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David Baldacci

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Beschreibung

Nur ein Killer kann einen Killer zur Strecke bringen

Als knallharter Killer ist Will Robie genau der Mann, den die US-Regierung ruft, wenn es um die Eliminierung der schlimmsten Staatsfeinde geht. Niemand kann es mit Robie aufnehmen - niemand außer Jessica Reel, eine Kollegin von Robie. Die hat nun offenbar die Seiten gewechselt, weshalb Robie sie zur Strecke bringen soll. Doch als er die Verfolgung aufnimmt, findet er heraus, dass hinter Jessicas Verrat etwas anderes steckt, als man ihm weismachen wollte. Zusammen decken die zwei Killer eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes auf ...

Der zweite Band von David Baldaccis spannender Thriller-Reihe um den Auftragskiller Will Robie.

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Seitenzahl: 545

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Inhalt

CoverÜber den AutorTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Kapitel 83Kapitel 84Kapitel 85Danksagungen

Über den Autor

DAVID BALDACCI, geboren 1960, war Strafverteidiger und Wirtschaftsanwalt, eher er 1996 mit Der Präsident (verfilmt als Absolute Power) seinen ersten Weltbestseller veröffentlichte. Seine Bücher wurden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt und erscheinen in mehr als achtzig Ländern. Damit zählt er zu den Top-Autoren des Thriller-Genres. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.

DAVID BALDACCI

VERFOLGT

Thriller

Will Robies zweiter Fall Übersetzung aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

 

 

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Hit«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by Columbus Rose, Ltd.

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Umschlagmotive: © Arcangel/Nik Keevil

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-0602-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für die Besetzung und die Produktionsmannschaft von

Wish you well.

Danke für ein unglaubliches Erlebnis.

KAPITEL 1

Der unmittelbar bevorstehende Todesfall verschaffte Doug Jacobs einen regelrechten Energieschub. Er zog das Headset gerade und stellte den Computerbildschirm heller. Jetzt war das Bild kristallklar, beinahe so, als wäre er vor Ort.

Er dankte Gott, dass er es nicht war.

»Vor Ort« war Tausende Meilen weit weg, aber beim Blick auf den Bildschirm hätte es niemand gemerkt. Jedenfalls hätte kein Geld der Welt Jacobs dazu gebracht, »vor Ort« zu sein. Davon abgesehen gab es viele Leute, die sich für diese Arbeit besser eigneten.

Jacobs warf einen flüchtigen Blick auf die vier Wände und das einzige Fenster seines Büros in Washington, D.C., wo derzeit die Sonne schien. Das Büro befand sich in einem ganz normalen, unscheinbaren Backsteingebäude in einem vielseitig genutzten Viertel, in dem es mehrere unter Denkmalschutz stehende Häuser in den verschiedensten Stadien des Verfalls oder der Renovierung gab. Doch einige Teile von Jacobs’ Gebäude waren alles andere als unscheinbar. Dazu gehörte ein massives Stahltor mit einem hohen Zaun, der das Grundstück lückenlos umschloss. Auf den Fluren patrouillierten bewaffnete Sicherheitsleute. Überwachungskameras kontrollierten die Umgebung. Von außen allerdings gab es keinerlei Hinweise, was sich drinnen abspielte.

Und es spielte sich eine Menge ab.

Jacobs griff nach der Tasse mit dem frischen Kaffee, in die er soeben drei Tütchen Zucker geschüttet hatte. Bildschirmbeobachtung erforderte eine gewaltige Konzentration und jede Menge Aufmerksamkeit. Zucker und Koffein halfen Jacobs, beides aufrechtzuerhalten. Das Kribbeln, mit dem in wenigen Minuten zu rechnen war, kam von ganz allein.

»Alpha Eins«, sagte er ins Headset, »bestätigen Sie Ihre Position.«

Du hörst dich an wie ein Fluglotse, ging es ihm durch den Kopf. Na ja, in gewisser Weise bist du einer. Nur dass unser Ziel bei jeder Reise der Tod ist.

Die Antwort kam beinahe sofort. »Alpha Eins Position siebenhundert Meter westlich vom Ziel. Sechste Etage auf der Ostseite des Mietshauses, viertes Fenster von links. Mit dem Zoom müssten Sie meine Gewehrmündung sehen können.«

Jacobs beugte sich ein Stück vor, griff nach der Maus und zoomte in Echtzeit das Bild der Satellitenübertragung aus der fernen Stadt heran, der Heimat vieler Feinde der Vereinigten Staaten. Am Rand der Fensterbank erschien ein kleines Stück eines langen Schalldämpfers, auf einen Gewehrlauf geschraubt. Das Gewehr war ein den Anforderungen dieses Einsatzes angepasstes Stück Waffentechnik, das auf große Entfernungen töten konnte – jedenfalls solange es von einer erfahrenen Hand bedient und einem ebenso erfahrenen Auge gelenkt wurde.

So wie jetzt.

»Bestätigt, Alpha Eins. Durchgeladen und zum Schuss bereit?«

»Bestätigt. Alle äußeren Faktoren ins Zielfernrohr eingegeben. Fadenkreuz auf terminalen Punkt gerichtet. Schalldämpfer bereit. Untergehende Sonne befindet sich hinter mir und blendet die anderen. Keine Reflexion der Optik. Es kann losgehen.«

»Verstanden, Alpha Eins.« Jacobs warf einen Blick auf die Uhr. »Ortszeit siebzehnhundert?«

»Auf die Sekunde. Info-Update?«

Jacobs holte die Informationen auf ein zusätzliches Fenster. »Alles läuft nach Terminplan. Ziel trifft in fünf Minuten ein. Er wird auf der Gehwegseite aussteigen. Dort soll er eine Minute lang Fragen beantworten, dann zehn Sekunden bis ins Gebäude.«

»Ist der Zehn-Sekunden-Weg bestätigt?«

»Ist bestätigt«, erwiderte Jacobs. »Aber das Interview könnte länger dauern.«

»Verstanden.«

Wieder konzentrierte sich Jacobs auf den Bildschirm, bis er ein paar Minuten später das Gesuchte entdeckte. »Okay, Wagenkolonne nähert sich.«

»Ich sehe sie. Sichtlinie gerade und schmal. Keine Hindernisse im Weg.«

»Die Menschenmenge?«

»Ich habe die Bewegungsmuster der Leute in der letzten Stunde beobachtet. Die Sicherheitskräfte halten sie zurück. Sie stehen zu beiden Seiten vom Weg, den er nehmen wird. Wie ein beleuchtetes Rollfeld.«

»Ja. Ich sehe es jetzt.«

Jacobs liebte es, bei solchen Unternehmungen in der ersten Reihe zu sitzen, ohne sich in der Gefahrenzone zu befinden. Sein Einkommen war bedeutend höher als das der Person am anderen Ende der Leitung, was eigentlich nicht nachzuvollziehen war, schließlich hielt der Schütze da draußen den Kopf hin, nicht Jacobs. Traf der Schuss nicht ins Ziel oder wurden die Fluchtwege schnell gesperrt, war der Schütze tot. Er hatte weder Dokumente noch Ausweise dabei. Man würde ihn verleugnen, würde alles abstreiten. Keine Identifikation würde das Gegenteil beweisen. Man würde ihn hängen lassen. Und in dem Land, in dem dieses Attentat gerade stattfand, bedeutete das den Tod durch den Strick. Oder das Schwert.

Und die ganze Zeit saß Jacobs hier in Sicherheit und bekam trotzdem mehr Geld.

Aber es gibt viele Leute, die sich darauf verstehen, hervorragend zu schießen und sich gleich darauf aus dem Staub zu machen, dachte er. Doch das geopolitische Gezerre bei diesen Einsätzen beseitigen, das kann nur einer wie ich. Auf die Vorbereitung kommt es an. Deshalb bin ich jeden Dollar wert.

Wieder sprach er in sein Headset. »Kontakt ist genau im Zeitplan. Der Wagen hält gleich.«

»Verstanden.«

»Geben Sie mir einen Puffer von sechzig Sekunden, bevor Sie schießen. Wir halten Funkstille.«

»Verstanden.«

Jacobs packte die Computermaus fester, als wäre sie der Gewehrabzug, den er jetzt nur noch betätigen musste. Bei Drohnenangriffen hatte er tatsächlich mit einer Maus »geschossen«, indem er geklickt und beobachtet hatte, wie das Ziel im gleichen Augenblick in einem Feuerball verschwand. Die Hersteller der Computerhardware hätten sich vermutlich niemals träumen lassen, dass ihre Geräte auf diese Weise benutzt wurden.

Jacobs’ Atem ging schneller. Er wusste, dass beim Schützen das Gegenteil der Fall war: Seine Atemfrequenz näherte sich dem Nullpunkt, was bei einem Schuss aus solcher Distanz zwingend erforderlich war. Spielraum für Abweichungen gab es nicht. Der Schuss musste treffen und das Ziel töten. So einfach war das.

Der Wagen hielt. Das Sicherheitsteam öffnete die Tür. Stämmige, schwitzende Männer mit Waffen und Ohrhörern hielten in sämtlichen Richtungen nach Gefahren Ausschau. Sie waren ganz gut. Aber ganz gut reichte nicht, wenn man es mit einem überragenden Gegenspieler zu tun hatte. Deshalb schickte Jacobs nur erstklassige Agenten aus.

