Die Chinesin - Jochen Brunow - E-Book

Die Chinesin E-Book

Jochen Brunow

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Beschreibung

Die Konflikte der globalisierten Welt in einem hochatmosphärischen und spannenden Kriminalroman zwischen Sardinien und Berlin Die Chinesin Xia ist nur eine unter den vielen migrantischen Personen, die in der Bucht von Porto Taverna auf Sardinien versuchen zu überleben, in dem sie Hüte, Sonnenbrillen und anderen Tand verkaufen. Sie ist das Mädchen mit den goldenen Händen, das am Strand Einheimische und Touristen massiert. Xia weist den frühpensionierten Polizisten Gerhard Beckmann, der auf der Insel lebt, früh auf ein Melanom auf seinem Rücken hin und rettet ihm damit das Leben. Beckmann geht die Frau daraufhin nicht mehr aus dem Kopf, und er begibt sich auf die Suche nach ihr. Bei dem Versuch, ihr in einer Bedrohungssituation zu helfen, wird er mit den Aktivitäten offizieller, aber auch krimineller Chinesen auf der Insel Sardinien konfrontiert, und mit einem Mal geht es um Leben und Tod. Kann er Xias Leben schützen? Und wird er das große Enigma der Chinesin lösen können?

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jochen Brunow (*1950) studierte Germanistik und Publizistik und arbeitete zunächst als Film kritiker. Er schrieb Drehbücher, u. a. für die Kinofilme Berlin Chamissoplatz (1980) und System ohne Schatten (1983) sowie fürs Fer nsehen. Brunow gehört zu den Gründern des Berufsverbandes der Drehbuch autoren und leitete die Drehbuchakademie der dffb Berlin.

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (1. Auflage Juli 2024)

© 2024 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: ars vivendi

unter Verwendung eines Fotos von © Mattia Bericchia/Unsplash

Autorenfoto: © Lars Wiedemann

eISBN 978-3-7472-0631-7

Gewidmet Judith und Harry

Einmal in ihrem Flussbett eingeschlossen, läuft die Geschichte Gefahr, darin zu versickern, wenn man nicht zulässt, dass sich ihre Zeit nach außen hin verlängert, dorthin, wo wir, die Protagonisten aller Geschichten, leben. Wo nichts abgeschlossen ist.

Michelangelo Antonioni

1

Der Schirokko rüttelte übellaunig an der Karosserie des klapprigen Range Rovers. In der feuchten Glut des Fahrtwinds schwitzte Gerhard Beckmann. Der Wagen hatte keine Klimaanlage. Die türkisfarbene Mineralwasserflasche auf dem Beifahrersitz rollte hin und her. Sie war schon lange leer. Die Hitze in den Bergen von Sardinien kann Bilder erzeugen. Sie lässt die Luft flirren, sodass sie einem Wanderer wie eine Substanz erscheint, ein Äther, in dem sich wie auf einer Leinwand Trugbilder manifestieren. Von diesen Phantasien erzählen die janas der Sarden, Geschichten und Märchen von zierlichen Feen, bösen Hexen und den Geistern Verstorbener, die in Höhlen hausen. Auf seinen Touren durch das Inselinnere hatte Beckmann schon einige mysteriöse Erdlöcher entdeckt, die in unterirdische Welten mit Wänden voller magischer roter Symbole führten. Domus de janas nannten die Sarden diese Höhlen, die Archäologen als unterirdische Grabstätten einer vornuraghischen Zivilisation aus der Zeit um dreitausend vor Christus identifiziert hatten.

Außer einigen Lastwagen gab es kaum Verkehr auf der SS 131. Kurz hinter der Ausfahrt nach Paulilatino senkte sich die vierspurige Autostrada leicht, und die ersten Hinweisschilder auf das Heiligtum von Santa Cristina tauchten auf. Auf dem Weg von seinem Refugium an die Westküste der Insel war Beckmann die Strecke schon oft gefahren, aber nie hatte ihn diese Kultstätte bisher zu einem Besuch verleiten können. Auch ohne die Werbetafeln wusste er, dass es sich um eins der größten und bedeutendsten Heiligtümer Sardiniens handelte. Doch ihn – und auch seine verstorbene Frau Anja – hatte immer das nicht Offensichtliche, Abgelegene, das Versteckte angezogen. Das schien Beckmann besser zum Wesen der Insel zu passen, wie er es verstand.

Die Abzweigung führte ihn eine kurze Strecke parallel zur Autostrada und querte sie dann in einer Unterführung, deren Wände über und über mit Graffiti besprüht waren. Sardegna no est Italia war die auffälligste Parole, daneben und darüber die verwaschenen, kryptischen Zeichen miteinander konkurrierender Unabhängigkeitsbestrebungen. Beckmann hatte gelesen, ein Autohändler und ein Zahnarzt aus Cagliari wollten Sardinien in die Unabhängigkeit führen, indem sie die Insel zum siebenundzwanzigsten Kanton der Schweiz erklärten.

Die Zufahrt zum Heiligtum führte in anderer Richtung wieder direkt neben der Autobahn nach Santa Cristina. Die Sonne brach sich irisierend im Glas der mit den Überresten von Insekten verschmierten Windschutzscheibe. Auf dem großen, mit basolato gepflasterten Parkplatz verloren sich ein paar Pkw, weiter hinten in dem von einer alten Natursteinmauer eingefassten Areal standen drei Autobusse. Beckmann hatte sich spontan, aus einer Laune heraus, zu diesem Besuch entschlossen. Die Busse ließen ihn einen Moment zögern, aber er wusste, die Anlage war groß, und er hoffte, Massenansammlungen meiden zu können. Neben einem ländlichen Restaurant lag ein Gebäude mit einer Bar und dem Kiosk, an dem auch die Tickets verkauft wurden. Beckmann trat in das schattige Dunkel der Bar. Innerhalb der dicken Mauern war es angenehm kühl. Im Dämmerlicht des Raumes leuchteten gläserne Kühlschränke mit bunten Softdrinks und Mineralwasser wie eine Reihe von Aquarien. An einer Wand waren vier große Flachbildschirme nebeneinander montiert, wie Beckmann es aus Neuköllner Wettbüros kannte. Hier waren sie allerdings ausgeschaltet, glänzten dunkel, spiegelten den Raum. Ein Durchgang führte zum Kioskbereich, voll mit sardischem Nippes; unter der Glasplatte des Tresens eine sehr schöne Kollektion der unverzichtbaren Hirtenmesser.

