Verfluchte Glückskekse - Gerhard Gröner - E-Book

Verfluchte Glückskekse E-Book

Gerhard Gröner

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Beschreibung

Hauptkommissar Armin Schönfelder stöhnt: "Solch kuriose, ja spektakuläre Todesfälle werden bestimmt in die Geschichte der Kriminalpolizei eingehen." Ein unglücklich formulierter Glückskeks gilt als Ursache für zwei "Kriminalfälle". Nervtötende Verhöre mit einem Dutzend Zeugen und deren extrem unterschiedlichen Charakteren, verwirren mehr als sie auflösen.. Ein brutaler Mord, drapiert als Selbstmord, das kuriose Ende eines Hauptverdächtigen und unverständliche Zeugenaussagen, treiben die Fahnder zur Weißglut. Und auch Kriminalpolizisten denken und handeln nur als Menschen. Dass einem der Täter gelegentlich Mitleid entgegengebracht wird, zeigt die Komplexität des Krimis. Schlußendlich stirbt er in Südarfika am Virus Covid 19.

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Gerhard Gröner

Verfluchte Glückskekse

SiegtalKRIMI

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Verfluchte Glückskekse

Prolog

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

10.Kapitel

11.Kapitel

12.Kapitel

13.Kapitel

14.Kapitel

15.Kapitel

16.Kapitel

17.Kapitel

18.Kapitel

19.Kapitel

20.Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Verfluchte Glückskekse

Prolog

Der erfahrene Kriminalpolizist Armin Schönfelder kniete tief über der toten Frau.

Hab lange keine Selbstmörderin kriminaltechnisch untersuchen müssen, dachte er, muss mehrere Jahre zurückliegen. Jeder einzelne Todesfall zu dem ich gerufen wurde berührte mich aufs Neue. Hier, bei einer toten Frau jedoch, die sich selbst das Leben nahm, stellen sich mir intensivere Fragen als bei anderen Menschen, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen. Suizid ist härter für mich zu verarbeiten als ein brutaler Mord. Weshalb verzichtet ein Mensch freiwillig auf viele weitere Jahre, eventuell interessante Jahre?

Vielleicht war es ein Fehler, eilig hierher zu fahren, hätte besser meinen Spezialisten der Spurensuche und KTU den Vortritt gelassen. Es wäre leichter für mich zu ertragen, angenehmer. Einfach nur sachlich abarbeiten, hinter denen in ihren sterilen Schutzanzügen.

Bin froh, dass ich diese Frau nicht abhängen musste, dem Notarzt sei gedankt.

Und dennoch stört mich seine Anwesenheit und die der beiden Polizisten. Auch die der älteren Dame. Wie soll ich den Suizid dieser Frau emotionslos recherchieren, wenn die Leute eng um mich herumstehen. Die alte Dame schnieft, nicht gerade leise, vor sich hin. Die anderen beobachten mich und begaffen die Tote. Auch, dass mir heute ständig die Haare ins Gesicht hängen, trägt zu meiner Nervosität bei.

Adrett gekleidet ist sie. Als wollte sie gerade ausgehen. Kein Kleidungsstück ist zerrissen, alle Knöpfe dran. Nur die rosa Pumps liegen unordentlich neben ihr. Die graue Hose, körperbetont geschnitten, liegt passgenau an. Der lederne Gürtel ist nicht geöffnet. Auch nicht der Reißverschluss. Darüber eine weiße Bluse, keine Schmutzflecke, kein Blut. Der Kragen der rosa Strickjacke ist mit üppigem Besatz synthetischer Perlen eingefasst.

Ihre hellblond gefärbten Haare hängen wild zerzaust am Kopf. Eine wirre blaue Locke klebt auf der Stirn. Hätte ursprünglich wohl jünger machen sollen, sportlicher. In dieser Situation bewirkt sie das Gegenteil.

Wie alt sie wohl geworden ist? Mittlere Vierzig, vielleicht gute Fünfzig? Ist auf Anhieb schwer zu schätzen, hat vermutlich heftige Schmerzen gelitten. Seelische und körperliche. Haben die wenigen aber tiefen Kratzer am Hals mit dem Selbstmord zu tun? Sicher!

Nun beginnt auch noch die alte Dame durch ihr vorgehaltenes Taschentuch lautstark zu jammern: „Hoffentlich hängt diese schlimme Tragödie nicht mit dem gestrigen Spieleabend und den Glückskeksen zusammen.“

1.Kapitel

Einige Stunden hektischer Vorbereitung lagen hinter dem Ehepaar Gruber. Man wollte alles, was man besitzt, nicht angeberisch jedoch apart und gepflegt vorzeigen. Gerade, wenn wieder „beste Freunde“ die Einladung zum Spieleabend angenommen haben.

Der Abend sollte allen Mitspielern Spaß bereiten und niemand anderntags darüber lästern können, dass auch nur ein Staubkrumen auf dem Tisch lag. Und, auch das war wichtig, Evelyn Stanicki hatte bereits am Vormittag die selbstgebackenen Glückskekse vorbeigebracht.

„Alles gut. Nun können sie kommen und glotzen.“ Zufrieden lehnten sich Verena und Georg Gruber zurück in die Couch im Wohnzimmer. Der übermäßige Anspruch erwartungsvoller Augen wird mit großer Sicherheit gestillt werden. Frisch poliert funkelten verschieden geformte Trinkgläser um die ausladende Schale mit den Glückskeksen. „Will nur noch kurz in den Spiegel schauen“, sagte Verena Gruber, „danach kann der Samstagabend endlich starten.“ Georg Gruber schaute ungeduldig auf die Uhr.

