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Zwischen dem Haifischbecken Berlin und der vermeintlichen Idylle Sardiniens: »Brunow erzählt gekonnt davon, dass es in unserer Welt keine unschuldigen Gegenden mehr gibt.« Thomas Wörtche Ex-Polizist Gerhard Beckmann taucht ein in die sardische Kulturlandschaft und kämpft mit den Gespenstern der Vergangenheit Die Chinesin von Jochen Brunow: Im Herbst 2024 monatelang auf der Krimibestenliste von DLF Kultur Ex-Polizist Gerhard Beckmann lebt auf Sardinien mit den quälenden Gedanken an seine tote Frau. Eines Tages trifft er sich mit dem Journalisten David Richter, der eigens aus Berlin angereist ist und Genaueres über Beckmanns vorzeitige Pensionierung erfahren will. Waren dessen Ermittlungen zu Korruption am Flughafen BER zu brisant geworden? Der Besuch des Journalisten scheint schlafende Hunde zu wecken, denn Beckmann wird in seinem Refugium auf der Insel überfallen, und schon bald geht es um Leben und Tod …
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Liebe Leserin, lieber Leser, sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten. Ihr Norbert Treuheit, Verleger und Geschäftsführer
Originalausgabe
1. Auflage 2025© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 [email protected]. +49 9103 719290Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: ars vivendi verlagunter Verwendung eines Motivs von © Oskar Ulvur/Trevillion Images Druck: CPI books GmbH, LeckGedruckt auf holzfreiem Werkdruckpapier
Printed in Germany
ISBN 978-3-7472-0656-0
VERDECKTE SPUREN
Für Irene
Orte haben eine Seele. Wir wissen das seit Zeiten, seit sehr langer Zeit … schon immer. Wir wissen, dass inmitten des pulsierenden Herzens eines Ortes die Stimme des Wassers und das Murmeln der Winde erklingt. Wir wissen, dass der Atem der Erde Nachrichten und Klagen und Vorwürfe hervorbringt.
Marcello Fois, sardischer Autor aus Nuoro
Eine unbestimmte Unruhe hatte Gerhard Beckmann aus seinem Refugium auf die abgelegenen Landstraßen im Inneren der Insel getrieben. Die Stille war groß in den Bergen von Sardinien. Sie hatte eine Ausdehnung, hatte Struktur und Masse. Die Stille war lebendig, sie wohnte im gleißenden Licht der Sonne. Aus dieser Stille kamen die Geschichten der sardischen Erzähler, und diese Geschichten retteten vor ihr. Ihnen lauschte Beckmann gerne, wenn sich auf seinen Touren ins dünn besiedelte Inselinnere die Alten auf dem Platz vor der örtlichen Kirche im Schatten der Platanen begrüßten: »Mögest du hundert Jahre alt werden.« Und das Gegenüber erwiderte: »Mögest du sie zählen.«
Er selbst mit seinen einundsechzig Jahren fühlte sich jung, wenn er die Männer in den steifen Joppen mit den zerfurchten Gesichtern in einer der vier sardischen Sprachen reden hörte.
Die Stille der Landschaft war beinahe gewalttätig, sie konnte einen Menschen förmlich erschlagen. Sie konnte ihm den Geist verwirren, ihm den Verstand rauben, sodass er fehltrat und vom Felsen fiel. Sein Freund Lorenzo Farini, Maresciallo der Carabinieri in Porto San Paolo, hatte ihm davon erzählt; davon, wie im Licht der Dämmerung die Berge begannen, sich zu bewegen, die Trekkingtouristen sich verliefen und heillos verirrten.
Die Straße, der er folgte, war kaum befahren, schon länger war ihm kein Fahrzeug entgegengekommen.
Beckmann suchte den dreitausend Jahre alten Olivenbaum, der hier in den Bergen der Gallura irgendwo stehen sollte. Er verließ die SP 136 hinter Calangianus Richtung Lago di Liscia. Still standen die Korkeichenwälder. Der nackte, ochsenblutfarbene Stamm eines Baums leuchtete wie eine Wunde im Grün des Hains. Die Reifenstollen des mehr als zwanzig Jahre alten Range Rovers gruben sich in den Schotter einer schmalen Parkbucht. Die leere Mineralwasserflasche rollte vom Beifahrersitz.
Steil stieg der Hang rechts von ihm an. Skurrile Felsformationen ragten vereinzelt aus der Macchia. Beckmanns Blick ging über eine leicht abfallende Wiese hinunter zum Stausee. Wie flüssiges Blei schimmerte die Oberfläche des Lago di Liscia. Seine kahlen, trockengefallenen Ränder erinnerten daran, dass dieses große Gewässer von Menschenhand gestaut wurde. Zungen gleich leckte das Wasser hinein in die Täler zwischen den umliegenden Hügeln und Bergen.
Beckmann stieg aus. In der Stille der Bergluft hallte das Geräusch der zufallenden Autotür seltsam nach. Wegen der Dürre vor ihrer Zeit abgefallene Eicheln lagen im Sand. Gleichmütig brannte die Sonne. Im Staub entdeckte er die verwischten Spuren kleiner Paarhufer. Die Wildschweine waren überall. Das flache Ufer erschien ihm einladend, und das Wasser versprach Abkühlung. Er zog Hemd und Hosen aus und lief nackt die Wiese hinunter.
Der See war frischer, kühler als das Meer, in dem er sonst seine morgendliche Runde schwamm. Es gab eine merkwürdige kalte Unterströmung. Nahe der Zufahrt zum See hatte er im Vorüberfahren flüchtig ein Schild gesehen. Hatte da etwas gestanden wie Baden im See verboten? Gab es hier gefährliche Strömungen, Driften oder Wirbel? Nach einem Moment des Zweifels fühlte Beckmann sich in der Einsamkeit und dem klaren Wasser sicher. Er schwamm zu einem der Felsen, die glatt poliert aus dem Wasser ragten wie die gekrümmten Rücken von Walen. Er zog sich auf einen sonnenwarmen Stein hinauf, streckte sich aus.
Die Stille wurde durchdrungen vom Geräusch eines Fahrzeugs, das nach einem Moment erstarb. Beckmann blinzelte in die Sonne und erkannte im Gegenlicht einen Wagen, der mitten auf der etwas entfernten Brücke angehalten hatte. Er sah den Fahrer aussteigen, den Wagen langsam umrunden, die Heckklappe öffnen und einen Sack herausheben. Beckmann dachte zunächst, dass der Mann illegal Müll im See entsorgen wollte, doch dann zog er ein Gewehr aus dem Sack, vermutlich eine Lupara, wie die Sarden ihre kurzen Schrotflinten nannten, und knickte den Lauf des Gewehres, um es in aller Ruhe zu laden.