Die Frau an der Kasse fragte, ob er eine Führung wolle. Beckmann lag daran, den Ort selbst zu erkunden. Er kaufte neben dem Billett und einer Flasche Wasser auch ein kleines Heft mit Erläuterungen über die Ausgrabungen.

Wenig später streunte er über die weitläufige Anlage, wanderte auf den Sandwegen zwischen den Ruinen und wunderte sich über die modernen Laternen und großen Kandelaber inmitten der steinernen Reste uralter Kulturen. Er kam an einer kleinen Kirche und einigen Steinhäusern vorbei. Der erworbene Leitfaden verriet ihm, dass es sich um cumbessias handelte, Wallfahrtshäuser der Kamaldulenser Mönche, die im Mittelalter Pilger aus ganz Europa aufgenommen hatten. Die heiligen Stätten der Urbevölkerung zu okkupieren war ein oft genutzter Schachzug, um Akzeptanz für den christlichen Glauben zu erreichen. Wie an manch anderen Stellen auf der Insel überlagerten sich auch hier die Zeugnisse unterschiedlicher Zivilisationen aus Vieltausenden von Jahren. Mehr als an anderen antiken Orten, die er besucht hatte, erschienen Beckmann auf Sardinien die übereinanderliegenden Schichten der Zeit sichtbar zu werden.

Die Luft über dem Grabungsbereich flimmerte. Es war, als bewegte sie sich in kleinen Wellen. Auf seinem Weg an dem gut erhaltenen Nuraghen und den Resten des frühzeitlichen villagios vorbei versuchte Beckmann, sich im Schatten zu halten. Nahe einer der ringförmigen Anlagen fand er einen alten, ihm erhaben erscheinenden Olivenbaum. Die Erosion vieler Jahrzehnte hatte sein oberes Wurzelwerk freigelegt. Das Geflecht erinnerte an Laokoons verzweifelten Kampf mit den von Athene gesandten Schlangen. Im Gewirr der mehr als armdicken Wurzeln lagen, mit bunt schillernden Flechten überzogen, einige größere Steine. Das Spiel der Farben ließ Beckmann verharren.

Das farbliche Aufflammen der Flechten war ihm immer als ein Blühen erschienen, auch wenn Anja ihm mehrmals gesagt hatte, Flechten blühten nicht. Sie vermehrten sich wie Farne und Moose durch Sporen, eigentlich seien sie Pilze und keine Pflanzen. Die Erinnerung an Anja verstärkte seine Mattigkeit, und er setzte sich auf einen der größeren Steinbrocken. Immer wieder ragten Trümmer der Vergangenheit aus dem Nebel des Ungefähren in seine konkrete Gegenwart hinein. Er wollte die stets wiederkehrende dumpfe Empfindung der Trauer sich nicht ausbreiten lassen, er musste aufhören, Erinnerungen an seine verstorbene Ehefrau wie eine endlose Plage zu empfinden. Vielleicht könnte er irgendwann Anjas nicht hinterfragbare Abwesenheit akzeptieren, seine Gedanken an sie als ein fernes Echo verstehen und einfach damit leben.

Auf dem Weg zum Brunnen erschrak Beckmann heftig, als eine dünne, dunkelhäutige, mehr als einen Meter lange Schlange über den Sand huschte. Er sprang ängstlich zur Seite. Sein Herz holperte, und der Schreck zuckte ihm wie ein Blitz durch alle Glieder. Da sah er, dass nur ein gekrümmter Ast auf dem Weg lag. Er wusste, es gab keine Giftschlangen auf der Insel. Eine dieser harmlosen Nattern wohnte sogar unter der Treppe zu seinem Studio. Sie ließ sich selten blicken, aber mindestens dreimal im Jahr fand er ihre silbrig schimmernden Häute, abgestreift an den rauen Feldsteinen der Stützmauer.

Wieso war er so erschrocken? Er glaubte, die schwarze gespaltene Zunge der Schlange gesehen zu haben, den Glanz in ihren kleinen schwarzen, lidlosen Augen. Wie konnte er sich so täuschen? In einem Beitrag über die menschliche Wahrnehmung hatte er gelesen, dass das Auge die Realität nicht einfach spiegele, sondern das Sehen ein geistiger Akt sei. Weshalb es auch zwei Arten von Blindheit gäbe, retinale Blindheit, bei der das Auge erkrankt ist, und kortikale Blindheit, die auf einer Schädigung des Gehirns beruht. Beckmann beruhigte sich mit dem Gedanken, dass zumindest seine Reflexe noch ganz in Ordnung waren.

Leicht benommen trat er durch eine Lücke in der Umrandung aus roh behauenen Feldsteinen auf die trapezförmige Öffnung des Tempels zu. Glatte, ebenmäßige Treppen führten hinunter zum Grund des Brunnens. Silbern schimmerte das Wasser. Die Fugen in den fein geschliffenen Basaltquadern waren perfekt gearbeitet, in die Ritzen passte kein Blatt Papier. Die Stufen der Treppe wurden zur Quelle hin kontinuierlich schmaler. Beckmann stieg vorsichtig hinunter. Über ihm hingen spiegelbildliche Architrave, die den Eindruck einer umgedrehten, verkehrten Treppe erzeugten.

Der in den Felsen gehauene Brunnen wurde von Grundwasser gespeist, und sein Spiegel, seit Jahrtausenden verbunden mit unterirdischen Strömen, schwankte anscheinend nie. Sechs oder sieben Meter über dem Wasser wölbte sich ein Tholos, eine flache Kuppel aus Granitsteinen mit einem Loch in der Mitte, durch das streifig Licht fiel, welches auf der Wasseroberfläche spielte und ständig wechselnde Bilder auf den glatten Wänden erzeugte. Der Raum verlor seine akkuraten Begrenzungen, weitete sich ins Universum. Seit Ewigkeiten wurde hier Leben spendendes Wasser geschöpft. Beckmann schwankte, suchte Halt und Orientierung an der kühlen Wand.