Was niemand der Teilnehmer des Spieleabends ahnte, es waren die letzten Stunden ihres Lebens, in denen sie als Gruppe gemeinsam spielen konnten. Wie eine explodierende Sprenggranate zerstieb nur wenige Stunden später der Mord und ein kurioses, tödliches Unglück die langjährigen Ehen und Freundschaften.

„Ich rechne nicht damit, dass Evelyn ihren Göttergatten zu unserem 'Spieleabend mit Sushi an Asiadips' mitbringt. Die haben sich auseinandergelebt und der großartige Herr gibt sich in unserem Kreis immer borniert. Er bemüht sich nicht mal. Wenn er wider Erwarten mitkommt, darf er keinesfalls zu politischen Themen angesprochen werden“, Verena Gruber hob zu diesen Sätzen den Zeigefinger, lächelte aber ironisch zu ihrem Mann hinüber.

„Oh Mann, der soll sich nicht so wichtigtuerisch anstellen. Wir haben doch zugesagt, keine Parteipolitik aufs Trapez zu bringen. Wir werden nicht über Regionalpolitik und auch nicht über Berlin diskutieren“, antwortete Georg Gruber, „auch nicht über den Ausgang der letzten Wahlen.“

„Jedenfalls Georg, eines freut mich. Unabhängig aller familiären Streitigkeiten hält Evelyn Stanicki an der Tradition fest, Glückskekse zu backen. Und diesmal sollen nicht, wie üblich, Glücksnummern oder Glücksmotive, sondern selbst erdachte Sinnsprüche auf den eingebackenen Papierstreifen stehen“, ergänzte Verena Gruber.

Diesmal waren die Grubers an der Reihe, den in regelmäßigen Abständen stattfindenden Spieleabend, mit immer denselben Freunden auszurichten. Tradition, die in die Jahre gekommen und dennoch liebgewonnen war.

Lustig erdachte Themen „Harakiri und Mikado“, darunter „Spieleabend mit Sushi an Asiadips“, sowie, „Herzlich willkommen“ hatte Georg Gruber mit dickem Filzstift auf eine Holzplatte gemalt. „Will zur Abwechslung etwas Anderes bieten“, sagte er mit stolzgeschwellter Brust und hing die Tafel außen an die Haustür.

Kleine Schlemmereien sollten den Abend wohltuend begleiten. Selbstverständlich leckere Alkoholika, verschiedene Spiele und das intensive Aufarbeiten aktueller Klatschthemen.

Zehn Minuten später stand Evelyn Stanicki, völlig unerwartet, mit ihrem Mann Waldemar vor der Haustür. Wie immer und überall trug er das gleiche Outfit. Einheitslook, der ihn auch an seiner Dienstelle, der IHK in Neuwied kennzeichnete: Anthrazitfarbene Hose, dunkelblauer Blazer, dezent hellblaues, nichtssagendes Hemd und eine blaugrüne, schräg gestreifte Krawatte.

„Hallo Waldi, wie schön, dass du wiedermal zu unserem Spieleabend mitkommst,“ schmeichelte die Gastgeberin nicht ganz ehrlich und fast etwas zu laut, „das ist ja eine tolle Überraschung.“

Dann fügte sie noch an: „Du hast sicher beste Laune mitgebracht!?“

„Und ob. Ich bleibe aber nur, wenn nicht politisiert wird. Ich habe genug im Kreistag und mit meinem aufregenden Engagement beim Basketball zu verdauen. Politisch stehen momentan neue Projekte an. Zwischen Nordrhein-Westfalen, weiter unten und Rheinland-Pfalz, hier oben an der Sieg. Wichtig sag ich euch, wichtig! Da brauche ich in meiner Freizeit keinesfalls sogenannte 'hilfreiche Tipps'. Doch zunächst, besten Danke für die Einladung. Ich freue mich auf deine Sushis an Asiadips.“

Waldemar Stanicki legte nach diesem Statement sein Gesicht zwischen bräsig und oberwichtig in tiefe Falten, so als dürften das Leben, seine Frau und die Freunde von ihm kein freundliches Lächeln erwarten.

Seine Frau Evelyn, aus ihren blond gefärbten Haaren blitzte eine neckische, blaue Locke, strahlte neben ihrem Mann wie ein Glückskäfer. „Hättet ihr nicht erwartet, dass Waldi die Zeit findet. Jawohl, er spielt heute mit!“

Die Gastgeberin, Verena Gruber, lächelte gekonnt und dachte, die schlitzohrige Stanicki spielt ihre Rolle wieder perfekt.

Im Flur musterte Evelyn Stanicki die Gastgeberin von oben bis unten: „Wie immer elegant in dunkelblauer Bluse und Perlen über Perlen, an Kette Brosche und Fingerring. Ist die Halskette neu oder die Bluse?“

„Beide, meine Liebe, beide sind neu. Hab die Muschelkernperlen erst gestern beim Juwelier erstanden.“

Während sie sich gegenseitig bewunderten traf auch das Ehepaar Fischer ein.

„Wunderbar, dass ihr alle pünktlich seid. Tretet ein. Ihr beiden Paare hättet euch fast vor dem Haus über die Füße stolpern können.“ Verena Gruber freute sich offensichtlich auf die Besucher und einen langen Abend.

Seit Jahren waren Vornamen in der Spielerunde üblich. Die einzige Ausnahme bildete Sabine Fischer. Sie wurde, weshalb wusste nach vielen Jahren niemand mehr, nur als „die Fischerin“ betitelt. Oder, in Abwesenheit, zu vorgerückter Stunde, die „steile Fischerin“.

