war er felsenfest überzeugt!

Fast zwangsläufig musste er wieder an Marc-Leon denken. Was für ein naher örtlicher Zusammenhang sich daraus konstruieren ließe!

Er kratzte sich in seinem Bart und wurde ganz zittrig.

Das könnte nun wirklich kein Zufall sein! Die Besuche von netten Jungen, Kinder auf einem Spielplatz beobachten. Oh, nein! Vor so etwas sollte man die Augen nicht verschließen, diese Möglichkeit musste man einfach in Betracht ziehen. Underwurde ja geradezu Zeuge.Ihmwar es unabweislich beschieden zu helfen und auf diesen Menschen aufmerksam zu machen. Offenbar hatte keiner der Hausbewohner überhaupt eine Ahnung davon, was in der zweiten Etage vor sich geht! Somit konnte es nurihmvorbehalten sein, diese Angelegenheit zu erhellen.

Wärst du ein Zauberer, wär niemand mehr gemein.

Der Sänger hatte einenholländischen Akzent. Er kam nur nicht auf seinen Namen.

Kapitel 2: Donnerstag, 4. Juni

"Herrjeh, Stefan! Das sieht ja schlimm aus!" Thorsten Romeike, Leiter des LKA 45, hatte gerade Henningsens Büro betreten und fand seinen Mitarbeiter mit Theo Kaufmann in eine Diskussion vertieft. Die Verletzungen waren weithin sichtbar, weil Henningsen die Hemdsärmel bis zum Ellenbogen aufgekrempelt hatte. Die Lichtverhältnisse im Büro waren dazu geeignet, die optische Wirkung in beklemmender Weise zu verstärken.

Oberhalb des Handgelenks erstreckte sich eine 5 cm lange Hautrötung, die von einer glänzenden Schicht abgedeckt war. "Halb so schlimm." - und zeigte dann auch noch seinen rechten Unterarm, den ein 10-Cent-großes rotes Mal zierte, ebenfalls großzügig mit kühlendem Brandgel bestrichen.

"Verbrennungen 1. Grades", kommentierte Theo Kaufmann grinsend. Er saß rittlings auf dem Besucherstuhl, die Unterarme auf der Rückenlehne und sein Kinn auf den Unterarmen abgestützt.

"Und wie passiert?"

"Ich muss mich leider allein versorgen. Iris ist für eine Woche auf einem Seminar, und ich hab' die Wäsche gebügelt und mir  'ne Pizza gebacken."

"Iris ist seineFreundin", erläuterte Kaufmann mit einer Betonung, die ihm böse Blicke einbrachten.

"Und alles an einem Tag passiert?"

"Es gibt eben solche und solche Tage."

Das Gesicht des LKA-Leiters drückte verhaltenes Mitgefühl aus. Als er sich die Verletzungen aus der Nähe ansah, umfing Henningsen der Geruch vonAlpecin forte, den Romeikes grauer Bürstenhaarschnitt umströmte.

"Hoffentlich von einem Fachmann begutachtet?"

"IchbinFachmann."

Romeike richtete sich auf und blinzelte ihn an. "Nicht, dass sich da ein Schwelbrand gehalten hat und dir über Nacht die Arme abfallen."

Gequältes Lächeln.

"Aber weswegen ich euch eigentlich stören musste….." Romeike war auf der Suche nach einem Tauschpartner für die Rufbereitschaft am Wochenende, weil Pascal Matzel dringend sein Segelboot zu Wasser bringen musste. Nach langem Schweigen war es Theo Kaufmann, der mit den Schultern zuckte und bekundete, dass er nichts Besonders vor hätte.

Nachdem das geklärt war: "Habt ihr schon zu Mittag gegessen?"

"Vor 'ner guten Stunde", log Henningsen. Wegen der Aussicht, dass nur dienstliche Angelegenheiten thematisiert werden, aß niemand gern mit dem Chef zu Mittag. "Es könnte aber schon bald wieder Kaffee und Kuchen geben."

"So macht man weiter." Romeike schaute aufgeräumt in die Runde, wurde jedoch postwendend ernst, als sein Blick über den Schreibtisch und die aufgefächerte Fotodokumentation flog. "Die Bilder gehören zu dem tödlichen Arbeitsunfall von neulich, oder irre ich mich?"

"Wir haben uns gerade den Kopf über die Verantwortlichkeiten zermartert", erklärte Kaufmann und rückte seine unauffällige Brille mit dem schmalen Goldrand gerade.

Es ging - welch' bittere Ironie! - um einen Krankenhaus-Neubau, wo ein Techniker, mit dem Ausmessen der Empfangsverhältnisse für das Internet befasst, in eine Öffnung stürzte, die für die Versorgungsleitungen ausgespart war. Im Fallen drehte er sich so unglücklich, dass er mit Kopf und Genick zuunterst vier Meter tiefer auf einem Gitterrost aufschlug.

Romeike setzte sich an Gregor Pergandes freien Schreibtisch. "Genau, ich erinnere mich. Anfang letzten Monats passiert."

"Ja, vor knapp sechs Wochen", bestätigte Henningsen. "Ermittlungen, Vernehmungen, alles erledigt, aber das reicht leider immer noch nicht für ein abschließendes Statement."

"Lass die deswegen keine grauen Haare wachsen lassen, Stefan. Der Staatsanwalt hat zu Ultimo ein paar Tausender mehr auf seinem Gehaltskonto. Soll der entscheiden."

"Das mit den Haaren finde ich gut", entgegnete Henningsen und fuhr sich mit der Hand über seinen ebenmäßigen Schädel, wo erst etwa ab Kopfmitte millimeterlanger Haarwuchs einsetzte.

"Kläre mich doch bitte nochmal über die Problematik auf."

"Na ja, genau genommen recht simpel: Der Raum mit dem offenen Versorgungsschacht hatte noch keine Tür. Die Gefahrenstelle war mit rot-weißem Plastikband kenntlich gemacht, das wie ein Kreuz diagonal vor die Öffnung geklebt war. Nun kommt der Zimmermann und soll eine Türzarge einpassen, nimmt natürlich das Flatterband weg und macht seinen Job. Befindet sich mit irgendwelchen Vorbereitungen gerade etwas abseits, als wegen der Messungen der Ingenieur erscheint. Er soll gefragt haben, ob man diesen Raum betreten darf. Das sagten der Zimmermann und ein Glaser, der am hinteren Ende der angrenzenden Räumlichkeit beschäftigt war, übereinstimmend aus. Der Zimmermann will aber nun geantwortet haben, nein, noch nicht, da ist ein Loch im Fußboden. Der Glaser will verstanden haben, ja, aber Vorsicht.

