Verfehlungen und Verbrechen - Ursula März - E-Book

Verfehlungen und Verbrechen E-Book

Ursula März

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Beschreibung

Die besten Fälle der erfahrenen Gerichtsreporterin Geschichten aus Gerichtssälen vom Leben am Rande der Legalität und dem entscheidenden Schritt darüber hinaus. Kriminalität in den unterschiedlichsten Kreisen, aus den erstaunlichsten Motiven und mit überraschendem Ausgang. Und eine Topografie des Verbrechens, denn Ursula März hat als Gerichtsreporterin seit den 90er-Jahren Prozesse aus fast allen Bezirken Berlins begleitet. Milieugeschichten, Einzelschicksale, gesellschaftliche Verhältnisse, alles kommt zusammen und ergibt ein faszinierendes Bild unserer Gegenwart. Literarisch verdichtet und packend erzählt, man möchte immer weiterlesen. Vorwort von Sabine Rückert, Host des Podcasts ZEIT Verbrechen »Selten wurde das Heute so sicher getroffen.« WAZ

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Impressum ePUB

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverabbildung: plainpicture/altarribalbajar

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Geschichten aus dem Terrarium

Rotlicht

Vorwärtspanik

Außer Kontrolle

Doch eine Leuchte

Schwarze Löcher

Am Alex

Später im Leben

Inquisition

Null Grad Celsius

Exotische Liebe

Das Duell

Üble Maschen

Friedliche Finger

Löslicher Kaffee

Hinweis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Geschichten aus dem Terrarium

Ein Vorwort von Sabine Rückert

Diese Autorin wäre eine famose Zeugin in jedem Strafprozess. Sie wäre die Freude aller Richter. Sie ist eine Menschenbeobachterin, das ist ihre Leidenschaft und ihre Berufung. Und ja, Ursula März saß und sitzt tatsächlich in vielen Strafprozessen (vor allem für die ZEIT) – aber nicht als Zeugin der Anklage oder der Verteidigung, die irgendein Verbrechen beobachtet haben oder jemandem ein felsenfestes Alibi bescheren soll, sondern als Journalistin, als akribische Chronistin innermenschlichen und zwischenmenschlichen Geschehens.

Ihre Werkzeuge sind: Geduld und Unbeirrbarkeit, eine große Liebe zum Detail und eine Vielzahl wunderbarer Gedanken und Sprachbilder. Sie ist Gerichtsreporterin, eine der besonderen Art. So interessieren sie zum Beispiel die Feinheiten des Strafprozessrechts, der Umgang des Gerichts mit Angeklagten, die Art der polizeilichen Ermittlungen, die Analysen von Sachverständigen und die Fragen der Strafzumessung kaum. Die staatliche Maschinerie zur Herstellung von Gerechtigkeit bildet allenfalls die Kulisse zu ihren Geschichten, nicht den Kern. Was Ursula März wirklich fasziniert, sind die Vielgestaltigkeit der Lebenswege, die Feinheiten der Seele. Hauptverhandlungen sind für sie eher der Anlass für brillante Menschenerzählungen als eine Würdigung des Wirkens deutscher Strafverfolgungsbehörden.

Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht ernst nähme, was in diesen Gerichtssälen vor sich geht: Ursula März nimmt alles ernst. Doch ihr Anspruch geht über die klassische Gerichtsreportage der Medien hinaus, sie sucht und findet das Gewaltige im ganz Kleinen. Den wochenlangen Strafprozess gegen den blutigen Serienmörder, berühmten Entführer oder aufsehenerregenden Erpresser sucht man in diesem Buch ebenso vergeblich wie die investigative Aufdeckung von Justizskandalen. März geht es um das Dahinter anscheinend unscheinbarer Biografien. Um das Leid und den Wahnsinn ganz normaler, einfacher Leute, um die Abgründe in ihrem ungeheuren Alltag. Auch um das Neurotische, Tragische, Bizzarre und Sinnlose, worein ein Leben münden kann.