Der Mann betrat den Bürgersteig und kniff im Licht der ersterbende Sonne die Augen zusammen. Er war ein Größenwahnsinniger namens Ferat Ahmadi, der eine gewalttätige, krisengeschüttelte Nation weiter auf dem Weg in den Abgrund führen wollte.

Das durfte man nicht zulassen. Also war es Zeit, dieses kleine Problem zu beseitigen. In diesem Land standen andere bereit, die Führung zu übernehmen. Sie waren nicht ganz so bösartig wie Ahmadi, sodass zivilisierte Nationen Einfluss auf sie nehmen konnten. In einer zunehmend komplizierten Welt, in der Freunde und Feinde in fast wöchentlichem Abstand ausgetauscht wurden, war das beinahe schon das Äußerste, was man erreichen konnte.

Aber das war nicht Jacobs’ Problem. Er saß nur hier, um einen Auftrag endgültig zu Ende zu bringen, mit Betonung auf »endgültig«.

»Sechzig Sekunden«, kam es aus dem Headset.

»Verstanden, Alpha Eins«, erwiderte Jacobs. Eine dumme Bemerkung wie »Viel Glück« sparte er sich. Glück hatte hier nichts zu suchen.

Er betätigte einen Countdown-Zähler auf dem Bildschirm.

Sein Blick huschte zwischen dem Ziel und dem Zähler hin und her.

Er beobachtete Ahmadi, der zu Reportern sprach, nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und verfolgte weiter, wie Ahmadi die zuvor vereinbarten Fragen beantwortete und zum Ende kam. Dann trat er einen Schritt von den Reportern weg. Das Sicherheitsteam drängte sie zurück.

Der zuvor gewählte Weg war frei. Ahmadi würde ihn nun ganz allein beschreiten. Es sollte seinen Führungsanspruch und Mut symbolisieren, und die ihn begleitenden Kameras würden genau das vermitteln.

Vor allem aber war es eine Sicherheitslücke, die zwar klein erschien, für einen ausgebildeten Scharfschützen auf erhöhter Position aber wie eine fünfzig Meter breite Lücke in einem Schiffsrumpf war, die obendrein mit gleißenden Suchscheinwerfern beleuchtet wurde.

Zehn Sekunden.

Jacobs zählte die letzten Augenblicke lautlos mit, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet.

Da geht ein toter Mann, dachte er.

Der Einsatz war so gut wie beendet. Anschließend ging es zum nächsten Ziel.

Natürlich nach einem Steakessen. Dazu Jacobs’ Lieblingscocktail, bei dem er vor seinen Kollegen mit seinem neuesten Triumph prahlen konnte.

Drei Sekunden.

Jacobs sah nur den Bildschirm. Er war so konzentriert, als würde er den tödlichen Schuss selbst abgeben.

Das Fenster zersplitterte.

Die Kugel schlug in Jacobs’ Rücken ein, nachdem sie die Lehne seines ergonomischen Bürostuhls zerschmettert hatte. Sie durchschlug seinen Körper, platzte aus seiner Brust und sprengte den Computer, während Ferat Ahmadi wohlbehalten das Gebäude betrat.

Doug Jacobs rutschte zu Boden.

Kein Steakdinner. Kein Lieblingscocktail. Nie wieder vor Kollegen prahlen.

Der tote Mann war angekommen.

KAPITEL 2

Er joggte über den Parkweg, den Rucksack auf den Schultern. Es war kurz vor sieben Uhr abends. Die Luft war kühl, die Sonne fast untergegangen. Taxis hupten. Fußgänger waren nach einem langen Arbeitstag auf dem Nachhauseweg.

Auf der anderen Straßenseite standen Pferdedroschken aufgereiht vor dem Ritz-Carlton. Iren mit schäbigen Zylindern warteten auf Fahrgäste, während das Tageslicht schwand. Die Pferde scharrten über den Asphalt, die großen Köpfe halb in die Futtereimer gesenkt.

Das hier war Manhattan-Mitte in seiner ganzen Pracht, wo Gegenwart und Vergangenheit sich wie schüchterne Fremde auf einer Party trafen.

Will Robie blickte weder nach rechts noch nach links. Er war schon oft in New York gewesen, auch im Central Park. Außerdem war er nicht als Tourist hier. Er war nie als Tourist unterwegs.

Die Kapuze seines Hoodies war nach oben geschlagen und so fest verschnürt, dass sein Gesicht nicht zu sehen war. Im Central Park gab es reichlich Überwachungskameras, und er wollte auf keiner zu sehen sein.

Vor ihm erschien die Brücke. Robie blieb stehen, joggte auf der Stelle weiter, kühlte sich ab.

Die Tür war in einen Felsen eingebaut. Sie war verschlossen.

Robie benutzte eine Sperrpistole, und die Tür war auf.

Er schlüpfte hinein und zog die Tür sorgfältig hinter sich zu. Der Raum, in dem er sich befand, war eine Mischung aus Lager- und Betriebsraum, der von den städtischen Arbeitern benutzt wurde, die den Park sauber und erleuchtet hielten. Sie hatten für heute Feierabend gemacht. Vor acht Uhr am nächsten Morgen würden sie nicht wieder auftauchen.

Mehr als genug Zeit, um zu tun, was getan werden musste.

Robie streifte den Rucksack ab, öffnete ihn. Er enthielt alles, was er für seine Arbeit brauchte.

Vor Kurzem war Robie vierzig geworden. Bei eins dreiundachtzig Größe wog er neunzig Kilo, die sich auf weitaus mehr Muskeln als Fett verteilten. Es waren sehnige, schlanke Muskeln. Dicke Muskelpakete waren in seinem Job nicht zu gebrauchen. Sie machten einen nur langsamer, wo doch Schnelligkeit fast so entscheidend war wie Präzision.

Der Rucksack enthielt diverse Ausrüstungsgegenstände. In den nächsten zwei Minuten setzte Robie drei davon zu einem einzigen Teil mit speziellem Verwendungszweck zusammen.

Ein Scharfschützengewehr.

Der vierte Ausrüstungsgegenstand war genauso wichtig.

Das Zielfernrohr.

Robie befestigte es auf der Picatinny-Schiene oben auf dem Gewehr.

Im Kopf ging er jede Einzelheit des Plans x-mal durch, sowohl den erforderlichen Schuss wie auch den hoffentlich sicheren Fluchtweg danach. Längst hatte er alles seiner Erinnerung anvertraut, doch er wollte in jenen Zustand gelangen, in dem er nicht mehr denken, nur noch handeln musste. Das sparte kostbare Sekunden.

Nach ungefähr anderthalb Stunden war er fertig. Anschließend nahm er sein Abendessen zu sich. Eine Flasche G2 und einen Proteinriegel.

Er legte sich auf den Betonboden des Lagerraums, schob den zusammengefalteten Rucksack unter den Kopf und schlief. In zehn Stunden und elf Minuten wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Während andere Leute seines Alters entweder nach Hause gingen, zu Frau und Kindern, oder mit Kollegen einen Drink nahmen, vielleicht sogar eine Verabredung hatten, hockte Robie allein in einer besseren Abstellkammer im Central Park und wartete darauf, dass jemand auftauchte, damit er ihn umbringen konnte.

Das war Will Robies Version von einem Date am Freitagabend.

Er hätte über den derzeitigen Zustand seines Lebens nachdenken können, ohne zu einem zufriedenstellenden Schluss zu gelangen, oder er ignorierte einfach alles. Er entschied sich für das Ignorieren, obwohl es vielleicht nicht mehr ganz so einfach war wie früher.

Trotzdem hatte Robie keine Probleme beim Einschlafen.

Wie er auch kein Problem mit dem Aufwachen haben würde.

Was er neun Stunden später dann auch tat.

***

Es war Morgen. Kurz nach sechs.

Jetzt kam der nächste wichtige Schritt: Robies Sichtlinie. Der vielleicht brisanteste Teil der Vorbereitungen.

Im Lagerraum gab es eine nackte Steinwand mit breiten Mörtelspalten. Sah man jedoch genauer hin, entdeckte man zwei an bestimmten Stellen angebrachte Löcher in den Spalten, die einen Blick nach draußen gewähren sollten. Allerdings waren diese Löcher mit einem nachgiebigen Material gefüllt, das wie Mörtel aussah. Diesen Job hatte vor einer Woche ein Team erledigt, das wie eine Reparaturmannschaft der Parkverwaltung ausgesehen hatte.

Mit einer Pinzette zog Robie die Substanz aus dem Loch und wiederholte den Vorgang.

Beide Löcher waren frei.

Er schob die Gewehrmündung durch das untere Loch und hielt inne, kurz bevor der Lauf das Ende erreichte. Diese Position würde den Schusswinkel zwar sehr einschränken, aber daran ließ sich nichts ändern. Es war, wie es war. Er hatte noch nie unter perfekten Bedingungen gearbeitet.

Das Zielfernrohr befand sich genau auf Höhe des oberen Lochs. Sein Rand schloss mit dem Mörtel ab. Jetzt konnte Robie sehen, worauf er schoss.

Er warf einen Blick durch die Optik und stellte sie so ein, dass sämtliche Faktoren berücksichtigt waren, die Einfluss auf den Schuss haben konnten, ob es sich um das Wetter oder die Umgebung handelte.

