Verdàn - Luc Peier - E-Book

Verdàn E-Book

Luc Peier

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Beschreibung

Als der 16-jährige Salàr bei seiner Rückkehr die Bewohner seines Heimatdorfes massakriert vorfindet, gibt es für ihn keine Zweifel: Längst herrscht zwischen den Völkern nicht nur Misstrauen, sondern Krieg. Warum sonst hätten die Kazein seine Familie brutal ermorden sollen? Ob der mysteriöse Blutvogel aus seinem Traum etwas damit zu tun hat? Salàrs Wunsch nach Rache führt ihn ins fremde Land der Kazein. Was ihn dort erwartet, hätte er nicht einmal seinen Göttern geglaubt. Verdàn, die zerrissene Welt der Menschen: vier Völker für fünf Sinne. Und mitten drin Salàr - ein talentierter Hamay, dem das Schicksal alles abverlangt.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Sarah, in Liebe

INHALTSVERZEICHNIS

Karte

Der Blutvogel

Geschichten der Götter, Schöpfungsgeschichte Teil 1: Die Entstehung (4.000 – 2.000 vFV).

Gottlos.

Geschichten der Götter, Schöpfungsgeschichte Teil 2: Die Entwicklung (2.000 – 1.000 vFV)

Eigen Fleisch

Der Ostwald

Geschichten der Götter, Schöpfungsgeschichte Teil 3: Die Entwicklung (2.000 – 1.000 vFV)

Unwürdig

Geschichten der Götter, Schöpfungsgeschichte Teil 4: Die Erweckung (1.000 vFV – 0)

Der Wille der Götter.

Geschichten der Götter, Schöpfungsgeschichte Teil 5: Die Erweckung (1.000 vFV – 0)

Wege der Zukunft

Geschichten der Götter, Die Elmanen Der Bruch (6)

»Plauderieren«

Primos

Weißwolfspelz

Der erste Stein.

Mentale Modelle

Einen Pakko.

Der Politiker

Eisenschuh und Yalka

Am Rande des Eevenwaldes.

Fragen ohne Antworten

Aufgesattelt

Rottöne

Zusammenhalten.

Helden

Kampf um Ehre

Geschichten der Götter, Kip Vala (384)

Der Weg nach Hause.

Kralswurz.

Zu spät.

Eine silberne Träne

Augen.

Beeren wie Bienenwachs.

Geschichten der Götter, Kip Die Bedingung (388)

Die Auserwählten

Kips Wille

Was wir töten.

Freunde und Feinde

Der junge Verdànier

Ein bekanntes Gesicht

Glossar

Stammbaum

Danksagung

KARTE ONLINE ANSEHEN

1

DER BLUTVOGEL

»Salàr!« Die Frauenstimme schien von weit weg zu kommen. »Werde ich gerade Zeugin einer deiner seltenen schweigsamen Momente?« Tana grinste spöttisch. Durch das Hufgetrappel der beiden schwarzen Zugpferde und das Gerumpel des Fuhrwerks ging ihre Stimme beinahe unter.

Salàr blinzelte und hob die Augenbrauen. »Wie? Was?«

Tana kicherte und legte den Kopf schief. »Grübelst du über eine Ausrede für deinen Vater?«

Der Wagen bog um eine Linkskurve aus dem Wäldchen heraus und die Stadt Veya kam zum Vorschein. Von hier oben und im warmen Licht der Frühdämmerung sah die Stadt mit den beiden Türmen aus weißem Stein noch viel schöner und mächtiger aus als von unten am See.

Salàr zuckte mit den Achseln. »Na ja, so ungefähr, sag ich mal.« Er kratzte sich am Kopf und ließ den Blick zu den Feuerbergen weit hinter Veya wandern.

Tana streckte ihr Gesicht den letzten Sonnenstrahlen entgegen und atmete tief ein. An diesem Sommertag duftete es himmlisch nach frisch geschnittenem Gras und Blüten.

»Vielleicht hätten wir gestern Nacht doch nicht versuchen sollen, ein zweites Fässchen aus dem Wirtshaus zu klauen – nicht in dem Zustand.«

»Ach was«, sagte Salàr mit einem schelmischen Lächeln. »War doch ganz witzig.« Er betrachtete Tana. »Nach sechs Jahren sind wir vom Ungur zum Mod aufgestiegen«, sagte Salàr stolz. »Da hätte der Magister auch ein Auge zudrücken können. Als hätte er mit sechzehn nie gefeiert.«

»Tja.« Tanas Ton hatte etwas Belehrendes. »Tatsache ist, dass wir eine Verwarnung gekriegt haben. Und unsere Eltern werden nicht gerade begeistert sein, wenn sie merken, dass wir einen Tag später als Lik in Hyeme ankommen. Und das für zusätzliche elf Weiler und neun Flitzer für den Transport auf diesem – nennen wir es Gefährt.«

Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Der Kutscher hatte sie durch den Lärm nicht gehört.

»Lik – frech, aber feige. Ein Wunder, dass wir Zwillinge sind.« Salàr schnaubte. »Aber ja, du hast schon recht – obwohl – den Kuss von Vella war das ganze Schlamassel allemal wert.« Salàr setzte erneut ein Grinsen auf.

Tana verdrehte die Augen und mit einer Handbewegung warf sie aufgesetzt die langen schwarzen Haare nach hinten. »O Salàr Kend, Eure Schönheit wird nur durch Kazo, Gott des Sehsinns, selbst übertroffen.«

Sie lachten.

Der Wagen erreichte die Kuppe des leicht bewaldeten Hügels. Die Sonne stand bereits tief und die Feuerberge im Westen wurden ihrem Namen absolut gerecht.

Der alte Kutscher zog an den Zügeln und lobte seine beiden Pferde, Har und Hott, wie eine stolze Mutter ihre Kinder. Dann drehte er sich mit sichtlicher Mühe zu Salàr und Tana, seinen heute einzigen Mitfahrern, um. Ein übler Geruch aus Schweiß, Urin, fauliger Erde und Pilzen kam den jungen Mods entgegen, sodass sie sich instinktiv leicht abwandten.

»Die heutige Nacht verbringen wir hier«, krächzte der bucklige Mann, der sich Pyal nannte, und zeigte mit zittrigem Finger ins Tal. »Seht euch nur diese Aussicht an! Die Kazein wären neidisch auf uns.«

Mit dieser Stimme und dem vernarbten Gesicht konnte er sich glücklich schätzen, als Hamay und nicht als Lyd oder Kazein geboren worden zu sein, dachte Salàr. Womöglich hätten die Kazein und die Lyd ihn unter der Bezeichnung Vantri als geringwertig angesehen.

»Und? Welche Ausrede wirst du deinem Vater nun auftischen?«, fragte Tana mit spöttischem Unterton, bevor sie schwungvoll von der Ladefläche sprang.

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Salàr grummelnd und legte sein Reisegepäck zur Feuerstelle – einen Mantel, eine ledrige Umhängetasche, einen Wanderstock aus Eichenholz und eine braune Wasserflasche.

Das war eine Lüge. Seine Gedanken galten nicht der morgigen Ankunft. Sein Vater würde ihn ohnehin, mürrisch gelaunt wie so oft, anschnauzen und Salàrs Erklärung gar nicht erst hören wollen. So war es immer gewesen, wenn Salàr etwas angestellt hatte.

Ava würde ihn hingegen einfach in die Arme nehmen, ihm durch sein blondes Haar streichen und wäre einfach froh darüber, dass ihr zweitjüngstes Kind nach einem Jahr wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt war. In diesem Sinne brauchte sich Salàr nicht um seine Ankunft zu sorgen.

Was ihn weitaus mehr beschäftigte, waren die Geschehnisse, die er in der letzten Nacht geträumt hatte. Eigentlich machte er sich nicht viel aus Träumen. Klar, die Droma war der Ort, an dem seine Götter Hayu und Maku den Hamay ihre Absichten offenbarten. Aber bis jetzt waren die Botschaften der großen Schlanken und des kleinen Dicken an ihn eher wirr und zusammenhangslos gewesen, weshalb er ihnen wenig Beachtung geschenkt hatte. Wahrscheinlich waren es nicht einmal Botschaften der Götter, denn, wie Ava ihm beigebracht hatte, sandten die Götter eigentlich nur den Lahetti, den Auserwählten, ihre Absichten.

In der vergangenen Nacht waren die Ereignisse in der Droma jedoch so wirklich und lebendig gewesen, als ob sie in Verdàn stattgefunden hätten.

Salàr setzte sich etwas abseits ihres Lagers auf einen Baumstumpf, schloss die Augen und versuchte angestrengt, sich an die Szene zu erinnern.

Er sah einen silbrigen Vogel – so groß wie ein Mensch – mit bedrohlich dunklen Augen, einem kräftigen roten Schnabel und messerscharfen Krallen. Er verabscheute das Monster. Er hasste es. Er würde es töten. Bevor er allerdings handeln konnte, fing der Vogel wie aus dem Nichts an zu kreischen. Das silbrige Federkleid färbte sich blutrot. Der Vogel schrie ohrenbetäubend vor Schmerz und flatterte wild mit den Flügeln. Der Anblick veränderte etwas in Salàr. Mitleid ergriff ihn, und er wollte dem Tier helfen. Nur wie?