Beckmann sah das Mündungsfeuer der Waffe Bruchteile von Sekunden, bevor der Knall des Schusses von den nahen Bergen widerhallte. Instinktiv rollte er sich blitzschnell vom Stein ins Wasser und blieb hinter dem Felsen in Deckung.
Er war nicht sicher, ob der Schuss ihm gegolten hatte. Er hatte keinen Einschlag von einem Geschoss oder von Schrot wahrgenommen. Wie ein schweres Tuch senkte sich die Stille wieder über See und Berge, ohne den Knall wirklich auszulöschen. Beckmann schaute hinter sich. Dort war kein Mensch, kein Tier. Nur die sanft gekräuselte Oberfläche des Wassers und, unter dem cyanblauen Himmel gleichgültig schweigend, die Berge waren zu sehen. Wollte der Mann ihn nur erschrecken oder tatsächlich bedrohen? Daran mochte Beckmann nicht ernsthaft denken. Die Sarden waren verrückt, einfach unberechenbar. Er musste unwillkürlich kichern. Aber die Unberührtheit und Schönheit der Natur hatten ihre Unschuld verloren und wirkten auf einmal unheilvoll. Warum sollte hier das Baden verboten sein? Oder kam Nacktheit in dieser Gegend der Insel immer noch einer Provokation gleich?
Beckmann blieb einen Moment hinter dem Felsbuckel im Wasser liegen. Sein Gefühl, in der abgelegenen Landschaft allein zu sein, war offensichtlich trügerisch gewesen. Vorsichtig spähte er Richtung Brücke. Obwohl der Felsen ihn deckte, hatte Beckmann das Gefühl, dass der Mann ihm direkt in die Augen schaute, und tauchte schnell wieder ab. Hatte der Mann ihn schon länger beobachtet? War er ihm gefolgt? Gegen welche ungeschriebene Regel hatte Beckmann verstoßen? Aus der Deckung heraus sah er, wie der Mann mit großer Gelassenheit die Waffe wieder im Kofferraum verstaute, in seinen Wagen stieg und langsam die Brücke verließ. War die Gefahr vorüber? Beckmann konnte den weiteren Verlauf der Straße nicht einsehen und wartete ab. Auch wenn er sich nicht mehr unmittelbar bedroht fühlte, schwamm er wenig später doch sehr zügig ans Ufer.
Der Vorfall hatte ihn aufgewühlt, seinen Blick auf die Umgebung verändert. Als er sich zurück in seinen Wagen schwang, knarrte der alte, rissige Ledersitz wie ein Sattel. Beckmann saß da, schaute sich mehrmals um, sah keine Menschenseele und rollte auf die Landstraße.
Er wollte dem Schuss nicht zu viel Bedeutung beimessen, entschied sich aber trotzdem, zurück an die Küste zu fahren. Oberhalb des Sees stieß er auf Hinweisschilder zu der dreitausendjährigen Olive namens S’Ozzastru. Er verdrängte den Vorfall und folgte den Wegweisern, schließlich hatte er die Größe der Landschaft, ihre Stille und Schönheit bisher stets ungestört genießen können und immer wieder die Gastfreundschaft der Sarden erfahren. Schnell fand er den Hang mit den uralten Bäumen. Das kleine hölzerne Kartenhäuschen am Eingang zum Feld war unbesetzt. Von der Sonne gebleicht, wellten sich hinter den verstaubten Fenstern des Kiosks Prospekte und Flyer.
Der Wind ging leicht durch die silbrigen Blätter des steinalten Olivenbaums auf dem sanft abfallenden Feld, strich weich über ihre seidige Unterseite, wie ein Musiker über die Saiten der Oud. Nur wenn man selbst still wurde, wenn man genau hinhörte, löste sich die Stille auf, wurde sie plötzlich hörbar und begann zu leben, zu pulsieren von den Tönen der kleinen, wirbellosen Lebewesen, der Fliegen und der Wespen, der Bienen und Schmetterlinge, dem Sausen der Libellen und dem halbstarken Krakeelen der liebeskranken Zikaden. Die Atmosphäre nahm Beckmann gefangen.
Er näherte sich dem knorrigen Stamm von zwölf Metern Umfang. Auf der schrundigen Rinde seidige Verpuppungen von Insekten, vom Holzmehl der Würmer bestäubte Spinnennetze, eine Armee von Ameisen, winzige Insekten, deren Namen er nicht kannte und die er zum ersten Mal überhaupt wahrnahm. Es gab auch Reste von verwachsenen, ewige Liebe beschwörenden Einritzungen lange vergangener Generationen. Beckmann legte sein Ohr auf den von Blitzeinschlägen und längst verwehten Stürmen mehrfach gespaltenen Stamm, lauschte dem feinen, sich verzweigenden, nicht abreißenden Strom des Geräuschs des Lebens durch alle Schichten, von den tiefgreifenden Wurzeln bis hinauf in die silbrigen Blätter. Mindestens dreitausend Jahre schon floss dieser Strom.
Die beeindruckende Präsenz dieses urwüchsigen Wesens legte sich über seine Erfahrung am Stausee. Leicht benommen von der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit trat Beckmann zurück und machte ein paar zögerliche Schritte heraus aus dem schirmenden Schatten des weitverzweigten Astwerks, das ein Gespinst aus Gesichtern zeigte. Beckmann wusste, die Griechen hatten geglaubt, das Geäst der Oliven verkörpere menschliche Geister.
Doch weder das Antlitz seiner verstorbenen Frau noch das seiner Tochter vermochte er zu erkennen.
Schneidend tönte ein Warnsignal den Abhang herauf, holte ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn herumfahren. Auf dem Parkplatz am Besucherkiosk fuhr ein vollklimatisierter Bus vor. Sein gewaltiges Horn zerfetzte noch einmal die Stille. Beckmann schwante, gleich würde sich eine Gruppe chinesischer Touristen auf das Olivenfeld stürzen, schließlich befand er sich bei den Olivastri Millenari auf dem Grund eines geschützten nationalen Naturdenkmals. Schnell trat er die Rückfahrt an, kurvte durch enge Serpentinen der Küste entgegen.
Auf dem Schreibtisch herrschte Chaos. USB-Sticks, Festplatten sowie Papiere und Bücher, alles in einem digital-analogen, einvernehmlichen Durcheinander. David Richter störte sich nicht an der Unordnung. Er packte schnell Laptop und Ladegerät in seine Umhängetasche und ging hinüber zu der Matratze, auf der seine neue Freundin im leichten Morgenschlaf lag. Er beugte sich zu ihr hinunter, schaute sie in stiller Bewunderung an, konnte sich nicht sattsehen an ihren entspannten Gesichtszügen. Ihr Atem bewegte sanft eine Haarsträhne über der Wange. Victorias Schönheit machte ihn hilflos und zugleich stolz darauf, sie erobert zu haben. Er hoffte, dass es ihm auch gelingen würde, sie für länger an sich zu binden. Aber sie wahrte sorgfältig ein gewisses Geheimnis. Nicht immer war er sicher, Victoria vollkommen zu verstehen.