Er war irritiert. Der Brunnentempel war von so durchdachter Architektur, in seiner geometrischen Bauweise so präzise, dass Beckmann kaum glauben mochte, er sei bereits vor mehr als dreitausend Jahren errichtet worden. Technologisch kunstvoll, architektonisch aufwendig und von außergewöhnlicher Akkuratesse, hatte das Gebäude nur wenig gemeinsam mit den archaischen Bauten der Nuraghenkultur, die er bisher kannte. Der Leitfaden informierte ihn, dass während der Tagundnachtgleichen im März und September der Strahl der Sonne genau durch den Kreis in der Mitte des Brunnens falle und der Schatten, den man dann werfe, der ombra capo volta, auf dem Kopf stehe. Sonne und Mond spielten auch in anderen Konstellationen eine wichtige Rolle beim Lichteinfall in den pozzo scara, den heiligen Brunnen.

Am Grund des Brunnens, inmitten der Beckmann archaisch erscheinenden Steinhaufen, offenbarte sich ihm tiefes astronomisches Wissen, gepaart mit äußerster technischer Präzision, die ihn an die ägyptischen Pyramiden erinnerte und so gar nicht zu seinem bisherigen Bild von der isolierten, abgelegenen Insel und ihrer Kultur passte. Seine Faszination für Sardinien ging einher mit der Bewunderung für ihre magische Archaik, für etwas vage Vorzivilisatorisches. Die technische Vollkommenheit des Heiligtums stellte seine Vorstellung von der eher primitiven frühen Kultur der Insel auf den Kopf, dabei hatte er diesen Ort nicht einmal zu Zeiten der Tagundnachtgleichen betreten, dafür war er zwei Wochen zu früh dran. Er erinnerte sich, dass manche Menschen Sardinien für Überreste des mythischen versunkenen Inselreiches Atlantis hielten.

Von seinen Überlegungen unbeeindruckt, tanzten die Lichtreflexe weiter ihren Wellentanz auf den dunklen Wänden, warfen hypnotisch bewegte Bilder auf die Steine. Es war, als spiegele das Wasser direkt die durch den runden Tholos einfallende Sonne in all ihrer Gestalt und all ihrem Glanz. Beckmann schloss für einen Moment geblendet die Augen, bevor er sich an den Aufstieg aus dem Brunnen machte.

2

Sie war eines Tages unter den vielen Migranten, die ihre Dienste am Strand von Porto Taverna anboten, aufgetaucht wie eine Erscheinung, wie ein schönes Phantom. Sie war nicht groß, ihre zierliche Gestalt wirkte fest, stabil, auf seltsame Weise unzerstörbar. Die Anmut ihrer Bewegungen und der große weiße Sonnenhut der Chinesin waren Beckmann sofort aufgefallen. Einige Wochen nach Ferragosto hatten sich der wilde Ansturm der Touristen und die größte Hitze etwas gelegt. Es hatte Anfang September ein paarmal ergiebig geregnet, und die Natur hatte ein frisches, kräftiges Grün zurückgewonnen. Einige Pflanzen trauten sich sogar, ein zweites Mal im Jahr zu blühen. Die Sarden nannten diese Zeit den zweiten Frühling. Die Luft war mild, die Sonne hatte noch viel Kraft, und das Meer war immer noch warm, denn es kühlte langsamer ab als das Land. Die Strände waren belebt, aber nicht mehr überfüllt.

Der maghrebinische coco man, der mit hoher Fistelstimme seine frischen Kokosnussschnitze anpries, war noch unterwegs und balancierte seine überdimensionierte Kühlbox auf dem Kopf. Da war auch der bedächtige ältere Schwarze mit dem langen Kinnbart, weiß wie Schnee. Wenn er seine aus verschiedenfarbigem Leder und bunten Fäden geflochtenen Schmuckstücke anbot, strich er sich wieder und wieder mit der freien Hand durch den Ziegenbart. Ihn umgab eine Aura der ungetrübten Gelassenheit. Es gab Männer, die zehn Sonnenhüte übereinander auf dem Kopf balancierten oder deren Arme unter dem Kaftan ein Dutzend imitierte Markenuhren zierten. Schwarze Frauen in weiten Kleidern mit bunten Tüchern über dem Haar boten Badeanzüge und Sommerkleidchen feil. Sie alle waren fester Bestandteil des Strandlebens, bildeten eine bunte Konstante.

Unter den Migranten und Strandläufern war die Chinesin auf merkwürdige Weise eine Ausnahme, wirkte wie aus der Zeit gefallen. Sie hatte die langen schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten. Ihre große Sonnenbrille passte zum Sechzigerjahre-Flair ihres breitkrempigen schneeweißen Sonnenhutes, und ihre weite dunkle Hose erinnerte Beckmann an die Exemplare mit Schlag in seiner frühen Jugend. Auf einem bunten Blatt Papier mit anatomischen Zeichnungen und Texten in Chinesisch, Italienisch und Englisch bot die Chinesin ihre Dienste an: Fußreflexzonen-, Nacken- oder auch Ganzkörpermassagen.

Beckmann hatte bei seinen morgendlichen Besuchen am Strand ihr Auftauchen zwar sofort bemerkt, aber erst nachdem er sie intensiv bei einer Behandlung beobachtet hatte, entschloss er sich, es auch einmal zu versuchen. Das tägliche Schwimmen hielt ihn beweglich, doch seinem von der Gartenarbeit manchmal steifen Rücken konnte ein wenig Shiatsu nicht schaden. Er breitete sein Badelaken aus und legte sich hin. Ob es schwierig für sie sei, in der Hocke oder kniend zu arbeiten?

»Shiatsu immer Boden. Matte oder Tatami.«

Sie bearbeitete ihn mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers, drückte oder strich mit Handballen, den Fingerknöcheln der Faust, aber auch dem spitzen Ellenbogen oder dem flachen Unterarm über seinen Rücken. Sie drang zwischen alle Muskelfasern, und er hatte das Gefühl, sie würde seinen Körper lesen. Manchmal ließ sie ihre kleinen festen Hände nur auf einem Punkt ruhen, verstärkte langsam den Druck ihrer Handflächen, und Beckmann hatte an diesen Stellen nicht nur die Empfindung von wohliger Wärme, sondern ihm war, als ginge Energie von der Chinesin auf ihn über.