Die Ummantelung des Schalldämpfers war an die Mündung und die verwendete Munition angepasst. Sie würde das Mündungsfeuer und die Schallsignatur verringern und reichte bis zum Schaft, um die Länge des Schalldämpfers zu minimieren.

Robie warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten.

Er schob den Ohrhörer ins Ohr und steckte den dazugehörigen Akku an den Gürtel. Damit stand seine Sprechverbindung.

Wieder spähte er durchs Zielfernrohr. Das Fadenkreuz schwebte nun über einer bestimmten Stelle des Parks.

Da er den Lauf nicht bewegen konnte, würde er sein Ziel nur eine Millisekunde lang sehen können. In genau diesem Moment musste er abdrücken.

Eine Millisekunde zu spät, und das Ziel überlebte.

Eine Millisekunde zu früh, und das Ziel überlebte.

Robie akzeptierte diese Fehlerspanne. Keine Frage, er hatte schon leichtere Aufträge gehabt. Aber auch schwerere.

Er holte tief Luft, entspannte die Muskeln.

Normalerweise hätte er mit jemandem zusammengearbeitet, der als Aufklärer fungierte. Aber in letzter Zeit waren seine Erfahrungen mit Partnern verheerend gewesen, und er hatte darauf bestanden, diesen Auftrag allein zu erledigen. Sollte das Ziel nicht auftauchen oder seinen Weg ändern, würde Robie von seiner Kommunikationseinheit das Zeichen zum Abbruch erhalten.

Er blickte sich noch einmal in dem kleinen Raum um, der nur noch wenige Minuten sein Zuhause war, dann würde er ihn nie wiedersehen. Baute er Mist, war es möglicherweise der letzte Ort auf Erden, den er zu sehen bekam.

Wieder ein Zeit-Check.

Zwei Minuten.

Noch griff Robie nicht nach dem Gewehr. Wenn er die Waffe zu früh aufnahm, konnten seine Muskeln steif und seine Reflexe ein klein wenig beeinträchtigt werden. Aber schnelles Reagieren und flüssige Bewegungen waren entscheidend für den Erfolg.

Fünfundvierzig Sekunden vor Eintreffen des Ziels kniete Robie sich hin, drückte das Auge ans Zielfernrohr und den Finger an den Abzugsbügel. Der Ohrhörer hatte bisher geschwiegen. Das bedeutete, sein Ziel war auf dem Weg hierher. Die Mission lief.

Er würde nicht noch einmal auf die Uhr schauen. Seine innere Uhr lief jetzt so präzise wie ein Schweizer Zeitmesser.

Er konzentrierte sich auf das Zielfernrohr.

Zielfernrohre waren toll, aber auch empfindlich. Binnen eines Herzschlags konnte man das Ziel aus dem Auge verlieren, und dann vergingen kostbare Sekunden, bis man es wieder eingefangen hatte, was garantiert zum Fehlschlag führte. Robie hatte seine eigene Methode, damit umzugehen. Dreißig Sekunden vor der Zielerfassung atmete er immer länger aus und reduzierte auf diese Weise Schritt für Schritt seine Atmung und die Pulsfrequenz.

So wollte er auch diesmal den Nullpunkt erreichen, diesen süßen Augenblick des Abdrückens, der fast immer dafür sorgte, dass der Todesschuss gelang. Kein Fingerzittern, kein Ruck der Hand, keine rasche Augenbewegung.

Robie konnte seine Zielperson nicht hören. Sehen konnte er sie auch nicht.

Aber in zehn Sekunden würde er sie hören und sehen.

Dann blieb ihm kaum mehr als ein Wimperschlag, um das Ziel zu erfassen und abzudrücken.

Auf seinem inneren Zählwerk verstrich die letzte Sekunde.

Sein Finger fiel auf den Abzug.

Und wenn das erst geschah, gab es kein Zurück mehr.

Nicht in Will Robies Welt.

KAPITEL 3

Der Mann, der durch den Park joggte, machte sich keine Sorgen um seine Sicherheit. Dafür bezahlte er schließlich andere. Einem Klügeren wäre vielleicht klar gewesen, dass niemandem das eigene Leben so sehr am Herzen lag wie einem selbst. Aber der Jogger gehörte nicht unbedingt zu den Klügsten. Er hatte sich mächtige politische Feinde gemacht. Dafür würde er gleich den Preis bezahlen.

Er joggte weiter, und seine schlanke Gestalt bewegte sich mit jeder Vorwärtsbewegung von Hüfte und Bein auf und ab. Umgeben wurde er von vier Männern – zwei ein Stück voraus, zwei ein Stück hinter ihm. Sie waren fit und sportlich, und alle vier mussten ihr gewohntes Tempo ein wenig zurücknehmen, um sich ihm anzupassen.

Die fünf Männer waren von vergleichbarer Größe und Statur, und sie alle trugen die gleichen schwarzen Jogginganzüge. Das war Absicht, denn auf diese Weise hatte man statt einem fünf nahezu identische Ziele. Arme und Beine schwangen in gleichem Rhythmus, die Füße federten synchron vom Boden, Köpfe und Oberkörper bewegten sich gleichmäßig und doch leicht unterschiedlich. Alles zusammen ergab einen Albtraum für jeden Scharfschützen.

Außerdem trug der Mann in der Mitte eine leichte Schutzweste, die normale Gewehrmunition aufhielt. Mit Sicherheit tödlich wäre nur ein Kopftreffer, doch hier, an diesem Ort, war ein Kopfschuss über eine Distanz, die über die Reichweite des bloßen Auges hinausging, sehr problematisch. Zu viele Hindernisse.

Außerdem hatte das Sicherheitspersonal Beobachter im Park verteilt. Jeder, der irgendwie verdächtig wirkte, wurde ausgemacht und so lange abgelenkt oder sonst wie beschäftigt, bis die Jogger vorbei waren. Das war bis jetzt aber nur zweimal vorgekommen.

Trotzdem waren die vier Männer Profis. Sie rechneten damit, dass in der Nähe jemand lauerte, trotz ihrer Bemühungen. Ständig waren ihre Blicke in Bewegung und ihre Reflexe in Alarmbereitschaft, um blitzschnell reagieren zu können.

Die Kurve voraus kam den Joggern in gewisser Weise recht, denn sie unterbrach die freie Sichtlinie potenzieller Scharfschützen; auch die nächsten Schützen, falls es welche gab, würden auf den folgenden zehn Metern keine Sicht bekommen. Die Männer entspannten sich ein wenig, obwohl man sie ausgebildet hatte, keinen Sekundenbruchteil in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.

Der gedämpfte Knall war laut genug, um einen Schwarm Tauben aufzuschrecken. Ihre Flügel klatschten, und gurrend beschwerten sie sich über die Störung am frühen Morgen.

Der Mann in der Mitte der Gruppe kippte nach vorn. Wo eben noch sein Gesicht gewesen war, war jetzt ein klaffendes Loch.

Der lange Flug einer Kugel vom Kaliber 7.62 baut erstaunliche kinetische Energie auf. Tatsächlich wird mehr Energie aufgebaut, je länger das Geschoss unterwegs ist. Trifft es dann einen festen Gegenstand wie einen menschlichen Kopf, ist das Ergebnis verheerend.

Die vier Männer starrten ungläubig auf ihren Schützling am Boden. Der schwarze Jogginganzug war mit Blut, Hirnmasse und Gewebe gesprenkelt.

Alle rissen die Waffen hervor und suchten hektisch nach einem Ziel, auf das sie schießen konnten. Der Sicherheitschef hatte sein Handy am Ohr und rief Verstärkung. Jetzt waren sie keine Bodyguards mehr. Jetzt waren sie eine Racheschwadron.

Nur war da niemand, an dem man sich rächen konnte.

Es war ein Scharfschützenattentat gewesen.

Alle vier Männer fragten sich, wie das ausgerechnet in der Kurve möglich gewesen war. Sonst waren nur andere Jogger oder Spaziergänger zu sehen. Von denen hätte keiner ein Gewehr verbergen können.

Alle waren stehen geblieben und starrten entsetzt auf den Mann am Boden.

Hätten sie gewusst, wer er war, hätte ihr Entsetzen sich in Erleichterung verwandelt.

***

Will Robie gönnte sich keine Sekunde, um sich über seinen außerordentlich guten Schuss zu freuen. Die Einschränkungen der Beweglichkeit des Gewehrlaufs, des präzisen Zielens und des Schusses selbst waren gewaltig gewesen – eine Partie Mole Attack, sozusagen: Man wusste nie, wo oder wann das Ziel aus dem Loch geschossen kam. Um es zu erwischen, brauchte man überragende Reflexe und ein ausgezeichnetes Auge.

Robie holte eine Flasche Industriehärter aus dem Rucksack und mischte ihn mit einem Pulver aus einem anderen Behältnis. Die Mischung strich er auf das vordere Ende und die Seiten der Stopfen und schob sie in die Löcher, wobei er darauf achtete, dass sie nicht hervorstanden. Anschließend rieb er die Mischung auf die hinteren Enden der Stopfen. Sie würde innerhalb von zwei Minuten aushärten und sich mit dem Mörtel verbinden, und niemand würde sie je wieder herausziehen können. Robies tödliche Sichtlinie würde verschwunden sein wie die Assistentin des Zauberers in einem Kasten.