In der Garderobe flüsterte die Hausherrin der Evelyn Stanicki noch ins Ohr: „Die Fischerin ist wieder mächtig aufgedonnert. Glitzert wie ein Ganzjahres-Weihnachtsbaum. Vielleicht bekommt dein Waldi durch ihren Glimmer bessere Laune.“

Beide Damen lächelten zufrieden mit sich und Verena Gruber erläuterte in die Runde: „Wir eröffnen den Abend mit einem Gläschen Prosecco. Zum japanischen Pflaumenwein gibt es dann die berühmten Glückskekse von Evelyn. Ich gehe davon aus, dass dies Texte darin jedem Einzelnen von uns lebenslanges Glück bringen werden. Bereits ab dem heutigen Abend.“

Verena Gruber trug den Blumenstrauß der Stanickis in die Küche und stellte ihn in eine Vase. Dann füllte sie im Wohnzimmer gekonnt die Gläser. „Na, wie schmeckt er Euch unser Prosecco?“

„Lecker, echt trocken und feinperlig“, lobten als zustimmendes Feedback die Gäste. „Dieser aufmunternde Begrüßungsschluck lässt uns den Alltag vergessen und begleitet uns beschwingt in den Abend.“

Nachdem alle sechs Prosecco Gläser eilig geleert und zur Seite gestellt waren, reichte die Hausherrin die nächste Runde. In zierlichen Likörgläsern kredenzte sie dunkelroten Pflaumenlikör.

Parallel dazu stellte sie, stilgerecht in einer chinesischen Porzellanschale, die Glückskekse in die Tischmitte.

„Auf das Wohl unserer Gastgeber. Nette Idee mit japanischem Pflaumenlikör zu Glückskeksen. Danke dafür. Ich wünsche, dass die guten Sprüche auf jeden von uns zutreffen“, Evelyn Stanicki brachte einen kleinen Toast auf Verena Gruber aus. Dann griffen alle mit schnellen Fingern nach den Glückskeksen. „Mal sehen“, schob Evelyn Stanicki nach, „ob es sich für meinen Waldemar lohnt, endlich mal wieder dabei zu sein und ein glücksbringender Spruch auf seine stressige Arbeit abfärbt.“

Die vor lauter Vorfreude nur leicht angenippten Likörgläser wurden hastig auf einem Tablett abgestellt und die ersten Glückskekse geknackt.

„Die Hausherrin muss, nein, es steht ihr unbedingt zu, als allererste ihren Text aus dem Glückskeks in unserer Runde vorzulesen.“

„Na dann“, Verena Gruber knackte den Keks und schmunzelte zufrieden. „Mein Sinnspruch trifft hundertprozentig zu: ‚Freue dich darauf, andern eine Freude zu bereiten‘. Das hast du treffend getextet Evelyn, danke.“

Ihr Mann Georg war nun als Hausherr an der Reihe vorzulesen: „Gestalte deine Partnerschaft und sie wird zu purem Gold.“

Georg Gruber schaute in die Runde und kommentierte seinen Text: „Ich halte mich an einen weithin bekannten Silvestersketch, in dem gesagt wird. Well, I'll do my very best.“

Alle Blicke richteten sich nun auf das Ehepaar Fischer. Sabine Fischer klapperte mit ihren glitzernden Armreifen und langen, künstlichen Wimpern. Sie begann mit einem motivierenden Spruch: „Sich selbst besiegen heißt gewinnen.“

„Ja, Ja, Ja!“ Sabine Fischer lachte schrill und reckte beide Arme nach oben.

Ihr Mann, Thomas Fischer, war der nächste in der Runde. Zu seinen breiten Gewichtheberschultern und Händen, mit denen man fünf aufeinander gestapelte Ziegelsteine hätte spalten können, passte der Keks mit romantischen Inhalt nicht im Geringsten: „Gebe bereitwillig Liebe und du bekommst tausendfache Liebe zurück.“

Dennoch klatschten alle laut Beifall. Dann war Ehepaar Stanicki an der Reihe. Evelyn griff als erste zu: „Dein drängendstes Problem heute, bietet dir schon morgen allergrößte Chance.“

„Auch prima,“ kommentierte sie zurückhaltend ihren selbst verfassten Spruch. „Vielleicht hilft diese Weissagung uns beiden. Und nun du Waldemar“, sie schaute erwartungsvoll auf Ihren Ehemann.

Umständlich nahm der ehrenamtliche Kommunalpolitiker einen Keks aus der Schale, zerbrach ihn linkisch zwischen zwei Fingern und las: „Wer heute keine echten Freundschaften pflegt, wird morgen sehr einsam sein.“

Zunächst lachten alle, merkten dann bereits in der ersten Sekunde, dass diese Zukunftsdeutung genau den Mann traf, der ausschließlich berufliche oder höchstens politische Seilschaften pflegte. Betroffenes Schweigen machte sich in der zuvor lustig aufgedrehten Gesellschaft breit.

Sabine Fischer nutzte die sprachlose Pause: „Tschuldigung, muss mal soeben ein Nikotinchen zu mir nehmen.“ Mit sicherem Griff angelte sie eine Packung Zigaretten und ein goldfarbenes Damenfeuerzeug aus der neonfarbenen Handtasche.

„Habe ich nicht anders erwartet“, sagte die Hausherrin lächelnd. „Auf der Terrasse steht dir bereits ein Aschenbecher zu Verfügung.“

„Dann könntest du in der Zwischenzeit etwas Luft aus unseren Gläsern rauslassen“, regte Evelyn Stanicki gut gelaunt an. Am langen Arm hielt sie ihr leeres Proseccoglas über den Tisch.