Nach der Behandlung wollte er sich mit ihr unterhalten, wollte wissen, wie sie hieß. Xia, verriet sie ihm. Aber es kam zu keiner echten Kommunikation, so intensiv ihr Körperkontakt auch gewesen war. Sie kassierte ihren Lohn, ging zum Saum des Meeres, wusch ihre Hände im Wasser und zog dann wieder ihr Werbeblättchen aus dem Rucksack, in dem sie die Flaschen mit Ölen und Lotionen verstaut hatte. Bevor sie zwischen den Touristen verschwand, drehte sie sich noch einmal um und warf ihm einen, wie ihm schien, sehr nachdenklichen Blick zu.

3

Einige Tage später war Beckmann mit seinem Freund, dem Maresciallo der örtlichen Carabinieri, auf eine Partie Backgammon verabredet und hatte deshalb sein tägliches Schwimmpensum auf den frühen Abend verlegt. Im Strandrestaurant in den Dünen spielte eine Band Livemusik, und ein paar junge Leute tanzten ausgelassen am Wasser. Der hypnotische Sound der Band wehte durch die Dämmerung hinaus aufs Meer. Vor dem bleiern schimmernden Wasser folgten bloße Beine und Arme, nackte Schultern und Hüften dem Beat. Dance with no shoes on our feet, oft hatte Peter Rowan das gesungen für Anja und ihn. Barfuß hatten sie getanzt vor dem Kamin, auf den Fliesen der Terrasse, im Gras unter der Olive oder den drei Steineichen. Er hätte aufstehen, zu den Tanzenden hinübergehen und mitmachen können. Einfach so. Aber die Erinnerung hielt ihn gefangen. Bilder der Vergangenheit ließen ihn nicht los, wie ein niemals endender Film im Kino.

Mit Wehmut dachte Beckmann an das Jazzfestival von Berchidda. Nach dem großen Konzert auf der Piazza del Popolo hatte sich die Menge zerstreut, aber einige Zuhörer waren hinauf auf den Berg gepilgert, der den kleinen Ort überragte. Anja und er folgten ihnen durch den Pinienwald. Die Hitze trieb das Harz aus den sich schälenden Stämmen der Bäume. Die trockene Rinde knackte, und ein wunderbarer Duft erfüllte die Nachtluft, hüllte die Kletternden ein. Anja rutschte mit ihren Schuhen immer wieder auf der Schicht trockener Piniennadeln aus, die den Boden dicht bedeckte. Wie er sie auffing, sie hielt, wie sie zusammen lachten. Die Erinnerung zog ihm den Brustkorb zusammen.

Oben am Berg gelangten sie auf eine vorspringende Felsnase. Durch die Räume eines Ausflugslokals ging es auf eine halbrunde Terrasse, die sich einem Amphitheater gleich auf eine Felsplatte hin öffnete, hoch über dem Dorf. Theatralisch von großen Steinen begrenzt, ging der Blick ins Tal wie auf eine Bühne oder Leinwand, bis hinunter in den Talgrund, wo in der Dunkelheit die Lichter der Autos auf der Überlandchaussee blinkten; eine ferne Milchstraße.

Die Nachtluft durchzogen Düfte von Haschisch und Alkohol, von Parfüm und Puder, von Schweiß und heißen Körpern. Ab drei Uhr war es so voll, dass die Felsplatte im Rhythmus der Musik erbebte und ins Tal zu stürzen drohte. Beckmann hatte bemerkt, dass die Männer mit dem Knopf im Ohr nicht mehr nur am Eingang standen, sondern auch direkt an der Tanzfläche. In der explosiven Hitze des Gedränges könnten sich Aggressionen entzünden. Als ehemaligem Polizisten entging ihm diese Gefahr nicht. Anja aber wirbelte weiter und wilder und wilder.

Es herrschte Ausgelassenheit, schiere, nackte Freude. Die Musiker gaben ihr Bestes, die Tanzenden bewegten sich hingebungsvoll, und die Tanzfläche hob ab, schwebte, schob sich hinaus in die freie Luft des Tales. Sie hatten das Gefühl zu fliegen, segelten selig in den Aufwinden des steilen Abhangs über dem Dorf. Die Tanzfläche löste sich wie ein Ufo aus den umgebenden Felsen und schwebte mit all ihren berauschten Tänzern, den Teilnehmern dieses wahrhaft dionysischen Festes durch das Dunkel der Nacht.

Beckmann wollte die Erinnerung an dieses ungeheuer tiefe, kaum zu fassende, aber eben unwiderruflich vergangene Glück abschütteln und streckte die vom Sitzen im Sand steifen Beine. Würde er sich jemals wieder so frei und leicht fühlen können? Zwischen ihm und den Tanzenden strich ein hochbeiniger, struppiger Hund ungerührt auf seinem Weg zu den Abfalltonnen hinter dem Restaurant vorbei. Er erinnerte ihn an einen Roman, der aus der Perspektive eines Hundes erzählt war. Der Hund, der auf den Name King hörte, war ein genauer Beobachter der Menschen, er wusste: »Wenn die Leute über die Vergangenheit reden, übertreiben sie meist, damit ihnen ein wenig warm wird.«

Beckmann spürte, er musste endlich damit aufhören, in seinen Erinnerungen zu leben. Eine leichte Brise erhob sich, zerstreute den Klang der Band über das Meer Richtung Tavolara. Er hatte den Moment verpasst, die Chance ausgelassen, hier am Strand mitzutanzen. Er wollte den Maresciallo nicht warten lassen.

Klappernd rollten die Würfel über das Backgammonbrett. Routiniert setzte der Maresciallo seine Steine. Beckmann hatte Schwierigkeiten, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Der Schirokko hielt schon ein paar Tage lang an. Beckmann fühlte sich trotz des erfrischenden Bades kraftlos und matt. Die Schübe der Erinnerung an Anja wurden nicht weniger, sondern zunehmend von dem Gefühl einer erstickenden Vergeblichkeit begleitet.

Der Carabiniere bemerkte den Gemütszustand des Freundes und rückte wortlos das Brett beiseite.

Beckmann fühlte sich in der einsetzenden Stille zwar aufgehoben, aber ihm war zugleich klar, der Maresciallo erwartete eine Erklärung für seine merkwürdige Stimmung. Er wusste nicht, wo anfangen.

Schließlich hatte Lorenzo Farini ein Erbarmen.