Noch nie war er in ihrer Frauen-WG gewesen. Es war klar, sie gingen immer zu ihm, wenn sie miteinander schlafen wollten. Und zu Anfang ihrer Beziehung war Victoria auch nie über Nacht geblieben. Jetzt lag sie hier in seinem Zimmer, eingehüllt in die leichte Decke, obwohl er ihr erklärt hatte, dass er früh in die Redaktion müsse. Er nahm es als sicheres Zeichen ihrer stetig gewachsenen Nähe. Er strich ihre hell schimmernde Haarsträhne zur Seite und küsste die ihm immer noch nicht gänzlich vertraute junge Frau auf die Stirn. Ihre Lider flatterten. Victoria murmelte etwas, von dem er annahm, es bedeute »viel Erfolg«, »Daumendrücken« oder etwas Ähnliches, und drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Die Nacht war kurz gewesen.
David Richter trat ans Fenster, schaute hinaus in den fahlen, wolkenlosen Berliner Morgen. Noch schimmerte die aufgehende Sonne seltsam blass über den Dächern, aber gnadenlos würde sie sich weiter erheben. Es würde heiß werden im Laufe des Tages, zu heiß für die noch frühe Jahreszeit. Gegenüber schoben die Männer der Berliner Stadtreinigung ratternd die Müllkästen aus dem Hinterhof. Seine Unsicherheit in Bezug auf Victoria wollte nicht weichen. Er empfand ihr ganzes Wesen so viel ausgeglichener, so viel erwachsener, als er sich selbst erlebte. Bei aller Freude und Ausgelassenheit umgab sie eine gewisse Ernsthaftigkeit, die er von keiner seiner bisherigen Beziehungen mit Frauen kannte. Ihm wurde klar, wie wenig er immer noch von ihr wusste, von ihrer Familie und von ihrer WG und wie sie von der einen in die andere gelangt war. Seine Attraktivität für Victoria hing seiner Auffassung nach in einem gewissen Maß von seinem beruflichen Erfolg ab.
»Journalist? Ist das nicht vorbei? Ist das nicht gestern?«, hatte sie gefragt, als er ihr von seinem Berufsziel erzählte. Es hatte nicht abwertend geklungen, sondern durchaus neugierig. Und so hatte er ihr das Hohelied der freien Presse als vierte Kraft im Staat gesungen, von ihrer Bedeutung für das Funktionieren der Demokratie. Er wollte schreiben, richtig schreiben, für ein großes Publikum und nicht in einem digitalen Blog. Er war vielleicht etwas übereifrig gewesen, nicht wirklich cool, aber er hatte das Gefühl gehabt, dass es ihm trotzdem gelungen war, Victorias spöttische Skepsis in so etwas wie Respekt zu verwandeln.
Er riss sich vom Fenster los. Er musste heute unbedingt Erfolg haben.
Leise ließ er das Fahrrad an dem Flaschenzug im Flur herunter, wo es unter der hohen Decke an zwei Seilen hing. Mit einem kurzen Griff prüfte er den Luftdruck. Die speziellen Reifen hatte er gerade erst vor ein paar Tagen selbst aufgezogen. Liebevoll streichelte er über den Ledersattel, dann schulterte er den leichten Rahmen. Er drehte sich noch einmal um, schaute in den großen Raum, der ihm als Wohn- und Ess-, als Schlaf- und Arbeitszimmer diente. Victoria schlief jetzt fest. Er merkte, wie schwer es ihm fiel, sie allein zurückzulassen, und wie gerne er wieder zu ihr unter die Decke gekrochen wäre. Sanft zog er die Wohnungstür zu.
Er radelte durch den frühmorgendlichen Verkehr in die Redaktion der Berliner Allgemeinen Zeitung. Er fuhr schnell, verließ dabei immer wieder den Fahrradweg und rauschte geschmeidig durch den dichten Verkehr. Mit der Kettenschaltung wechselte er gleitend die Übersetzung. Er versuchte, die eingesetzte Energie effektiv zu nutzen, und bremste so wenig wie möglich, genoss die Geschwindigkeit und den frischen Morgenwind im Gesicht. Das gezielte Risiko, das er mit seinem Fahrstil einging, gab ihm einen Kick. Er fühlte sich sicher und unverletzlich. Er wäre nie auf die Idee gekommen, einen Fahrradhelm zu tragen; es war wie ein Rausch, er würde es allen zeigen. Das gelegentliche Hupen verärgerter Autofahrer, die eingekerkert in ihren stinkenden Blechkisten hockten, war ihm nur ein noch größerer Ansporn. Das leise Laufgeräusch der neuen Reifen, das Sirren der Speichen war seine kleine Morgenmusik. Mit einem Fahrradkurier in exotisch buntem Outfit lieferte er sich ein kurzes Rennen. Der Kurier hob anerkennend den Daumen, als er seine Lieferadresse erreichte und abdrehte. David richtete sich im Sattel auf und rauschte dann etwas langsamer weiter.
Im Redaktionsgebäude grüßte er die Kollegen, ging erst einmal in die Teeküche und füllte einen Becher an der Kaffeemaschine. Kaum hatte er an seinem Platz das iPad ausgepackt und den Laptop aufgeklappt, wurde er zu Marschmaier gerufen. Hoffentlich hatte sein Pitchpaper funktioniert. Sollte er seinen Kaffeebecher mitnehmen, wie es ältere Kollegen manchmal taten? Er griff nach seinem iPad und machte sich auf den Weg.
Der Chefredakteur lehnte sich in seinem modernen Multi-funktionsschreibtischsessel zurück.
»Also, Richter, was ist so interessant an dem Mann?«
»Ich hatte Ihnen ein Pitchpaper gemailt.«
Marschmaier war unbeeindruckt. Richter fragte sich, ob der Chef das Papier überhaupt gelesen hatte.
»Ja, und?«
Richter schaute auf sein iPad.
»Es geht um Gerhard Beckmann, einundsechzig, lebt seit seiner frühzeitigen Pensionierung vor knapp zwei Jahren in einem abgelegenen Ferienhaus auf Sardinien. Seine Frau kam kurz vor seiner Entlassung bei einem Autounfall ums Leben. Promovierter Jurist. Beim Landeskriminalamt Berlin seit 2011 Chef der Abteilung Organisierte Kriminalität. Er und seine Leute hatten aufgedeckt, dass Mitglieder des Midras-Clans den Wachdienst am Flughafenneubau BER übernommen haben. Die Midras sind …«
Marschmaier unterbrach ihn ungeduldig. »Halten Sie mich nicht für blöd. Haben Sie mit Berghöfel gesprochen?«
»Natürlich habe ich den Kollegen befragt. Er hat einiges zu meinem Pitchpaper beigetragen.«
»Wenn Sie noch einmal Pitchpaper sagen, schmeiß ich Sie raus, nur damit das klar ist.«
David Richter war nur kurz irritiert.