Er schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und nahm die Waffe beim Gehen auseinander. In der Mitte des Raumes war ein Gullydeckel, durch den man zu einem der zahlreichen Tunnels gelangte, die den Untergrund des Central Parks durchzogen. Einige stammten von alten U-Bahn-Bauten, durch andere strömten Wasser und Abwässer, und wieder andere waren schlichtweg in Vergessenheit geraten, genau wie ihr ursprünglicher Zweck. Robie würde das Tunnelsystem benutzen, um so schnell wie möglich vom Ort des Geschehens zu verschwinden.

Nachdem er sich in die Öffnung hinuntergelassen hatte, schob er den Gullydeckel zurück in seine alte Position. Mithilfe einer Taschenlampe stieg er eine Eisenleiter hinunter. Neun Meter tiefer stießen seine Füße auf festen Boden. Die Route hatte er im Kopf, Pläne gab es nicht. Nie wurde etwas niedergeschrieben, egal über welchen Einsatz. Schriftliches konnte entdeckt werden, falls es Robie erwischte statt seines Ziels. Doch selbst für ihn mit seinem hervorragenden Kurzzeitgedächtnis war es mühsam gewesen, sich das Labyrinth einzuprägen.

Er bewegte sich methodisch, weder schnell noch langsam. Den Gewehrlauf hatte er mit einer schnell härtenden Lösung verschlossen und in einen der Tunnel geworfen. Das schnell fließende Wasser würde ihn in den East River spülen, wo er in der Tiefe versank. Selbst wenn man ihn irgendwie finden sollte, war der verstopfte Lauf für ballistische Tests ruiniert.

Der Gewehrschaft landete in einem anderen Tunnel unter einem Stapel Ziegel, die aussahen, als lägen sie seit hundert Jahren dort, was vermutlich auch der Fall war. Selbst wenn man den Schaft entdecken sollte, konnte man ihn unmöglich mit der Kugel in Verbindung bringen, die soeben Robies Zielperson getötet hatte. Nicht ohne den Schlagbolzen, der bereits in seiner Tasche steckte.

Hier unten roch es nicht gerade angenehm. Unter Manhattan verliefen mehr als sechstausend Meilen Tunnels, was für eine Insel, auf der keine einzige Mine betrieben wurde, wirklich erstaunlich war. Die Rohrleitungen, die durch die Tunnels führten, transportierten jeden Tag Abermillionen Liter Wasser, um die Bewohner der größten Stadt der USA zu versorgen. Andere Tunnels beförderten die Abwässer zu riesigen Kläranlagen, wo sie in die verschiedensten Stoffe umgewandelt wurden. Aus Abfällen konnte man nützliche Dinge machen.

Robie marschierte ungefähr eine Stunde lang. Am Ende dieser Stunde schaute er in die Höhe und entdeckte sie. Die Leiter, die mit den Buchstaben NOITATSDNE gekennzeichnet war.

»Endstation«, rückwärts buchstabiert.

Der lahme Witz entlockte Robie nicht einmal ein Lächeln. Menschen zu töten war so ernst wie nur was. Zu besonderer Fröhlichkeit gab es keinen Grund.

An einem Haken an der Tunnelmauer hingen ein blauer Overall und ein Schutzhelm. Robie streifte den Overall über und setzte den Helm auf. Den Rucksack auf dem Rücken, stieg er die Leiter hinauf und schob sich aus der Öffnung.

Robie war inzwischen ein gutes Stück marschiert, von Midtown nach Uptown. Er hätte aber lieber die U-Bahn genommen.

Er betrat eine Baustelle, an der Straßensperren um ein Loch im Asphalt aufgestellt waren. Hier arbeiteten Männer in blauen Overalls, wie auch Robie einen trug. Um sie her toste der Verkehr. Autos hupten. Passanten drängten sich auf den Bürgersteigen.

Das Leben ging weiter.

Nur nicht für den Mann im Park.

Robie beachtete die Bauarbeiter nicht. Sie ignorierten ihn ebenfalls. Er ging zu einem weißen Lieferwagen, der neben der Baustelle parkte, und stieg auf der Beifahrerseite ein. Kaum hatte er die Tür zugezogen, legte der Fahrer den Gang ein und fuhr los. Er kannte die Stadt gut und nahm Ausweichstrecken, um das Verkehrgewühl zwischen Manhattan und dem LaGuardia Airport zu umgehen.

Robie kletterte auf die Rückbank, um sich umzuziehen. Als der Wagen am Terminal hielt, stieg er aus, in einen Anzug gekleidet und mit einem Aktenkoffer, und betrat das Flughafengebäude.

Im Unterschied zu seinem genauso berühmten Vetter JFK war LaGuardia der König der Kurzstreckenflüge. Er bewältigte mehr davon als alle anderen Flughäfen in den Vereinigten Staaten, abgesehen vielleicht von Chicago und Atlanta. Robies Flug war kurz. Vierzig Minuten in der Luft, um nach Washington zu kommen – kaum Zeit genug, um das Handgepäck zu verstauen, es sich bequem zu machen und dem Knurren des Magens zu lauschen, weil man auf einem so kurzen Flug keine Mahlzeit serviert bekam.

Achtunddreißig Minuten später setzten die Reifen der Maschine auf einer der Landebahnen des Reagan National Airport auf.

Der Wagen wartete bereits auf Robie.

Er stieg ein, griff nach der Washington Post auf der Rückbank und überflog die Schlagzeilen. Natürlich stand da noch nichts, auch wenn die Nachricht mit Sicherheit schon online gestellt worden war. Robie hatte ohnehin kein Interesse, von dem Zwischenfall im Park zu lesen. Er wusste bereits alles, was er darüber wissen musste.

Aber morgen würde jede Zeitung im Land mit fetter Schlagzeile über den Mann im Central Park berichten, der joggen gegangen war, um fit zu bleiben, und so tot geendet hatte, wie man nur tot sein konnte.

Einige würden den Toten betrauern. Vor allem seine Mitarbeiter, die nun hoffentlich für alle Zeiten keine Gelegenheit mehr hatten, anderen Menschen Schmerz und Leid zuzufügen.

Der Rest der Welt würde dem Ableben des Mannes applaudieren.

Robie hatte zuvor schon Männer wie den Jogger beseitigt. Die Öffentlichkeit war jedes Mal froh, dass ein weiteres Ungeheuer sein Ende gefunden hatte. Aber die Welt drehte sich weiter, so kaputt wie immer, und ein anderes Ungeheuer, ein vielleicht noch schlimmeres, nahm den Platz des getöteten Vorgängers ein.

An Robies Schuss an diesem klaren, frischen Morgen im normalerweise so friedlichen Central Park würde man sich noch eine Zeit lang erinnern. Man würde Untersuchungen führen und diplomatische Breitseiten abfeuern. Menschen würden bei Vergeltungsschlägen sterben. Und dann würde das Leben einfach weitergehen.

Und Will Robie würde im Dienst für sein Land in ein Flugzeug oder einen Zug oder einen Bus steigen oder zu Fuß gehen, so wie heute, und würde wieder einen Abzug betätigen oder ein Messer werfen oder jemanden mit bloßen Händen erwürgen. Und der nächste Tag würde kommen, und es würde so sein, als hätte jemand einen gigantischen Resetknopf gedrückt, denn die Welt würde aussehen wie immer.

Doch Robie würde so weitermachen, immer weitermachen – aus einem einzigen Grund: Tat er es nicht, hatte die Welt keine Chance, besser zu werden. Wenn Leute mit Mut nur dastanden, die Hände in den Taschen, siegten die Ungeheuer. Und das würde er nicht zulassen.

Der Wagen erreichte die westliche Grenze von Fairfax County, Virginia, und rollte durch ein bewachtes Tor. Als er schließlich hielt, stieg Robie aus und betrat das Gebäude. Er zeigte keinen Ausweis und blieb auch nicht stehen, um eine Zugangserlaubnis zu erhalten.

Ein kurzer Gang führte ihn zu einem Zimmer, in dem er eine Zeit lang sitzen und ein paar E-Mails verschicken würde. Dann würde er in sein Apartment in Washington fahren. Normalerweise streifte er nach einem Einsatz bis zum Morgengrauen ziellos durch die Straßen, denn so kam er am besten mit den Nachwirkungen seines Berufs klar.

Heute aber wollte er einfach nur nach Hause und nichts Anstrengenderes tun, als aus dem Fenster zu blicken.

Aber es sollte nicht sein.

Denn der Mann erschien.

Der Mann kam oft vorbei, um Robie eine neue Mission in Gestalt eines USB-Sticks zu überbringen.

Aber dieses Mal brachte er nichts außer einem Stirnrunzeln.

»Blue Man will Sie sehen«, sagte er.

Nichts, was dieser Mann tat oder sagte, hätte Robie interessieren oder überraschen können.

Das schon.

In letzter Zeit hatte Robie den Mann mit dem Codenamen Blue Man oft gesehen. Zuvor war er ihm nie begegnet, genau zwölf Jahre lang.

»Blue Man?«

»Ja. Der Wagen wartet.«

KAPITEL 4

Jessica Reel saß allein an einem Tisch im Wartebereich des Flughafens. Sie trug einen grauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und leichte, flache schwarze Schuhe.