»Ich rücke meinen Figuren dicht auf die Pelle«, schrieb Ursula März einmal über sich selbst. »Und komme dabei an die empfindlichsten Stellen des Menschen: Liebe, Entbehrung, Ablehnung.« Doch sie wolle nicht die »Perspektive einer Insektenforscherin« einnehmen, die sich über ein Terrarium beugt, »es ist demokratischer und humaner, wenn ich mich selbst mit ins Terrarium setze.«

Und genau so lesen sich ihre Texte. Es sind Geschichten aus dem Terrarium. Nah. Berührt. Zeigend, wo Menschen falsch abgebogen sind auf einen Weg, der sie bis hierhergeführt hat – vor den Strafrichter. Ohne Besserwisserei, sondern eher so, als könnte sie selbst, als könnten ihre Leser ebenfalls hier landen. März ist eine Intellektuelle ohne Allüren.

Sie merken es: Die Gerichtsreportagen von Ursula März sind streng genommen gar keine Reportagen – es sind Novellen, romanhafte Kurzgeschichten. Doch die Autorin benutzt ihre Protagonisten dabei niemals. Über niemanden macht sie sich lustig, nicht über Kriminelle, nicht über Dummköpfe. Eine große Bereitschaft sich einzulassen, zu verstehen und eine spürbare Liebe zu den Menschen durchströmt ihre Beobachtungen.

In der ZEIT schrieb Ursula März vor einigen Jahren: »Ich schaue unglaublich gern dem normalen Leben zu. Ich habe auch Verständnis für Menschen, die sich mit einem Kissen aufs Fensterbrett lehnen, um zu beobachten, was auf der Straße so vor sich geht. Ich nenne das ›meditative Soziologie des Alltags‹. Böswillige nennen es den Zeitvertreib spießiger, gelangweilter Rentner. Bitte schön – dann entsprechen meine Interessen eben denen spießiger, gelangweilter Rentner«.

Hat schon einmal jemand tiefergestapelt?

Die von Ursula März geschilderten Menschen sind auch in dem Moment, wenn sie vor der Strafjustiz stehen, nie »Angeklagte«, sondern stets ausgefeilte Persönlichkeiten mit einer lange durchlebten (manchmal auch durchlittenen) Biografie, viele mit großen Wünschen, haufenweise Besonderheiten und Eigenarten, mit Träumen, Qualen, Zielen und Schrullen, die durch eigenes Schalten und noch dazu durch das Walten des Schicksals nun hier von der Vergangenheit eingeholt werden. Aber auch vor Gericht bleiben sie bloß Menschen. Halt solche, die man erwischt hat.

Herrn Nemec etwa, der die Schaufensterscheibe eines Nagelstudios zerkratzt, weil er die dort stattfindende Misshandlung menschlicher Finger nicht länger hinnehmen kann.

Oder der ungeheure Leidensweg des armen Herrn Vogelsang, der sein Herz nebst all seinem Hab und Gut an eine blutjunge Prostituierte verliert, der er nullkommanichts bedeutet.

Der sexuelle Wirrwarr dreier Hexen vom Rand Berlins, deren eintöniger Alltag erst durch den »Geist des Spirituellen ganz von selbst den kränkenden Beigeschmack totgeschlagener Zeit« verliert.

Die hyperempfindliche Nase des Herrn Meinhard, dem es im wahrsten Sinn des Wortes gelingt, jenseits von Polizei und Rechtsmedizin einen Mord zu erschnüffeln.

Worüber man nicht schreiben kann, darüber soll man sich Gedanken machen. Und so erlaubt sich Ursula März anlässlich der strafprozessualen Frage-Antwort-Sequenzen und beobachteten Verhaltensweisen bei Gericht ihrerseits feuilletonistische Ausflüge in die Mutmaßung, in die Psychoanalyse und in die allgemeine Menschenkunde. Und ich bin mir sicher, dass sie dadurch der Wahrheit weitaus näherkommt als so mancher brave Journalist, der Tag für Tag die Geschehnisse und Tatsachen für seine Redaktion protokolliert.