Plötzlich kippte das Ungetüm zur Seite und schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Dann rührte sich der Vogel kaum noch und sah Salàr mit flehendem Blick an.

Je länger Salàr über das Geträumte nachdachte, desto verstörender fand er es. Wäre es eine göttliche Botschaft gewesen, hätte sicherlich der Lahetti seiner Schule die Bilder deuten können. So aber war es einfach nur ein absurder Traum.

Geistesabwesend schüttelte er den Kopf. Lieber hätte er davon geträumt, wie man Wein aus Goldtrauben herstellte, oder welche Kräuter für den geheimnisvollen Amad-Braten verwendet wurden. Der Ruhm und das Ansehen in ganz Stoyn wären ihm sicher.

Allmählich brach die Nacht herein. Salàr zog sich den Reise mantel über und setzte sich zu Tana und dem vor sich hin murmelnden Pyal ans Feuer. Ein Eintopf köchelte im Kessel über den Flammen, und der Geruch von Kaninchen, Eichthymian und Schwarzsalbei stieg Salàr in die Nase. Hätte er noch etwas Nelken, Oregano und einen Löffel Safranöl dazugegeben, würden sogar die hochgeachteten Köche aus der Hauptstadt Amad davon kosten wollen.

»Ihr habt also die letzten sechs Jahre damit verbracht, eure Köpfchen mit Wissen zu füllen, ja?!«, fragte Pyal, strich sich durch den struppigen Bart und nickte sich selbst bestätigend zu. »Könnt euch glücklich schätzen. Nicht alle Familien haben so viel Geld.«

Tana und Salàr tauschten befangene Blicke aus. Es war augenscheinlich, dass Pyal nicht zu den wohlhabenden Hamay zählte. Wahrscheinlich hatte er nie die Möglichkeit gehabt, eine Schule wie Ylio zu besuchen und sich dadurch ein besseres Leben zu ermöglichen.

»Also dann – lasst mal hören, wie hell eure Köpfchen sind.« Pyal richtete sich ein wenig auf und schaute auffordernd über die Flammen zu den beiden Mods.

»Unser Kral fragt euch: ›Wer gewinnt bei einem Eins-gegen-eins-Kampf zwischen einem Kazein und einem Lyd – bei Nacht?‹ Was antwortet ihr?«

Salàr sah einen Moment lang in die orangerote Glut, aus der immer wieder Funken sprühten. »Ganz klar – der Kazein. Er kann jede Bewegung des Lyd vorhersehen. Und mit seiner Schnelligkeit und Genauigkeit hat ihn Kazo, Gott des Sehsinns, zum besten Krieger in ganz Verdàn gemacht«, sagte er mit zufriedener Miene.

»Aha, du hast wohl nicht aufgepasst, als der Lahetti seine Rede gehalten hat«, tadelte ihn Tana. »Kazein verfügen zwar über die beste visuelle Wahrnehmung in Verdàn, aber die Lyd haben im Dunkeln mit ihrem Gehör die bessere Orientierung. Lyd hat seinen Anhängern das Talent gegeben, auch Angriffe außerhalb ihres Sichtfelds zu erahnen.«

»Pff … Der klapprige Lahetti? Echt jetzt?«, entgegnete Salàr mit einer Mischung aus Hohn und Gereiztheit. »Die Götter sprechen zwar zu ihm – das macht ihn aber noch lange nicht zu einem Kampfexperten.« Er verschränkte die Arme.

»Ein Lahetti ist ehrwürdig und allwissend – ich kann auch nichts dafür, dass du während der Rede zu sehr mit Vellas Zunge beschäftigt warst«, antwortete Tana mit einem süffisanten Lächeln. Salàr schnitt ihr eine Fratze.

Der Kutscher konnte sein Unbehagen nicht verbergen und zupfte an seinem löchrigen Schnürhemd herum. »Nun gut, wir haben alle Hunger und sind müde«, sagte er besänftigend. »Noch eine Aufgabe, danach essen wir.« Er holte Luft. »Wer erkennt aus der Nähe zuerst ein Feuer im Wald? Sagen wir aus einer Entfernung von zehn Kutschen. Hamay, Kazein, Lyd oder Evv?«

»Das ist leicht«, preschte Salàr vor. »Der Hamay selbstverständlich. Unsere Geschmacks- und Geruchssinne schlagen die anderen Sinne bei Weitem – Hayu und Maku sei Dank!«, rief er feierlich und streckte die Zeigefinger zum Himmel.

Tana schüttelte den Kopf und lachte, und auch der Kutscher konnte ein Schmunzeln über Salàrs lebhafte Geste nicht unterdrücken.

»Da hast du wohl ausnahmsweise recht«, stimmte Tana ihm zu. »Wahrscheinlich sieht der Kazein vor lauter Bäumen das Feuer nicht, und der Evv wird es wohl kaum spüren können – trotz seiner sensiblen Haut. Am ehesten würde vielleicht der Lyd das Knistern des Feuers hören.«

»Habt ja wirklich was gelernt.« Pyal stand auf und klopfte sich die Hosen ab. »Dann holt mal eure Schüsseln und Löffel raus. Es gibt einen Festschmaus.«

Der Eintopf schmeckte Salàr nicht sonderlich. Zu wenig Würze und ein bitteres Aroma. Mit Pyals bescheidenen Kochkünsten war es wenig überraschend, dass man ihn zu den Annen zählte. Hayu und Maku hatten ihn offensichtlich nicht mit viel Talent beschenkt. Kein Wunder fand sich der Kutscher nach Köchen, Parfümeuren, Magistern, Händlern und Nahrungsmittelherstellern zuunterst in der Hierarchie wieder.

Salàrs Vater war ein Befürworter der gesellschaftlichen Rangordnung. Schon als sein Sohn noch ein Barn und somit keine zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihm Tiu eingeflößt: »Es ist nur richtig, dass diejenigen, die sich Hayu und Maku mehr hingeben, auch größeres Ansehen in der hamayschen Gesellschaft erhalten. Geschmäcke und Gerüche sind die obersten Güter eines Hamay – und wir dienen den Göttern, um diese zu veredeln.«

Vielleicht hatte er ja recht. Tiu, selbst Jäger und Metzger, hatte einen vergleichsweise geringen Grad an Hingabe – oder Tumin – wie es die Magister nannten.

»Zudem«, hatte Tiu weiter bekräftigt, »gibt es in Hyvin keine Vantri wie bei den Kazein oder den Lyd – nur Annen. Jede und jeder hat also eine Chance aufzusteigen.«

Dem stimmte Salàr nur bedingt zu. Nicht jede Familie in Hyvin hatte genug Geld, um ihre Barn an eine der beiden großen Schulen zu schicken, wie sich am Beispiel von Pyal zeigte. Und nicht jeder Hamay hatte schlichtweg eine von Hayu gesegnete Nase oder eine von Maku gesegnete Zunge.

Doch was die ungesegneten Vantri anging, hatte sein Vater recht. Eine Zweiklassen-Gesellschaft, wie man sie von den Kazein im nördlich gelegenen Kyman und von den Lyd auf der Insel Melua im Osten kannte, gab es bei ihnen nicht.

Sein älterer Bruder Dari hatte ihm einmal erzählt, dass Hässliche, Krüppel, Sehbehinderte und Untalentierte kein Recht auf kazeinische Bildung hätten. Und dass lydische Barn, die unmusikalisch, taub, untalentiert oder an Amusie erkrankt waren, nie die renommierte Militärakademie Linen besuchen durften. Für die Herrscher der nordöstlichen Länder, aber auch in den Augen der beiden Völker gab es für Vantri keinen Platz in Bildungsstätten.

Den Abend verbrachten die drei Hamay lachend und trinkend am Lagerfeuer. Sie erzählten sich Geschichten über die Götter, die Kriege und die Eigenheiten der fremden Völker.

Offenbar hatte Pyal über Jahre Handelsgüter aus der Hauptstadt Amad zu den Asant-Sümpfen an der Ostgrenze befördert. Diese wurden dann gegen exquisite Lebensmittel und Arznei getauscht. Der Kutscher zeigte sich von den athletischen und kräftigen Körpern der Evv beeindruckt und bemerkte im gleichen Atemzug, wie vorsichtig und ängstlich sie waren. Evvena, die Göttin des Tastsinns, hätte ihrem Volk Eigenartiges mitgegeben und gelehrt.

Der Mond war aufgegangen und erhellte die schwarze Nacht. Es war ruhig, nur das leise Zirpen der Grillen und der Ruf einer Eule waren gelegentlich zu hören.

Salàr lag fest umwickelt von dem dicken Reisemantel auf dem Rücken und beobachtete, wie sein Atem als silbriger Rauch immer höher in den Himmel stieg. Er fröstelte und sein Hintern erinnerte ihn schmerzhaft an die holprige Fahrt.