Verena Gruber, die Gastgeberin, fasste sich nach einer unerwartet langen Unterbrechung als erste. „Sabine verschlingt wohl zwei Rauchstengel. Lasst uns noch einen leckeren Schluck japanischen Pflaumenwein nehmen. Oder möchte noch jemand ein Gläschen Prosecco?“

Niemand antwortete. Sie warteten alle auf die nächste Runde verheißungsvoller Glückskekse.

Vor sich hin hüstelnd trat alsbald die Fischerin wieder in den Raum.

„Nun ihr Lieben. Der nächste Umlauf mit treffenden oder nichtzutreffenden Sinnsprüchen ist eröffnet. Bei diesem wird es dann Waldemar hoffentlich nicht mehr so hart erwischen.“ Die Hausherrin verteilte ungefragt den Rest Pflaumenwein auf die sechs Gläser.

Verena Gruber griff wieder als Erste in die Schale. „Steht mir, wie ihr alle vorher angeregt habt, als Ausrichterin des Abends zu“, lächelte sie. Schnell überflog sie den Papierstreifen aus dem Glückskeks, um ihn dann zufrieden lächelnd, laut vorzulesen: „Auf dass alle deine Träume in Erfüllung gehen werden.“ Begeistert schob gleich nach: „Ja, ja, ja!“

„Dieser Glücksspruch passt am heutigen Tag wunderbar auf die Gastgeberin“, sagten alle unisono und klatschen laut Beifall. Verena Gruber nickte wieder dankend Evelyn Stanicki zu.

Georg Gruber las danach vor: „Glücklich wird, wer den Kopf nicht in den Sand steckt.“

„Stimmt, ist haargenau auf dich zugeschnitten“, sagte Sabine Fischer und las nun: „Glaube an dich und du musst die Zukunft nicht fürchten.“

Ihr Mann Thomas legte nach: „Mit Lächeln vertreibst du jeden Feind.“ Auch dieser Spruch passte nur bedingt zu seinen riesigen Fäusten.

Evelyn Stanicki war nun wieder an der Reihe: „Lache viel und du bleibst gesund“, gab ihr der kleine, selbst verfasste Zettel aus dem Glückskeks mit, in diesen mit einem schlimmen Ende aufwartenden Abend.

Ihr Mann Waldemar, dessen eigenhändig gezogener Text ihn beim ersten Durchgang sehr negativ berührt hatte, nahm den nächsten Glückskeks mit spitzen Fingern aus der Schale. Während er vorlas, erschrak er: „Wer viel lacht, bleibt viele Jahre jung. Wer wenig lacht, wird schneller dem Ende entgegensehen.“

Mächtig angesäuert, leerte der stets ernst in die Welt schauende Mann, in einem Zug, sein Likörglas.

„Ups“, überspielte die Hausherrin die aufkommende Nachdenklichkeit, „sollte ja nur ein lustiger Auftakt zu unseren Spielen sein. Nichts mit tiefer Bedeutung. Eben nur ein netter Spaß. Lasst uns nun auf einen Appetithappen in die Küche gehen. Ich habe eine breite Palette typisch asiatische Dips vorbereitet:

Alles spicy, mit verschiedenen Chilipasten, süße Ananas, Sojasoße und scharfem Wasabi. Dazu Garnelen und Streifen von der Hühnerbrust und Karotten, Fenchel und Selleriestangen. Und selbstverständlich eine Lage klassischer Sushis. Für dazwischen kredenzen wir ein passendes Getränk: Reiswein.

Kommt bitte an die Küchentheke, die Spiele im Wohnzimmer warten noch ein paar Minuten.“

Kaum saßen alle dicht gedrängt um die Theke, da läutete das Smartphone von Waldemar Stanicki. „Nun aber! Ausschalten oder in die Garderobe wegsperren“, grummelte die Hausherrin.

Doch Waldemar Stanicki stand hektisch auf, trat zwei Schritte zurück und lauschte mit wichtigem Mienenspiel. Er drehte sich um, stellt sich in die Ecke neben die Spülmaschine, mit dem Rücken zu den anderen Spieleteilnehmern. Eine volle Minute drückte er das Smartphone ans Ohr. Kein Wort, keine Silbe kam über seine Lippen. Zum Schluss nur: „Ja. Ja. Ich sehe ebenso die Dringlichkeit. Ich eile. Wie besprochen, bis gleich!“

Plötzlich, ohne weitere Erklärung, verabschiedete er sich ungelenk.

„Tut mir leid. Ich muss schnellstens weg. Wünsch euch einen Abend mit höchstmöglichem Glück bei diesen komischen Keksen. Tschüss.“

Oberflächlich, mit zwei Fingern, streichelte er im Vorbeigehen seiner Frau über die Schulter und stapfte mit großen Schritten aus dem Raum.

Neben der Garderobe drehte er sich ruckartig um und rief den verdutzt hinterher schauenden Zurückgebliebenen zu:

„Wer mir, das garantiere ich euch, dieses 'schnelle Ende' in meinem verfluchten Glückskeks untergeschoben hat, er oder sie werden es noch bitter bereuen! Hoffentlich bleiben die Sushis mit scharfem Dip nicht jemand im Hals stecken. Und noch einen Satz, sagt bitte zukünftig Waldemar zu mir, ich bin doch nicht euer Dackel mit dem Namen Waldi!“

Laut knallte die Haustür hinter ihm zu.

Alle schwiegen betreten. Nur seine Ehefrau Evelyn wirkte befreit. Sie hielt ihr Glas in Richtung Hausherrin: „Tu mir bitte auf diesen Schreck noch einen ordentlichen Schluck Prosecco rein.“

Verena Gruber, die Gastgeberin, schüttelte verständnislos den Kopf.