Ursula März ist eine wunderbare Schriftstellerin. In ihrer Literatur finden sich tiefere Wahrheiten als die in der Zeitung.

Sabine Rückert gehört seit 1992 zur Redaktion der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT und arbeitete von 2002 bis 2012 als resortunabhängige Gerichtsreporterin. Seither ist sie stellvertretende Chefredakteurin und Mitherausgeberin des Magazins ZEIT Verbrechen

Rotlicht

An einem Tag im Jahr 2011 sprach Rolf Vogelgesang auf dem Billigstrich um die Potsdamer Straße im Berliner Westen eine schwarzhaarige, sehr zierliche Prostituierte an. Er war kein geübter Freier. Er druckste herum und suchte nach den richtigen Worten für das, was er wünschte. Und welche Wünsche es waren, wusste er auch nur vage. Die Frau kam ihm zuvor, indem sie im sachlichen Geschäftston ihre Preise mitteilte: 20 Euro für die orale Variante im Auto, 50 Euro für eine halbe Stunde in einer Pension plus Zimmermiete.

Rolf Vogelsang hörte schon nicht mehr richtig zu. Binnen Sekunden ging sein Interesse so weit über alles Geschäftliche und Sexuelle hinaus, als sei in ihm eine Bombe gezündet worden. »Es hat mich«, wird er Jahre später als Prozesszeuge sagen, »sofort erwischt.« Ihn durchfuhr ein coup de foudre, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er stand, da war er sich vollkommen sicher, der Frau seines Lebens gegenüber. Alles an ihr berührte und entzückte ihn. Alles war er von dieser Sekunde an bereit, für sie zu tun. Und er tat auch alles, um die Bulgarin Hanka Draganova, die an der Potsdamer Straße nur Hani genannt wurde, aus dem Schmutz der Straßenprostitution zu erretten. Schon bei der zweiten Begegnung eine Woche später lud er sie zum Essen in einem Grillimbiss ein. Sie kam ihm unterernährt vor, viel zu dünn für ihr Alter.

Er bezahlte sie dafür, dass sie mit ihm ins Kino ging, ihn auf Spaziergängen begleitete, sich im nahe gelegenen Tiergarten auf einer Decke niederließ und ein paar der gesunden Nahrungsmittel probierte, die er in einem Picknickkorb bereithielt. Er bezahlte die Stunden, die er damit zubrachte, ihr ins Gewissen zu reden und die Erbärmlichkeit ihres Daseins vor Augen zu führen. Er war besessen von der Idee, ihr mit all diesen Aktivitäten das Bild eines anderen, eines bürgerlichen, umsorgten und gesicherten Lebens an seiner Seite zu veranschaulichen. An einem Sonntagnachmittag stellte er ihr sogar seine beiden halbwüchsigen Kinder vor, damit sich die Mitglieder der Familie, die er für seine zukünftige hielt, schon einmal kennenlernen konnten. Kurz darauf trennte sich seine Frau von ihm und reichte die Scheidung ein.

Abend für Abend fuhr er mit dem Auto durch die Straßen des Rotlichtviertels, um Hani zu suchen. Wenn er sie nicht an ihrem Standplatz fand, gab er das frische Obst und die Vitaminsäfte, die er immer dabeihatte, am Tresen der Eckkneipe ab, in der sich die Prostituierten für eine Zigarettenpause trafen, bevor sie zurückkehrten aufs Trottoir.