Ob die Götter ihm diese Nacht wieder eine Botschaft in der Droma schicken würden? Bei dem Gedanken schauderte es ihn. Oder hatte er sich getäuscht und es war einfach ein sehr echt wirkender Albtraum gewesen?

Salàr wälzte sich auf die linke Seite und stellte fest, dass Tana eine halbe Kutsche entfernt von ihm bereits eingeschlafen war. Freunde seit eh und je, dachte er und lächelte in sich hinein. Dann schlief auch er ein – nicht ahnend, dass es die letzte ruhige Nacht für eine lange Zeit sein würde.

2

GESCHICHTEN DER GÖTTER, SCHÖPFUNGSGESCHICHTE

TEIL 1: DIE ENTSTEHUNG (4.000 – 2.000 VFV)

»Verdàn, die Welt der Menschen, war nicht immer so, wie sie heute ist – brutal, kriegerisch, voller Schmerz und Misstrauen. Es gab Zeiten, in denen alle Menschen friedlich miteinander lebten, und in denen es keine Kazein, keine Hamay, keine Lyd und keine Evv gab, sondern nur ein Volk: die Verdànier.

Es ist wichtig, dass ihr versteht, weshalb sich Verdàn während der letzten vierhundert Jahre in diesem Ausmaß gewandelt hat und von Not und Leid heimgesucht wurde. Nur wer die Geschichten kennt und das Wesentliche sieht, ist auch fähig, eine Zukunft mitaufzubauen, in der wieder Frieden und Liebe herrschen werden.

Wer von euch nun glaubt, die Ursachen für all den Schmerz hätten ihren Ursprung vor vierhundert Jahren, der irrt. Um die Hintergründe des Wandels zu verstehen, gehen wir ins Jahr 4.000 vor Folvets Verschwinden zurück. In diesen Jahren beginnt der erste Teil der Schöpfungsgeschichte: die Entstehung.«

Vala richtete sich auf und fuhr mit fester Stimme fort.

»Am Anfang war das Orkal – der Ursprung von allem. Einige Lahetti nennen es auch die Grundkraft, aus der die Liebe, das Licht und der Klang hervorgingen. Dem Orkal entstammen die Kreativität, die Gefühle, der Instinkt, die Intuition, aber auch die Logik, die Struktur und die Entwicklung. Die Grundkraft ist Raum und Zeit zugleich und sowohl endlich als auch ewig.

Aus dem Orkal entstanden die Lumen, die drei Schöpfungsgöttinnen, die im Himmelreich, oder Kamea, wie wir es nennen, weilen.

Drau ist die Göttin des Geistes. Sie hat die Macht und die Gabe, den Geist eines jeden zu formen, zu wandeln und zu nehmen. Alles nicht Fassbare und Imaginäre geht auf Drau zurück.

Lona ist die Göttin der Natur. Als Einzige der Lumen dienen ihr die Alfuri. Die Feen in ihren reinen, weißen Gewändern schufen während vieler Jahre Verdàn und gaben den Menschen ein Zuhause. Flora und Fauna, Luft und Erde, Feuer und Wasser – alles Nicht-Menschliche erschufen die Alfuri unter göttlicher Beobachtung – den wachsamen Augen von Lona.

Mana ist die Göttin der Menschen. Sie ist die Schöpferin und Urmutter jedes einzelnen Individuums. Es sei gesagt, dass Mana den Menschen zwar als in sich funktionierenden Organismus schuf, es jedoch nicht vermochte, dem Menschen Sinne zu schenken und ihn dadurch in Verdàn überlebensfähig zu machen.

Deshalb folgte auf die Entstehung der zweite Teil der Schöpfungsgeschichte: die Entwicklung.«

3

GOTTLOS

Zwischen den drei Weggefährten und Hyeme lag nur noch der steile Anstieg auf die Hochebene. Danach würden Tana und Salàr wie jeden Sommer in ihr geliebtes Heimatdorf zurückkehren.

Ein gutes Gefühl, wie Salàr fand, sogar ein sehr gutes. Er hatte seine Familie vermisst – trotz eines weiteren äußerst spaßigen und lehrreichen Jahres in Ylio.

Besonders seine Mutter hatte ihm gefehlt. Niemand konnte ihm so gut zuhören, ohne ihn vorschnell zu verurteilen oder zu hinterfragen, um am Ende immer die passenden Worte zu finden. Wegen ihrer Fürsorge und Geduld, die sie für all ihre Kinder aufbrachte, war Ava in Salàrs Augen eine bemerkenswerte Frau. Und als wäre das nicht schon genug, zählte sie zu den besten Köchinnen des Dorfes. Zweifellos war ihr Rosmarin-Schmorbraten das Leckerste, was er je gegessen hatte.

Salàr nahm die farbigen Steine heraus, die seine Mutter ihm, als er noch ein Barn war, geschenkt hatte. Wie schön sie im Licht funkelten, dachte Salàr und steckte sie zurück in die Innentasche seiner Hose.

Zu Tiu, seinem glatzköpfigen Vater mit dem großen, braunen Oberlippenbart, war sein Verhältnis seit jeher etwas distanziert. Sein älterer Bruder Dari hatte Salàr zwar mal erklärt, dass Tiu vor dem Tod seiner ersten beiden Kinder für seine Witze und Späße im ganzen Dorf bekannt gewesen war. Doch was nützte es Salàr, wenn sein Vater ihn dauernd zurechtwies und ihn bei jedem Essen anschnauzte? Schlecht gelaunt und kühl, so kannte er Tiu. Und dennoch spürte Salàr Tius verborgene Zuneigung zu all seinen Kindern – auch zu ihm.

Am meisten freute sich Salàr auf Syene, seine kleine, mittlerweile neunjährige Schwester. Sie war ein echter Sonnenschein. Mit ihren langen blonden Haaren, ihrer zierlichen Figur und ihren leuchtenden himmelblauen Augen schien sie die Unschuld selbst zu sein. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend. Sie liebte alles und jeden. Jedem Wurm half sie über den Weg, und keine Katze war vor ihren Streicheleinheiten sicher. Am liebsten spielte sie draußen vor sich hin singend – allein oder mit den anderen Barn des Dorfes. Etwas nervig konnte sie natürlich schon sein. Gerade dann, wenn sie versuchte, Lik und ihm alles nachzumachen, aber sonst war sie ein Goldschatz.

Salàr lächelte in sich hinein. In Kürze würde er sie alle wiedersehen.

Bei Tagesanbruch hatten sie ihr Lager abgebrochen und waren einige Zeit dem Fluss gefolgt, bis sie schließlich südlich auf einen Feldweg in Richtung Hyeme abgebogen waren.

Munter holperte das Fuhrwerk vor sich hin, und Salàr sah, wie Tana gedankenversunken an ihrer Umhängetasche lehnte.

»Ich kann’s noch gar nicht fassen! Zwei Monate lang keine Schule.« Salàr strahlte von seinen einsamen Kinnbarthaaren bis zu seinen kurzgeschnittenen Haaren.

Tana brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, worüber er sprach.

»Ja, klar«, antwortete sie abwesend. Ihre graugrünen Augen konzentrierten sich auf ihre Fingernägel.

»Is was?«, fragte Salàr durch das Hufgetrappel. Normalerweise hätte Tana von der Parfümerie ihres Stiefvaters geschwärmt und ihm erzählt, welche Düfte sie und ihre Mutter diesen Sommer kreieren würden. Die Parfümerie war Tanas große Leidenschaft – so sehr, dass sie nie wahrnahm, wenn ein Junge in ihrem Alter ihr schöne Augen machte.

»Nein … doch. Ich … nein.« Sie winkte ab. »Ich erklär’s dir ein andermal.« Sie sah ihn an. »Natürlich freue ich mich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und widmete sich rasch wieder ihren Fingern.

Salàr runzelte die Stirn und wollte schon Luft holen, um nachzuhaken, ließ es dann aber bleiben. Er wollte sich nicht die Stimmung verderben lassen. Zu schön war die Vorstellung, heimzukehren und den Sommer über in Hyeme zu verbringen. Er würde entweder an seinen Koch rezepten tüfteln, nach den Pferden sehen oder einfach die Tage schlafend auf der Weide verstreichen lassen – wie schön das Leben doch sein konnte.

Mit einem Auge spähte er zur grauen Wolkendecke hinauf. Dafür müssten die Alfuri jedoch noch diese grauen Dinger wegpusten.

Salàr wandte sich wieder Tana zu. Vielleicht konnte er sie ja ein wenig aufmuntern. Wie ein Ausrufer des Krals breitete er die Arme aus und sprach mit fester Stimme: »Riechst du nicht auch die herrliche Morgenluft, o holde Maid? Riechst du nicht auch den vertrauten Duft der Heimat?«

Die Schauspielerei war zwar mäßig gut, der aufkommende Wind verlieh dem Auftritt aber dankbarerweise eine gewisse Dramatik.

»Wie riecht denn die Heimat?«, fragte Tana und kicherte.

Ziel erreicht, dachte Salàr.