»Ja. Also, bei Beckmanns Recherchen gab es etwas, das sie ›Beifang‹ nennen. Er vermutete in diesem Material Informationen über ein weitverzweigtes Netz der Korruption an der Großbaustelle BER. Das war allerdings nicht direkt sein Aufgabenfeld.«
»War er dafür zuständig oder nicht?«
»Interpretationssache, würde ich sagen. Man wollte ihn ganz offensichtlich ausbremsen, aber er ließ nicht locker, setzte sich über Anweisungen von oben hinweg. Konsequenz: Man drängte ihn aus dem Dienst. Es gibt Gerüchte, die Vorwürfe gegen ihn waren konstruiert. Zurechtgezimmert.«
»Seit wann berichten wir über Gerüchte?« Marschmaier setzte sich in seinem Sessel auf und holte weiter aus. »Korruption beim Flughafenbau, das sind alte Kamellen, das ist inzwischen schon Klischee. Ich weiß nicht, was für eine Form der Reportage Ihnen da vorschwebt. Es soll Leute geben, die wollen nur ihre Vorurteile bestätigt bekommen. Ich nicht. Wir sind die BAZ und nicht das Magazin aus Hamburg.«
»Es gibt Vermutungen, Beckmann arbeite trotz seiner Entlassung verdeckt weiter an dem Fall.«
»Nach Gerüchten auch noch Vermutungen?«
Marschmaier hatte Richter selbst befristet eingestellt. Der junge Redakteur hatte das Gefühl, dass der Chef ihn mochte, schließlich hatte er ihn als »vielversprechend« bezeichnet. Jetzt fühlte Richter sich von ihm auf die Probe gestellt.
»Und ausgerechnet Sardinien?«
»Meine Quelle hat mich gebeten, mit äußerster Vorsicht zu recherchieren. Es scheint innerhalb der Polizei Zweifel an der bisherigen offiziellen Darstellung der Dinge zu geben. Ich will erst mal Beckmann selbst kontaktieren und ihn interviewen.«
»Hmm …« Marschmaier brummte vor sich hin, kramte aus den Unterlagen auf seinem Schreibtisch ein Blatt hervor und studierte es.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie da eine ganze Woche lang vorhaben? Sonnenbaden? Ein bisschen Scuba Diving? Drei Tage, dann will ich das Interviewmaterial sehen.«
Er kritzelte seine Unterschrift auf den Reisekostenantrag und reichte ihn über den Tisch. Richter war schon an der Tür, als der Chefredakteur rief:
»Ach, und Richter, Sie haben eine gute Schreibe, aber ganz egal, was die Ihnen auf der Journalistenschule erzählt haben, verschwenden Sie die nie wieder an ein Pitchpaper.«
Er spuckte es aus wie ein schmutziges Wort und grinste.
Sobald der Jungredakteur in Probezeit das Büro verlassen hatte, griff Marschmaier zum Telefon und rief Polizeireporter Berghöfel zu sich.
»Was ist das mit diesem Beckmann?«
»Ein kleines Licht bei der OK hat Richter da offensichtlich was gesteckt.«
»Kennst du den Mann?«
»Beckmann? Natürlich.«
»Nein, die Quelle.«
»Nee, da war der junge Kollege verschlossen. Der glaubt, er sei an einer großen Sache dran.«
»Und Beckmann?«
»War ein guter Mann. Angesehen, äußerst verdienstvoll. SPD-Mitglied.«
»Wird ihm nicht geschadet haben bei seiner Karriere.«
»Hat seine Frau bei einem Autounfall verloren und angefangen zu trinken. Muss so übel gewesen sein, dass sie ihn ziemlich rüde rausgeschmissen haben.«
»Was hältst du von der Sache?«
»Welche Sache? Ich glaube, da gibt es für uns nicht viel zu holen.«
»Schau trotzdem mal, was du über Beckmann rausfinden kannst. Vor allem über seine Entlassung vor zwei Jahren.«
Berghöfel war offensichtlich nicht begeistert.
»Ist das dein Ernst? Ich soll dem Jungspund zuarbeiten?«
»Ich will nur, dass er nicht aus der Spur läuft. Hör dich einfach mal um und halt mich auf dem Laufenden.«
Noch am selben Abend flog Richter mit einer Billigairline nach Olbia. Der Tagesrandflug landete mit Verspätung auf dem Aeroporto di Olbia-Costa Smeralda im Nordosten der Insel. Es war schon lange dunkel, als Richter das Flughafengebäude verließ. Mit Bordcase und Umhängetasche lief er über einen großen Parkplatz, an einigen Industriebauten und einer modernen Kaserne der Carabinieri vorbei zu einem Betonbau, der mit zahlreichen kleinen Säulen und putzigen Spitzgiebeln verziert war. In der weiten, gespenstisch leeren Halle des Jazz Hotels stand ein großer schwarzer Flügel. Der Hocker davor leer, keine Musiker oder Gäste um diese Uhrzeit zu sehen. Er buchte erst einmal für eine Nacht. Morgen früh würde er einen Wagen mieten.
Auf dem Flur zu seinem Zimmer im dritten Stock gab es eine lange Reihe von Postern für das Jazzfestival in Berchidda. Sie endete mit dem Vorjahresplakat Time in Jazz 2018.
Richter schloss die Tür zu seinem Zimmer auf, legte seine Sachen ab und ging sofort ins Bett. Als er den in der Zimmerecke hängenden Fernseher anschaltete, lief eine Übertragung oder Aufzeichnung von dem Festival auf den Plakaten im Flur. Eine typische Jazzbesetzung wurde ergänzt durch einen Chor von drei Männern in sardischer Tracht, die einen seltsam fremd klingenden Obertongesang hören ließen. Die Musiker und die Sänger schienen aus vollkommen verschiedenen musikalischen Universen auf diese große Freilichtbühne gespült worden zu sein. Aber es gab eine Ebene, auf der sie innig interagierten. Für Richter hörte es sich fremd und vertraut zugleich an. Eine Begegnung des städtischen Sounds der Metropolen und des vorzeitlichen Klangs einer uralten Landschaft. Das groovte auf eine merkwürdige, nie gehörte Weise. Ihm gefiel speziell der Mann am Flügelhorn, der bei seinem Solo die Beine seltsam unter dem Barhocker verknotete und mit einem leichten Schwenken seines Horns die anderen Musiker zu dirigieren schien. David Richter schloss die Augen, ließ sich von der Musik forttragen, glitt im Flug über eine archaisch anmutende, menschenleere Berglandschaft und schaffte es gerade noch, den Fernseher auszuschalten, bevor er einschlief.