Er wusste, dass er im Milieu der Zuhälter und Drogendealer für einen dieser Narren gehalten wurde, die quartalsmäßig auftauchen, sich mit dem Helden eines Hollywoodfilms verwechseln und nichts Besseres zu tun haben, als ihr Herz an eine Nutte zu hängen. Es war ihm egal. Tief in seinem Inneren dürfte er geahnt haben, dass er im Lauf des Jahres 2014 auf eine Weise ausgeplündert wurde, deren burlesker Einschlag die Infamie noch steigerte.

Rolf Vogelgesang, ein Mann von fünfzig Jahren, ein Ingenieur in leitender Position, dessen Leben sich bis dahin so unauffällig wie durchschnittlich gestaltet hatte, nahm den Ruin seiner gesamten Existenz hin. Er tat dies in einer Liebesraserei, die sich am ehesten mit religiösem Fanatismus vergleichen lässt. Für Hani war ihm kein Risiko zu groß, kein Abgrund zu tief, kein Opfer zu schmerzlich.

Im Spätsommer 2016 steht Rolf Vogelgesang in einem kurzärmligen Karohemd als einer von vielen Zeugen vor dem Berliner Landgericht. Angeklagt sind die 29-jährige Hanka Draganova und der 37-jährige bulgarische Dimitrov Tanev. Ihr wird Betrug vorgeworfen, bei ihm kommt aus Sicht der Staatsanwaltschaft allerhand zusammen. Zuhälterei, Menschenhandel, gefährliche Körperverletzung und betrügerische Erpressung sind nur die gewichtigsten Anklagepunkte. Schon am ersten Prozesstag deutet sich an, wie schwierig es werden wird, sie nachzuweisen.

Als Nebenklägerin tritt Tatjana Nedeva auf, ebenfalls eine bulgarische Prostituierte. Auf Schritt und Tritt wird sie von zwei Anwältinnen begleitet, denn es ist nicht auszuschließen, dass Hintermänner des Prostitutionsgewerbes sie bedrohen. Schützt sie deshalb den Angeklagten, indem sie jede halbwegs belastbare Aussage schon im nächsten Moment durch seltsam blumige Erläuterungen abschwächt? Oder schützt sie ihren Ruf als loyales Mitglied eines Milieus, das schmutzig und gewalttätig sein mag, aber der einzige Ort ist, an dem sie so etwas wie eine Heimat findet? Tatjana Nedeva ist 27 Jahre alt. Sie war 20, als sie zum Anschaffen nach Berlin kam. Sie hatte, wie die meisten der osteuropäischen Prostituierten, wie auch Hani, nie eine andere Arbeit ausgeübt, nie ein anderes Leben geführt als das am Straßenrand.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin 2009 ging sie mit Dimitrov Hanev eine Partnerschaft ein, in der die Grenze zwischen Anhänglichkeit ihrerseits und finanzieller Ausbeutung seinerseits mäandernd verlief. Wie viel von ihren Einkünften sie ihm aushändigte, will sie vor Gericht nicht sagen. Ebenso wenig, ob sie es freiwillig oder unter der Androhung von Gewalt machte. Ob regelmäßig und nur gelegentlich. Genau dies aber sind die Kriterien, die das Strafgesetzbuch vorgibt, um über den Tatbestand der Zuhälterei zu entscheiden.

Eine Wohnadresse hatte Tatjana Nedeva in Berlin nicht. In vielen Nächten schlief sie mit Dimitrov Hanev im Auto auf dem mittleren Parkstreifen der Bülowstraße, die quer zur Potsdamer Straße verläuft. Wenn sie Geld hatten, übernachteten sie in einem der Billighotels der Gegend. Im Oktober 2013 wird Dimitrov Hanev verhaftet, zwei Monate später wegen Raub zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft verwickelt sich das Knäuel jener Ereignisse, die schließlich auch Rolf Vogelsang mitreißen und in den Ruin schleudern werden.