Ihr einziges Zugeständnis an Exzentrik war der Hut, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ein strohfarbener Panamahut mit schwarzem Seidenband, der geradezu perfekt war für unterwegs, weil man ihn zusammenfalten konnte. Jessica Reel war im Laufe der Jahre viel gereist, hatte aber auf keiner dieser Reisen jemals einen Hut getragen. Jetzt schien es ein guter Augenblick zu sein, damit anzufangen.

Ihr Blick glitt über die Tausende von Passagieren, die ihr Gepäck hinter sich her zogen oder Laptoptaschen über der Schulter trugen, während sie Kaffeebecher von Starbucks in der freien Hand hielten. Die Reisenden überflogen erwartungsvoll die elektronischen Anzeigetafeln nach Flugsteigen, Flugstreichungen, Landungen und Abflügen. Minuten oder Stunden später – manchmal auch Tage, wenn das Wetter besonders unkooperativ war – würden sie in geflügelte Silberröhren steigen und mitsamt Gepäck Hunderte oder Tausende von Meilen zu ihrem gewünschten Ziel katapultiert werden.

Reel war jahrelang immer nur mit leichtem Gepäck gereist. Kein Laptop. Ausreichend Kleidung für ein paar Tage. Sie nahm nie Arbeit mit. Die wartete immer an ihrem Ziel auf sie. Zusammen mit der nötigen Ausrüstung, die sie brauchte, um den Job zu erledigen, den man ihr zugeteilt hatte.

Wenn sie dann wieder abreiste, hinterließ sie eine Leiche. Mindestens.

Reel strich über ihr Handy. Auf dem Display war ihre Bordkarte zu sehen. Der Name auf dem E-Ticket lautete allerdings nicht Jessica Reel. Das wäre in diesen turbulenten Zeiten ein wenig ungelegen für sie gewesen, denn ihr letzter Einsatz war nicht nach Plan verlaufen – zumindest nicht nach dem Plan ihres ehemaligen Arbeitgebers. Was Reel selbst betraf, hatte sie den Job genau so erledigt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ein Mann namens Douglas Jacobs war tot zurückgeblieben. Aber ihre eigene Einschätzung interessierte nicht. Für ihre Ex-Arbeitgeber hatte Reel versagt.

Deshalb würde man sie in der Heimat zu einer persona non grata erklären – und zu einer Gesuchten. Die Leute, für die Reel gearbeitet hatte, verfügten über genügend Agenten, die man auf sie ansetzen konnte. Man würde sie jagen und versuchen, ihr Leben auf die gleiche effiziente Art und Weise zu beenden, wie sie selbst Jacobs’ Leben beendet hatte.

Nur hatte Jessica Reel einiges dagegen einzuwenden. Deshalb der neue Name, die neuen Dokumente und der Panamahut. Ihr langes Haar war nun blond statt naturbraun. Gefärbte Kontaktlinsen verwandelten ihre grünen Augen in graue. Und geschickte plastische Chirurgie hatte für eine veränderte Nase und einen überarbeiteten Unterkiefer gesorgt. In allen entscheidenden Aspekten war sie eine neue Frau.

Vielleicht sogar eine Frau, der eine Erleuchtung zuteilgeworden war.

Ihr Flug wurde aufgerufen, und Reel erhob sich. In ihren flachen Schuhen maß sie eins fünfundsiebzig – groß für eine Frau –, aber sie fügte sich gut in die Menge ein. Sie setzte den Hut auf, besorgte sich einen Kaffee und begab sich zum nächsten Flugsteig.

Der Flug ging pünktlich.

Vierzig unruhige Minuten später landete die Maschine mit einem harten Ruck kurz vor den ersten Sturmausläufern. Die Turbulenzen hatten Reel nicht gestört. Sie setzte immer auf Wahrscheinlichkeiten: Statistisch gesehen konnte man zwanzigtausend Jahre lang jeden Tag fliegen, ohne abzustürzen. Ihre Überlebenschancen am Boden waren nicht annähernd so gut.

Sie verließ das Flugzeug, ging zum Taxistand und wartete geduldig in der langen Schlange, bis sie an der Reihe war.

Doug Jacobs war der Erste gewesen, aber noch lange nicht der Letzte. Reel hatte eine Liste jener Leute im Kopf, die ihm hoffentlich ins Jenseits folgen würden – vorausgesetzt, für Menschen wie Jacobs gab es so einen Ort.

Aber die Liste musste noch warten. Jessica musste zuerst an einen bestimmten Ort.

Sie stieg in das nächste freie Taxi, fuhr in die Stadt und ließ sich in der Nähe des Central Parks absetzen. Der Park war immer voller Menschen und Hunde, Veranstaltungen und Arbeiter. Ein kontrolliertes Chaos, falls es so etwas überhaupt gab.

Reel bezahlte den Taxifahrer und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das nächste Eingangstor. Nach kurzem Warten ging sie hindurch und weiter bis unweit der Stelle, an der es passiert war.

Die Polizei hatte große Bereiche der Gegend abgesperrt, damit sie ihre kleine forensische Jagd führen konnte, um Beweise zu sammeln und den Killer zu schnappen.

Daraus wird nichts, Leute, dachte Reel. Im Gegensatz zu New Yorks Polizei wusste sie es ganz genau.

Sie mischte sich unter die Menge, die direkt hinter der Absperrung stand, und schaute zu, wie die Polizei methodisch jeden Quadratzentimeter Boden um die Stelle herum absuchte, an der die Leiche gelegen hatte.

Die Zielperson war ein Monster gewesen, ohne das die Menschheit besser dran war, das wusste Reel, nur interessierte es sie nicht im Geringsten. Sie hatte viele solcher Ungeheuer getötet. Waren sie eliminiert, nahmen andere ihre Stelle ein. So funktionierte die Welt nun mal. Man konnte nur versuchen, wenigstens einen kleinen Schritt voraus zu bleiben.

Jessica Reel konzentrierte sich auf andere Dinge. Dinge, die die Polizei nicht erkennen konnte. Sie verband die am Boden markierten Umrisse der Leiche mit Schussbahnen aus sämtlichen Richtungen. Das hatte auch die Polizei bestimmt schon getan, schließlich gehörte es zu den Grundlagen der Forensik, aber die deduktiven Fähigkeiten der Ermittler, sogar ihr Vorstellungsvermögen reichten nicht aus, deshalb würden sie nie auf die richtige Antwort kommen. Reel hingegen wusste, dass alles möglich war.

Nachdem sie sämtliche anderen Möglichkeiten erschöpft und ihre eigenen Algorithmen berechnet hatte, um die Position des Schützen zu ermitteln, richtete sie den Blick auf eine Steinmauer. Scheinbar undurchdringlich. Durch ein solches Hindernis konnte man nicht schießen. Und von dem Weg aus, der zu der Mauer führte, hatte man keine Sichtlinie zum Ziel. Darüber hinaus war der Zugang zur Mauer mit Sicherheit verschlossen. Also würde die Polizei diesen Bereich als mögliche Position eines Schützen sofort verworfen haben.

Reel löste sich aus der Menge und machte sich auf einen langen Spaziergang, der sie zuerst nach Westen, dann nach Norden und schließlich nach Osten führte.

Sie zog ein Fernglas aus der Tasche und konzentrierte sich auf die Mauer.

Man würde zwei Löcher brauchen. Eines für die Mündung – wobei man die größere Breite des Schalldämpfers mit einberechnen musste – und eines für das Zielfernrohr.

Reel wusste genau, wo und wie groß diese Löcher sein mussten.

Sie drehte an der Feineinstellung des Fernglases. Die Mauer wurde schärfer. Reel konzentrierte sich auf zwei Bereiche, von denen der eine etwas höher lag als der andere. Aber in beiden Bereichen befanden sich Mörtelfugen.

Die Polizei würde das niemals entdecken, weil sie nie danach suchen würde.

Reel schon.

Überwachungskameras, die auf die Mauer gerichtet waren, entdeckte sie nicht. Warum sollte es hier auch Kameras geben? Es war schließlich nur eine Mauer.

Was sie perfekt machte.

Es gab zwei Stellen, an denen der Mörtel leicht verfärbt war, als hätte man ihn erst kürzlich verfugt. Was auch der Fall war, wie Reel auf Anhieb erkannte. Man hatte die Löcher sofort nach dem Schuss wieder gefüllt, und der Industriehärter hatte seinen Job getan. Natürlich würde die Farbe ein paar Stunden lang ein bisschen anders aussehen, vielleicht sogar ein paar Tage lang, aber dann waren alle Unterschiede verschwunden, nichts mehr fiel auf.

Der Schuss war von dort gekommen.

Auch die Flucht hatte dort ihren Anfang genommen.

Reel blickte zu Boden.

Unter dem Park befand sich ein Tunnellabyrinth – Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung, verlassene U-Bahn-Schächte. Das wusste Reel, denn vor Jahren hatte es bei einem ihrer Tötungsaufträge eine tragende Rolle gespielt. Unter Amerikas größter Stadt gab es zahllose Verstecke. An der Oberfläche drängten sich Abermillionen Menschen im Big Apple, während man im Untergrund so allein sein konnte wie auf der Oberfläche des Mondes.

Reel setzte sich wieder in Bewegung, nachdem sie das Fernglas verstaut hatte.