Der Raum, gerade mal 4 m² groß, die Hälfte davon Bodenöffnung, und es fiel kein Tageslicht hinein. Tja.....!" Henningsen schob Romeike die Fotos hin, die Unfallort und Unfallopfer abbildeten. "Hinterlässt Ehefrau und zwei Kinder."

Romeike verzog schmerzlich das Gesicht. "Stürze aus vier Metern Höhe sind schon glimpflicher verlaufen."

"Den Verletzungen nach zu urteilen muss er seitlich, ein Bein zunächst noch auf festen Boden, in den Schacht gekippt sein. Er hatte einen Laptop in den Händen und ein Messinstrument um den Hals hängen und fand so nicht schnell genug Halt." Er machte eine Pause, überdachte die Ermittlungen und fügte hinzu: "Der Bauleiter ist aus dem Schneider. Er hatte ein Rundschreiben rausgegeben, wonach jedes Gewerk und jeder Mitarbeiter selbständig auf gute Ausleuchtung und bauliche Veränderungen achten sollte, die in dieser Bauphase täglich vorkamen und unvermeidlich waren."

"Und warum war das Loch nicht einfach abgedeckt, wie auf der darunter liegenden Etage?"

"Ursprünglich sollen Bretter darüber gelegen haben, aber niemand kann sagen, wer sie aus welchem Grunde entfernt hat." Henningsen schüttelte resigniert den Kopf. "Wir haben an die dreißig Bauarbeiter vernommen."

Es klopfte an der Tür, die im selben Moment auch schon aufgedrückt wurde. "Hi, allerseits!"

Drei Augenpaare musterten den eintretenden Besucher. Brian Niemann von der ZD 644, der regionalen Brandermittlung. Sie ist zuständig für Hamburgs Westen, Norden und einen Teil der Innenstadt - wenn sich ein Verfahren als überschaubar erwies und keine Toten zu beklagen waren.

"Sorry, wenn ich störe, aber es ist ja sonst niemand da von euch." Sein Blick irgendwie schräg, das mittelblonde Haar schulterlang, mit dichten Strähnen, die er sich wegen der Sichtbeeinträchtigung fortwährend aus dem schmalen Antlitz streichen musste. Er trug eine enge Lederhose, ein weißes T-Shirt und darüber, aufgeknöpft und leger, ein graues Oberhemd. "Ich habe gerade was zur KTU gebracht und dachte, ich schau' kurz mal bei euch rein."

Romeike entfaltete seine ein Meter neunzig aus dem Schreibtischstuhl, tat ein paar Schritte auf Niemann zu und schüttelte ihm die Hand. "Das ist natürlichsehr nett. Liebe Kollegen haben wir immer gern um uns. Vielleicht hat Christa ja schon den Kaffee fertig. Dann setzt du dich einfach schon mal in unseren Konferenzraum und wir kommen nach, wenn wir mit unserer kleinen Unterredung am Ende sind."

*

Der Konferenzraum strahlte die typische büromäßige Behaglichkeit aus. Kaffeeautomat und Kaffeeutensilien auf einem grauen Sideboard und offen stehende Schiebetüren, die Einblick auf ein Sammelsurium an Geschirr mit Flohmarktcharakter gewährten. Auf dem Fensterbrett liebevoll gepflegte Grünpflanzen, dazwischen ein Gartenzwerg auf einem Motorrad. Den fand Niemann als Biker natürlich besonders entzückend. Und durch das Fenster konnte man von hier aus die Kollegen anderer Dienststellen bei der Arbeit beobachten, die selbst bei Kriminalbeamten mitunter wie Müßiggang anmutet. Schlecht, wenn bei einem Gebäudekomplex mit sternförmigem Grundriss die Büroräume zum Innenhof liegen. Der Polizeipräsident mit seinem Büro in der fünften Etage könnte bestens Kontrolle ausüben, aber wahrscheinlich hatte er Wichtigeres zu tun.

Als Niemann vor ein paar Minuten den Raum betreten hatte, wurde er von betörendem Kaffeeduft eingefangen. Christa war nicht in Sicht. Er setzte sich und blätterte im Polizei-Journal, bis wenige später Romeike, Henningsen und Kaufmann erschienen.

Henningsen holte vier Kaffeebecher hervor und ließ Kaffee hineinlaufen. Er wandte sich Niemann zu. " Milch? Zucker?"

"Schwarz." Niemann sah sich um. "Das ist bei euch so ruhig. Wo sind die anderen alle?"

Henningsen ließ sich auf den Sitz fallen. "Sind unterwegs und haben zutun." Er grinste. "Beiunsgibtes keinen Leerlauf."

Romeike, der kurz im Nebenraum verschwand, präsentierte eine Tüte mit Waffelgebäck, die er unfachmännisch aufriss und in eine Kristallschale schüttete. "Zur Feier des Tages."

"Und was gibt's zu feiern?" fragte Niemann.

"Dass ein lieber Kollege der ZD den Weg zum großen LKA 45 gefunden hat", stichelte Henningsen.

Romeikes Gesicht erhielt etwas Offizielles. "Nein - ...dass unser Theo die Aufnahmeprüfung zum Ratslehrgang bestanden hat."

"Ist das wahr?" Niemann grinste. "Glückwunsch! Aber dann bist du ja später gar kein richtiger Krimsche mehr."

"Im Gegenteil. Unter meiner Regie als Polizeipräsident wird endlich Schluss sein mit dem organisatorischen Dilettantismus. Die Verbrechensbekämpfung soll endlich wieder in den Vordergrund rücken!"

"Genau so hättest du's bei der Aufnahmeprüfung sagen sollen", kommentierte Romeike hintergründig. Er zog sein taubenblaues Jackett aus, hängte es über die Stuhllehne und setzte sich.

Sie schlürften Kaffee, die Kekse gingen reihum, sie tauschten sich über Neuigkeiten aus und ergingen sich in den üblichen spaßhaften Sticheleien über das große LKA 45 mit den zwar gehaltvollen und leichengespickten, aber zahlenmäßig wenigen Ermittlungsverfahren und die kleine ZD 644 mit haufenweise Containerbränden, vor allem während der Grillsaison im Stadtpark.

Das stimmtesonatürlich nicht wirklich. Regional wurde ganze Arbeit geleistet. In der ZD lief eine stattliche Anzahl hochkarätiger Fälle auf, die mit acht Kriminalbeamten mitunter nicht zu bewältigen waren. Viele kleinere Sachverhalte, in denen Ermittlungsansätze zu erkennen sind, mussten sie aus reinem Selbstschutz klein halten. Fielen sie bei der Prüfung der Beweisbarkeit durch, blieben sie eineUnbekannt-Sache.