Der Tag begann wie so viele andere seit seiner zwangsweisen Pensionierung. Kein Wecker holte Beckmann aus tiefem Schlaf, die rechte Seite seines Bettes war unbelegt. Schräg fiel die aufgehende Sonne durch die Fenster der großen Doppeltür. Das Licht traf auf gewachstes Kirschholz, honiggelb und eher weich – entsprechend tief waren die Scharten und Schnitte in der Tischplatte. Der Tisch begleitete Beckmann schon viele Jahre, die ihre Spuren hinterlassen hatten. Früher stand er in der Küche der Berliner Wohnung. Schon als Anja ihn gekauft hatte, war er eine Antiquität gewesen.
Das samtene Licht war ihm zutiefst vertraut, zugleich erschien ihm die Welt noch wie hinter einer dünnen, durchscheinenden Haut. Bei wie vielen Frühstücken, wie vielen Abendessen mit Freunden hatten Anja und er an diesem Tisch gesessen? Es war keine Melancholie in den Gedanken, die ihm im Halbschlaf durch den Kopf gingen; die Erinnerung hatte beinahe etwas Tröstliches. Die Scharten und Schnitte, auch die abgewetzten sanften Unregelmäßigkeiten, all diese Spuren früherer Nutzung waren wie eine Schrift, die die Tischplatte bedeckte. Tränen waren auf diesen Tisch getropft und Wein darüber hinweggespült. Er musste ihn mal wieder scheuern und neu wachsen.
Anja war morgens immer viel schneller wach gewesen als er. Sie hatte ihn dann angesehen, hell und klar und mit diesem kleinen Schuss Skepsis in den blauen Augen, vollkommen präsent. Er fühlte sich angenommen, aufgehoben in ihrem Blick. Sie fehlte ihm so sehr. Ihr Tod hatte das sichere Geflecht der Zeit zerfetzt, das die Begebenheiten seines Lebens an ihrem Platz hielt. Seine Erinnerungen kreisten um dieses eine Ereignis, das alles zerstört hatte, wie Materie um ein schwarzes Loch, um von ihm verschlungen zu werden.
Er richtete sich träge auf und schaute hinaus. Gerahmt von der großen Doppeltür stand die Pyramide der Insel Tavolara klar und unverrückbar zwischen dem blauen Meer und dem noch blaueren Himmel. Der Tag würde wieder strahlend schön werden, und heiß. Beckmann sank zurück in die Kissen. Aber er hatte zu tun. Er erwartete Besuch. Also schwang er sich aus dem Bett.
Noch immer benommen vom Schlaf, stand er vor dem Spiegel und beugte sich über das Waschbecken. Er schloss die Augen, rieb sich das stoppelige Gesicht und blickte dann direkt in die graugrünen Augen, die ihn aus dem kalten Glas anschauten. Kleine pechschwarze Pupillen im hellen Licht der Lampe über dem Spiegel. Die Iris gesprenkelt, farblich bewegt. Beinahe sah es aus, als pulsiere sie. Ihm wurde leicht schwindelig, er griff zum Beckenrand. Mit einem Ruck drehte er den Hahn auf, nahm den Rasierpinsel und schäumte sich sorgfältig ein. Einen kurzen Moment verlor er sich in der morgendlichen Routine, genoss die Frische des Schaums, sog den ihm wohlvertrauten, ihn schon so lange begleitenden Duft durch die Nase ein. Als er sich mit dem Pinsel über den Mund strich, presste er die Lippen zusammen. Er öffnete den Mund und starrte auf das rote Mal mitten im kühlen Weiß. Was für ein Morgen.
Die Abwärtsbewegungen vom Haaransatz am Ohr hinunter zum Kinn glitten fast von selbst über seine Haut. Zwei, drei Striche, dann zuckte er zurück und fluchte. In einem dicken, perlenden Tropfen sickerte Blut in den weißen Schaum. Er spürte das Brennen des Schnitts in der gereizten Haut. Langsam streckte er die Hand nach dem Rot dort im Spiegel aus und erschrak, als seine Finger nur kaltes Glas berührten. Es gab keinen Weg durch den Spiegel hindurch. Er dachte an die wächserne Kälte ihrer Haut, als er Anjas Gesicht im offenen Sarg berührt hatte. Er hatte in seinem Berufsleben viele Leichen gesehen, einige davon übel zugerichtet. Aber dies war anders, und er erinnerte sich, dass die Tränen in ihm hochgestiegen waren. Rasch beendete er seine Morgentoilette und trat hinaus auf die Terrasse.
Mit dem Blick ins Tal machte er seine Übungen. Nichts Schwieriges, nur ein paar Dehnungen, um die Glieder aufzuwecken, die Gelenke zu bewegen, die Muskeln zu spüren. Danach ging er ums Haus herum, zupfte den kleinen Streifen Toilettenpapier vom Kinn und stellte sich unter die Außendusche. Sobald das kühle Wasser auf seine Haut prasselte, war er voll da.
Auch wenn ihm physische Unversehrtheit wichtig war, beinahe wie etwas Heiliges, wusste er um die Vergänglichkeit seines Körpers. Dieses Wissen ließ ihn besonders auf sein Äußeres achten. Schon in Berlin war er um den Schlachtensee oder um die Krumme Lanke gelaufen, als man dabei noch keine Fitnessarmbänder und Ohrstöpsel trug.
David Richter frühstückte im Hotel, ging dann zurück zum Flugplatzgelände und mietete sich einen Wagen. Er bestand gegenüber der störrischen Frau am Counter auf einer Vollkaskoversicherung ohne Selbstbeteiligung, und auf der Fahrt zum Haus von Beckmann verstand er, warum dieser ihm am Telefon dringend dazu geraten hatte. Die Schotterstraße, die nach zwanzig Kilometern von der Küstenstraße ins Landesinnere abbog, war weitgehend einspurig, extrem eng und ausgewaschen. Beckmann hatte sie eine Strada Bianca genannt, was irgendwie beschönigend klang. Zweige ratschten über den Lack des Wagens, wenn Richter nicht genau aufpasste. Nach fünf Minuten, am Ende des Tals, war die letzte Steigung betoniert.
Als er ausstieg, umfing ihn heiße Luft, der leichte Windhauch geschwängert vom herben Geruch der Macchia. Wildnis umgab ihn, an einem der Berghänge weideten Schafe. Er merkte, wie seine Nervosität zunahm. In Berlin war er noch fest überzeugt gewesen, Beckmann sei ein großer Aufklärer. Er war sicher gewesen, durch den Kontakt mit dem ehemaligen Superermittler endlich auf die große Story zu stoßen. Jetzt, am Ende dieses Tals und der grauenvollen Straße, begannen Zweifel an ihm zu nagen. Erwartete ihn ein weltfremder Einsiedler? Er atmete tief ein, drehte sich um und betrachtete das eben durchquerte Gelände. Hinter dem durch Berge begrenzten Tal erblickte er das Meer und die wie eine ägyptische Pyramide darin aufragende Insel Tavolara. Der atemberaubende Ausblick ließ ihn einen Moment andächtig verharren. Er hatte sich vorbereitet, das Anwesen auf Google Maps geortet und das Satellitenbild studiert. Doch nichts hatte ihn auf diesen Ausblick über das Tal vorbereitet. Die Überraschung und die beeindruckende Schönheit des Moments zerstreuten seine Ängste.