Der Parkausgang, den der Schütze genommen hatte, befand sich vermutlich in einem weit entfernten Teil der Stadt. Von dort auf die Straße. Dann eine schnelle Fahrt zum Flughafen oder zum Bahnhof, und das war’s.

Der Killer geht frei aus, das Opfer geht ins Leichenschauhaus.

Die Zeitungen würden eine Zeit lang darüber berichten. Vielleicht gab es irgendwo eine persönliche oder politische Vergeltung, aber dann würde die Story sterben. Andere Geschichten würden ihren Platz einnehmen. Ein Tod bedeutete sehr wenig. Die Welt war zu groß. Und viel zu viele Menschen starben auf gewaltsame Weise, als dass man sich lange auf sie konzentrieren könnte.

Reel ging weiter zum Hotel, in dem sie ein Zimmer reserviert hatte. Zuerst wollte sie den Fitnessraum aufsuchen, um die verkrampften Muskeln zu lockern, dann würde sie sich in die Sauna setzen, eine Kleinigkeit essen und alles durchdenken.

Der Ausflug in den Central Park hatte sich gelohnt.

Will Robie war einer der Besten.

Vielleicht sogar der Beste.

Reel hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Robie an diesem Morgen im Central Park am Abzug gewesen war. Er hatte seine Spuren verwischt. War zurück an die Oberfläche gekommen. War ins nächste Flugzeug nach Washington gestiegen. Hatte sich im Büro sehen lassen.

Alles Routine, soweit es in Robies Welt Routine gab.

So wie in meiner Welt. Aber jetzt nicht mehr. Nicht nach Doug Jacobs. Der einzige Bericht, den sie von mir noch haben wollen, ist mein Autopsiebericht.

Reel war ziemlich sicher, dass man Robie mit einer neuen Mission beauftragen würde.

Er wird den Auftrag erhalten, mich aufzuspüren und zu eliminieren.

Um einen Killer zu erwischen, schickte man einen anderen Killer aus.

Robie gegen Reel. Das klang nicht schlecht.

Wie der Kampf des Jahrhunderts.

Reel war überzeugt, dass er genau das sein würde.

KAPITEL 5

Draußen regnete es. Der Raum hatte kein Fenster, aber Robie konnte die auf das Dach prasselnden Tropfen hören. In den letzten vierundzwanzig Stunden war es kühl geworden. Noch war der Winter nicht da, aber er klopfte bereits an der Tür.

Robie legte eine Hand auf den Tisch und starrte Blue Man unverwandt an.

Natürlich hieß er nicht wirklich Blue Man. Sein richtiger Name war Roger Walton, aber Robie würde ihn immer nur als Blue Man ansprechen. Das hatte mit der hohen Position des Mannes zu tun. Er gehörte zum »Blauen Kreis«. Über dem Blauen Kreis gab es noch weitere Kreise, aber nicht mehr viele.

Blue Man sah aus wie ein Großvater. Silbergraues Haar, erschlaffende Wangen, randlose Brille, makelloser Anzug, rote Krawatte mit Paisleymuster, altmodische Krawattennadel, gestärkter Kragen.

Ja, Blue Man bekleidete beim Geheimdienst in der Tat einen sehr hohen Rang. Er und Robie hatten schon einmal zusammengearbeitet, und Robie vertraute diesem Mann mehr als den meisten anderen. Die Liste der Personen, denen Robie über den Weg traute, war ziemlich kurz.

»Jessica Reel?«, fragte er.

Blue Man nickte.

»Sicher?«

»Jacobs war ihr Einsatzleiter. Er hat mit Reel einen Auftrag durchgeführt. Aber statt der Zielperson wurde Jacobs erschossen. Wir haben im Nachhinein ermittelt, dass Reel nicht mal in der Nähe der Zielperson war. Es war alles ein Schwindel.«

»Warum sollte jemand Jacobs töten?«

»Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass Reel untergetaucht ist.«

»Haben Sie Beweise, dass sie Jacobs erschossen hat? Vielleicht ist Reel tot, und jemand anders hat es getan.«

»Nein. Es war Reels Stimme. Sie war vor dem Schuss mit Jacobs in der Leitung. Jacobs hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Ob sie tausend Meter oder tausend Meilen weit weg war, ihre Stimme hätte sich gleich angehört.« Er hielt kurz inne. »Wir haben eine Schussbahnanalyse vorgenommen. Reel hat von einem alten Stadthaus aus geschossen, das in der Nähe von Jacobs’ Arbeitsstelle steht, nur ein Stück die Straße runter.«

»Keine kugelsicheren Fenster?«

»Die kommen jetzt erst rein. Aber die Jalousie war unten, und das Gebäude ist gegen elektronische Überwachung geschützt. Der Schütze musste den genauen Grundriss von Jacobs’ Büro kennen, um diesen Treffer zu erzielen, sonst hätte er blind geschossen.«

»Hat man in dem Stadthaus Beweise gefunden?«

»Nein. Falls Reel dort war, hat sie die Patronenhülse mitgenommen.«

Natürlich, was denn sonst, dachte Robie. Schließlich haben wir sie ausgebildet, genau das zu tun, wenn die Umstände es erlauben.

Blue Man pochte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, im Rhythmus mit den Regentropfen. »Kennen Sie Jessica Reel?«

Robie nickte. Ihm war klar gewesen, dass diese Frage kommen würde. Eigentlich überraschte es ihn, dass sie nicht längst gestellt worden war. »Wir sind sozusagen Seite an Seite die Karriereleiter raufgestiegen. In der Anfangszeit habe ich mit ihr zusammen ein paar Aufträge erledigt.«

»Was halten Sie von der Frau?«

»Sie hat nicht viel geredet, genau wie ich. Sie hat ihren Job gemacht, und den hat sie gut gemacht. Ich hatte nie Grund zur Sorge, wenn sie mir den Rücken gedeckt hat. Ich war immer der Ansicht, dass sie erstklassige Arbeit leistet.«

»So war es bis jetzt auch«, bemerkte Blue Man. »Sie ist noch immer die einzige Agentin, die wir je hatten.«

»Im Einsatz ist das Geschlecht nicht von Bedeutung«, meinte Robie. »Solange man unter Druck sein Ziel trifft. Solange man seinen Job macht.«

»Was noch?«

»Wir haben uns nie persönliche Dinge anvertraut. So ein Einsatz schweißt die Leute nicht zusammen. Wir waren ja nicht beim Militär. Wir wussten, dass wir nicht lange zusammenarbeiten.«

»Wie lange ist das jetzt her?«

»Die letzte Mission fand vor über zehn Jahren statt.«

»Hatten Sie je Zweifel an Reels Patriotismus?«

»Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich bin davon ausgegangen, dass ihre Loyalität außer Frage steht, wenn sie es so weit geschafft hat.«

Blue Man nickte nachdenklich.

»Warum bin ich hier?«, wollte Robie wissen. »Wollen Sie nur Leute befragen, die Jessica Reel persönlich kennen? Da dürften Sie andere finden, die sie besser kennen als ich.«

»Das ist nicht der einzige Grund.«

Die Tür öffnete sich, und ein Mann kam herein.

Blue Man stand weit oben in der Nahrungskette der Agency, aber der Mann, der gerade gekommen war, stand noch ein Stück höher. Robie würde ihn nicht mit irgendeiner Farbe ansprechen.

Jim Gelder war die Nummer zwei. Sein Chef, der Direktor der Central Intelligence Agency, kurz CIA, stand dem Kongress Rede und Antwort, besuchte alle wichtigen Partys, beteiligte sich am gesellschaftlichen Leben in Washington und kämpfte für ein größeres Budget.

Um alles andere kümmerte sich Jim Gelder, was in der Konsequenz bedeutete, dass im Grunde er die »Firma« leitete, wie man die CIA allgemein nannte. Zumindest leitete er die verdeckten Operationen, was viele Leute inner- und außerhalb der CIA ohnehin für die wichtigste Aufgabe hielten.

Gelder war Ende vierzig, sah aber älter aus. Früher war er schlank gewesen, nun hatte er an Gewicht zugelegt. Sein Haar lichtete sich, und sein Gesicht war von Wind und Sonne gegerbt. Das war nicht ungewöhnlich für einen Mann, der bei der Navy angefangen hatte, wo zu viel Wind, Sonne und Salz ein Berufsrisiko darstellten. Er war mindestens so groß wie Robie, erschien aber größer.

Er warf Blue Man einen Blick zu. Der nickte ihm respektvoll zu.

Gelder ließ sich auf einen Stuhl gegenüber von Robie sinken, lehnte sich zurück, knöpfte das erkennbar von der Stange stammende Jackett auf, fuhr sich mit der Hand durch das schüttere graue Haar und räusperte sich. »Hat man Sie auf den neuesten Stand gebracht?«, wollte er wissen.

»Größtenteils«, sagte Robie.

Er hatte Gelder noch nie gegenübergesessen. Nicht dass er sich eingeschüchtert fühlte, er war bloß neugierig. Robie hatte sich noch nie von jemandem eingeschüchtert gefühlt, es sei denn, die Person hielt eine Waffe auf ihn gerichtet. Und das kam so gut wie nie vor.