Noch ahnten die Mitspieler nicht, dass die unglücksverheißenden Worte im Glückskeks, „wird schneller dem Ende entgegensehen“, von der bitteren Realität weit übertroffen werden. Und dies unmittelbar innerhalb der nächsten Zehn Stunden.

Doch auf eine solch mysteriöse Weise die Welt verlassen zu müssen, das wünschte Waldemar Stanicki, außer sogenannten „politischen Freunden“, niemand.

2.Kapitel

Armin Schönfelder schaute auf seine Armbanduhr. Zehn Uhr Fünfzehn. Er nickte unmerklich. Die Zeit begleitete ihn, seit er vor vielen Jahren seinen Dienst als Polizist antrat, als wichtigsten Faktor. Eine, nein, die große Hilfe, seinen Tag zu strukturieren. Auch an dienstfreien Wochenenden.

Durch die Fenster auf dem mit schmucken Häusern bebauten Südhang, in Wallmenroth über der Sieg, strahlte bereits die Vormittagssonne. Sie wärmte kräftig, als wolle sie bereits um diese frühe Zeit, eine wohltuende Sonntagsstimmung zaubern.

Armin Schönfelder, Kriminalhauptkommissar der Inspektion Betzdorf und als Leiter der Mordkommission zuständig für die Städte am mittleren Lauf der Sieg, stand gutgelaunt vom Frühstückstisch auf. Er blinzelte zum offenen Fenster hinaus: Herrliches Wetter und Wochenendbesuch vom Enkel, was brauche ich mehr zur Entspannung?

„Heute Luca, nutzen wir das sonnige Wochenende. Ich zeige dir den einzigartigen Wasserfall der Sieg. Er sprudelt unerwartet breit, über grobe Felskanten“, schwärmte Armin Schönfelder, „er liegt in Windecker Ländchen, in Schladern. Das ist weit außerhalb meines Arbeitsbezirks und so kann auch ich dieses Wochenende schwerelos genießen.“

Der Großvater schaute in die Augen seines Enkels: „Würde dir ein Ausflug dorthin gefallen? Heute, jetzt gleich?“

Luca überlegte, die Einladung in ein Fußballstadion der Profiliga wäre mir lieber. Dann jedoch nickte er freudig, „ja, Opa, ja, ist gut.“

Nach einer kleinen Pause legte Armin Schönfelder nach: „Anschließend schauen wir im Besucherzentrum Videos über die Naturregion Sieg, schlemmen einen leckeren Eisbecher, räkeln uns in eine Hängematte in der Lounge daneben und sehen nach, welche Veranstaltungen demnächst in der alten Backsteinhalle von Kabelmetall stattfinden. Wäre auch dies nach deinem Geschmack?“

„Toll Opa, wird super, echt geil“, war die prompte Antwort. Enkel Luca und Opa Armin strahlten sich glücklich an.

Kaum war das euphorische Lob von Enkel Luca verklungen, da meldete sich unüberhörbar das Handy von Armin Schönfelder.

„Sorry“, beinahe wäre dem allzeit besonnenen Kriminalhauptkommissar das unschöne Schimpfwort mit „Sch...“ über die Lippen gerutscht, „ich muss da mal ran. Leider! Ist dienstlich.“

Lustlos, mit schleppenden Schritten ging Armin Schönfelder in die Diele. Sein Gehirn verknüpfte in einem Bruchteil von Sekunden ein Bild von Pflichtbewusstsein und Ärger darüber, dass der geplante romantische Tag wohl ausfällt und mit traurigen Augen seines Enkels Luca enden wird. Aber denken oder fühlen hilft nicht, wenn sich das mal geliebte, mal verfluchte Diensthandy meldet. Auch nicht am freien Sonntag.

Auf dem Garderobentisch vibrierte und piepte es weiter, unaufhörlich und unangenehm laut. Nichts deutete auf einen Fehlalarm hin. Der Klingelton schrillte ohne Unterbrechung weiter, immer weiter.

Armin Schönfelder, plötzlich nicht mehr lieber Opa, sondern akkurater Kriminalhauptkommissar, nahm ab und nickte mehrfach wortlos mit dem Kopf. Mimik und Gesichtsfarbe zeigten von Sekunde zu Sekunde, dass ihm dieser Einsatz äußerst ungelegen kam.

Gerade heute, an einem der wenigen Wochenende im Jahr, an denen er gemeinsam mit seiner Frau und Enkel Luca einen unterhaltsamen Tag hätte unternehmen können, war die Leiche einer Frau gefunden worden. In seinem Zuständigkeitsbereich, im eher betulichen Städtchen Wissen, ein paar Kilometer weiter unten an der Sieg.

Der Sessel quietschte laut als sich Armin Schönfelder in ihn fallen ließ. Bedächtig putzte er seine Brillengläser. „Tut mir leid! Weißt du, Luca, es gibt Situationen, da muss man schleunigst handeln. Alle wichtigen Indizien und Spuren verwischen sich sonst rasend schnell.“

„Was für Inzien oder Spuren, Opa?“ Es gab Worte, mit denen Luca noch nichts anzufangen wusste.

„Das sollten wir besprechen, wenn ich heute Abend zurückkomme. Wir bitten Oma ob sie in der Zwischenzeit mit dir etwas unternimmt“, sagte Armin Schönfelder, stand auf und schaute nach seiner Frau Sybille, die direkt vom Frühstückstisch in den Garten gegangen war.

„Bille, Entschuldigung, ich muss zu einem Eileinsatz, bitte kümmere dich um Luca. Tut mir wirklich sehr leid“, sagte er über die Terrasse hinunter.