»Na ja, mal riechen …« Er füllte die Lungen mit Luft und zählte belehrend und demonstrativ mit den Fingern. »Nach Gann-Blumen, Matsch, Holzrauch, Pferd, Metall …«

Salàr hielt inne. Metall? Das konnte nicht stimmen. Sie hatten lediglich einen Schmied im Dorf. Einen. Nicht einmal die Magister mit ihrem außergewöhnlichen Geruchssinn würden von hier aus Metall riechen können.

Er atmete nochmals tief ein. Es roch nicht nach Eisenwaffen, wie er es aus den Schmieden in Veya kannte. Es roch nach faulem Eisen, nach verdorbenem Eisen. Es roch nach – »Blut«, beendete Tana seine Gedanken.

Reglos schauten sie sich an.

»Die große Schlachtung findet doch immer erst im Herbst statt, nicht?«, fragte Salàr, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Sein Mund fühlte sich trocken an, und der Wind ließ ihn plötzlich frieren.

»Ich rieche kein Tierblut …«, sagte Tana vorsichtig und ihre Augen weiteten sich, als sie verstand. »Du meinst doch nicht …, oder?« In ihren Worten lag der Wunsch, sich zu irren. Aber die Antwort kannten sie beide. Menschenblut. Und um Menschenblut aus dieser Entfernung herausriechen zu können, brauchte es viel davon. Sehr viel.

Salàr stürzte nach vorne. Offenbar hatte Pyal den Geruch nicht wahrgenommen, denn er wirkte verwirrt, als Salàr auf ihn einschrie und wild mit den Armen fuchtelte. Schließlich verstand der Kutscher und nahm die Zügel fester in die Hand.

Das Wetter hatte nun umgeschlagen. Durch das Geheule des Sturms rief Pyal den Pferden Befehle zu. Diese antworteten unweigerlich mit gestrecktem Galopp.

Im Eiltempo ratterte das Fuhrwerk den steilen Weg hinauf. Immer höher. Der Wagen bog nach links, kam an den kleinen Tannen vorbei, um anschließend mit Schwung den letzten Teil des Aufstiegs in Angriff zu nehmen.

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Der Wind schleuderte Salàr die ersten dicken Tropfen ins Gesicht. Es war ihm egal. Mit geballten Fäusten und zusammengekniffenen Augen sah er nach vorne. Er fieberte dem Ziel entgegen. Sie mussten es schaffen. Sie mussten Hyeme rechtzeitig erreichen. Sie mussten den Menschen helfen. Oder waren bereits alle tot? Nein! Das ließe er nicht zu.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie die Hochebene erreicht, und Pyal hielt den Wagen an. Weniger als fünfzig Kutschen vor ihnen lag das Zuhause der knapp zweihundert Einwohner von Hyeme.

Rauch quoll aus den Kaminen und in einigen Häusern brannte Licht. Ein paar Kühe weideten etwas abseits des Dorfes und suchten nun Schutz unter einem knorrigen Birnbaum. Außer dem Wind und den Regentropfen war es still. Alles war friedlich, verschlafen und unberührt. Wären da nicht der unverwechselbare Geruch von Menschenblut und der Anblick der leblosen Körper gewesen.

Keiner der drei sagte ein Wort.

Vorsichtig stieg Salàr vom Wagen und hielt sich an der Seiten wand der Kutsche fest, um nicht umzukippen. Was war hier geschehen?

Er schaute zu Tana, die ebenfalls abgestiegen war. Sie war bleich und stammelte vor sich hin. Pyal war auf der Kutsche sitzen geblieben. Die Hände vor sein Gesicht geschlagen, hörte Salàr ihn leise Gebete murmeln.

Benommen ging Salàr an den ausdruckslosen Gesichtern vorbei. Er konnte den Blick nicht von ihnen abwenden – zu unwirklich schien ihm die Szene.

Auf der Zufahrtsstraße lag Leip, der Dorfbäcker. Blutüberströmt starrte er zu seinem neben ihm liegenden Sohn – keine sechs Jahre alt.

Etwas weiter erblickte Salàr Liti, das Nachbarsmädchen. Wie eine weggeworfene Puppe lag sie im rotgefärbten Gras.

Wiedererkennen konnte Salàr die wenigsten. Zu verdreht und entstellt waren die Körper.

Seine Schuhe schmatzten, als er durch das Eingangstor trat. Salàr erblickte aufgebrochene Haustüren, zerstörte Kutschen und Heuwagen. Aufgeschlitzt wie wertlose Kreaturen lagen Freunde und Nachbarn auf dem Vorplatz verstreut. Manche trugen noch ihr Nachthemd. Manchen fehlten Arme und Beine.

Das Atmen fiel Salàr schwer. Der Gestank, faul und beißend, war unerträglich. Er konnte nicht mehr denken. Kein klares Bild war mehr möglich.

Plötzlich machten sich Furcht und Panik in ihm breit. Es fühlte sich an, als ob er erstickte. Wo war seine Familie?

Ein Schrei ertönte und Salàr fuhr herum. Tana hielt sich die Hand vor den Mund und zeigte auf einen älteren Mann, aus dessen Armen und Beinen weiße Knochen ragten. Das allein war schon schockierend genug, aber erst jetzt sah Salàr entsetzt, worauf Tana eigentlich deutete. Dem Mann fehlten Nase und Zunge. Welch Wahnsinnige, Gottlose, Kranke waren zu so etwas fähig?

Salàr wandte sich ab und rang nach Luft. Seine Familie! Wo war sie?

Der Boden schwankte unter seinen Füßen. Auf einmal konnte er nicht mehr sehen. Alles war dunkel geworden. Ihm war heiß. Seine Knie gaben nach und Salàr schlug dumpf auf dem feuchten Boden auf.

Dann war nichts.

4

GESCHICHTEN DER GÖTTER, SCHÖPFUNGSGESCHICHTE

TEIL 2: DIE ENTWICKLUNG (2.000 – 1.000 VFV)

»Auf die Entstehung folgte die Entwicklung und damit das Erscheinen der Vanen, der alten Götter.

Aus Teilen ihres Körpers formte Drau, Göttin des Geistes und älteste der Lumen, ihre Tochter Elma, Göttin des Traumes. Der Traum ist der Zugang zum Unbewussten und zum eigenen Geist. Erscheinungen, Gefühle, Zeit- und Raumlosigkeit sowie die fehlende Fähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Illusion zu unterscheiden, machen Träume zu etwas ganz Besonderem. So mag es nachvollziehbar sein, weshalb Drau eine Tochter, die Göttin des Traumes, zeugte. Elma sollte fortan die Verantwortung für eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben in Kamea übernehmen, welche Drau selbst nicht hätte zusätzlich bewältigen können.

In der gleichen Zeit entstand auch Folvet. Durch die ihr eigene Kraft des Orkals gebar Mana den Gott der Sinne. Er sollte als Oberhaupt in Kamea über seine künftigen Töchter und Söhne herrschen – so zumindest Manas Absicht.

Hundert Jahren waren vergangen, als Drau und Folvet sich näherkamen. In einer kühlen Nacht legte sich Drau schließlich zu ihm und sie zeugten vier Monde lang ihre Nachkommen.

Der sehnige Vaegi ist der Gott des Gleichgewichts. Der älteste Sohn mit Spitzbart ist für das Zusammenwirken verschiedener Bewegungen, die Balance sowie die Orientierung des menschlichen Körpers im Raum verantwortlich. Vaegi ist für sein loses Mundwerk bekannt und liebt es, Streiche zu spielen. Sein wohl größtes Werk ist der schwankende Gang aufgrund von zu viel genossenem Wein.

Die pummelige Tarmene ist die Göttin der Organe und vermittelt den Menschen unter anderem Hunger und Durst. Von ihr ist nicht viel bekannt, da sie durch ihren zurückhaltenden Charakter neben ihren Geschwistern beinahe untergeht.

Halea ist die Göttin von warm und kalt. Ihr ist es zu verdanken, dass die Menschen Feuer heiß und Schnee kalt wahrnehmen. Launisch und unberechenbar lässt sie die Bewohner von Verdàn schwitzen und frieren, um sie anschließend zu kühlen oder zu wärmen – leider nicht immer rechtzeitig und im richtigen Maß.

Kip ist das jüngste Kind und der Gott des Schmerzes. Er besitzt die Macht, Schmerzen zuzufügen und zu nehmen. Mit Stolz, Ehrgeiz und Präzision erfüllt er seine Aufgabe, denn würde er es nicht, würden die Menschen leichtsinnig leben oder unter Qualen sterben.

Stete Perfektion und Disziplin fordert allerdings seinen Preis. In Kips Fall sind es sein hitziges Gemüt und seine aufbrausende Art den anderen Göttern gegenüber. Seine Unbesonnenheit war folgenreich, wie sich anhand der späteren Vorkommnisse gezeigt hat.«

5

EIGEN FLEISCH

Dumpf drangen Stimmen an Salàrs Ohr. Undeutlich und in der Ferne schienen sie zu sein, als triebe er in der Tiefe des Sees von Veya. Salàr versuchte, die Augen zu öffnen, doch seine Lider fühlten sich zu schwer an.