Zu Jahresbeginn 2014 wendet sich Dimitrov Hanev einer namentlich nicht genannten tschechischen Prostituierten zu, sie genießt nun sein persönliches Interesse. Sein wirtschaftliches an Tatjana Nedeva soll er umso brutaler durchgesetzt und sie gezwungen haben, Tag und Nacht auf dem Strich zu arbeiten, mit immer mehr Drogen, um wach zu bleiben. Er soll sie geprügelt und einmal mit einem Messer angegriffen haben.

In ihrer Wut auf die tschechische Nebenbuhlerin erstattete Tatjana Nedeva mehrmals Anzeige gegen Dimitrov Hanev. Allerdings zog sie die Anzeigen oft schon am Tag darauf zurück. Länger als eine Nacht hielt sie es im Frauenhaus, wo der Sozialdienst sie unterbrachte, nicht aus. Auf die Frage des Verteidigers von Dimitrov Hanev, weshalb sie nach den Misshandlungen nicht nur immer wieder zurückgekehrt sei zu seinem Mandanten, sondern regelrecht darum gekämpft habe, die Position der Favoritin in dessen zuhälterischem Management zurückzuerobern, gibt sie zu Protokoll: »Weil ich ein gütiges Herz und eine gütige Seele habe.«

Im Frühsommer 2014 werden die Karten noch einmal neu gemischt. Hani tritt nun an die Seite von Dimitrov Hanev. Wenn man beiden glauben mag, erlebten sie einen Blitzschlag der Liebe, wie er drei Jahre zuvor Rolf Vogelsang verglüht hatte. In einer von seinem Verteidiger verlesenen Erklärung teilt Dimitrov Hanev dazu mit: »Hani ist die Liebe meines Lebens. Ich musste mich von Tatjana und von der Tschechin trennen, ich liebte beide nicht mehr.«

Bisweilen ähnelt der Prozess einem Bühnenschwank, der das Publikum in den Genuss einer Zuckergussrhetorik nah an der Grenze zum Absurden bringt. Die Protagonisten wiederum, die dabei auftreten, erinnern an eine verschworene Dorfgesellschaft, zu deren obersten Gesetzmäßigkeiten es gehört, ihre illegalen Machenschaften, Intrigen und Machtkämpfe um keinen Preis nach außen dringen zu lassen.

An einem Prozesstag tritt ein junger Wirtschaftsjurist in den Zeugenstand, der zufällig im Rotlichtviertel um die Potsdamer Straße wohnt. Im Sommer 2015 erstattete er Anzeige gegen Dimitrov Hanev. Dieser habe ihm ein iPhone nicht zurückgegeben, welches er ihm zur Reparatur überlassen habe. Dem Angeklagten Hanev ist vieles zuzutrauen, Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Elektronik nicht unbedingt. Und warum, wundert sich der Richter, war Dimitrov Hanev mehrfach Gast im Wohnzimmer des Wirtschaftsjuristen? Könnte dies mit dem Erwerb von Crystal Meth zu tun gehabt haben? Auf solche Fragen hin tun sich im Kopf des Zeugen Gedächtnislücken von neurologisch bedenklichem Ausmaß auf.

Gegen Ende der Zeugenparade erscheint der schwergewichtige August Wellner im Gerichtssaal. Seine Rolle im Dorfgeschehen ist verschwommen. Vor Jahren, so viel steht fest, war er mit der Schwester von Hani liiert. Fest steht auch, dass er als Gebrauchtwagenhändler bankrottging und seitdem von der Untervermietung seines Schlafzimmers an Leute aus dem Rotlichtgewerbe lebt. Auch Hani kam gelegentlich bei ihm unter. Sie brachte Dimitrov Hanev mit, und dieser brachte irgendwann einen gewissen Richard Neulich mit, der allerdings untergetaucht und von der Polizei nicht zu finden ist. Mit ihm soll Dimitrov Hanev über eine Ablösesumme für Tatjana Nedeva in Höhe von 25 000 Euro verhandelt haben. Auf diesen Deal versucht die Staatsanwaltschaft ihren Vorwurf des Menschenhandels zu stützen. Nur findet sich kein Zeuge, der die Vermutung zu konkretisieren vermag.