Sie alle hier wussten aus der Vergangenheit, dass Niemann nicht so war. Sobald sein Bauchgefühl anschlug, konnte er sich in manche Straftat förmlich hinein wühlen. Das hatte zur Folge, dass er die offizielle Bearbeitungsfrist regelmäßig überschritt und in ständigem Clinch mit seinem Vorgesetzten lag. Dabei war der nur ein kleines Licht. Herrin der Ermittlungsverfahren war nun mal die Staatsanwaltschaft und die würdigte detaillierte und exakte Ermittlungsarbeit, auch wenn sie sich mitunter ein halbes Jahr hinzog.

"Und in welcher Angelegenheit warst du bei der KTU?", fragte Romeike, während seine Hand in der Keksschale wühlte.

"Ich war bei Doc Sager, den Brandbeschleuniger analysieren lassen. Im Zusammenhang mit einer versuchten Schweren Brandstiftung im Nernstweg."

"Ah, die Wohnung der alten Dame." Der LKA-Leiter überlegte kurz. "Da gab es in Ottensen doch noch einen zweiten Brandort."

Niemann schmunzelte. "Ja, vor dem Kirchenportal. Mein erster Gedanke war: ein Dummer-Jungen-Streich. Die Lackierung der schweren Eingangstür ist nur oberflächlich angesengt."

"Und dein zweiter Eindruck?"

Das Lächeln verschwand aus Niemanns Gesicht. Ein paar Sekunden ging er in sich und fragte dann: "Ihr übernehmt doch auch Brandserien. Daran hat sich nichts geändert, oder?"

Henningsen lachte. "Nernstweg und Kirche wären aber noch etwas wenig, Brian."

"Klar, weiß ich doch." Seine Hand zwängte sich in die Tasche seiner Lederhose und förderte ein zusammengeknifftes Stück Papier zutage, das, entfaltet, immerhin DIN-a-4-Format annahm. "Ich habe hier aufgelistet, wozu ich euch um eure Einschätzung fragen wollte. Es geht nicht nur um die beiden Fälle von letzter Nacht, sondern eine ganze Reihe weiterer Brände im Raum Ottensen und Bahrenfeld. Auch Altona und Eimsbüttel." Seine Augen tauchten hinter dem Schriftstück auf. "Lacht bitte nicht. Ich krieg das mit!"

"Niemand lacht", ermunterte ihn Romeike. "Lies vor! Welche Brandorte zählst du hinzu?"

"Okay. Erstens: Montag, 16. März 2009 - bis dahin zurück habe ich die alten Akten bis jetzt studiert - zwei Müllcontainer im Innenhof einer türkischen Bäckerei, auch im Nernstweg.

Dann, in der Nacht auf Sonntag, 22. März, Zeitungspapier auf dem Hinterreifen eines Maserati. Wurde rechtzeitig entdeckt, daher geringer Sachschaden."

"Fällt also nicht in unsere Serie an Kfz.-Bränden", konstatierte der Chef.

"Richtig."

"Wo war das mit dem Maserati?", wollte Kaufmann wissen.

"Piependreiherweg. 'Ne Sackgasse mit einem Durchgang zur Bahrenfelder Straße und zur Ottenser Hauptstraße. Drei-, vierhundert Meter vom Nernstweg entfernt. Nur zur Orientierung.

Der nächste dann am Mittwoch, 15. April, eine Kinderkarre im Treppenhaus, vor einer Wohnungstür. Das Ganze in der Abbestraße, Ottensen, einen Häuserblock vom Nernstweg entfernt. Gab eine ziemliche Sauerei in dem Haus, wegen der hohen Kunststoffanteile, die da verbrannten.

Am 24. April, Freitag, Bahrenfelder Steindamm 18a, Kunststoffgegenstände im Treppenraum. So als hätte der Täter Gefallen daran gefunden, dass sich diese schmierigen Verbrennungsprodukte bis in jeden kleinsten Winkel ausbreiten. Kein echter Brandschaden, aber von oben bis unten, alles schwarz.

Dann: Freitag, 8. Mai, vor einer Wohnungstür in der Gaußstraße. Einen mit Leichtbenzin getränkten Brandsatz auf die Fußmatte gelegt. Wer's nicht weiß: In die Gaußstraße mündet unter anderem auch der Nernstweg.

Und eben die Brände von letzter Nacht. Dazu noch einige Kleinfeuer, die aber bisher unklar sind."

Schweigen.

In das Schweigen hinein betrat Sammy Saalfeld den Raum. Turnschuhe, Blue Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarzes, lockiges Haar, Drei-Tage-Bart.

"Hey, Leute, hab' ich was verpasst?" Er stellte seinen Alu-Koffer neben das Side-Board und schwenkte prüfend die Kaffeekanne. "Oha, ihr habt noch übriggelassen. Wird positiv vermerkt." Während er seinen Becher füllte, nahm er den Besucher von der ZD wahr. Er ließ seine weißen Zähne aufleuchten. "Brian, alter Spießgeselle!" und erinnerte sich an die stets inspirative Zusammenarbeit mit ihm. "Was treibt dich auf unsere Bühne?"

"Ich will ein paar Akten bei euch versenken, damit ich wieder Luft bekomme." Niemann grinste. "Nein, im Ernst....." Er fasste sein Anliegen noch einmal zusammen und fügte abschließend hinzu: "Ich weiß ja selbst: Viele Kleinfeuer sind Zufallsprodukte von umherstreunenden Alks oder Psychos, aber wenn man sich bei bestimmten Brandorten einfach mal die Mühe macht, die Opfer unter die Lupe zu nehmen, kann man schon einige Überraschungen erleben."

"Du zielst mit deinem Seriengedanken also auf eine Übereinstimmung im Opferstatus ab", hinterfragte Romeike.

"Nicht nur." Niemann schob mit Schwung seinen Haarvorhang zur Seite und wartete, bis Saalfeld sich ihm gegenüber an den Tisch setzte.

"Was ist mit den Opfern?", wollte Henningsen wissen.

"Sie sind in irgendeiner Weise verhaltensauffällig." Niemann schaute flüchtig auf, als wollte er sich vergewissern, ob nicht doch jemand grinste. "Der Reihe nach: Die Müllcontainer standen im Hofdurchgang zur Bäckerei und gehörten auch zu diesem Betrieb. Der Durchgang ist nachts verschlossen und wird erst geöffnet, wenn die Leute mit ihrer Arbeit beginnen. Gegen den Inhaber lief ein Bußgeldverfahren wegen des Verstoßes gegen Hygienebestimmungen.