»Salàr, hörst du mich?« Tanas Stimme. »Salàr?«

Salàr konnte nicht antworten und sank zurück in die dunkle Tiefe des Sees.

Salàr befand sich in der Droma. Vor ihm lag der Blutvogel – mit blutenden Wunden und kreischend vor Schmerz. Er wollte ihm helfen. Er wollte ihn retten. Er wollte die Blutungen stoppen. Aber wie? Was sollte er tun?

Der Verzweiflung nahe schaute sich Salàr um, aber da war niemand, der ihm hätte helfen können. Er war allein – und auf sich gestellt.

Mit ausgestreckten Händen ging Salàr auf das Tier zu, merkte jedoch im gleichen Moment, wie ihn etwas sanft, aber mit unglaublicher Kraft zurückhielt. Er wehrte sich dagegen, strengte sich an, doch er schaffte es nicht, sich dem leidenden Tier zu nähern. Oder wollte er nicht? War es sein eigener Wille, der ihn davon abhielt, dem Vogel zu helfen? Wollte er ihn sterben lassen?

Wie durch einen Sog wurde Salàr aus der Tiefe des Sees nach oben gezogen. Er schlug die Augen auf und keuchte. Wo war er? Was war geschehen?

Vor sich sah Salàr einen jungen, dünnen Mann mit perfekt sitzender Frisur und fleckenlosem Leinenhemd.

»Ich grüße dich, kleiner Bruder«, sagte Dari förmlich, und Salàr roch den ihm nur allzu vertrauten Duft seines Bruders nach Kräutersträußchen.

Dari gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die man unter solchen Umständen gerne bei sich hatte. Nervös fuchtelte er mit seinen großen Händen herum und versuchte Salàr irgendetwas auf komplizierteste Weise zu erklären. Das machte das Aufwachen mit einem Brummschädel nicht gerade angenehmer.

Salàr schaute sich um. Er lag auf einem Bett in einem ihm unbekannten Raum. Tana saß mit gefalteten Händen und wachsamen Blick am Fußende des Betts.

»Wo bin ich? Was ist geschehen?«, fragte Salàr und unterbrach dadurch den Redeschwall seines Bruders. Sein Kopf dröhnte und hämmerte. Er setzte sich auf und fasste sich an die Schläfe, wo er einen Verband spürte.

»Du bist hingefallen und hast dir den Kopf angeschlagen«, antwortete Tana. »Wir sind im Haus des Verwalters – in Sicherheit.«

»In Sicherheit wovor?« Salàr schaute sie fragend an. Doch bevor sie ihm antworten konnte, tauchten aus dem Nichts die Bilder auf. Die Gesichter. Die Leichen. Der alte Mann ohne Nase und Zunge.

Salàr atmete schwer. »Was ist mit meiner Familie?«

»Niemand hat den Angriff überlebt«, sagte Tana heiser. Salàr konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Ihr Gesicht war weiß und ihre Lippen zitterten.

»Sie sind tot. Alle«, sagte sie stimmlos.

Es fühlte sich an, als ob ihm jemand einen Dolch ins Herz gerammt und herumgedreht hätte. Ein Stich, der jeden einzelnen seiner Muskeln sich schmerzhaft zusammenziehen ließ. Seine Familie war tot.

Was hatten sie durchmachen müssen? Wie waren sie gestorben? Hatten sie leiden müssen? Salàr versuchte, die Gedanken zu verscheuchen, sie zu verdrängen. Aber es gelang ihm nicht. Der Gestank nach faulem Eisen stieg ihm in die Nase. Ihm wurde schlecht und sein Kopf pochte noch heftiger.

Salàr atmete einmal tief ein und versuchte erneut, sich von den schrecklichen Bildern abzulenken.

»Seit wann bist du hier?«, fragte er Dari.

»Noch nicht sehr lange, kleiner Bruder. Noch vor eurer Ankunft in Hyeme wurden Boten aus dem Nachbardorf nach Veya gesandt. Die Nachricht hatte sich am Hof des Grafen in Windeseile verbreitet und ich bin nach kurzem Wortwechsel mit dem Grafen sofort hierher geritten.« Er stakste im Zimmer auf und ab.

»Weshalb kam Hyeme niemand zu Hilfe?«

»Offenbar haben die Kazein in der Nacht angegriffen. Und du kennst ja unser Volk. Die Tollkühnsten sind wir nicht … in der Überzahl liegt unsere Stärke«, antwortete Dari nervös.

»Feiglinge!« Die Wut machte sich in Salàr breit. »Und wann werden wir zurückschlagen und diesen dreckigen Hunden die Eier abschneiden?«

Salàr sah, wie Dari Mühe hatte, die Worte einzuordnen, und hilfesuchend kurz zu Tana blickte.

»Also … da musst du dich gedulden, kleiner Bruder. Die ersten Soldaten sichern zwar bereits das Dorf. Bis die Truppen jedoch kampfbereit sind, wird es noch ein paar Tage dauern, hat mir der Graf mitgeteilt. Der Kral möchte zudem zuerst die Vorkommnisse untersuchen und erst dann sorgfältig abwägen, was getan werden muss.«

»Was getan werden muss?«, schnaubte Salàr. Er platzte beinahe vor Zorn. »Worauf, verdammt noch mal, will denn der Kral noch warten? Bis das nächste Dorf abgeschlachtet wird?«

»Wir sprechen hier von den Kazein, den besten Kriegern von Verdàn. Nur mit einer exorbitanten Armee hätten wir überhaupt den Hauch einer Chance. Dafür benötigen wir die Unterstützung aller Städte und der Militärakademie aus Medal.«

»Dann sollen die ihre fetten Ärsche hochkriegen und sich hierher bewegen!«, schrie Salàr.

»Nun ja, kleiner Bruder –«

»HÖR AUF MIT KLEINER BRUDER, DARI!« Salàrs Stimme überschlug sich.

Niemand sagte ein Wort.

Es klopfte, die Tür ging auf und ein Mann in Rüstung trat ein.

»Ich habe die Soldaten darum gebeten, nach unseren Familien zu sehen. Diesen Anblick möchte ich uns allen gerne ersparen«, sagte Dari steif.

»Mein Herr, wir haben sie gefunden«, meldete der Leutnant. »Sie waren zu Hause, als die Kazein kamen. Allerdings konnten wir das blonde Mädchen nicht finden.«

»Habt ihr überall nachgesehen? Auch in den umliegenden Häusern?«, fragte Dari und spielte nervös mit den Fingern.

»Ja, mein Herr. Keine Spur. Die Möbel waren zu den Türen verrückt worden. Die Familie Kend war möglicherweise gewarnt. Vielleicht konnte das Mädchen in den nahegelegenen Wald fliehen.«

Salàr saß plötzlich kerzengerade. Konnte das sein? Konnte Syene die Flucht gelungen sein?

»Wir müssen sie suchen, Dari.«

»Davon würde ich abraten, mein Herr. Wir wissen nach wie vor nicht, wo die Kazein ihr Lager aufgeschlagen haben. Gut möglich, dass es sich gleich hinter dem Wald befindet oder sie sich gar in den Wäldern verstecken«, bemerkte der Leutnant.

»Aber wir könnten Syene vor ihnen finden«, sagte Salàr eindringlich.

»Mein Herr, das wäre äußerst gefährlich. Die Kazein sind nicht zu unterschätzen.« Der Leutnant dachte kurz nach. »Ihr könntet aber auf die Verstärkung warten, die morgen hier eintreffen wird.«

Morgen? Salàr war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Wie konnte der Leutnant nur so ignorant sein? Es handelte sich um seine kleine Schwester – nebst Dari die einzig noch Lebende in seiner Familie.

»Der Leutnant hat recht«, warf Dari ein. Etwas Flehendes war herauszuhören. »Bedenke, Salàr. Wenn Syene es geschafft hat, zu fliehen und sich zu verstecken, dann kann sie in ihrem Unterschlupf noch bis morgen warten. Oder aber sie wurde von den Kazein längst gefunden – und ist bereits tot.«

Salàr traute seinen Ohren nicht. Er bebte vor Zorn. »Wie kannst du so etwas sagen?« Salàr hatte große Mühe, Dari nicht gleich den Hals umzudrehen. »Du sprichst von unserer Schwester. Von unserem Fleisch und Blut!«

Dari schaute ihn verängstigt und gleichzeitig wütend an, schwieg jedoch.

»Ich weiß, dass du ein Feigling bist«, fuhr Salàr fort. »Aber auch dann noch, wenn das Leben von Syene auf dem Spiel steht? Hast du denn gar keine Ehre?«

»Genug!« Tana hatte die ganze Zeit schweigend auf dem Bett gesessen. Nun stand sie auf und fixierte Salàr mit eisigem Blick. »Es reicht! Du kannst nicht allen Ernstes glauben, dass du tagsüber ungesehen an den Augen der Kazein vorbeikommst. Das wäre nicht mutig, sondern einfach nur dumm. Und Syene hättest du damit auch nicht geholfen.«

Salàr schwieg und verschränkte die Arme. Er wusste, dass das die Wahrheit war. Es wäre Selbstmord. Er hätte keine Chance. Aber nichts tun, konnte er auch nicht.