»Jessica Reel«, kam Gelder ohne Umschweife zur Sache. »Ein echter Shitstorm.«

»Ich habe gesagt, was ich über sie weiß«, sagte Robie. »Und das ist nicht viel.«

Gelder knabberte am rechten Daumennagel. Robie fiel auf, dass auch die anderen Nägel abgekaut waren. Kein vertrauenerweckendes Gefühl, saß ihm doch der zweitwichtigste Geheimdienstmann der Vereinigten Staaten gegenüber. Zugleich war ihm klar, dass dieser Mann sich über viele Dinge Sorgen machen musste. Die Welt war nur ein Streichholz davon entfernt, in die Luft zu fliegen.

In der Navy war Gelder bis zum Rang eines Lieutenant Commanders aufgestiegen, bevor er zu den Spionen der CIA gewechselt war. Das war das Sprungbrett für eine schnelle Karriere gewesen, die mit seiner jetzigen Position geendet hatte. Es war allgemein bekannt, dass Gelder den Chefsessel hätte haben können, ihn aber abgelehnt hatte. Er war ein Macher, ein Mann der Tat, aber dem Kongress in den Hintern zu kriechen gehörte nicht dazu.

»Wir müssen die Frau erwischen«, sagte Gelder nun. »Lebendig oder tot. Vorzugsweise lebendig, damit wir herausfinden können, was passiert ist.«

»So sehe ich das auch«, erwiderte Robie. »Und ich bin sicher, Sie haben einen Plan, wie wir das anstellen können.«

Blue Man blickte Gelder an. Gelder blickte Robie an.

»Eigentlich sind Sie der Plan, Robie«, sagte Gelder schließlich.

Robie sparte sich die Mühe, Blue Man anzuschauen, obwohl er dessen Blick auf sich spürte. »Sie wollen, dass ich Reel aufspüre?«

Das war ihm selbst nie in den Sinn gekommen, und mit einem Mal fragte er sich nach dem Grund.

»Ja.« Gelder nickte.

»Ich bin kein Ermittler«, sagte Robie. »Das ist nicht meine Stärke.«

»In diesem Punkt würde ich Ihnen widersprechen, Robie«, meinte Blue Man.

»Ich auch. Man schickt einen Killer, um einen Killer zu finden«, sagte Gelder.

»Von solchen Leute haben Sie eine Menge auf der Gehaltsliste«, erwiderte Robie.

Gelder stellte das Nagelkauen ein. »Aber Sie werden mir wärmstens empfohlen.«

»Warum? Wegen der Geschehnisse neulich?«

»Wir würden unsere Pflichten vernachlässigen, wenn wir Sie übergehen«, sagte Gelder. »Sie haben gerade einen Auftrag erledigt. Ich finde, Ihre Fähigkeiten werden nutzbringender eingesetzt, wenn Sie Reel aufspüren.«

»Habe ich eine Wahl?«

Gelder starrte ihn über den Tisch hinweg an. »Haben Sie ein Problem damit, den Auftrag zu übernehmen?«

»Ich halte mich nicht für den Richtigen.«

Als Antwort zog Gelder einen kleinen Tablet aus der Jackentasche, scrollte durch ein paar Fenster und las dabei.

»Ich möchte Ihnen ein paar konkrete Gründe nennen, warum Sie sehr wohl der richtige Mann sind«, sagte er schließlich. »Sie haben als Jahrgangsbester Ihre Ausbildung mit Rekordpunktzahl abgeschlossen. Zwei Jahre später war Jessica Reel die Jahrgangsbeste, mit einer Punktzahl, die ein Rekord gewesen wäre, hätte es vorher Sie nicht gegeben.«

»Ja, aber …«, begann Robie, doch Gelder hielt die Hand hoch.

»In einem Übungsszenario waren Sie der Einzige, der Jessica Reel aufspüren und gefangen nehmen konnte.«

»Das ist lange her. Und es war nur eine Übung, nicht die Realität.«

»Und schließlich haben Sie ihr bei einem Einsatz das Leben gerettet.«

»Warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Möglicherweise lässt sie das eine Sekunde lang zögern, Robie. Und mehr sollten Sie nicht brauchen.« Er hielt inne. »Abgesehen davon hätten Sie einen direkten Befehl von mir befolgen müssen, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären. Betrachten Sie es deshalb als Geschenk unter außergewöhnlichen Umständen.« Er stand auf. »Halten Sie mich auf dem Laufenden«, befahl er Blue Man. Dann schaute er wieder Robie an. »Wie immer ist Scheitern keine Option, Robie.«

»Und wenn ich versage? Dann wäre es besser gewesen, ich hätte ins Gras gebissen, richtig?«

Gelder schaute ihn an, als hätte er nur das Offensichtliche gesagt:

Im nächsten Augenblick verließ die Nummer zwei den Raum. Mit der Endgültigkeit eines sich schließenden Sargdeckels zog er hinter sich die Tür ins Schloss.

Blue Man warf Robie einen nervösen Blick zu. Der starrte noch immer auf die Tür, bis er seine Aufmerksamkeit langsam wieder seinem Vorgesetzten zuwandte.

»Sie wussten davon?«, fragte er.

Blue Man nickte.

»Und was halten Sie von der Sache?«

»Ich halte Sie für die perfekte Wahl.«

»Tot oder lebendig, hat Gelder gesagt. War das Schwachsinn? Oder ein Code? Oder beides?«

»Ich bin überzeugt, er will die Frau lebend. Sie muss verhört werden. Sie war eine unserer besten Einsatzkräfte. Noch nie ist einer von denen zum Verräter geworden.«

»Das stimmt nicht, und das wissen Sie. In letzter Zeit scheint es in der Agency eine Flut von Verrätern zu geben.«

Die Bemerkung schien Blue Man körperlichen Schmerz zu bereiten, doch angesichts der Vorfälle in letzter Zeit konnte er das kaum bestreiten.

»Okay, was meinen Sie? Wurde Reel umgedreht? Aber warum Jacobs töten? Jetzt wissen wir, dass sie ein fauler Apfel ist. Schließlich kann sie jetzt nicht wieder einfach bei der Arbeit auftauchen und sich daranmachen, für ihren neuen Arbeitgeber wertvolle Informationen zu sammeln. Das ergibt keinen Sinn.«

»Es muss aber einen Sinn ergeben. Denn es ist passiert.«

Robie dachte nach. »Jacobs ist tot. Jessica Reel ist nirgendwo zu finden. Dass man sie umgedreht hat, ist nur eine Möglichkeit. Es gibt noch andere.«

»Es war Reels Stimme auf der sicheren Leitung, zusammen mit der Stimme von Jacobs.«

»Trotzdem gibt es andere Möglichkeiten.«

»Und jetzt haben Sie die Gelegenheit, sie alle zu erkunden, Robie.«

»Ich nehme an, es ist nicht möglich, den Auftrag abzulehnen?«

Blue Man machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.

»Die Zielperson, die im Nahen Osten lebt … noch immer lebt … Man sollte glauben, dass er Reel umgedreht hat. Vielleicht sollten Sie da anfangen.«

»Das ist eine komplizierte Situation. Ferat Ahmadi will in Syrien das Machtvakuum füllen. Er hat viel Unterstützung. Leider ist er eine schreckliche Wahl, soweit es uns betrifft. Aber das ist uns beim Arabischen Frühling ja oft passiert. In diesen Ländern werden Menschen, die uns hassen, zu politischen Führern gewählt.«

»Okay, aber ich gehe mal davon aus, dass es den Chinesen und Russen nicht gefallen würde, wenn wir Amerikaner da unten wieder die Gewinner und Verlierer aussuchen«, kommentierte Robie.

»Stimmt. Es wäre wirklich nicht in unserem Interesse, wenn der Attentatsversuch ans Licht käme.«

»Wie sollte das eigentlich vertuscht werden, wäre alles nach Plan gelaufen?«

»Die übliche Vorgehensweise. Wir hätten die Anführer von Ahmadis Opposition dafür verantwortlich gemacht. Was übrigens nicht einmal weit hergeholt ist. Sie haben schon zweimal versucht, ihn umzubringen. Nur sind sie nicht besonders gut auf diesem Gebiet. Trotzdem wollten wir Beweise zurücklassen, die zu einem von denen führen.«

»Zwei auf einen Streich?«

»Ja.« Blue Man nickte. »Wir müssen stets versuchen, effizient zu sein.«

»Und wenn wir Erfolg gehabt hätten?«

»Wäre eine dritte Partei übrig geblieben, mit der wir wenigstens hätten versuchen können, vernünftig zu reden.«

»Aber das hat sich jetzt erledigt.«

»Ja.«

Robie stand auf. »Ich brauche alles, was Sie über Reel haben.«

»Das Material wird derzeit zusammengestellt.«

»Okay«, sagte Robie, nur war im Moment gar nichts okay für ihn.

»Was haben Sie wirklich von Jessica Reel gehalten, als Sie zusammengearbeitet haben?«

»Das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Die ungeschminkte Version.«

»Sie war so gut wie ich. Vielleicht ist sie jetzt besser. Ich weiß es nicht. Aber so, wie es aussieht, werde ich das wohl bald herausfinden.«

»Wir hatten in letzter Zeit eine Pechsträhne«, sagte Blue Man, als Robie zur Tür ging.

»Kann man wohl sagen.«

»Ich nehme an, je länger man im Dienst ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versucht, einen umzudrehen.« Blue Man klopfte wieder mit den Fingern auf den Tisch und starrte ins Leere.