Seine Frau reagierte ungehalten: „Wieder eine erfreuliche Wochenendplanung für die Katz! Dass deine Mordkommission meist am Samstag oder Sonntag zum Einsatz gerufen wird, ist verdammt frustrierend. Vielleicht solltest du zu einer Sondereinheit „Steuerhinterziehung oder Wirtschaftskriminalität“ wechseln, die ärgern Staat und Klienten zumeist nur an Werktagen.“

Sybille Schönfelder trat aus dem Garten ins Haus und überlegte laut: „Darfst du mir wenigstens verraten, wohin du zum Einsatz fahren musst?“

„Auf den Alserberg, hoch über der Sieg, in Wissen. In eine Straße, in der große Gärten und einige prachtvolle Einfamilienhäuser auf gut gefüllte Brieftaschen hinweisen. Dort oben, wo aus der Ferne vom hohem, windsicheren Westerwald herüber, fleißig drehende Rotorblätter der Windräder grüßen.“

Dann flüsterte er, sodass es Luca nicht hören konnte, seiner Frau ins Ohr: „Unangenehme Geschichte heute, Suizid einer Frau mittleren Alters.“

„Und was sollst du als Kriminalpolizist bei einem Selbstmord aufklären?“

„Ein hinzugerufener Notarzt wollte das Leben der Frau retten. Vor Ort aber stellten sich ihm durch vielerlei Sachverhalte mehrere Fragen: Suizid, Unfall oder Mord. Er und zwei Kollegen der Polizeiwache Wissen erwarten mich bereits.“

„Wird es wieder lange dauern bis du zurückkommst?“

Armin Schönfelder zuckte mit den Schultern. Mit großen Schritten ging er zur Garderobe und sagte: „Ich hoffe sehr, dass ich heute Nachmittag zu Tee und Kuchen wieder hier sein kann. Sollten sich jedoch die unterschiedlichen Andeutungen des Notarztes bewahrheiten, könnte es länger dauern. Die Hauptarbeit, die Recherchen, beginnen aber erst morgen.“ Er streifte seine Freizeitjacke ab und hing sie in den Garderobenschrank. Dann zog sich er seine karierte Jacke über, die er stets dienstlich trug und deren Schnitt er schon immer mochte: Klassischer, englischer Sakko mit zwei Rückenschlitzen.

Unter der Haustür drehte er sich kurz um und rief bereits gedanklich abwesend: „Also, ich wünsche euch beiden viel Vergnügen. Auch ohne mich. Wir sehen uns hoffentlich zum Nachmittagstee. Tschüss, bis bald.“

„Mögen Touristen diese kurvige Bundesstraße gerne langfahren“, brummelte Armin Schönfelder kurze Zeit später im Dienstfahrzeug vor sich hin, „mir wäre eine gerade, dadurch schnelle Verbindung zum Einsatzort lieber. Ich müsste nicht jeden engen Straßenbogen im Tal der naturbelassenen Sieg ausfahren.“

Gespannt und etwas mürrisch schaute er in einer Rechtskurve zu einem Ausläufer des Westerwaldes hoch, dem markanten Steckensteiner Kopf. Noch leiser als vorher murmelte er: „Der Volksmund nennt diese steil abfallende Felswand den Selbstmörderfelsen. Und ich bin verpflichtet, heute einen Suizid im Städtchen Wissen aufzuklären. Alles keine guten Vorzeichen für diesen Sonntag.“

Auch mit seiner Einschätzung eines zeitlich kurzen Besuches am Tatort lag er vollkommen daneben.

3.Kapitel

Die Rollläden, am Einfamilienhaus in Wissen an der Sieg, waren rings ums Haus herunter gelassen. Komplette Abdunkelung an einem Sonntagmittag? Äußerst seltsam. Und in diesem Fall das äußere, nicht unerwartete Zeichen, dass jedes Leben endlich sein wird. Sonst entdecke ich nichts Auffälliges, dachte Armin Schönfelder noch hinterm Lenkrad sitzend.

Routiniert streiften seine Augen über das Anwesen. Das Haus höchstens zwanzig Jahre alt. Zeitgemäßer Baustil. In üblichem Weiß gestrichen die Außenwände, dunkelblau lasierte Dachziegel. Blumenloses Balkongeländer, aus Metall, blau wie die Dachziegel gestrichen. Aufgeräumt wirkt alles zusammen, gut bürgerlich. Auch die Eibenhecke scheint frisch zurechtgestutzt. Haus und Garten bis in die letzte Ecke geschniegelt.

Neben der schweren Gartentür ein großformatiger Briefkasten aus matt geschliffenem Edelstahl, dahinter Stufen aus grau gemasertem Naturstein. Der ansteigende Gartenweg mit einzelnen, unbehauenen Steinplatten belegt, dazwischen feiner Basaltschotter. Und oben, vor der Haustür, nochmal Stufen.

Keine Alarmanlage und zumindest, nach vorne hin, keine Videokamera sichtbar, stellte sein geübtes Auge fest.

Am Straßenrand, vor dem Grundstück, stand ein silbernes, blau beschriftetes Polizeifahrzeug. Überaus auffällig auch das Auto des Notarztes. Unübersehbar, weil offensichtlich der Mediziner höchst konzentriert zu der vermeintlichen Patientin eilte und vergaß, die aufgeregt blinkenden Blaulichter auszuschalten.

Armin Schönfelder stellte seinen silbergrauen Dienstpassat direkt vor der Gartentür ab. Ohne Zeit zu verlieren, rannte er mit großen Schritten, den kurzen aber steilen Weg zum Haus hinauf. Die Haustür stand weit offen.