Das eiserne Tor in der aus unbehauenen Feldsteinen errichteten Mauer war geschlossen, ein Haus nicht zu sehen. Richters Rufe blieben ohne Antwort. Er rief lauter und erschrak, als eine Schar Wachteln mit laut schlagenden Flügeln aus der Macchia aufstieg. Er trat dichter ans Tor, fand aber keine Klingel. Als er die Klinke drückte, schwang das Tor sofort auf.
Der grob betonierte Weg führte in einer steilen Kurve zu einem Platz mit einem geräumigen Carport. David Richter stellte seinen Mietwagen neben den eingestaubten, ramponierten Range Rover. Über mehrere bewachsene Absätze ging eine Treppe hinauf zum Anwesen. Der Hausherr stand oben auf einer der Stufen.
»Haben Sie das Tor wieder geschlossen? Wegen der Wildschweine.«
Richter verneinte und lief in der prallen Sonne zurück zum Tor. Auf dem Rückweg begann er zu schwitzen. Das Polohemd klebte an seinem Rücken.
Wenig später saßen der Ex-Polizist und der Journalist im gesprenkelten Halbschatten einer alten Olive vor dem Haus. Nach der wenig freundlich klingenden Begrüßung erwies sich Beckmann als guter Gastgeber. Es gab Salami und Wildschweinschinken, Pecorino und Gorgonzola Dolce zu Oliven und getrockneten Tomaten, dazu Pane carasau und ein Glas Rotwein für den Gast.
Richter stellte iPad und Handy auf Aufnahme. Spannung breitete sich aus. Wie beginnen? Nach kurzem Zögern wagte er sich aus der Deckung.
»Man sagt, Sie ermitteln mit einem wahrhaft biblischen oder heiligen Eifer.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ein Kollege von Ihnen, Kommissar Schäfer. Also, ein früherer Mitarbeiter von Ihnen.«
»Schäfer …«
»Sind Sie religiös?«
Beckmann fand die Frage in ihrer Direktheit unverschämt. Ihm war nicht klar, was er von dem jungen Journalisten halten sollte. Wusste der Mann von seiner nach wie vor bestehenden Verbindung zu Schäfer, der im LKA sein Gewährsmann vor Ort war? Worauf wollte der Typ hinaus? Warum hatte Schäfer ihn, Beckmann, nicht besser informiert und nur angedeutet, dass jemand von der Presse vielleicht eine Hilfe sein könnte?
»Wieso fragen Sie das? Ich dachte, es geht um die Gründe meines Ausscheidens aus dem Dienst.«
»Ja, natürlich. Aber es soll ein Porträt werden. Man wird diesen Umstand nur verstehen, wenn man etwas von Ihrer Persönlichkeit begreift.«
Beckmann schüttelte leicht verärgert den Kopf.
»Hören Sie, im christlichen Sinne bin ich kein religiöser Mensch. Mein Elternhaus war protestantisch, getauft worden bin ich in der Wohnung meiner Großmutter mütterlicherseits.«
Er ließ sich Zeit, nippte an seinem Wasser. Der Reporter wartete geduldig.
»Ich weiß davon natürlich nur, weil es Fotos gibt. Also, meine Eltern waren im religiösen Sinne ohne jede Ambition … Wollen Sie wirklich in meine Jugend einsteigen?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Ich denke nicht, dass uns das weiterbringt.«
Richter lenkte ein.
»Glauben Sie als Polizist an so etwas wie Gerechtigkeit?«
»Ein großes Wort. Von einem ehemaligen Kriminalisten erwarten Sie wahrscheinlich, dass er wenigstens an Gerechtigkeit glaubt, wenn schon nicht an den lieben Gott. Aber so was wie Gerechtigkeit lässt sich kaum vorstellen, ohne zugleich an eine irgendwie geartete höhere Macht zu denken. Wenn Sie so wollen, bete ich die Sonne an.«
»Sie beten die Sonne an?«
»Na ja, nicht wie die alten Ägypter.«
»Die Sonne bringt alles an den Tag?«
»Sie kann sich dir auch ins Hirn brennen.«
Beckmann lachte. Er versuchte abzuschweifen, Nebelkerzen zu zünden, weil er nicht sicher war, worauf das hier hinauslaufen sollte.
Der junge Mann schaute ihn unverwandt neugierig an. Die Aufnahme lief. Beckmann fragte sich, warum er sich nicht bei der Zeitung nach ihm erkundigt hatte. Wurde er leichtsinnig? Hatte dieser Reporter eine Agenda, die er, Beckmann, nicht durchschaute? War dieser David Richter überhaupt Journalist? Um nach seinem Presseausweis zu fragen, war es wohl zu spät.
»Ich hatte schon immer eine Sehnsucht nach Sonne. Im Grunde sitzen wir deshalb hier an diesem Platz. Und wegen Alexis Zorbas.«
»Ah, der aus dem alten Film mit Anthony Quinn?«
»Der aus dem Roman von Nikos Kazantzakis, der gesagt hat, ein Fisch sollte besser im Meer bleiben. Und ein Mann in der Sonne.«
Richter suchte nach einer Überleitung.
»Also, ich weiß nicht recht, wieso, aber Kommissar Schäfer hat gesagt, ich sollte unbedingt einen Typen aus der Bibel erwähnen: Nebukadnezar.«
Na endlich. Beckmann unterdrückte das Lächeln, das in ihm aufstieg.
»Er erbaute die Hängenden Gärten von Babylon, eins der sieben Weltwunder der Antike.«
Schäfer hatte dem Journalisten also das Codewort mitgeteilt, das sie für das Unternehmen »Beifang« vereinbart hatten. Er hatte ihn überprüft und vertraute ihm offensichtlich.
»Kommissar Schäfer sagte, ich könnte eine Hilfe sein. Journalistisch, meinte er, und vor allem auch bei der Recherche. Da habe ich gedacht, ich schreibe erst einmal ein Porträt von Ihnen. Für die Seite ›Leute heute‹.«
Beckmann entspannte sich und erzählte nun bereitwillig, wie er aus der Provinz in die große Stadt gekommen war, um am Berlin-Kolleg das Abitur nachzuholen. Wie er dann Jura an der FU studiert hatte, bevor er zur Polizei ging.
»Ich wurde sofort in den gehobenen Dienst aufgenommen und konnte nebenbei promovieren. Geld hat mich nie groß interessiert, es hat immer gereicht.«
Richter ließ einen skeptisch-fragenden Blick über das Anwesen schweifen.