»Du denkst immer noch viel an Anja, oder?«

»Ich habe auch früher oft an sie gedacht, aber es hat sich etwas verändert. Ich könnte nicht sagen, was.«

»Es ist wie bei der Schwerkraft, die Dinge haben Folgen.«

»Manchmal fühlt es sich an wie ein Mahlstrom, in dem ich versinken könnte. ›So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.‹ Hat ein amerikanischer Dichter mal geschrieben. Passt ziemlich gut, finde ich.«

Der Maresciallo wusste genau, was sein Freund meinte.

»Die Erinnerungen können dich besetzen wie eine Armee ein erobertes Land. Aber du bist frei. Du könntest alles tun, was du willst.«

»Das sagt sich so leicht.«

»Wenn du die Vergangenheit nicht loslässt, errichtest du selbst dein Gefängnis. Heute ist die beste Zeit. Hast du deiner Tochter geschrieben?«

»Hab ich.«

Und Beckmann begann, von seinem Kampf mit dem Schreiben an Doris zu berichten. Er hatte sich nach reiflicher Überlegung für einen handgeschriebenen Brief entschieden und mindestens drei Anläufe gebraucht, bis er das Geschehen, das zum Tod seiner Frau geführt hatte, einigermaßen klar darstellen konnte. Als er die ersten Silben zu Papier gebracht hatte, war er fasziniert gewesen von dem Gefühl, eine gewichtige Nachricht auf so altmodische Weise festzuhalten. Die Tinte floss sanft aus der gespaltenen Spitze der Stahlfeder des Füllers und glänzte einen kurzen Moment, bevor das Papier sie aufsog. Die Vergangenheit, lange Zeit unklar und veränderlich, verfestigte sich durch das Schreiben unumkehrbar. Seine Tochter ging vermutlich immer noch davon aus, er hätte Anja mit seiner Untreue in den Selbstmord getrieben. Doch der tödliche Autounfall ihrer Mutter war nicht selbst verschuldet gewesen, sondern ein Attentat. Es war ein Anschlag, der Beckmann selbst gegolten hatte, arrangiert von hochrangigen Kriminellen, weil er mit Recherchen in einem »Beifang« auf brisante Daten über ein politisches Komplott gestoßen war.

»Du hast noch keine Antwort?«

»Nein. Ich habe den Brief vor drei Wochen abgeschickt.«

»Gib ihr Zeit. Du hast sie auch gebraucht.«

Beckmann nickte, und sie schwiegen wieder. Der Maresciallo stand auf und holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Beckmann blieb bei seinem alkoholfreien Crodino.

»Da ist noch etwas«, setzte der Carabiniere nach.

»Was meinst du?«

»Du hast etwas getan, was dich auf immer trennt von deinem vorherigen Leben, von deinem Beruf.«

Beckmann schaute ihn nachdenklich fragend an.

»Du bist anders als die anderen.«

»Inwiefern?«

»Du weißt etwas, das die anderen nicht wissen.«

»Das wäre?«

»Nun. Du weißt, wie es sich anfühlt. Wie es sich anfühlt zu töten.«

Beckmann hatte einen Menschen erschossen, einen gedungenen Killer, den man auf ihn angesetzt hatte. Es war eindeutig Notwehr gewesen, trotzdem hatten der Carabiniere und er den Leichnam in einer abgelegenen Bergregion der Insel gemeinsam im Wald den Wildschweinen ausgeliefert.

»Davon habe ich natürlich nichts geschrieben.«

»Wirst du ihr davon erzählen?«

»Bisher hat sie noch nicht geantwortet. Ich habe sie auf die Insel eingeladen, aber ich weiß nicht, ob sie kommt.«

Seine Tochter hatte den Kontakt zu ihm nach dem Tod ihrer Mutter abgebrochen und seitdem jede Kommunikation konsequent verweigert. Beckmann fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit Doris ebenso, wie er es herbeisehnte. Er wusste aber nicht wirklich, warum. War es das gnadenlose moralische Urteil seiner Tochter? War es seine Unsicherheit, nicht zu wissen, wie er die unterbrochene Kommunikation mit seinem längst erwachsenen Kind wieder aufnehmen könnte?

»Ich bin sicher, sie wird sich melden und herkommen. Ist sie erst einmal hier, wird sich alles wie von selbst ergeben.«

Beckmann wollte Farini nur zu gern glauben.

Der Maresciallo erzählte von einem Western, den er gesehen hatte und in dem einer der Cowboys sagte, wenn man jemanden getötet habe, schlafe man besser immer mit einem offenen Auge.

»Aber wir sind zum Glück auf Sardinien und nicht im Kino.«

Farini stieß ihn aufmunternd an und wechselte das Thema. Er habe aus der Kaserne in Olbia einen merkwürdigen Befehl erhalten, den er bisher nicht umgesetzt habe. An den Stränden der Ostküste waren neben den vielen fliegenden Händlern und Eisverkäufern Frauen aufgetaucht, die Massagen anboten. Das Phänomen sei von den Stränden des Festlandes bereits bekannt, aber auf Sardinien relativ neu.

»Es sind seltsamerweise immer Chinesinnen. In dem Rundschreiben an alle Stationen haben sie von ›medizinischen Leistungen durch dafür nicht qualifizierte Personen‹ geschrieben. Also, wir sollen ihr Treiben unbedingt unterbinden und die Aufenthaltsberechtigungen der Frauen überprüfen.«

Auch in einem Artikel in der lokalen Zeitung, fügte der Maresciallo hinzu, sei vor den Chinesinnen und möglichen medizinischen Folgen ihrer unsachgemäßen Massagen gewarnt worden. Farini war stolz darauf, das Treiben an den Stränden seines Bezirks gut unter Kontrolle zu haben, ohne mit massiven Einsätzen seiner uniformierten Jungs die Händler und Verkäufer zu terrorisieren, seien sie nun Italiener, Maghrebiner, Westafrikaner oder andere illegale Migranten. Sollte er jetzt etwa Jagd auf massierende Chinesinnen machen?

Beckmann lachte und erzählte von den magischen Händen der Frau, die ihn am Strand von Porto Taverna massiert hatte. Sie habe Werbeblättchen mit professionell wirkenden Abbildungen dabeigehabt, in dem ihre verschiedenen Anwendungen und die entsprechenden Preise dargestellt waren.