Im Wohnzimmer warteten auf den Leiter der Mordkommission bereits der Notarzt, zwei Revierpolizisten und die Nachbarin, Frau Kortenbach. Alle Vier standen im Halbkreis um die Leiche einer Frau, die bereits abgehängt war. Um den Hals, anliegend doch leicht gelöst, hing immer noch ein schwarzes Kabel. Der Knoten war vorsichtig geöffnet worden.

Direkt neben ihr lag wie ein untrügliches Zeichen ein umgefallener Stuhl.

In einer Ecke des Wohnzimmers, am denkbar unüblichsten Ort, entdeckte Armin Schönfelder, einen Stecker und eine Dreifachsteckdose. Ebenfalls in Schwarz, wie das Kabel. Offensichtlich waren sie vom Kabel abgetrennt und zur Seite geschubst worden.

Armin Schönfelder kniete nieder und betrachtete eingehend die Leiche. Sie war angezogen als würde sie ausgehen wollen oder Besuch bekommen, empfand er. Durch dick aufgelegte Schminke, Puder, Kajal, Lippenstift und Rouge, leuchtete die weiße Haut der Toten drastisch hindurch. Allerdings überwogen einige Kratzer im Gesicht und am Hals. Die blond gefärbten Haare hingen wild zerzaust herunter. Eine blaue Strähne klebte wie überflüssig auf der Stirn.

Mir fällt auf, dachte der Hauptkommissar, dass die gesamte Kleidung nur leicht verschoben, nicht verzerrt oder verdreht, an der Leiche anliegt. Typisch für einen Selbstmord. Weshalb aber zerzaust eine gut gekleidete Frau ihre sicherlich fein gekämmte Frisur vor einem Suizid?

Welche Bilder, fragte er sich, ziehen an einer Selbstmörderin in den letzten Bruchteilen von Sekunden des Lebens vorbei? Ein strahlendes, erlösendes Hell am Ende des Tunnels? Das befürchtete, unendliche schwarzes Loch? Kommen Bilder eines unruhigen Lebens im Großformat auf sie zugerast? Wie weit zurück reicht das Erinnerungsvermögen? Wird sie die Schimpfe ihres Grundschullehrers einholen? Vielleicht muss sie eine ihrer bösartigsten Streitereien mit ihren Mitmenschen nachvollziehen? Erlebt sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens in einer Endlosschleife, in Zeitlupe? Sieht sie von ganz nah dem Menschen in die Augen, der sie in den Suizid trieb? Genau wird man das wohl nie erfahren.

Armin Schönfelder stand auf und reckte den Rücken durch. Dann kniete er wieder zu der Toten, schaute nach Schmuck: „Sie trägt einen mittelbreiten Ehering aus Gelbgold“, er flüsterte unbewusst, „am linken Arm protzt eine große Uhr, ein auffälliger Chronometer mit metallenem Gliederband, am rechten mehrere schmale, goldene Armreifen.“

Bis hierher eindeutig Suizid, jedenfalls kein Raubmord, folgerte der Kriminalhauptkommissar.

Armin Schönfelder ging auf die zwei uniformierten Kollegen zu und bat sie um Ihre Einschätzung: „Konnten sie bereits Fakten sammeln?“

Der junge Polizist sprudelte gleich los: „Auf der Polizeischule wurde uns gelehrt, dass ein Suizid immer eine Form von Schuldeingeständnis ist…“

„Bitte der Reihe nach. Keine pauschalisierenden Lehr-sätze. Zuerst die Fakten!“ unterbrach Armin Schönfelder.

Der ältere der beiden Uniformierten ging zwei Schritte nach vorne und stellte sich vor den jungen Kollegen. Er antwortete mit klaren Worten: „Herr Kriminalhauptkommissar, uns rief der Notarzt. Der hatte, über Gesicht und Hals der erhängten Frau verteilt, tiefe Kratzspuren festgestellt. Diese deuten nicht auf einen klassischen Suizid, sondern auf eine körperliche Auseinandersetzung oder einen heftigen Kampf hin. Es ist anzunehmen, direkt vor dem vermutlichen Suizid.

Eventuell, dies könnte ein denkbares Motiv sein, stritten sich die Eheleute. Zuerst verbal, danach körperlich, mit üblen, sichtbaren Folgen für die Frau. Anschließend verließ der Ehemann Frau und Haus. In großer Verzweiflung erhängte sie sich. Dann läge also ein normaler Suizid vor, wenn man bei solch einer Kurzschlusshandlung von normal sprechen kann.

Sie von der Kripo werden, wenn alle Spuren dokumentiert sind, sicherlich noch weitere Theorien aufstellen müssen.“ Bei diesem Satz lächelte der Polizist süffisant, um dann weiter zu sprechen:

„Die Identität der Toten haben wir bereits festgestellt. Es handelt sich um Evelyn Stanicki. Sie bewohnt hier gemeinsam mit ihrem Ehemann dieses Haus. Allein, ohne weitere Mitbewohner. Der, so hört man in der Stadt, ist verdienstvoller Vereinsvorsitzender eines Basketballklubs und Kreistagsabgeordneter. Sein Name: Waldemar Stanicki. Er verfügt seit Jahren in seiner Partei über einen einwandfreien Leumund. Diese räumte ihm bei Wahlen immer einen der vordersten Listenplätze ein. Hinter vorgehaltener Hand wird in der Stadt darüber gemunkelt, dass er dafür bekannt ist, sein Gesicht in jede Kamera zu halten.“