»Meine verstorbene Frau hat auch etwas in die Ehe eingebracht.«
Der Gedanke an Anja versetzte Beckmann einen Stich – immer noch, immer wieder und wohl bis an sein eigenes Ende. Richter bemerkte das, fragte aber trotzdem plump nach: »Ihre Frau kam bei einem Autounfall ums Leben?«
Beckmann reagierte unwirsch.
»Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie doch längst recherchiert. Hatten Sie Einblick in meine Personalakte?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
Beckmann zuckte mit den Schultern.
»Nein … Nein, hatte ich nicht. Ich habe vor allem im Internet recherchiert. Und einiges hat mir Ihr Kollege Schäfer anvertraut.«
»Wie sind Sie auf Schäfer gekommen?«
»Er hat sich an mich gewandt. Die Berliner Allgemeine Zeitung hatte eine Tagung zum Thema Stadt und Korruption ausgerichtet. Da hat er mich angesprochen. Wir haben uns verabredet und zweimal getroffen.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
»Er hat mich gewarnt und gesagt, ich solle vorsichtig sein.« Beckmann verschärfte seinen Ton: »Ich möchte wissen, was er Ihnen erzählt hat.«
Schäfer hatte Richter gesagt, Beckmann liege seine vorzeitige Entlassung auf der Seele, er wolle sich unbedingt rehabilitieren und seine Unschuld, die Richtigkeit seiner Anschuldigungen und das ganze Ausmaß der Korruption am BER beweisen. Das mit der Seele wollte Richter so allerdings lieber nicht wiedergeben.
»Er sagte, Sie arbeiten an einem Papier über die Korruption am BER.«
»Nun, es war uns gelungen, die Infiltrierung des Security-Managements am neuen Flughafen durch Personen aus dem Clanmilieu nachzuweisen. Dazu haben wir massenweise Beschlagnahmen durchgeführt. Es gab Berge von Geschäftsunterlagen und vor allem Kommunikationsdaten. Das ganze Material sollte nach Abschluss dieser Ermittlungen eingestampft werden.«
»Was Schäfer jedoch verhindert hat.«
»Weil wir uns dadurch sehr viel weiterreichende Erkenntnisse versprachen.
Er hat deshalb in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die meisten Unterlagen an einen sicheren Ort gebracht.«
»Er hat mir erzählt, er habe die nötigen Papiere über deren Vernichtung gefälscht. Um wie viel Material handelt es sich denn konkret?«
Beckmann erkannte, wie sehr Schäfer dem jungen Mann vertraut haben musste.
»Nicht ganz achtzig Aktenordner und Abzüge von diversen Computerfestplatten.«
»Schwer, das alles auszuwerten, stelle ich mir vor.«
»Das war und das ist das Problem. Ich hätte es mit meiner normalen Mannschaft gar nicht schaffen können. Also habe ich die Einrichtung einer Sonderkommission mit entsprechender personeller Ausstattung beantragt. Damit habe ich die Polizeiführung und die Politik aufgescheucht. Ich hätte es ahnen müssen.«
Beckmann zeigte Richter den zu einem kleinen Studio ausgebauten ehemaligen Ziegenstall auf seinem Grundstück. Hierher zog er sich zur Arbeit zurück. Er machte dem Journalisten klar, dass das Unternehmen nicht ohne Brisanz war, möglicherweise auch nicht ohne Gefahr für die Karriere oder sogar für Leib und Leben.
»Sie sollten es sich überlegen, ob Sie zu unserer kleinen Taskforce hinzustoßen wollen.«
Richter beeilte sich, seine Entschlossenheit und seine Verlässlichkeit zu betonen.
»Deswegen bin ich hier.«
»So eine Entscheidung überstürzt man besser nicht. Schlafen Sie drüber. Und heute Abend lade ich Sie zum Essen ein.«
Beckmann hatte sich auf der Insel gut vernetzt. Es gab in seinem Umkreis einige befreundete Deutsche, die Häuser an der nördlichen Ostküste zwischen Olbia und San Teodoro besaßen. In den Bars und Restaurants der Umgebung war er Stammgast. Weil er auch in den touristenarmen Zeiten auf der Insel blieb, wurde er dort gerne gesehen. Den Garten seines großen Grundstücks versuchte er selbst in Schuss zu halten, allerdings mit sichtlich begrenztem Erfolg. Er hatte eine sardische Zugehfrau, die sauber machte und gelegentlich auch für ihn kochte.
Micaela war auf eine warmherzige Weise zupackend und verehrte ihren dottore. Zu gerne hätte sie ihn nach Anjas Tod mit einer Sardin verkuppelt, denn Beckmann war für sein Alter äußerst fit und machte mit seinem asketischen, noch immer durchtrainierten Körper und den stahlgrauen Haaren eine gute Figur. Der wichtigste Kontakt für Beckmann war jedoch der Leiter der kleinen örtlichen Carabinieri-Wache, Maresciallo Farini, mit dem ihn seit einem Ereignis im vergangenen Sommer eine besondere Freundschaft verband.
An jenem Tag war die Luft klar und weich gewesen, der Himmel von einem ungetrübten Cyanblau und nur von ein paar Kondensstreifen durchzogen, die zu schmalen Zirruswolken ausgefranst waren. Nach seinem Morgenritual war Beckmann schnell in den Rover gestiegen, um vor dem Ansturm der Touristen am Strand von Porto Taverna schwimmen zu gehen. Er brauchte zehn Minuten, dann bog er in die Stichstraße zum Wasser ein, überholte ein paar Urlauber, die zu Fuß unterwegs waren, parkte neben den wenigen Wohnwagen und legte wie üblich Hose und Hemd über den Holzzaun, der den schmalen Dünengürtel zum Strand hin abgrenzte. Durch die vereinzelten Badelaken, Sonnenstühle und Sonnenschirme der ersten frühen Besucher machte er sich auf zum Wasser. Das Meer schimmerte türkis.
Die Sonne ging durch die kaum bewegten klaren Fluten wie durch Glas und zeichnete flüssige Wellenbewegungen auf den feinsandigen weißen Grund. Beckmann kraulte zur großen roten Boje weit draußen, die die Grenze für die Segelschiffe und vor allem die vielen gommone anzeigte, die in der Bucht auf ihre Vermietung warteten. Er wechselte zwischen Brust- und Rückenlage, ließ sich einen Moment lang auf dem Rücken treiben und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel über der Tavolara, die der Bucht genau gegenüber lag, wie um sie zu bewachen. Das Wasser trug ihn, er fühlte sich lebendig und geborgen.