»Ich warte, bis es dunkel ist, dann gehe ich sie suchen«, sagte Salàr bestimmt. »Die Kazein sehen im Dunkeln zwar besser als ich, aber bei günstigem Wind rieche ich ihren hässlichen Gestank zuerst.« Er drehte sich zu seinem schlaksigen Bruder um. »Tu, was du für richtig hältst. Sobald die Nacht kommt, bin ich weg.«

Es war augenscheinlich, dass Dari mit sich rang. Salàr konnte seine Furcht beinahe riechen.

»Ich komme mit dir«, sagte Tana. Trotz ihrer verquollenen Augen und der roten Nase wirkte sie überzeugt.

Dari zitterte und schwitzte. Er stammelte und seine Stimme klang höher als sonst. »Also … also gut, wir werden Syene heute Abend suchen.« Er seufzte und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Ihr habt noch ein paar Stunden, bis die Nacht hereinbricht.«

Salàr hatte ganz vergessen, dass der Leutnant noch immer in der Tür stand.

Höflich schaute er in die Runde. »Ich lasse euch warme Kleider und etwas zu essen bringen. Ruht euch aus.« Mit einer leichten Verbeugung verließ er den Raum.

Salàr legte sich wieder hin. Er musste sich konzentrieren. Er musste sich zusammenreißen. Nur Syene war jetzt wichtig. Alles andere musste warten.

Salàr schloss die Augen und rief sich den Geruch seiner kleinen Schwester in Erinnerung: milchig-süßlich, blumig mit einer Note von Lavendel. Auch wenn er Syene ein Jahr nicht mehr gesehen und gerochen hatte, war er sich sicher, dass er sie erkennen würde. Der Duft eines Menschen verhielt sich wie sein Aussehen: Er konnte sich verändern, aber der Kern blieb derselbe. Salàr würde seine Schwester finden.

6

DER OSTWALD

Endlich ließen die Kopfschmerzen nach. Ein Soldat hatte ein paar getrocknete Wiesenblumen gebracht. Salàr kannte sie nicht, doch so schnell würde er sie nicht wieder vergessen. Der Tee, den er sich damit gebraut hatte, schmeckte abscheulich bitter, und nach jedem Schluck brannten seine Zunge und sein Rachen vor Schärfe. Aber, und das war letztendlich das Entscheidende, nach kurzer Zeit stoppte das Hämmern in seinem Kopf, und er fühlte sich gestärkt und auf eine seltsame Art entspannt. Hatte er soeben Kip überlistet?

Abgesehen von den nachlassenden Schmerzen fühlte sich Salàr vor den aktuellen Geschehnissen auf eine eigenartige Weise geschützt. Wie in einer Blase kam er sich vor. Eine unsichtbare Schutzhülle, die innen mit Licht, Hoffnung und Mut gefüllt und von Dunkelheit, Schmerz und Trauer umgeben war. Solange sein selbstgeschaffener Schutz hielte, würde er sich auf seine bevorstehende Aufgabe konzentrieren können, auf das Einzige, was zählte. Was mit ihm geschehen würde, wenn die feine Blase platzte, wenn die Hülle plötzliche Risse bekäme, mochte sich Salàr nicht vorstellen.

Dari, Tana und Salàr saßen am Kamin und stärkten sich mit den Nahrungsmitteln, die der Leutnant ihnen hatte bringen lassen: Roggenbrot und Eintopf aus Linsen und Bohnen. Der fade Geschmack war Salàr gleichgültig. Viel konnte er sowieso nicht essen, und er tat es auch nur, um sich für die kommenden Stunden zu stärken.

Im schummrigen Raum war nur das Knistern des Feuers zu hören. Niemand der drei machte Anstalten, ein Gespräch zu beginnen. Zu angespannt war die Situation und zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt.

Salàr rief sich immer wieder die Duftkomponenten von Syene ins Gedächtnis. Schon als Barn hatte er sich Düfte und Gerüche einprägen und jederzeit, selbst nach Jahren, wieder hervorholen können. Ein Talent, das ihn vor allem als Ungur oft vor Gefahren und in heiklen Situationen gerettet hatte. Er konnte die Düfte zerlegen, die Bestandteile einzeln riechen und sie wieder zusammensetzen. Um Gerüche, insbesondere unbekannte, zu erkennen, brauchte er allerdings eine Weile.

Tana war in dieser Hinsicht ein absolutes Genie. Verblüffend schnell konnte sie Düfte wahrnehmen und zuordnen. Hayu hatte sie auch mit einer außerordentlichen Kreativität gesegnet. In der Werkstatt ihres Stiefvaters hatte sie während der schulfreien Zeit mit ihrer Mutter zusammen neue Parfüme kreiert. Die besten hatte ihr Stiefvater bis ins stoynische Anu im Norden und ins tasanische Reda im Südwesten von Hyvin verkaufen können, wo sie von edlen hamayschen Hofdamen getragen wurden.

Kreativität war für Salàr durchaus nichts Unbekanntes. Doch im Vergleich zu Tana, die sich in der Welt der Düfte verwirklichte, widmete er sich den Künsten des Kochens.

Er liebte das Kochen und genussvolles Essen. Es war seine Leidenschaft, sein Element. Essen war für ihn so viel mehr, als nur der Forderung von Tarmene nachzukommen. Nahrung sollte nicht einfach Hunger und Durst stillen und den Körper bei Kräften halten. Milch, Honig, Getreide, Nüsse, Fleisch, Gemüse und Früchte – das alles sollte kombiniert und mit Ölen, Fetten, Gewürzen und Kräutern zu einer Geschmackssensation zubereitet werden. Das war Makus Vision, und dieser wollte sich Salàr bis an sein Lebensende widmen.

In Ylio war er im Fach Kreatives Kochen am Ende seines Ungur-Seins Jahrgangsbester geworden. Der Magister hatte ihn gelobt, kaum einen Sechzehnjährigen mit solchen Begabungen während all seiner Jahre unterrichtet zu haben. Salàr würde sowohl in seiner Zeit als Mod wie auch nach seinem Schulabschluss mit achtzehn Jahren noch einige köstliche Wunder vollbringen werden.

Diese Zeit war in einem anderen Leben, dachte Salàr und starrte in die Flammen im Kamin. Dann steckte er sich den Löffel in den Mund und würgte den letzten Bissen hinunter.

Die Alfuri hatten für einen kühlen Abend gesorgt und die drei jungen Hamay waren froh, sich einen wärmenden Mantel übergezogen zu haben. Vor ihnen lag im Stillen der Ostwald, der Hyvin und Kyman trennte. Links und rechts ragten spitze Berggipfel in die Höhe und erinnerten an die Wachtürme von Veya.

Es war das erste Mal, dass Salàr den Tannenwald betreten würde. Zum Schutz des hamayschen Volkes hatte der Kral ein Gesetz erlassen, das den Eintritt in das Gebiet verbot. Einzig Ranghohe, Botschafter und Händler durften auf dem Weg in die kymanische Stadt Kat unter dem Schutz von Soldaten den Ostwald durchqueren. Die Anordnung war allerdings eher pro forma, wie ein Magister Salàr einst erklärt hatte. Kein Hamay würde sich freiwillig in den düsteren, dichten Wald wagen und das Risiko eingehen, auf ein paar angriffslustige Kazein zu treffen. Auch Tiu hatte stets in den von Hyeme westlich gelegenen Wäldern gejagt.

Der Ostwald hatte im Jahr 277 in ganz Hyvin unrühmliche Bekanntheit erlangt, als die Kazein durch die Tannen und Büsche einmarschierten, und es zum einzigen Krieg zwischen dem Volk von Hayu und Maku und dem Volk von Kazo gekommen war. Dank der Überzahl hatten die Hamay ihr Land verteidigen und die Kazein nach Kyman zurückdrängen können.

Seither waren 111 Jahren vergangen, und die Beziehung zwischen den Völkern und insbesondere zwischen dem Kral und dem Konur hatte sich verbessert. Rohstoffe, Nahrungsmittel, Nutztiere und Parfüme aus Hyvin wurden gegen Waffen und Kleider getauscht. Gelegentlich besuchten Köche die kymanische Hauptstadt Karat und kazeinische Bildhauer und Architekten übernahmen Aufträge von den Grafen in Hyvin.

Doch bei allem Handel und den Gefälligkeiten ruhte auf der Beziehung zwischen den Völkern ein immerwährendes Misstrauen. Ein Misstrauen, das in diesen Tagen erneut genährt worden war.

Seit Stunden liefen Tana, Dari und Salàr quer durch den Wald, zwischen den dicht stehenden Bäumen und Sträuchern hindurch. Sie versuchten, sich die Gerüche einiger Stellen einzuprägen, um den Weg zurück nach Hyeme wiederfinden zu können. Je tiefer sie allerdings in den Ostwald eindrangen, desto stärker roch alles nach dem frischen Harz der Weißtannen und den süß-säuerlichen Beeren, die überall wuchsen.