Der Maserati gehört einem jungen Türken, der der Zuhälterszene zugerechnet wird. Wurde auch schon im Besitz Harter Drogen angetroffen.

Die Kinderkarre gehört zu einer allein erziehenden Mutter, die als alkoholabhängig gilt. Gegen sie läuft ein Sorgerechtsverfahren. Sie drohte mehrfach, sich und das Kind zu töten, wenn jemand käme, um es ihr wegzunehmen. Die Familienfürsorge versucht seit einigen Wochen einengoldenen Mittelwegzu finden.

Das Objekt Bahrenfelder Steindamm 18a gehört einem Miethai. Vermietet bevorzugt an Wohngemeinschaften und nimmt von jedem Mitglied einen horrenden Mietzins. Gleichzeitig investiert er kaum einen Cent in Erhalt oder Modernisierung der Gebäude.

Gaußstraße: Die Wohnung eines jungen Paares, wo der Mann als gewalttätig gilt und seine Partnerin schon mehrfach grün und blau geschlagen hat. Die Frau hat allerdings nie einen Strafantrag gestellt. Warum wohl nicht?" Niemann verzog gequält das Gesicht. "Und eben letzte Nacht, nochmal im Nernstweg, einen Brandsatz durch den Briefschlitz in die Wohnung der alten Dame geworfen."

".....die als Drogendealerin polizeibekannt ist", mutmaßte Saalfeld augenzwinkernd.

Ein kurzes Lachen brandete auf, aber Niemann wurde sofort wieder ernst. "Die alte Dame, sie ist 84 Jahre alt, passt natürlich nicht so gut in das Opferschema. Da wiederum greift die Begehungsweise, genauso wie bei der Osterkirche." Niemann machte eine Gedankenpause, trank einen Schluck Kaffee und sah wieder auf seinen Zettel. "In diesen und einigen weiteren Fällen setzte der Täter einen selbstgedrehten Fidibus ein. Entweder war er in Brandbeschleuniger getränkt oder mit leicht entflammbarem Material verbunden."

"Es kann aber nie zu einem größeren Schadensereignis gekommen sein", meinte Romeike, "andernfalls wär' es uns doch aufgefallen."

"Ja. Der Brandschaden war in allen Fällen eher gering, mit Ausnahme der Sauerei bei den Kunststoffverbrennungen, wozu ich natürlich auch die Müllcontainer zähle. Und die alte Dame war gestern nicht zu Hause."

"Also kann man in fast allen Fällen von einer versuchten Schweren Brandstiftung ausgehen.....?" Romeikes Blick spiegelte ehrliches Interesse wider.

".....mit Ausnahme des Feuers an der Kirche. Diese Brandlegung wäre absolut nicht geeignet gewesen, die Kirche niederzubrennen."

".....was auch der Täter wusste?" Kaufmann nahm es ganz genau. Er warf den BegriffTäterwillein den Raum.

"Wenn er halbwegs bei normalem Verstand ist."

"Ha!", merkte Henningsen auf. "Das ist bei Zündlern ja schon mal generell die Frage!"

"Du weißt, was ich meine."

Schweigen.

Romeike ließ sich von Niemann den Zettel geben und überflog die Aufstellung. Er tippte auf das knitterige Blatt Papier. "Und was ist mit den anderen Brandorten?"

"Ein Altpapiercontainer fünf Meter vor dem Laden eines türkischen Lebensmittelhändlers - wo das Gesundheitsamt nach anonymer Anzeige auch schon mal kontrolliert, aber nichts Bedenkliches gefunden hat. Ein weiterer Altpapiercontainer auf dem Hinterhof eines Wohnhauses in Eimsbüttel, wobei das Haus auch diesem Miethai gehört."

"Hat dieser Mensch einen Namen?", wollte Henningsen wissen.

"Konrad Pallmann", antwortete Niemann. "Muss ein ziemliches Arschloch sein, denn auch seinen BMW hat es erwischt, als er in der Bahrenfelder Straße im Absoluten Halteverbot stand und den Verkehr behinderte."

"'K.F.'" Romeike sah ihn fragend an. "Was bedeutet das?"

"Kein Feuer. Dafür prangte am Kotflügel ein eingeritztes Hakenkreuz." Er grinste schräg und nach einem Atemzug fügte er hinzu: "Bei Altpapiercontainern sind Fidibusse natürlich nicht klar nachzuweisen. Aber wenn ich mir etwas Zeit nehme, finde ich bestimmt noch mehr Vorgänge."

Romeike sah ihn an, während er mit sich rang, aus diesen Vorgängen eine Brandserie zu konstruieren.

Er kannte Niemann inzwischen sehr gut. Vor einigen Monaten war er mit einer Schweren Brandstiftung befasst, die eine Kfz.-Werkstatt mit hochwertigen Oldtimern betraf. Mit viel Geduld und Engagement deckte er, trotz zunächst dürftiger Beweislage, einen groß angelegten Betrug auf. Seither empfand Romeike Hochachtung vor ihm und seiner Arbeit und seither hatten sie in gegenseitigem Einvernehmen auch das förmliche "Sie" aufgegeben.

Niemann wird den Seriengedanken vermutlich nicht grundlos hegen, auch wenn es schwierig war, ihn mit so wenig Fakten und nicht einem einzigen Täterhinweis zu 'verkaufen'.

"Normalerweise müsste über unserCrime-Programm das Stichwort Fidibus zu recherchieren sein." Romeike rieb sich das Kinn. "Schade, dass Christa gerade nicht da ist."

"Dieses Stichwort taucht leider nicht in allen Vorgängen auf, weil einigen Kollegen bei uns dieser Begriff gar nicht geläufig ist. Da steht dann höchstens etwas von verkohltem Papier oder so. Und thematisieren konnten wir's nicht, weil wir in den Einzelfällen noch nicht über eine Serie nachgedacht hatten."

"Wahrscheinlich sind die Dinger in den wenigsten Fällen erhalten."

"Ein paar. Andere sind fotografisch gesichert oder auf dem Foto an der Form erkennbar. Wer weiß, wie viele beim Löscheinsatz oder beim Herumstochern im Brandschutt zerfallen sind. Schwarz auf Schwarz ergibt ja nun mal keinen guten Kontrast. Da blieb nur der Verbrennungsrückstand von Papier, wo vielleicht kein Papier sein durfte."

Saalfeld beugte sich vor und schob in derselben Bewegung seinen Kaffeebecher zurück. "Sag mal, Brian, das Zeitungspapier, aus dem die Fidibusse gefertigt sind, habt ihr das sicherstellen können?" Er zeigte sich sichtlich interessiert, obwohl die Entscheidung zur Übernahme nicht seine Angelegenheit war.