An keinem anderen Ort in Deutschland vollzieht sich Straßenprostitution so offen unter den Augen der Passanten wie in diesem Berliner Viertel. In der Weimarer Republik war es die Heimat des Großbürgertums und der gebildeten Boheme, berühmt für seine Theater, literarischen Cafés und Cabarets. Die Bombardements des Zweiten Weltkriegs ließen von den Gründerzeithäusern wenig übrig. Und was übrig geblieben war, wurde in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nachlässig und billig wieder aufgebaut.

Zwischen Eckkneipen, Billigkaufhäusern, türkischen Gemüsegeschäften und Bars, die rund um die Uhr geöffnet sind, begann sich der Straßenstrich zu etablieren. Mit der Zeit erwarb sich das Viertel jenes Image des für Berlin typischen Kaputtheits-Charmes, von dem Reiseführer schwärmen. Die Anwohner sehen es etwas nüchterner. Sie beobachten vom Küchenfenster Paare, die in den Ecken der Parkplätze kopulieren, sie steigen in den Hinterhöfen ihrer Häuser über Kondome, Damenschlüpfer und Feuchttücher.

In der Zeit des Prozesses gegen Hanka Draganova und Dimitrov Hanev entsteht ein Aktionsbündnis von Bürgern mit dem Namen »Gegen den Strich – für einen Sperrbezirk in Tiergarten Süd«. In der Sommersaison, heißt es in einer Erklärung des Bündnisses, drängten sich bis zu 400 Prostituierte auf einem Dutzend Parallel- und Querstraßen. Selbst vor den Eingängen von Kindergärten, Kirchen und Krankenhäusern gingen sie ihrem Gewerbe nach. Die Sorge der Anwohner lässt sich leicht nachvollzie-hen. Zugleich ist es ihre öffentliche Sichtbarkeit, die den Straßenprostituierten einen gewissen Schutz gewährt. Abgedrängt in die hermetische Unterwelt der Prostitution wären sie für niemanden mehr erreichbar. Nicht für die Streifenpolizisten, die das Viertel kontrollieren. Nicht für die Sozialarbeiterinnen, die sich auf den Straßen des Viertel bewegen und die Frauen ansprechen, um den Kontakt mit ihnen aufrechtzuerhalten. Auch die Tragödie von Rolf Vogelsang nahm auf offener Straße ihren Beginn.

Die dunklen Wolken, die im Frühsommer 2014 über ihm aufziehen, will er lange nicht wahrnehmen. Am 20. Mai ruft ihn eine Kollegin von Hani an. Etwas Furchtbares, schreit sie ins Telefon, sei geschehen. Hani sei von einem Zuhälter nach Bulgarien entführt worden, für ihre Frelassung fordere er 5000 Euro. Kurz darauf legt Hani mit einer SMS nach. »Rolf, hilf mir! Bin entführt! Es geht um Leben und Tod.« Noch am gleichen Tag übergibt Rolf Vogelsang 5000 Euro an Dimitrov Hanev, der ihm als Geldbote des Zuhälters genannt wird.

Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, Hanev sei die treibende Kraft hinter den immer aberwitzigeren Lügengeschichten gewesen, die in immer kürzeren Abständen auf die Ersparnisse des verblendeten Vogelsang abzielen. Im Juni zahlt er je 2500 Euro für die Beerdigungen von Hanis Vater und ihrer Großmutter. Beide sind quicklebendig. Im Juli zahlt er 5000 Euro für die Kaution einer Wohnung, die Hani angeblich in Bulgarien erwerben möchte, um mit ihm später einmal dort Urlaub zu machen. Ebenfalls im Juli 2014 zahlt er für das Ferienlager einer Tochter, von der Hani plötzlich behauptet, sie in Bulgarien zurückgelassen zu haben. Kurz darauf benötigt die Tochter einen neuen Ranzen, Bücher, Turnschuhe und Kleidung für das beginnende Schuljahr und Hani selbst ein Auto, um ihr Kind zu besuchen.