»Viele Dienstjahre erhöhen möglicherweise den Wert.«

Blue Man warf ihm einen Blick zu. »Andere hat man zu verführen versucht. Erfolgreich.«

»Aber nur wenige von vielen.«

»Es ist trotzdem ein Problem.«

»Das ist ein Problem für Sie?«, fragte Robie.

»Ich bin mir sicher, nicht mehr als für Sie.«

»Schön, dass wir das geklärt haben.« Robie verließ das Zimmer, um seinen neuen Auftrag in Angriff zu nehmen.

KAPITEL 6

Robie fuhr durch die Straßen Washingtons. In seiner Jackentasche befand sich ein USB-Stick. Darauf gespeichert war die Karriere von Jessica Elyse Reel. Einen Teil davon kannte Robie bereits. Morgen würde er sie vollständig kennen – bis auf das, was noch aufgedeckt werden musste.

Der Regen fiel stärker. Washington im Regen war ein seltsames Schauspiel. Da waren natürlich die Denkmäler, die beliebten Ziele der Busladungen von Touristen, auch wenn viele von ihnen sicherlich so manches an der Bundeshauptstadt auszusetzen hatten. Aber die Leute kamen, um sich die hübschen Bauten anzuschauen, die sie mit ihren Steuerdollars bezahlt hatten.

Im Zwielicht sahen die mächtigen Denkmäler und Gedenkstätten von Jefferson, Lincoln und Washington aus, als wären sie körnige Umrisse, wie man sie auf alten, zerfledderten Postkarten sehen kann. Die riesige Kuppel des Kapitols überragte alle anderen Gebäude in ihrer Nähe. Unter dieser Kuppel ging der Kongress seiner Arbeit nach – oder auch nicht, wie immer öfter in letzter Zeit. Aber selbst die ungeheuren Maße dieser Kuppel schienen im Regen zu schwinden.

Robie lenkte seinen Audi in Richtung Dupont Circle. Jahrelang hatte er in einem Apartment in der Nähe des Rock Creek Park gewohnt. Vor weniger als einem Monat war er ausgezogen. Der Grund dafür war einer seiner früheren Aufträge. Er hatte dort einfach nicht mehr bleiben können.

Dupont lag in der Stadtmitte und bot ein reges Nachtleben. In Dutzenden trendiger Restaurants bekam man Gerichte aus der ganzen Welt; es gab Buchhandlungen, die sich auf literarische Romane spezialisiert hatten, und Läden, die man nirgendwo anders fand. Es war ein aufregendes und belebendes Viertel, das der Stadt zum Vorteil gereichte.

Aber Robie hatte kein Interesse am Nachtleben. Wenn er Essen ging, aß er allein. Er kaufte nicht in den angesagten Läden ein. Er schmökerte nicht in den anspruchsvollen Buchläden. Wenn er durch die Straßen ging, was er oft tat, vor allem spätabends, suchte er nicht nach Kontakten. Gesellschaft war ihm nicht willkommen, egal in welcher Form. Sie wäre sinnlos gewesen, vor allem jetzt.

Er parkte in der Tiefgarage seines Wohnhauses und fuhr mit dem Aufzug auf seine Etage. Oben angekommen, schob er zwei Schlüssel in das Doppelschloss seiner Wohnungstür. Piepsend schlug das Alarmsystem an. Das Geräusch verstummte, als Robie die Anlage entschärfte.

Er zog die Jacke aus, ließ den USB-Stick jedoch, wo er war. Dann trat er ans Fenster, blickte hinunter auf die nasse Straße. Regen reinigte. Zumindest lautete so die Theorie. Aber in dieser Stadt gab es Viertel, die niemals sauber wurden. Und das galt nicht nur für die Gegenden mit hoher Kriminalitätsrate, es galt auch für die Welt der Regierungsmacht, in der Robie operierte – eine Welt, die genauso schmutzig war wie die schmutzigsten Gassen der Stadt.

Kürzlich war er mit der Normalität in Berührung gekommen. Es war nur eine kurze Berührung gewesen, aber sie hatte Spuren hinterlassen.

Er zog die Brieftasche hervor und nahm das Foto heraus.

Julie Getty. Klein, dünn, strähniges Haar. Doch ihr Aussehen war Robie egal. Er bewunderte sie für ihren Mut, ihre Intelligenz und ihr Temperament.

Sie hatte ihm dieses Foto gegeben, als ihre Wege sich getrennt hatten. Er hätte das Bild niemals behalten dürfen. Es war zu gefährlich, denn es konnte zu ihr führen. Trotzdem hatte Robie das Foto noch. Er brachte es einfach nicht fertig, sich davon zu trennen.

Robie hatte nie Kinder gehabt und würde auch nie welche bekommen. Julie wäre eine Tochter gewesen, auf die er hätte stolz sein können. Aber sie war nicht seine Tochter. Und sie hatte ein neues Leben. Ein Leben, an dem er nicht teilhaben konnte. So war das nun mal. Es war nicht seine Entscheidung.

Er steckte das Foto in dem Augenblick zurück in die Brieftasche, als sein Handy summte.

Als er die Nummer erkannte, musste er lächeln, aber das Lächeln verwandelte sich schnell in eine nachdenkliche Miene, als Robie sich fragte, ob er den Anruf annehmen sollte. Dann aber kam er zu dem Schluss, dass sie es immer wieder versuchen würde, wenn er es nicht tat. So war sie nun mal.

»Hallo?«

»Robie. Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört.«

Nicole Vance war Special Agent beim FBI. Laut Julie Getty eine »Superagentin«. Julie hatte außerdem vermutet, dass Nicole Interesse an Robie gehabt habe. Tatsächlich war sie sogar fest davon überzeugt gewesen.

Robie hatte das nie mit Gewissheit feststellen können und war sich auch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit hatten ihn abgeschreckt von allem, was der Beziehung zu einer Frau auch nur ähnelte. Das Problem war keineswegs Verlangen, sondern Vertrauen, ohne das Robie kein Verlangen entwickeln konnte.

Man hatte ihn ausgebildet, sich niemals täuschen zu lassen. Sich niemals zum Narren machen zu lassen. Niemals ohne Stuhl dazustehen, wenn die Musik abbrach. Und doch war er getäuscht worden. Das war eine demütigende Erfahrung gewesen, und er hatte nicht die geringste Lust auf eine Wiederholung.

Nicoles Stimme klang wie immer. Im Augenblick war sie ein bisschen zu aufgedreht für Robie, aber er musste die Energie dieser Frau bewundern.

»Ja, stimmt. Lange nichts voneinander gehört.«

»Waren Sie in letzter Zeit auf Reisen?«

Er zögerte und fragte sich, ob sie den Vorfall im Central Park mit ihm in Verbindung gebracht hatte.

Nicole Vance hatte eine ziemlich gute Vorstellung von Robies Job. Als FBI-Agentin, die geschworen hatte, das Gesetz zu hüten und die Bürger zu beschützen, durfte sie nicht mehr erfahren, als sie bereits wusste. Sie bewegten sich in zwei sehr unterschiedlichen Welten, die beide notwendig waren und sich auch nicht gegenseitig ausschlossen.

Trotzdem waren beide nicht kompatibel. Da ihre jeweiligen Jobs nicht kompatibel waren, galt das auch für sie als Individuen. Robie erkannte das jetzt glasklar. Eigentlich hatte er es immer schon gewusst.

»Nicht oft. Und Sie?«

»Nur in den finsteren Straßen Washingtons.«

»Was liegt an?«

»Haben Sie schon Pläne fürs Abendessen?«

Wieder zögerte Robie. Diesmal zögerte er so lange, dass Nicole schließlich sagte: »So kompliziert ist das nicht, Robie. Entweder haben Sie Pläne, oder Sie haben keine. Es ist kein Problem, wenn Sie Nein sagen.«

Robie wollte Nein sagen, aber aus irgendeinem Grund sagte er: »Wann?«

»So gegen acht? Ich wollte diesen neuen Schuppen drüben an der Fourteenth mal ausprobieren.« Sie nannte ihm den Namen. »Angeblich drücken sie da für Cocktails ihre Tomaten durch Leinentücher.«

»Mögen Sie Cocktails so gern?«

»Heute Abend schon.«

Wenn Nicole ihn anrief, das wusste Robie, gab es einen wichtigeren Grund als den, sich mit ihm zum Essen zu treffen. Ja, er glaubte schon, dass sie ihn mochte, aber sie war auch aus gutem Grund Superagentin Nicole Vance. Sie machte nie Feierabend.

»Gut«, sagte er.

»Einfach so?«

»Einfach so.«

»Ich bin offiziell überrascht.«

Ich auch, dachte Robie.

»Haben Sie zurzeit interessante Fälle?«, fragte sie. »Das ist natürlich eine rein rhetorische Frage.«

»Und Sie?«

»Ach, so dies und das.«

»Wollen Sie nicht deutlicher werden?«

»Vielleicht beim Essen. Vielleicht auch nicht. Kommt auf die Qualität der Cocktails an.«

»Dann bis später.«

Er legte das Handy weg und schaute wieder aus dem Fenster nach draußen, wo Leute bei dem Versuch, dem Regen zu entkommen, über die Bürgersteige eilten. Die Nässe schien bis ins Mark dieser Gegend eingedrungen zu sein und machte alles so kalt und unerfreulich, wie es nur sein konnte.