"Zum Teil, ja."

Henningsen war skeptisch. "Die Fälle mit dem verhassten Hauseigentümer mögen ja zusammenhängen, die Taten können dabei aber auch von verschiedenen Leuten unabhängig voneinander begangen worden sein." Er kippte mit seinem Stuhl zurück und hielt die Balance. "Sollte das gegen ihn zielgerichtet von einer Person oder Personengruppe veranstaltet werden, könnte ich mir das eher in Verbindung mit einem Bekennerschreiben vorstellen." Er grinste erheitert. "Das Hakenkreuz ist in meinen Augen ein Zufallsprodukt. Und die Bäckerei, die alte Dame, die Kinderkarre und den gewalttätigen Ehemann in eine Beziehung zueinander zu setzen, halte ich eher für abenteuerlich."

"Die Fidibusse", erinnerte ihn Kaufmann mit einem verhaltenen Schmunzeln.

"Ich bitte dich!"

"Ich find's ja auch merkwürdig", gestand Niemann ein und langte nach seinem Kaffeebecher. "Womit ich aber wieder auf die negativen Eigenarten meiner Geschädigten komme." Er trank den Becher leer und stellte ihn so behutsam ab, als würde jedes harte Geräusch seine Gedankengänge stören können.

"Auch auf die Idee mit dem Fidibus können mehrere Brandstifter kommen", wandte Henningsen ein.

"Dann bliebe noch der relativ nahe zeitliche und örtliche Zusammenhang. Ottensen, Bahrenfeld, Eimsbüttel."

Henningsen blieb unbeeindruckt. Inzwischen war auch sein Lächeln versiegt. "Dasist keine Serie."

"Bevor wir lange herumreden", begann Saalfeld unvermittelt, "ich würde mich bereit erklären, die Angelegenheit nebenbei zu verfolgen - wenn du damit einverstanden bist, Thorsten.

Brian, du verfügst die einzelnen Vorgänge bei Fälligkeit an die Staatsanwaltschaft ab und verweist darauf, dass eventuelle Serienzusammenhänge noch geprüft werden und dass bei neuen Erkenntnissen 'unaufgefordert nachberichtet wird'."

"Das hört sich eigentlich vernünftig an. Die Idee könnte direkt von mir stammen." Romeike lächelte Niemann in aufkommender Ungeduld an. Er erinnerte sich an sein Tagesgeschäft. "Also keine offizielle Übernahme deiner 'Serie'. Die hochkarätigen Verfahren werden Vorrang haben. Wenn sich herausstellt, dass du richtig liegst, steigen wir natürlich voll ein, mit allen Konsequenzen."

"Ich habe gerade Leerlauf", bekundete Theo Kaufmann, "ich werde Sammy bei seinen Ermittlungen etwas zur Hand gehen."

Kapitel 3: Donnerstag, 4. Juni

Theo Kaufmann hatte sich von Niemann die relevanten Vorgänge als Kopie auf seinen Rechner transferieren lassen. Nun saß er vor dem Monitor, um sich die einzelnen Ermittlungsverfahren und Niemanns erste zusammenfassende Einschätzung durchzulesen. In den Eingangsberichten tauchte die Bezeichnung 'Fidibus' tatsächlich nie auf. Weil mancher Sachbearbeiter es bei Kleinfeuern aus Zeitgründen an der Genauigkeit mangeln ließ oder ihm der Begriff gerade nicht geläufig war, fand der 'Fidibus' auch im Ermittlungsbericht keine Erwähnung. Daher hatte Christa ihn auch nicht inCrimeaufgenommen. Etwaige Zusammenhänge waren also nicht recherchierbar. Im Fall Gaußstraße war Niemann selbst Sachbearbeiter. In die Abbestraße hatte er Kalle Cybinski begleitet und sich an ein zusammengedrehtes und präpariertes Stück Papier erinnert. Im Bericht stand am Ende nur: 'Papier und Brandbeschleuniger. Leichtbenzin, wie es in Feuerzeugen enthalten ist'.

Entscheidend sind in allen Fällen die Fotodokumentationen, die jeweils sehr fachmännisch gefertigt waren. Niemann hatte durch nachträgliche Ausschnittvergrößerungen den Brandbereich hervorgehoben, wo so etwas wie ein Fidibus lag. Im Brandschutt, der oft sehr schwarz aussah und wo - zum Beispiel bei Müllcontainern - ohnehin mit Papierabfällen zu rechnen ist, war eine zweifelsfreie Einschätzung mitunter nicht einfach. Die Fotos waren aber sehr aussagekräftig

In den Fällen Gaußstraße und Nernstweg, in der Wohnung der alten Dame, konnten sie Überreste eines Fidibus sicherstellen. Ebenso einen nicht vollständig verbrannten vor dem Portal der Osterkirche. Sie würden sich alle genau anschauen müssen. Wenn sie Glück hatten, barg das Zeitungspapier, wenn es denn welches war, einen bestimmten Hinweis.

Nachdem das LKA 45 über einige Stunden wie verwaist schien, tauchten die Kollegen, rechtzeitig vor dem Feierabend, allmählich wieder auf. Zumeist waren sie im Zusammenhang mit zurückliegenden Fällen oder Ermittlungsersuchen anderer Bundesländer im  Hamburger Stadtgebiet unterwegs gewesen.

So auch Bianca Jochens, mit der Theo Kaufmann sich das Büro teilte. Unter ihrer rotbraunen Mähne ein übermüdetes Gesicht, das zu erstrahlen begann, als ihr Theo von Niemanns Serie berichtete.

"Sag mal, habt ihr nichts Sinnvolleres zu tun, als Sachbeschädigungen zu bearbeiten?" Aber ihr Tonfall verriet ein verstecktes Interesse. "Was soll denn bloß das Motiv eures 'Serientäters' sein?"

"Das kannst du doch nicht so kurz nach der Übernahme eines Falles schon wissen." Kaufmann ging ein paar Augenblicke in sich, hatte aber wirklich keine Idee. "Niemann meint, der Täter will vielleicht auf etwas aufmerksam machen."

Durch die Verbindungstür betrat Sammy Saalfeld den Raum. Sein Büro lag gleich nebenan. Er bot an, den aktuellen Brandort im Nernstweg gleich heute noch aufzugreifen.

"Worauf aufmerksam machen?", hinterfragte Bianca. "Was kann mit der alten Dame sein und was mit der Kirche?"

"Warten wir's einfach ab", entschied Saalfeld. "Es sind keine Toten zu beklagen, also können wir die Sache relativ entspannt angehen."