Als er die Boje erreichte, griff er nach der Leine, mit der sie festgemacht war. Das Wasser war hier mindestens sieben oder acht Meter tief und vollkommen klar, und er konnte genau den Betonklotz am Boden erkennen, der die Boje an ihrem Platz hielt. Hier begann das offene Wasser. Noch etwas weiter draußen meinte er einen Schwimmer zu sehen und wunderte sich. Der kleine rote Stummel eines Schnorchels tauchte kurz auf. Von der anderen Seite der Bucht schoss ein Schlauchboot heran. Den Motor hochgedreht, stand ein junger Mann im Heck des gommone, direkt vor dem Außenborder.
Wellen schlugen spritzend an die Boje, dann war das Boot schon vorbei. Der Schwimmer tauchte nicht wieder auf. Beckmann suchte. Er war unsicher, zögerte einen Moment. Hatte das Boot den Schwimmer getroffen? Gab es überhaupt einen Schwimmer? Er zog sich an der Boje hoch, um besser zu sehen. Das Wasser beruhigte sich. Er schwamm ein paar schnelle Züge auf die Stelle zu, an der er den roten Stummel aus dem Wasser hatte ragen sehen, und tauchte mit offenen Augen unter.
Vielleicht vier Meter vor ihm trieb ein Körper. Die Beine des Jugendlichen hingen reglos nach unten. Eine rote Schliere zog sich von seiner Schulter durch das glasklare türkisgrüne Wasser. Sehr langsam sank eine Taucherbrille Richtung Sandgrund, wo ein kleiner Schwarm junger Meeräschen ungerührt seine Runden drehte. Beckmann tauchte auf und war mit wenigen schnellen Brustzügen über dem Körper. Er wusste, er durfte jetzt nichts überstürzen, musste sich dem Jungen vorsichtig nähern. Falls dieser zu Bewusstsein käme, könnte er wild und unkontrolliert um sich schlagen und auch ihn unter Wasser ziehen. Er holte tief Luft, tauchte, schlang von hinten behutsam die Arme um den Brustkorb des Jungen und zog dessen Kopf über Wasser. Der Junge reagierte nicht. Sein Gesicht wirkte verkrampft. Die Sonne brach sich glitzernd in den Wassertropfen auf den langen Wimpern seiner geschlossenen Augen. Beckmann schüttelte den leblosen Körper in seinen Armen, versuchte, den Jungen anzusprechen. War er eben noch ruhig und umsichtig gewesen, stieg jetzt Panik in ihm auf. Er fluchte laut, schrie in das Gesicht. Nichts. Er begann in Rückenlage mit kräftigen Beinschlägen Richtung Ufer zu schwimmen, wollte mit einem Arm winken, um auf sich aufmerksam zu machen, aber der durch den Auftrieb leichte Körper des Jungen drohte ihm zu entgleiten. Er fluchte erneut, schrie um Hilfe, doch er war noch zu weit vom Ufer entfernt. Er keuchte und sparte seinen Atem, konzentrierte sich auf das Schwimmen.
Sein Versuch, die Klammer um den Brustkorb rhythmisch zu verstärken und den Jugendlichen so zum Bewusstsein zu erwecken, war vergeblich. Er musste seine Kräfte einteilen, achtete auf seinen Beinschlag und darauf, den Kopf des Jungen konstant über Wasser zu halten.
Endlich erreichte er die Zone, wo er im Wasser stehen konnte. Noch immer war es ein ganzes Stück bis zum Ufer. Einen Moment lang holte er tief Atem, der fremde Körper entglitt ihm kurz, dann zog er den Jungen mit einem festen Griff Richtung Ufer. Er wollte gerade um Hilfe rufen, als neben ihm der tiefbraune Körper eines der Rettungsschwimmer auftauchte.
»Das gommone hat ihn erwischt. Das Schwein hat ihn einfach überfahren.«
»Okay … Wir lassen ihn im Wasser.«
Beckmann hatte versucht, den Jungen anzuheben, aber es war viel einfacher, ihn im flachen Wasser an den Strand gleiten zu lassen. Dort betteten sie ihn gemeinsam auf ein Badelaken, das eine Frau bereitgelegt hatte. Ein zweites Handtuch presste sie resolut auf die blutende Schnittwunde an der Schulter des Jungen. Sie sagte, sie sei Ärztin, der halsnahe Schnitt habe zum Glück die Arterie verfehlt; Rückenlage sei jetzt richtig. Nur kurz suchte sie mit der anderen Hand nach dem Puls an der Halsschlagader des Jungen, dann überstreckte sie seinen Kopf seltsam nach hinten und fuhr ihm mit der Hand in den Mund.
»Kein Erbrechen. Atemwege frei. Bewusstlosigkeit aufgrund zerebraler Hypoxie. Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage.«
Der Rettungsschwimmer beugte sich über den Jungen, drückte sein Kinn herunter und begann mit der Beatmung. Nach ein paar Stößen hörte er auf.
»Nun machen Sie schon!«
Beckmann glaubte im ersten Moment, die Frau rede mit dem Rettungsschwimmer, der noch immer das Kinn des Jungen hielt. Aber sie meinte ihn, Beckmann. Ihn, der erschöpft neben dem leblosen Körper kniete. Er legte seine Hände auf den schmalen Brustkorb und presste rhythmisch, spürte die zarten Rippen unter der nassen Haut.
»Stärker! Mehr! Dreißig Mal. Komm schon. Jetzt Atmung …«
Ihre Anweisungen dröhnten in Beckmanns Ohren. Er bekam eine Gänsehaut und spürte das Adrenalin in seinem Blut zirkulieren.
»Und noch dreißig Mal.«
Da brach schwallartig eine grüngelbe Brühe aus dem Mund des Jungen und spülte über seine Hände.
»Wunderbar. Toll. Stabile Seitenlage.«
Der Rettungsschwimmer und die Frau betteten den keuchenden Jungen um. Beckmann stand auf.
Erst jetzt registrierte er den Kreis von Zuschauern, die die Szene inzwischen umringten. Er schob sich durch die Gaffer, setzte sich mit weichen Knien ins flache Wasser. Er spülte seine Hände ab, vergrub sie immer wieder im nassen Sand. Ein älteres Ehepaar aus der Gruppe der Zuschauer trat zu ihm und lobte ihn. Dem Mann baumelte ein monströs großes Fernglas vor dem tonnenförmigen, schwarz behaarten Brustkorb.
»Das haben Sie großartig gemacht. Sie haben ihm das Leben gerettet. Wir haben den Notruf getätigt.«
Seine korpulente Frau schwenkte das an einer Kordel hängende Handy vor ihrem engen Einteiler.
»Die Rettungsschwimmer kommen ja immer erst später, die feiern die Nacht durch in den Diskotheken und sind zu nichts zu gebrauchen. Das ist doch kein Zustand. Und die Jungs vom Bootsverleih, die sind auch nicht besser, die nehmen Drogen und fahren wie die Besengten …«
»Nicht nur auf dem Wasser! Gemeingefährlich, wie die mit ihren motorinos …«