Armin Schönfelder unterbrach ungeduldig: „Bleiben wir bei den Fakten, fanden sie einen Abschiedsbrief oder sonstige Hinweise zum Ableben dieser Frau? Ist gesichert, dass die Tote freiwillig aus dem Leben schied?“

„Nein, überhaupt nichts fanden wir“, war leicht beleidigt die knappe Antwort, „dies und alle erfassten Daten können sie unserem ausführlichen Bericht entnehmen. Heute, zum Schichtende, werden wir ihn erstellen.“

„Noch eine Frage, Kollegen: Müssen wir die Eltern der Toten informieren oder leiblichen Kindern die Nachricht vom Suizid überbringen?“

„Nein, nach unserem Wissensstand leben die Eltern nicht mehr und die Eheleute Stanicki sind kinderlos. Nach Neffen oder Cousinen werden wir noch forschen. Sie hören dann.“ Beide Polizisten steckten ihre Notizbücher in die Brusttaschen, nahmen die Schirmmützen ab und stellten sich in eine Ecke des Wohnzimmers.

Armin Schönfelder bat den Notarzt in die Küche. Er wollte dessen neutrale Sicht hören und dies nicht unmittelbar neben der Toten. Dieser berichtete etwas kurzatmig: „Ich wurde aus dem Haus von der hier anwesenden Nachbarin angerufen. Magdalena Kortenbach ist ihr Name. Sie konnte sich am Telefon laut weinend kaum verständlich artikulieren. Mehr wird sie ihnen selbst berichten. Vier Minuten nach dem Anruf war ich bereits hier vor Ort. Hängte umgehend die Frau ab und versuchte sie zu wiederbeleben. Dabei entdeckte ich frische Wunden an Wangen und Hals. Einen Totenschein konnte und wollte ich noch nicht ausstellen. Mir fehlte die wirkliche Todesursache. Also, sie kennen die Rubrik: Todeszeit, Tod durch. Und so weiter und so weiter.

Ich gehe dringend davon aus, dass die Leiche intensiv im Obduktionsraum der Forensik untersucht werden muss.“

„Schon klar. Aber danke, dass sie absolut richtig reagiert haben“, antwortete Armin Schönfelder ebenso knapp. „Doch eine Frage brennt mir noch unter den Nägeln: War die Tote vor der Ermordung ausgezogen und ist erst nach der Tat wieder in ihre Kleider gesteckt worden?“

„Ich denke zu wissen, was sie vermuten“, antwortete der Notarzt umständlich, „doch ich konnte auf die Schnelle keine Sexualstraftat entdecken. Ich wollte auch keine Spuren verwischen. Mehr dazu, auch zu diesem Verdacht, nach der Obduktion.“

Nach diesem kurzen Gespräch gingen Armin Schönfelder und der Notarzt ins Wohnzimmer zurück.

„Und nun zu ihnen, ich sage mal, Frau Nachbarin,“ sagte Armin Schönfelder und putzte, um Ruhe auszustrahlen, gemächlich seine Brillengläser. „Ihre komplette Adresse, Frau Kortenbach, haben ja bereits die Kollegen von der Wache Wissen aufgenommen. Was veranlasste sie, heute das Haus hier zu betreten? Weshalb entdeckten sie und wie fanden sie die Tote?“

Die Nachbarin fragte: „Darf ich?“ und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in einen Sessel. Anschließend trocknete sie ihre Tränen und putzte laut die Nase. Sie atmete, laut hörbar, tief durch und erzählte dann:

„Ich hole, außer im Urlaub, jeden Sonntagmorgen, beim Bäcker Müller frisch gebackene Brötchen. Für mich und die Stanickis. Seit Jahren vertrauen mir die Stanickis ihren Haustürschlüssel an. Auch für Post und Blumenpflege, wenn sie verreist sind.

Ich öffne dann sonntags immer die Haustüre und stelle leise die Brötchen dahinter in den Flur.

Heute fiel mir bereits beim Blick hinüber auf, dass alle Rollläden heruntergelassen waren, während üblicherweise nur das Schlafzimmer abgedunkelt ist. Ich dachte, die sind doch nicht zusammen weggefahren? Haben sie vergessen mich zu informieren? Weshalb ist heute das ganze Haus abgedunkelt?

Ich ging hinüber, trat ins Wohnzimmer, schaltete das Licht an und sah Evelyn mit dem Kabel um den Hals an dem schweren Kronleuchter hängen. Dann rief ich mit meinem Handy die Notfallnummer an.“

„War der Ehemann nicht anwesend?“ Armin Schönfelder wunderte sich.

„Hab ihn heute noch nicht gesehen“, die Nachbarin schnäuzte wieder in ihr Taschentuch. „Der war öfter mal weg.“

Armin Schönfelder zog die Augenbrauen hoch: „Beruflich weg oder sonst irgendwie verreist?“

„Ich kann dazu nichts sagen“, die Nachbarin wurde verlegen, „eben öfter mal weg, auch über Nacht. Da müssen sie ihn selbst fragen.“

Armin Schönfelder pflegte, wie so oft, wenn er Zeit benötigte, seine Marotte und rieb in aller Ruhe die Gläser seiner Brille aus. „Frau Kortenbach, wenn sie befreundet mit der Familie Stanicki sind und sogar über deren Hausschlüssel verfügen, können sie mir doch erläutern, wie das Zusammenleben dieses Paares in letzter Zeit auf sie wirkte.“

Die Nachbarin hob abwehrend die Hände: „Ich bitte sie, befragen sie darüber nicht mich. Ich kann nicht mehr. Ich bin, Entschuldigung, ich war nur mit Evelyn befreundet. Der Herr Stanicki war für mich immer etwas unnahbar. Sprechen sie eben mit ihm selbst.“