"Nochnicht", wandte Kaufmann ein und blickte die anderen ungewohnt ernst an, "noch...sind keine Toten zu beklagen. Lasst die alte Dame letzte Nacht nur zu Hause gewesen sein. Atmet im Schlaf die Rauchgase ein, erlebt eine Rauchgasvergiftung, ja, und das wär's dann vielleicht gewesen. "

*

Eigentlich hatte Sammy Saalfeld heute keine Überstunden machen wollen, denn die Reihe war an ihn, seinen kleinen Sohn, Benji, zum Fußballtraining zu begleiten. Er versuchte Nina jedoch klar zu machen, dass sie diesen Job wirklich nurausnahmsweiseübernehmen müsste, womit sie sich schließlich nach einigen Zugeständnissen einverstanden erklärte. Mit seinem Angebot, sich um Niemanns Serie zu kümmern, hatte er auch ein Stück Verantwortung übernommen. Und die Neugier trieb ihn zusätzlich! Wenigstens einmal den aktuellen Brandort ansehen. Kaufmann konnte ihn nicht begleiten; er musste wegen eines Arzttermins pünktlich Feierabend machen.

So saß er gegen 17 Uhr allein vor dem PC und versuchte schon im Voraus an ein paar Informationen über die Geschädigte heranzukommen.

Was die Einwohnerdatei hergab: Ida Michelsen, 84 Jahre alt, verwitwet. Wohnt seit über 50 Jahren im Nernstweg 19!

Allein das ist schon unglaublich! Saalfeld überlegte, ob er es erstrebenswert finden würde, eine so lange Zeit sesshaft zu sein. Wäre fast so, als säße man im Gefängnis. Nein, für ihn musste das Leben aus Veränderungen bestehen.

Wenn Beständigkeit wenigstens die Ermittlungen vereinfachen würde, aber mit seinen ersten Recherchen in den Polizeiprogrammen und im Internet kam er zunächst nicht weiter.

Saalfeld fuhr zum PK 21, um sich die neuen Wohnungsschlüssel abzuholen. Weil die alte Dame nicht zu Hause war, musste für den Löscheinsatz die Wohnungstür aufgebrochen und danach ein neues Schloss eingesetzt werden.

Er hatte das Glück, dass ein Praktikant von der Landespolizeischule frei war und ihn in die Wohnung begleiten konnte. Besser war es, sich selbst ein Bild vom Brandort und den Lebensumständen der Geschädigten zu machen, vor allem, wenn der Seriengedanke auf sie abzielte.

Ottensen ist ein Stadtteil, wo noch viele Gebäude aus der Gründerzeit standen. Stattliche, fünfgeschossige Wohnhäuser, entlang einiger Straßenzüge auch zwei- oder dreigeschossig. Die Straßen schmal und verwinkelt, ein hoher Ausländeranteil und ein noch höherer Anteil an Autos am Fahrbahnrand, dazu viele Neureiche, viele modern eingestellte Menschen und innovative Gewerbebetriebe. Entsprechend buntes Treiben empfing Saalfeld, als er mit dem jungen Polizisten in den Nernstweg fuhr.

"Wenn die Inhaberin nicht zugegen ist, sollte man stets zu zweit in die Wohnung", erklärte Saalfeld. Der Praktikant sah ihn mit aufnahmebereitem Blick an. Er war bestimmt nicht älter als siebzehn. Feine, helle Gesichtshaut, kaum erkennbarer Bartflaum, eine dunkle Uniformhose mit messerscharfer Bügelfalte und die Lederjacke noch gänzlich steif und ohne jede Gebrauchsspur.

Saalfeld zwängte den Dienstwagen in den abgesperrten Bereich einer Straßenbaustelle, die allerdings schon verwaist war. Keine fünfzig Meter vom Objekt entfernt.

Die schwere Eichentür von Nr. 19 verfügte über die übliche Haustürsicherung. Fiel sie ins Schloss, ließ sie sich nur durch Knopfdruck von der Wohnung aus öffnen. Er stellte jedoch fest, dass die Sperre defekt war und mit Kraft überwunden werden konnte. Entweder wusste der Täter das, oder er hatte einfach Glück.

Im Haus klang es recht lebendig, zumindest in den Etagen, wo Kinder wohnten und mit ihren hellen Stimmen zu hören waren. Geschirrklappern ertönte, als irgendwo Essensvorbereitungen getroffen wurden, woanders lief ein Fernsehprogramm, wieder woanders leise Schlagermusik. Ein Treppenraum, in dem viel Holz verbaut wurde; entsprechend dramatisch könnten natürlich die Auswirkungen eines Feuers sein.

Saalfeld schnupperte. Es roch ganz schwach nach griechischem Restaurant, aber es roch auch eindeutig verbrannt. Saalfeld hatte eine empfindliche Nase.

Die Wohnungstüren waren alle mit drei schmalen Profilglasfenstern versehen. Die von Frau Michelsen zeigten sich rußgeschwärzt. Die Fußmatte angekokelt, so als wären bei der Brandlegung brennende Teilchen heruntergefallen. Und durch die Türritzen war Rauch ausgetreten.

Saalfeld öffnete die Wohnung. An der Tür war für die alte Dame ein polizeilicher Hinweis angebracht. Da sich Frau Michelsen bisher nicht gemeldet hat, ist sie vermutlich im Urlaub oder gar im Krankenhaus.

Der Fidibus hatte im Korridor einen überschaubaren Schaden angerichtet. Im dünnen Teppichläufer war ein Loch von etwa 60 cm Durchmesser eingebrannt. Die Flammen könnten anfangs an der Tür emporgeschlagen sein und den Vorhang erreicht haben. Weiter hätten sich die Flammen vermutlich nicht ausbreiten können. Dafür waren die Rauchgase in alle Zimmer gezogen. Sämtliche Türen standen offen. Ob die Rauchgase intensiv genug waren, eine alte Dame im Schlaf zu überraschen und ins Jenseits zu befördern? Schwer zu sagen.

"Wer tut einer alten Dame so etwas an?", fragte Saalfeld, ohne eine Antwort zu erwarten. Er erhielt auch keine.

Saalfeld und der Praktikant traten ihren Rundgang an. Sie fanden sich in einer Wohnung wieder, die wie eine Zeitmaschine zu funktionieren schien. Sie sahen sich ein halbes Jahrhundert weit in die Vergangenheit gebeamt. Schwere, dunkle Möbel, die jeden Transporteur zur Verzweiflung bringen würden und Brokattapeten, alt und farblos, die vermutlich schon eine Symbiose mit den Wänden eingegangen waren. In der einen Ecke des Wohnzimmers eine große Standuhr, deren träges Klack-Klack deutlich machte, dass man sich unaufhörlich dem Tode näherte.