»Sie ist gut. Ich habe es sehr genossen. Ihre Hände sind fest und etwas rau, warm, als würde Energie durch sie hindurchströmen. Wenn du mich fragst, die absolut beste Massage meines Lebens, auch wenn es etwas unbequem war, dabei im Sand zu liegen.«

»Erzähl mir, es hatte nichts, wie soll ich sagen … Anzügliches?«

»Niemals. Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht, wieso sie es verbieten wollen und wir die Frauen einkassieren sollen.«

Beckmann empfahl dem Freund, sich bei seinen Kollegen der anderen Abschnitte in San Teodoro oder Budoni zu erkundigen, ob sie gegen die Frauen vorgingen oder sie gewähren ließen.

Farini erklärte, es sei zwar seine Aufgabe, Straftäter zu stellen und zu verhaften, aber nicht, ein Urteil über diese Personen zu fällen. Das täten andere, die für Gerechtigkeit sorgten oder eben auch nicht. Es falle ihm oft schwer, das zu akzeptieren.

»Das ist mir früher auch oft gegen den Strich gegangen«, pflichtete Beckmann ihm bei.

»Nun, es ist die Politik, die alles kompliziert macht.«

Sie sprachen darüber, ob es sinnvoll sei, immer einen festen Standpunkt einzunehmen. Beckmann hielt es für wichtig, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Der Maresciallo erwiderte, das sei durchaus ehrenwert, aber wer sich gegen fließendes Wasser stemme, der dürfe sich nicht wundern, wenn er Wirbel verursache. Beckmann bewunderte das scharfe Denken Farinis, doch jetzt schaute er ihn einen Moment lang zweifelnd an. Dann nickte er, denn er war sicher, der Carabiniere würde nicht einen Moment zögern, zu handeln und jede Menge Wirbel zu verursachen, wenn er es für wirklich notwendig hielte. Das bildhafte Philosophieren seines Freundes hatte ihn wieder einmal überzeugt.

Im letzten warmen Licht des Tages erreichte Beckmann sein Tal. Wie schon oft hatte ihn das Zusammensein mit dem Carabiniere aufgemuntert und ermutigt. Er fühlte sich auf eine seltsame Weise gelöst, beinahe heiter. Möglichkeiten eröffneten sich, fächerten sich reich vor ihm auf. Er sehnte sich nach physischer Berührung und hoffte darauf, am nächsten Morgen wieder die Chinesin am Strand anzutreffen, um sich erneut von ihr behandeln zu lassen. Seine Stimmung erinnerte ihn an die Wirkung, die früher das erste oder zweite Glas am Nachmittag gehabt hatte. Aber jetzt akzeptierte er den Lauf der Dinge, fühlte sich auch ohne den großen Helfer Alkohol mit der Welt im Einklang. Das Gebimmel der Schafherde am Hang drang durch das Seitenfenster des Rovers wie das Murmeln eines Bergbachs. Die beiden weißen Hirtenhunde des Bauern brachen zur Begrüßung aus der Macchia. Stumm standen sie im Staub neben der Strada Bianca Spalier, kräftig und wachsam, während Beckmann langsam in Richtung seines Refugiums an ihnen vorüberrollte.

4

Sie trat aus dem Altbau im Mittelweg hinaus auf die kleine Außentreppe und machte ein paar Dehnübungen, bevor sie die Kopfhörer einsetzte und loslief. In drei Minuten war Doris Beckmann an der Außenalster auf ihrer üblichen Jogging­strecke. Um diese frühe Uhrzeit war auf dem Uferweg unter den Weiden noch nicht viel los. In kleinen Intervallen zog sie immer mal wieder das Tempo etwas an. Sie lief bis zum Heilwigpark und dann am anderen Ufer den Leinpfad zurück. Nach einer halben Stunde war sie wieder im Mittelweg.

Sie nahm die Post vom Vortag aus dem Briefkasten im Eingangsbereich. Alles nur Werbung. Sie entsorgte die Kuverts in den dafür bereitstehenden Papierkorb. Bei ihrem Aufstieg in die Wohnung unterm Dach dachte Doris an den Brief ihres Vaters. Sie hatte Zeit gebraucht, bis sie ihn geöffnet hatte, und wusste immer noch nicht, was sie antworten sollte. Ob sie überhaupt antworten wollte.

Der Tod ihrer Mutter hatte sie in einer Phase ihres Lebens getroffen, in der sie sich gerade von ihrem langjährigen Partner getrennt hatte. Peter hatte auf Dauer zu wenig Verständnis gehabt für ihre beruflichen Ambitionen und Arbeitszeiten, die weit über normale Bürozeiten hinausgingen. Sie hatte nach dem Abitur nicht studieren wollen und eine praktische Ausbildung zur Schifffahrtskauffrau absolviert. Ihr Vater war verärgert gewesen, dass sie um keinen Preis eine akademische Karriere hatte einschlagen wollen. Inzwischen wäre sie bereit gewesen zuzugeben, dass ihr damaliger Beschluss durchaus damit zu tun hatte, auf diese Weise ihren Vater ärgern zu können.

Nach zwei Jahren Ausbildung hatte die Reederei sie sofort übernommen. Sie verdiente gut, war mit ihrer Tätigkeit als Schiffsmaklerin zufrieden und bereute ihre Entscheidung nicht. Peter, selbst Akademiker, überredete sie, doch noch ein kurzes Studium aufzunehmen, und sie machte ihren Bachelor in Shipping Trade and Transportation, obwohl die Privatschule teuer war. Die Beförderung in ihrer Firma lehnte sie ab und wurde bei einer größeren Reederei Brokerin für Tanker, Container- und Massengutschiffe. Die Arbeit in einem absolut männlich dominierten, sehr kompetitiven Umfeld war stressig, aber sie setzte sich durch. Es bereitete ihr Freude, mit internationalen Kunden und Kapitänen zu jeder Tageszeit zu kommunizieren und Probleme zu lösen.

Die Trennung von Peter war nicht einfach gewesen, und sie hatte oft und lange mit ihrer Mutter deswegen telefoniert. Nach deren plötzlichem, unerwartetem Tod war Doris erschüttert gewesen, wütend, einsam und voller Trauer. Sie hatte das alles überwunden geglaubt, und nun war dieser Brief von ihrem Vater gekommen, der alles scheinbar Vergangene in ein neues Licht tauchte.