Dem milchig-süßlichen Duft von Syene waren sie bisher nicht begegnet. Ihnen stieg aber auch nicht der Gestank der Kazein in die Nase, was durchaus hätte sein können.

Sie verließen sich zur Orientierung fast ausschließlich auf ihren Geruchsinn, denn das Mondlicht blieb in den hohen Ästen der Tannen hängen. Ein paar Mal wäre Salàr beinahe gestürzt. Wie Adern durchzogen Wurzeln den feuchten Waldboden und die darauf wachsenden Büsche machten es nur noch mühsamer, sich fortzubewegen.

Bei einer umgefallenen, halb vermoderten Tanne hielten sie an. Sie waren müde und ihre Füße taten weh. Die Wasserflaschen, die sie noch kurz vor ihrem Aufbruch aufgefüllt hatten, waren schon zur Hälfte leer.

Salàr spürte, wie seine Schutzhülle brüchig wurde. Kleine Risse zogen sich durch die Blase und leise Zweifel und eine Spur von Furcht drangen zu ihm durch.

Der Wind ließ die nadligen Äste flüstern, sonst war es ruhig.

Plötzlich durchbrach Tana die Stille.

»Riecht ihr das auch?«, flüsterte sie. »Da ist ein zarter, milchähnlicher Duft – und etwas Lavendel.«

Dari und Salàr reckten die Köpfe und sogen die Luft tief ein.

Salàr roch in erster Linie Feuerrauch und den Gestank von altem Schweiß.

»Die Kazein … sie sind in der Nähe«, stotterte Dari.

Salàr konnte durch die Dunkelheit seine größer werdenden Augen nur erahnen und hatte das Gefühl, das Herz seines Bruders schlagen zu spüren. Er schloss die Augen und atmete nochmals tief ein. Da war wirklich eine Note von Milch und Lavendel. Ein Hauch, eine Prise, so fein, so sanft, dass sich Salàr nicht sicher war, ob sie überhaupt existierte.

»Könnt ihr den Duft Syene zuordnen?«, fragte Tana hoffnungsvoll.

Dari und Salàr schauten sich für einen Moment lang an, dann nickten sie gleichzeitig.

Das Gelände wurde zunehmend steiler und sie mussten sich an den Ästen festhalten, um nicht hinunterzurutschen. Salàr wusste, je tiefer sie hinabsteigen würden, desto näher kämen sie auch an Kyman heran, und somit in die Nähe der Kazein.

Der Duft von Syene verstärkte sich mit jeder Tanne, die sie hinter sich ließen. Am Ende des Abhangs bogen sie nach links. Mittlerweile waren Stimmen und das Knacken eines Feuers zu hören. Sie verlangsamten ihr Tempo und achteten darauf, auf möglichst wenige Äste zu treten. Nach ein paar weiteren Schritten stoppte Dari plötzlich und hielt die Hand hoch.

So lästig die Büsche und Bäume während der stundenlangen Suche auch gewesen waren, so boten sie jetzt eine hilfreiche Deckung aus sicherer Distanz. Dicht aneinandergedrängt hockten Dari, Tana und Salàr hinter den Zweigen und beobachteten die kleine Lichtung um die Feuerstelle.

Zwei Männer standen hinter den schwach flackernden Flammen. Durch den Rauch erkannte Salàr im Licht des Feuers, dass sie ihre Gesichter mit einem schwarzen Tuch bedeckt hatten.

Er stutzte. Vor wem wollten sich die Kazein denn verbergen? Es war dunkel, und es war doch sonst niemand hier außer ihnen.

»Komm schon. Bringen wir’s hinter uns. Wie lange willst du denn noch warten?«, fragte der Kräftigere der beiden mit tiefer Stimme.

»Der Befehl lautete, zu warten. Also warten wir«, schnauzte der Rundliche.

Sie hatten die für Kazein typische Sprechweise, in der das R nach gewissen Vokalen gerollt wurde. In Veya hatte sie Salàr schon einmal gehört.

»Der Befehl lautete, die Flüchtige zu finden und zu töten. Wir sollten nur hier warten, um geschlossen nach Kyman zurückzukehren.«

Syene töten? Salàr verstand nicht. Weshalb interessierte sie, ob ein neunjähriges Mädchen tot war oder nicht? Der Gedanke war absurd. Die Männer mussten von einer anderen sprechen.

»Gut, dann hol sie«, raunte der Rundliche.

Der Mann mit der tiefen Stimme verließ die Lichtung.

Erst jetzt bemerkte Salàr, dass am Unterarm des Rundlichen eine Wunde in der Größe eines Apfels klaffte. Alleine der Anblick schmerzte, doch schien es den Kazein nicht zu kümmern, denn er drückte gelangweilt darauf herum, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen.

Nach einer Weile kehrte sein Kollege mit einem Mädchen an der Hand zurück.

»Stell dich vors Feuer«, sagte er und seine Stimme klang sanft und freundlich, als ob ein liebender Vater zu seiner Tochter sprechen würde.

Obwohl Salàr nicht verstand, was sich drei Kutschen vor ihm abspielte, fühlte er Erleichterung. Das Mädchen war nicht Syene.

Es hatte zwar blonde Haare und den gleichen zierlichen Körperbau, aber es war zu alt, völlig verdreckt und verwildert; die Augen gerötet, das Haar zerzaust, die Haut zerkratzt, die Kleider zerrissen – als ob sie in einer Höhle leben würde. Ihr starrer Blick war leer. Hätte sie nicht auf ihren wackeligen, dünnen Beinen gestanden, hätte Salàr sie wahrscheinlich für tot halten. Nichts von der Fröhlichkeit und dem Leuchten, wie Syene es hatte.

»Was machen wir jetzt?«, keuchte Dari Salàr angespannt ins Ohr. Das Gesicht seines Bruders war nass vor Schweiß. Er presste die Lippen zusammen und hatte Tränen in den Augen.

Salàr sah ihn fragend an.

»Syene!«, flüsterte Dari eindringlich und schaute mit geweiteten Augen zur Feuerstelle.

Salàr drehte sich zur Lichtung, schloss die Augen, atmete tief ein und begriff. Das kleine Mädchen war Syene. Salàrs Schutzhülle drohte zu zerreißen. Er konnte nicht mehr atmen. Sein Körper verweigerte jede Bewegung. Er fixierte nur noch Syene.

»Du wirst jetzt sterben, Kleines«, erklärte ihr der kräftige Mann in aller Ruhe.

Plötzlich erwachte Syene wie aus einer Trance. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Blick war klar und ihr Körper entspannt. Dann lächelte sie und schaute durch das Feuer direkt in Salàrs Gesicht. Konnte sie ihn sehen?

»Ich werde nicht sterben«, sagte sie sanft. »In den Erinnerungen meiner Lieben werde ich ewig leben. Sie müssen nicht loslassen, denn ich werde immer bei ihnen sein.«

Das waren ihre letzten Worte. Salàr wandte sich ab, als ob er dadurch das Kommende hätte verhindern können. Doch nichts konnte seine Schwester jetzt noch retten.

Ein süßlich eiserner Geruch erfüllte die Luft. Der Geruch nach frischem Blut. Im gleichen Zug mischte sich ein intensiver Schweißgestank darunter.

»Sie kommen zurück. Sie kommen zurück«, stammelte Tana panisch.

Sie packte Salàrs Arm und riss ihn mit sich. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten und stolperte hinter ihr her. In seinem Rücken hörte er, wie Dari zu ihnen aufschloss.

Was war gerade geschehen? Passierte das wirklich? Salàr konnte nicht mehr denken. Die Schutzhülle stand kurz vor dem Zerreißen.

Salàr rannte los. Ohne Ziel spurtete er zwischen Büschen und Tannen hindurch. Er rannte so schnell wie noch nie. Rauf. Runter. Nach links. Einen Hang hinunter. Weiter geradeaus.

Seine Lunge brannte. Sein Kopf hämmerte. Aber er würde weiterrennen, bis seine Beine ihn nicht mehr trügen.

Nach weiteren hundert Kutschen Entfernung stolperte er und fiel einen kleinen Abhang hinunter. Sein Körper überschlug sich mehrere Male und stoppte erst, als er gegen einen Baum krachte. Alles drehte sich. Er konnte nichts sehen, nichts erkennen. Salàr lag auf dem Rücken und rang nach Luft. Er versuchte aufzustehen, doch ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Sein Fuß brannte und seine Rippen taten weh wie nie zuvor.

Er kroch auf allen vieren und bemühte sich vergebens aufzustehen. Sein Körper weigerte sich. Salàr sah sich um. Wo waren die anderen? Wo waren Tana und Dari? Er hatte sich während der Flucht nie umgedreht. Er war einfach weitergelaufen. Er hatte sie verloren.

Salàr versuchte, sie zu orten, versuchte, langsamer und tiefer zu atmen. Er versuchte, sie zu riechen. Nichts ging mehr. Die Luft hatte keinen Geruch.