Saalfeld durchstöberte die Zimmer nach einem persönlichen Adressbuch oder irgendeinem Hinweis darauf, wo die Bewohnerin sich aufhalten könnte. An der Flurgarderobe hing ein Mantel für kältere Tage. Die Taschen waren bis auf einen Einkaufszettel und einen grünen Regenhut leer. In einer Kommode fand er Schal, Handschuhe, allerhand Kleinkram, alte, braunstichige Fotografien und - ein kleines Buch, in das in Deutscher Schrift Namen, Telefonnummern und einige Anschriften notiert sind. Na bitte!

Er stand da und blätterte unter dem achtsamen Blick des Praktikanten das Büchlein durch. Manche Namen waren schon durchgestrichen, womöglich die Namen von Verstorbenen. Leider hatte die alte Dame zumeist nur Vornamen eingetragen, sodass es zum Lotteriespiel wurde, jemanden zu finden, der Auskunft geben könnte. Selbst Dr. Gunkel würden sie nicht fragen können, weil sich vor allem die Sprechstundenhilfen gern hinter der ärztlichen Schweigepflicht verschanzten. Einen Versuch machte er mit Louise, die eine Hamburger Telefonnummer hat, es nahm jedoch niemand den Anruf entgegen. Also würde er das Adressbuch morgen, im Büro, in Ruhe auswerten.

Saalfeld wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er doch noch an einer halb geöffneten Tür innehielt. Er drückte sie ganz auf. Das Schlafzimmer. Beherrscht von einem großen Doppelbett mit einer hellgrün glänzenden, gesteppten Tagesdecke überzogen. Alles ziemlich aufgeräumt. Und doch passte irgendetwas nicht.

"Wonach riecht es hier?", fragte Saalfeld seinen uniformierten Begleiter.

"Nach Zigarettenrauch?" Der Praktikant ließ die Muskeln seiner Nasenflügel spielen.

"Nein.....!" Saalfeld durchschritt das Zimmer und sah eine hellbraune Lederjacke am alten, hellbraunen Kleiderschrank hängen. Sie sah männlich aus und roch auch so. Ob sie Frau Michelsen an ihren verstorbenen Gatten erinnern sollte? "In der Wohnung einer alten Frau riecht es meistens auch nach 'alter Frau'. Aber hier ist es irgendwie anders."

"Es riecht doch verbrannt", erinnerte ihn der junge Polizist.

Saalfeld hob die rechte Hand und machte eine vage Bewegung. "Da ist noch was anderes."

Ein Blick ins Badezimmer brachte keine gesicherten Erkenntnisse. DasKölnisch Wasserbenutzte sicher die alte Dame. Und dasOld Spice? Auch ein Relikt vom Verstorbenen? Saalfeld ließ es zunächst damit bewenden.

Ein letzter Blick auf den Brandherd erinnerte ihn daran, dass er nur das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung abwarten musste, ehe er die Überreste des Fidibus begutachten konnte.

*

Die Nachbarn kamen aus Griechenland, sprachen aber gut Deutsch. Die Frau war vom Aussehen her das Klischee einer Griechin: Schwarzes, welliges Haar, Höckernase und bogenförmig gewölbte Augenbrauen; und natürlich braune Augen. Sie strahlte überschäumende Herzlichkeit aus, erwies sich jedoch als schlechte Zeugin. Ihr Mann war es, der den Brandgeruch wahrgenommen und sofort die Feuerwehr verständigt hatte. Davor hätten sie aber alle nichts Verdächtiges gehört. Keine Schritte auf den hölzernen Bodenbrettern, keine Geräusche an der Tür von Frau Michelsen. Sie sei der Meinung, dass ihre Nachbarin eine Urlaubsreise oder einen Verwandtenbesuch macht. Seit ungefähr einer Woche habe sie sie nicht mehr gesehen. Über die Dauer ihrer Abwesenheit herrschte bei den Eheleuten aber schon Uneinigkeit. Ihr Mann meinte, sie sei schon über drei Wochen fort.

Saalfeld wies darauf hin, dass die Brandlegung nach einer Beziehungstat aussieht, ob sie eine Ahnung hätten, wer der alten Dame etwas Böses will. Dass sich die Tat speziell gegen ihre Nachbarin richten sollte, konnten sie sich allerdings überhaupt nicht vorstellen.

Von den älteren Leuten im Hause war ebenfalls nichts herauszubekommen. Niemand hatte vor dem Feuer auffällige Geräusche gehört oder verdächtige Beobachtungen gemacht. Die alte Dame habe nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren sehr zurückgezogen gelebt und zu keinem der Bewohner näheren Kontakt gehabt. Ein alter Mann mit kahlem Schädel vermutete, sie lebte inzwischen in einem Pflegeheim, eine andere Bewohnerin, sie wäre im Krankenhaus, wie schon vor ein paar Monaten einmal. Eine ältere Dame aus der Wohnung direkt unter Frau Michelsen habe einmal gehört, wie die betreffende Tür aufgeschlossen und ein, zwei Stunden später wieder ins Schloss gezogen wurde. Fast so, als hätte jemand nach dem Rechten gesehen.

Zwei Mietparteien trafen sie nicht an. Für solche Fälle war sein Alu-Koffer gut. Sein Einsatzkoffer. Alles war verfügbar. Saalfeld schrieb einen kleinen Aufruf, riss die Seite vom Block ab und pinnte sie im Parterre an die Korktafel. Sollte jemand über das Feuer oder Frau Michelsen etwas sagen können, möge er sich umgehend mit dem LKA 45 in Verbindung setzen.

Kapitel 4: Donnerstag, 4. Juni

Anke König stand im Türrahmen zwischen Kamin- und Arbeitszimmer. Rembert hatte sie noch nicht wahrgenommen, zu vertieft war er in seine Arbeit am Computer. Der Monitor verlieh seinem kantigen Gesicht gewalttätige Züge. Hellblaue Haut und ausgeprägte Schatten zwischen den Augen und der kräftigen Mundpartie. Das braune lockige Haar hing ihm wie nach einer anstrengenden Sportübung ungeordnet in die Stirn. Er saß vor steuerlichen Obliegenheiten, die er nach dem Tagesgeschäft von zu Hause aus erledigen musste. Auch sonst transportierte er viel Berufliches nach Hause. Der Abend nahm daher oft eine andere Entwicklung als sie es sich vorstellte. Ohnehin war immer Rembert derjenige, der Abläufe oder Zeitrahmen bestimmte. Nicht, dass es ihr an Freiraum mangelte; den hatte sie allein dadurch, dass sie, genau wie Rembert, selbständig war. Er gab eben die Richtung vor, wusste dabei aber genau, was sie liebte, und diese Tatsache milderte seine machohaften Züge.