Seine Darstellung der Umstände des Todes ihrer Mutter war detailliert und präzise. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, daran zu zweifeln, auch wenn es schmerzhaft war, sich ihren Irrtum einzugestehen. Ihre Mutter war bei einem Anschlag im Zuge eines politischen Komplotts gestorben. Doris hatte auch aus den Medien von den kriminellen Verstrickungen erfahren, die ihr Vater verbissen ans Licht gebracht hatte. Aber wieso hatte er nicht angerufen? Wieso hatte er diesen seltsamen Brief geschrieben, in so unterkühlter Sprache, als hätte er einen seiner Berichte für die Polizei verfasst? Er schien noch immer genauso stur auf seinen Beruf fixiert wie früher, über bestimmte emotionale Dinge war mit ihm einfach nicht zu reden. Wollte er ihr ein schlechtes Gewissen machen, weil sie ihn so hart angegriffen hatte? Ihn so verzweifelt angeschrien hatte? Sich gänzlich von ihm losgesagt hatte?

Sie war unsagbar traurig gewesen, hatte viel geweint. In der Firma hatte sie sich jedoch streng diszipliniert. Niemand hatte etwas gemerkt, weder ihre männlichen Kollegen, die nur auf eine solche Schwäche gewartet hätten, noch ihre Vorgesetzten. Sie hätte einen externen Coach konsultieren können, die Firma wäre dafür aufgekommen. Aber sie hatte es geschafft, sich da ganz allein herauszuarbeiten.

Ihr Vater hatte auf seinen Anteil am Erbe verzichtet, was es ihr ermöglichte, die kleine Wohnung unter dem Dach zu kaufen, die sie inzwischen so liebte. Sie zahlte für die Resthypothek eine geringere Summe, als sie für die Miete hätte aufbringen müssen. Wollte er ihr also – so wie er es früher immer getan hatte, wenn sie in seinen Augen über die Stränge geschlagen war – damit ein schlechtes Gewissen machen? Sollte sie sich schämen wegen ihrer Anschuldigung, er hätte ihre Mutter betrogen und sie deswegen Selbstmord begangen? Und stimmte es nicht, dass er in den letzten Jahren immer verbissener in seine Arbeit versunken war? Es war alles schrecklich verwickelt, aber ihr war klar, sie musste auf die eine oder andere Weise reagieren.

In der Küche nahm sie den großen Mixer aus dem Regal, drückte Magnesiumtabletten und Vitaminpillen aus den Blistern und gab einen gehäuften Esslöffel Proteinmix dazu. Kurz häckselte sie alles, bevor sie eine Kiwi und eine Banane schälte, einen Apfel mit Schale viertelte und samt Gehäuse dazugab. Das Ganze goss sie auf mit frisch gepresstem Orangensaft. Sie schenkte sich ein erstes Glas ein und stellte den Rest in den Kühlschrank.

Unter der Dusche fühlte sie sich fit bis in die Fingerspitzen. Das Wasser prasselte in einem wohligen Schauer auf ihren Rücken, sie spürte Lust in sich aufsteigen und blieb noch etwas länger unter dem Strahl. Im Bademantel holte sie sich das zweite Glas ihres Proteinmixes und setzte sich vor den Rechner. Sie suchte einen Ordner, den sie in den Tiefen ihrer Festplatte vergraben hatte, und öffnete die Datei mit den Fotos von Lu Tartaruga. Zwei zeigten ihren letzten Besuch auf der Insel zusammen mit Peter. Er hatte das Haus und das Tal nicht gemocht, es war ihm zu einsam, zu abgelegen. Seitdem war sie nicht mehr dort gewesen. Urlaubserinnerungen zogen an ihr vorüber. Erinnerungen an ihre Eltern in glücklichen Zeiten. Bedrückt klickte sie sich durch die Aufnahmen.

Ein Wechsel von Szenen, die unterschiedlichste Emotionen in ihr hervorriefen, blätterte sich vor ihr am Bildschirm auf. Bevor sie anfing zu weinen, schloss sie schnell den Ordner. Jetzt hatte sich ihr Vater an diesen Ort zurückgezogen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er, der immer so betriebsam und unruhig gewesen war, das aushielt, noch dazu ohne zu trinken, wie er geschrieben hatte. Es war nicht ausgeschlossen, dass er sich wirklich verändert hatte.

Sie öffnete ein leeres Word-Dokument. Einen Moment lang starrte sie auf den blinkenden Cursor im Weiß des Bildschirms. Schon allein die passende Anrede zu wählen fiel ihr nicht leicht.

»Lieber Vater …«

Sie überlegte, ob sie vielleicht auch einen Füller benutzen sollte, und entschied sich dann, erst mal am Computer zu arbeiten und anschließend alles mit der Hand abzuschreiben.

5

Beckmann hatte sich nach seinem morgendlichen Bad in Porto Taverna noch nicht abgetrocknet, da schlenderte die Chinesin wie unabsichtlich bei ihrer Werbetour zwischen den Touristen auf ihn zu. Sie lächelte zu ihm herüber, und er winkte sie heran. Er wollte diesmal nicht nur seinen Rücken massieren lassen, sondern sich eine Ganzkörpermassage gönnen.

Xia verfuhr wie beim letzten Mal, dehnte und lockerte mit speziellen Griffen auch seine Gelenke, behandelte Armund Beinmuskulatur. Sie arbeitete mit äußerster Hingabe; Beckmann hatte das Gefühl, sie baue systematisch eine enge energetische Beziehung zu ihm auf. Ihr Atem ging im selben Rhythmus wie der seine – oder stellte sich sein Puls automatisch auf ihre Bewegungen, auf den Druck ihrer Hände ein? Er spürte dem Weg ihrer Handballen, ihrer Knöchel und auch ihres spitzen Ellbogens oder des sanften Unterarms nach. Unter dem Einfluss ihrer Berührungen entspannte sich sein Körper, und auch sein Geist kam zur Ruhe. Er trieb ohne Gedanken in einem ruhigen Wohlgefühl dahin und schreckte auf, als Xia sagte:

»Schlecht. Doktor gehen.«

Ihr Finger kreiste einen Punkt auf seinem Rücken ein. Er verstand nicht, was sie meinte, aber sie beharrte darauf, da sei etwas »krank« an seinem Rücken, genau zwischen den Schulterblättern.