Die Summe der Beträge, die Rolf Vogelsang herausrückte und die mutmaßlich durch Dimitrov Hanev in die Hände von Crystal-Meth-Dealern, Autohändlern und mafiösen Gruppierungen gelangten, kennen nur er und seine Kameliendame. Als der Richter ihn fragt, ob sie im mittleren fünfstelligen Bereich liege, senkt Rolf Vogelsang den Kopf. Er sei, sagt er nach langem Schweigen, »wirtschaftlich, seelisch und körperlich am Ende«.

Ende 2014 gehen ihm die Augen auf. Rolf Vogelsang geht zur Polizei und erstattet Anzeige gegen Hani. Akribisch listet er nun die Betrügereien auf, die an ihm begangen wurden. Er fühlt sich zerschmettert. Er ist maßlos enttäuscht über den, wie er es empfindet, Liebesverrat von Hani. Will er sich rächen und sie deshalb vor Gericht bringen? Oder malt er sich aus, der Zugriff der Justiz sei das letzte Mittel, um sie vom Straßenstrich zu lösen? Im gleichen Zeitraum besucht er eine Drogenberatungsstelle der Caritas, um sich zu erkundigen, wie einem Straßenmädchen, das möglicherweise von Crystal Meth abhängig sei, geholfen werden könne.

Hanis letzte SMS-Nachricht erreicht ihn im Februar 2015, sie lautet: »Rolf, du bist ein Idiot, aber ein netter Idiot.« Eineinhalb Jahre später begegnet er ihr im Gerichtssaal wieder.

Aufgefordert, ihre Beziehung zu Rolf Vogelsang zu beschreiben, zuckt die in einem langen, folkloristisch bestickten Kleid erschienene Angeklagte die Schultern. »Aber Sie kennen den Zeugen doch, oder?«, drängt der Richter. »Ja, schon«, antwortet Hani unwillig. Er sei ein Zufallsbekannter von der Straße. Er habe sich jahrelang ungefragt in ihr Leben eingemischt und sich nicht abschütteln lassen. Sie habe keine Ahnung, was er von ihr wollte. Ab und zu habe er ihr Geld aufgedrängt. Das sei ja nicht verboten. Wegen Betrug wird sie zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.

Das Urteil fällt an einem Freitag. Am gleichen Tag kann Hani die Untersuchungshaft verlassen. Am Montag darauf erscheint Rolf Vogelsang erneut als Zeuge vor Gericht. Nun in dem Prozess gegen Dimitrov Hanev, dessen Verfahren abgetrennt wurde und weiterläuft. Wann, fragt der Richter, er denn Hanka Draganova, die Komplizin des Angeklagten, zum letzten Mal gesehen habe? »Am Samstag.« – »Diesen Samstag?« – »Ja« – »Also vor zwei Tagen?« Für Sekunden herrscht im Gerichtssaal vollkommene Stille.

Als die Nachricht, Hani sei frei und in der Wohnung eines bulgarischen Freundes untergekommen, zu Rolf Vogelsang durchdringt, macht er sich am Samstagabend sofort auf den Weg. Er klingelt an der Wohnungstür des Bulgaren, er hämmert an die Tür, bis sie sich endlich einen Spaltbreit öffnet. Der Bulgare will ihn nicht hereinlassen und richtet ihm aus, Hani sei unter der Dusche. Er solle verdammt noch mal abhauen und sie endlich in Ruhe lassen. »Hani!«, ruft Rolf Vogelsang flehentlich in die Wohnung, »nimm doch wenigstens die Blumen!«