Salàr verlor das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Er schnappte nach Luft und stöhnte auf. Wo war seine Freundin? Wo war sein Bruder?

Salàr merkte, wie ihm heiße Tränen die Wangen hinunterliefen. Er schluchzte und kauerte sich zusammen. Wo war Lik? Wo waren seine Eltern? Sein ganzer Körper schmerzte, und es schüttelte ihn.

Die Schutzhülle war gerissen, die Blase geplatzt. Unter den ersten Lichtstrahlen der aufgehenden Sonne kehrte in Salàr Dunkelheit ein.

7

GESCHICHTEN DER GÖTTER, SCHÖPFUNGSGESCHICHTE

TEIL 3: DIE ENTWICKLUNG (2.000 – 1.000 VFV)

»An diesem sonnigen Tag im strahlenden Kamea versammelten sich die Kinder Folvets in den Gemächern ihres Vaters. Er hatte sie von ihren Palästen rufen lassen, um ihnen freudige Neuigkeiten zu verkünden.

Vaegi, Tarmene, Halea und Kip standen im weißen Festsaal und lauschten gespannt, was der Gott der Sinne zu verlauten hatte. Seine kräftige Stimme hallte im weiten Raum wider, als er vor ihnen stehend zur Rede ansetzte. ›Meine Lieben. Ich bin so stolz auf jeden Einzelnen von euch.‹ Er lächelte aufrichtig und schaute in die Runde. ›Kein Vater könnte sich glücklicher schätzen. Ihr seid anständig, fleißig und pflichtbewusst. Und dank eures Einsatzes haben wir große Fortschritte gemacht. Bald werden wir den Menschen als ganzheitliches Wesen erschaffen können.‹

Die Kinder stimmten ihm nickend zu und Vaegi klatschte einmal.

Folvet holte tief Luft. ›Doch eure und meine Fähigkeiten reichen dafür nicht aus. Deshalb werdet ihr zwei neue Geschwister bekommen.‹ Er richtete sich stolz auf.

Vaegi jauchzte und applaudierte heftig. Halea und Tarmene sahen sich angenehm überrascht an und stimmten in den Applaus ein. Kip wartete. Irgendetwas sagte ihm, dass da noch mehr kommen würde.

›Nun ja, also – danke.‹ Folvet errötete und lächelte verlegen.

Kip musterte seinen Vater mit einem prüfenden Blick. Was kommt nun?

Folvet biss sich kurz auf die Lippe und kratzte sich am Hinterkopf. ›Ähm, wie ihr wisst – also, die Liebe aus dem Orkal ist weitaus größer, als dass sie nur mit wenigen geteilt werden könnte, und deshalb‹ – Folvet räusperte sich – ›wird Elma die Mutter eurer Geschwister sein.‹

Vaegi kicherte kindisch. ›Soso, Vati, hast du wohl genug von Drau.‹ Vaegi zwinkerte Folvet zu. Dieser wirkte leicht irritiert und peinlich berührt.

Tarmene und Halea schienen die Neuigkeiten nicht richtig einordnen zu können und verzogen die Gesichter zu einem unnatürlichen Lächeln.

,Ich freue mich für dich‹, brachte Halea schließlich hervor.

,Ja, schön‹, ergänzte Tarmene leise und griff nach der Hand ihrer Schwester.

Schön? Kip konnte es nicht fassen. Was bitte war denn hier schön?

›Gut … ähm … freut mich natürlich, dass ihr es auch so seht‹, sagte Folvet, richtete sich auf und klatschte in die Hände. ›Nun, dann wieder ab an die Arbeit. Es gibt noch viel zu tun.‹

Vaegi und seine Schwestern verließen den Saal durch den Haupteingang. Schon machte Folvet Anstalten, sich umzudrehen und seine Geliebte aufzusuchen, da stellte er fest, dass Kip noch immer vor ihm stand.

Sein jüngster Sohn fixierte ihn mit finsterem Blick. Wutverzerrt war das hübsche Gesicht unter dem pechschwarzen Haar.

›Wie kannst du es wagen?‹, presste Kip hervor. Er hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren.

›Wovon sprichst du?‹ Folvet runzelte verwirrt die Stirn.

›Du predigst uns seit etlichen Jahren Anstand und Disziplin. Aber selbst hüpfst du beim ersten kleinsten Anreiz von Verlangen mit einem Flittchen ins Bett – der Tochter deiner Frau!‹ Die Ader an seiner Schläfe pochte gefährlich.

›Hüte deine Zunge!‹, sagte Folvet scharf.

›Hüte deinen Penis!‹, entgegnete Kip umgehend. ›Untreue ist eines Göttervaters nicht würdig.‹

›Elma und ich lieben uns. Du hast keine Ahnung von der Liebe.‹ Nun stieg auch Folvet die Röte ins Gesicht.

›Du etwa? Was ist mit der Liebe zu Drau? Was ist mit der Liebe zu deinen Kindern?‹

›Die Liebe ist größer. Alle haben es verstanden, nur du nicht!‹

›Oh, dann verzeih mir Vater, o Folvet, du allmächtiger Gott der Sinne‹, sagte Kip sarkastisch. ›Dann bin ich deiner wohl nicht würdig.‹ Er verbeugte sich leicht.

›Deine Verbeugung kannst du dir sonst wohin stecken!‹, zischte Folvet.

›Ach ja? Bei Elma ist wohl kein Platz mehr, nehme ich an?‹

›RAUS!‹

In der darauffolgenden Zeit herrschte eine eisige Stimmung zwischen Vater und Sohn. Kip mied jeden Kontakt und zufälliges Aufeinandertreffen resultierte in hastigem Davoneilen. Selbst am Tag als Elma ihre Kinder Evvena und Maku gebar, blieb Kip in seinem Palast und ließ weder Glückwünsche ausrichten noch Geschenke bringen, wie es in Kamea die Gepflogenheiten verlangten.

Seine Geschwister schienen keine Probleme mit dem Liebes leben ihres Vaters zu haben, was Kip noch mehr ärgerte. Fehlendes Rückgrat warf er ihnen vor und ging ihnen ebenfalls, wann immer möglich, aus dem Weg.

Vier Jahre waren mittlerweile seit dem Zwischenfall vergangen und wie so oft verbrachte Kip seine Zeit an seinem Lieblingsort – dem Park der Götter. Die Fläche der Anlage schätzte Kip auf die Größe von etwa zehn Palästen. Die Alfuri nutzten den zentral gelegenen Teil des Himmelreichs, um an neuen Pflanzen zu tüfteln, weswegen im Park jedes erdenkliche Gewächs zu finden war. Von der zierlichsten Blume im roten Kleid bis zum stärksten Mammutbaum war alles vorhanden.

Kip liebte den Park. Die Düfte. Die Farben. Das leise Summen der Insekten. Das weiche Gras unter den Füßen. Es war der Ort, an dem er sich nach arbeitsreichen Tagen entspannen konnte. Und wegen der Weite des Parks musste er sich keine Gedanken machen, dass andere Götter ihn stören würden.

Manchmal leistete ihm Drau, seine Mutter, Gesellschaft, und sie plauderten über die Geschehnisse in Kamea. Kip schätzte den Austausch mit ihr – nicht zuletzt, da er durch sie doch noch die eine oder andere Neuigkeit von seiner Familie erfahren konnte. Kip musste sich eingestehen, dass ein Teil von ihm seine Familie vermisste. Sogar sein Vater fehlte ihm an manchen Tagen. Und was hätte er gegeben, seine kleinen Halbgeschwister einmal kennenzulernen? Doch das ging nicht. Nein. Es gab keinen Weg zurück. Nicht nach diesem Streit – auch wenn er ihn mittlerweile bereute. Nicht nachdem er vier Jahre lang seiner Familie die kalte Schulter gezeigt hatte. So blieben ihm nur seine Mutter und ihre Erzählungen.

Heute genoss Kip jedoch die Ruhe allein. Den ganzen Tag hatte er an einer Formel gefeilt, die berechnen sollte, wie viele Schmerzen eine Frau mittleren Alters aushalten müsste, wenn ihr ein kopfgroßer Kürbis aus Schulterhöhe auf den Zeh fiele. Nach acht Stunden war die Formel perfekt, und deshalb hatte er sich eine Auszeit verdient, wie er meinte.

Mit geschlossenen Augen saß Kip unter einer Eiche und lauschte dem Rauschen der Blätter. Vereinzelte Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht.

›Hallo‹, piepste plötzlich eine Stimme. ›Dich habe ich ja noch nie gesehen.‹

Kip zuckte zusammen und öffnete die Augen. Vor ihm stand ein kleines schwarzhaariges Mädchen mit großen kugelrunden Augen und einer Stupsnase. Ihre hellgrüne Haarschleife passte perfekt zu ihrem weißen Röckchen. Das Mädchen legte den kleinen Kopf schief und fuhr piepsend fort. ›Hast du ein böses Wort gesagt und darfst jetzt nicht mehr sprechen? Maku hat mal Pupskopf gesagt und durfte dann das ganze Essen lang nichts mehr sagen.‹