»Sonne zu viel.«

Beckmann war klar, dass sie keinen Sonnenbrand meinen konnte, und das beunruhigte ihn. Als die Chinesin vom Wasser zurückkam, wo sie wie immer nach getaner Arbeit ihre Hände gewaschen hatte, sah sie ihn eindringlich an.

»Wichtig. Doktor, schauen.«

Beckmann versuchte mit der Hand den Punkt zu erreichen, den Xia markiert hatte. Es gelang ihm nicht. Sie musste genau auf den Fleck gewiesen haben, an dem bei Siegfrieds Bad im Drachenblut das Lindenblatt geklebt hatte. Er war verunsichert.

Zurück im Tal, stellte er sich vor den Badezimmerspiegel, um die Stelle zu finden, aber er konnte nichts entdecken. Wie er sich da vor dem Spiegel drehte und verrenkte, dachte er an das verschreckte Gesicht von Peter Lorre im Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder, als er versucht, das Kreidemal auf seinem Rücken zu erkennen, als er sich krümmt und windet wie ein Wurm.

Beckmann setzte sich mit Blick aufs Tal und das ferne Meer in den Schatten unter die dichten Kronen der drei Steineichen. Blütenpollen pulsierten im Sonnenlicht. Ein Distelfalter taumelte durch die schwere Luft. Die bunte Zeichnung seiner Flügel ähnelte der eines Admirals, aber er hatte nicht die Größe des majestätischen Schmetterlings. Dafür vermochte er sehr große Strecken zurückzulegen, wie Anja ihm aus ihren Bestimmungsbüchern vorgelesen hatte. Das Gehirn eines Schmetterlings konnte nicht viel größer als ein halber Apfelkern sein. Vielleicht sogar kleiner. Das Geschöpf wog so gut wie nichts, seine großen Flügel boten dem Wind enorme Angriffsflächen. Wie konnte dieses kleine Hirn all die für das Fliegen nötigen Daten verarbeiten? Fallwinde, Hammerböen, Luftlöcher? Nicht zu reden von Luftfeuchtigkeit und möglichen riesigen Regentropfen? Für dieses Wunder gab es in den Bestimmungsbüchern keine Erklärung, es war sicher kein bevorzugtes Feld der modernen Forschung. War es Hautkrebs, was die Chinesin entdeckt hatte?

Am Himmel keine Anzeichen von Regen. Er würde am Abend wieder sprengen müssen.

Die Sonne hatte er immer verehrt als Symbol für Aufklärung und Vernunft, aber vor allem als wohlige Wärmequelle, die den Treibstoff liefert nicht nur für das Leben allgemein, sondern im Besonderen für sein eigenes. Er hatte die Sonne stets als wohltuend empfunden, auch in den heißen Sommermonaten auf der Insel. Er hatte sie und ihre Wirkung verklärt, hatte sich wegen seines schnell bräunenden Teints meist nur wenig gegen sie geschützt. Bei der Gartenarbeit trug er gelegentlich einen Hut, aber sonst? Anja hatte ihn oft gewarnt, er bete die Sonne geradezu an. Jetzt fühlte er sich, als hätte ein guter Freund ihn hinterrücks verraten. Auf Ausflügen ins heiße Inselinnere hatte er allerdings auch erlebt, wie die Sonne sich einem ins Hirn brennen konnte.

Schon als Kind war es für ihn ein stilles Vergnügen gewesen, auf den sonnengewärmten Stufen der Hintertür des Elternhauses zu sitzen. Er hatte dann einfach reglos in den Garten geschaut, das Licht der Sonne durch seine nur minimal geöffneten Lider fallen lassen, bis ihm farbige Linien und Muster erschienen. Seine Mutter hatte das für Träumerei gehalten und wollte ihn zu kleineren Hilfsarbeiten im Garten anstiften, doch er saß lieber auf diesen warmen Betonstufen, die die Energie der Sonne gespeichert hatten und an ihn weitergaben. Er wusste noch nichts von der Kraft, die den Garten erst zum Grünen und dann zum Früchtetragen brachte, wusste noch nichts über Photosynthese, Kernfusion, Protuberanzen und Teilchenstürme in der Atmosphäre, aber er hatte schon damals eine stille Sehnsucht nach der Sonne gehabt. Im Grunde gab es auch deshalb das Haus hier im Tal. Und hatte nicht Alexis Zorbas gesagt, ein Fisch solle besser im Meer bleiben, ein Mann in der Sonne? Und jetzt sollte ausgerechnet die Sonne ihm Schaden zugefügt haben? Beckmann war aufgewühlt.

Eine Szene aus seiner Schulzeit kam ihm überfallartig in den Sinn. Ihr Lateinlehrer Joseck war ein zutiefst überzeugter Atheist gewesen, und Beckmann und seine Mitschüler hatten immer wieder den drögen Lateinunterricht unterbrochen, indem sie Diskussionen um Glaubensfragen anzettelten, zu denen sich der sonst so korrekte und strenge Lehrer nur zu leicht hinreißen ließ. Beckmann hatte sol invictus übersetzt mit »unbesiegbarer Sonnengott«. Joseck hatte ihn korrigiert: »unbesiegter Sonnengott«. Wo denn da der Unterschied liege, hatte Beckmann sich verteidigt und einen heftigen Disput über den Sonnenkult in Gang gesetzt. Joseck hatte den Übergang vom altrömischen Sonnengott sol indiges zu den vielen Resten heidnischen Glaubens in der christlichen Symbolik nachgezeichnet. Beckmann erinnerte sich nur noch an das für ihn damals überzeugendste Beispiel, nämlich dass die Katholiken bei ihren Prozessionen einer die Sonne symbolisierenden Monstranz hinterherliefen.

Seine innere Unruhe wollte sich nicht legen. Immer wieder versuchte er, etwas zu erspüren.

Als am frühen Nachmittag seine Zugehfrau Micaela kam, war er zunächst unschlüssig, ob er sie darum bitten sollte, sich seinen Rücken anzusehen. Aber Micaela kannte ihn und merkte, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Nichts, nur ein Leberfleck, dottore.«

»Sie hat gesagt, zu viel Sonne.«

»Sieht nicht aus wie Krebs. Aber ich bin kein Doktor und weiß nicht, wie Krebs aussieht. Die Chinesinnen am Strand sind alles Hexen, bruxas, keine dottores.«