Rembert hatte sich nach seiner Rückkehr aus dem Geschäft noch nicht umgezogen. Er trug noch immer das weiße Oberhemd und seine grün-orange gestreifte Krawatte. In diesem Moment langte er nach dem Knoten und lockerte ihn, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Anke, in einem kuscheligen Hausanzug von hellem Türkis warf in einer eleganten Bewegung ihr rotbraun getöntes Haar über die Schultern und löste sich aus dem Schatten.

Sein Kopf zuckte herum. "Du hast mich beobachtet."

"Seit einer halben Stunde."

"Quatsch!"

"Wie lange brauchst du noch?"

"Warum guckst du kein Fernsehen?"

"Schlechtes Programm." Sie trat hinter ihn und massierte seine Schultern. Er wand sich wohlig unter ihrem festen Griff. "Soll ich dir etwas zu trinken bringen?"

"Einen Whisky", sagte er, als würde er im Restaurant eine Bestellung aufgeben. "Und hast du meine Zigaretten irgendwo gesehen?"

"Nein", log sie. "Außerdem rauchst du zu viel."

"Dannhastdu sie gesehen."

"Ehrlich nicht."

Sie löste sich von ihm, begab sich in den Nebenraum und goss zwei Finger breit vomConnemara Peated Maltin ein Glas aus Bleikristall. Rembert trank seinen Whisky pur und ohne Eis. Sie stellte ihm das Glas auf einen Korkuntersetzer.

"Ich erledige meine Arbeit immer im Büro", erinnerte sie ihn provokativ. Sie war Immobilienmaklerin und hatte, vor allem in der jüngsten Vergangenheit, einige kostspielige Objekte vermitteln können.

"Dafür erscheint die gnädige Frau auch erst um Mitternacht." Er ließ von Tastatur und Monitor ab und drehte sich ihr zu. Sein Blick war ernst. "Und ich kann zusehen, was ich mir zu essen mache."

Sie ignorierte seinen Vorwurf, weil er haltlos war, und setzte sich halb auf seinen Schreibtisch, wofür sie ein verstimmtes Stirnrunzeln erntete. Das helle Türkis ihrer Kleidung bildete einen auffälligen Kontrast zum Mahagoni und den vielen Mahagoni-Bilderrahmen mit all seinen Urkunden und Auszeichnungen. Sie waren beinahe symmetrisch über die Wand verteilt.

"Ich wollte mit dir über Ulf sprechen."

"Über Ulf?!", platzte es aus ihm heraus. "Ich kann jetzt nicht!" Seine Gesichtsfarbe verdunkelte sich. "Ich möchte dir nicht wieder und wieder erklären, dass ich mit deiner Familie nichts am Hut habe. Weder mit deinen Eltern, noch mit deinem ..... Bruder."

Ihr war, als hätte Rembert das Wort 'gestörten' gerne ausgesprochen, jedoch gerade noch verschlucken können. Das traf sie sehr!

"Meine Eltern, okay. Mehr als einmal im Jahr besuche ich sie ja schon gar nicht. Aber Ulf, glaube ich, braucht die Hilfe seiner großen Schwester wirklich."

"Ist er mit seinen 28 Jahren denn noch immer nicht lebensfähig?" Sein Mund verzog sich zu einem herablassenden Lächeln. "Du hast doch mal erzählt, dass er vollkommen antriebslos und verträumt ist. So kommt er aus seinem persönlichen Dilemma aber doch niemals heraus." Den verbleibenden Zorn schluckte er hinunter. "Können wir nicht ein andermal über ihn sprechen?"

"Er ist arbeitslos. Seit Monaten."

"Wird er auch bleiben, wenn du mich fragst."

"Und seine Wohnverhältnisse müssen miserabel sein. So schlimm, dass ich mich mit ihm immer auswärts treffen soll."

"Wenn jemand von Hartz IV lebt, kann er keine Prunkwohnung erwarten."

Sie rutschte von der Schreibtischkante herunter und trat an das bis zum Fußboden reichende Fenster. Verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihr Spiegelbild vor der Dunkelheit. Große, grüne Augen in einem geschäftsmäßig abgehärteten Gesicht.

Remberts Schreibtischsessel knarrte. Kurz darauf hörte sie seine Finger wieder die Tastatur bearbeiten.

"Ich dachte,dukönntest ihm einen Job anbieten." Rembert ist Inhaber eines großen Wohnmobil-Parks in Bergstedt.

Anke hörte, wie er herumwirbelte. "Ich?!"

Sie wandte sich zu ihm um. "Als Security zum Beispiel."

"Nein, meine Liebe! Außerdem... - du weißt, ich bin mit einem Wachdienst vernetzt."

".....der aber, wenn Alarm ausgelöst wurde, eine Weile braucht, bis er da ist."

"Du meinst also, auf dem Gelände, als Wachmann, Einbrecher in die Flucht schlagen."

"Ja."

"Nein!"

"Die Wohnmobile sauber halten."

"Meine Putzkolonne ist zuverlässig."

"Kommt aber aus Polen."

"Witzig!" Er schüttelte seinen Kopf. "Ich kenne dich gar nicht so voller Vorurteile."

Sie ließ sich nicht beirren. "Oder im Büro. Irgendwelche einfachen Bürotätigkeiten."

"Warum stellst du ihn denn nicht ein?"

"Ich kann ihm bei mir keine einfachen Arbeiten übertragen."

Rembert schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. "Ich glaub', ich werd' verrückt!" Unerwartet wallte Zorn in ihm auf. Seine Augen funkelten. "Dein Bruder soll sich nicht so hängen lassen. Nimm ihn doch mal an die Hand und finde für ihn eine Arbeit, wo er es auf längere Sicht durchhält."

Wenn ich bloß Zeit dafür hätte, überlegte sie sich. Ein, zwei Mal im Monat mit Ulf Essen gehen und sich seine Sorgen anhören, ist wahrhaftig nicht ausreichend.

Rembert schüttelte den Kopf. "Ihr seid überhaupt eine merkwürdige Familie."

"Und wieso sagst du das?"

"Weil mich wundert, dass du so ganz anders bist."

Sie ignorierte, dass das vielleicht als Kompliment gemeint war. "Du kennst sie ja kaum."

"Die Hochzeitsfeier damals hat mir einen tiefen Einblick gegeben. Dein Vater, ein kleiner Ja-Sager, lässt sich in seinem Frührentnerdasein genauso gehen wie Ulf. Und wie lange sitzt deine Mutter schon beiAldian der Registrierkasse?"

"Aber sie hat eine Arbeit."