Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt - Patricio Pron - E-Book

Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt E-Book

Patricio Pron

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Beschreibung

Der argentinische Autor Patricio Pron verfolgt auch in seinem zweiten Roman eine eigenwillige Poetik. Daher wird er von der Kritik schon heute mit den großen Stimmen der lateinamerikanischen Weltliteratrur, wie Borges, Bolaño oder Rulfo, verglichen. Ein fiktiver faschistischer Schriftstellerkongress im norditalienischen Pinerolo im April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, endet mit einem Mord. Ebenfalls kurz vor Kriegsende wird ein verletzter Partisan von einem Faschisten versteckt. Ein halbes Jahrhundert später forscht der Enkel des Partisanen über Faschismus und Brigadisten und stößt dabei auf die Geschichte seines Großvaters. Stück für Stück setzt sich ein Puzzle zusammen, das den Zusammenhang von Kunst, Politik und Gewalt zeigt.

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Seitenzahl: 500

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Patricio Pron

Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt

Roman

 

 

Aus dem Spanischen von Christian Hansen

 

Über dieses Buch

Ein fiktiver faschistischer Schriftstellerkongress im norditalienischen Pinerolo im April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, endet mit einem Mord. Ebenfalls kurz vor Kriegsende wird ein verletzter Partisan von einem Faschisten versteckt. Was hat er mit ihm vor? Ein halbes Jahrhundert später forscht der Enkel des Partisanen über Faschisten, Futuristen und Brigadisten und stößt dabei auf die Geschichte seines eigenen Großvaters. Stück für Stück setzt sich ein Puzzle zusammen, das den Zusammenhang von Kunst, Politik und Gewalt zeigt.

Der argentinische Autor Patricio Pron spannt einen weiten Bogen – von den vierziger Jahren bis heute erzählt er drei Geschichten aus Europa, die wie ein Zopf ineinander verflochten sind.

Gekonnt verbindet er Realität und Fiktion und entwirft dabei eine Vergangenheit, die immer noch präsent ist. Patricio Pron ist ein Autor, der konsequent seine eigene Poetik verfolgt und schon jetzt mit den großen Stimmen der Weltliteratur wie Borges oder Rulfo verglichen wird.

Vita

Patricio Pron wurde 1975 in Rosario, Argentinien, geboren, hat in Göttingen in Romanistik promoviert und lebt heute in Madrid. Für seine Erzählungen erhielt er 2004 den Juan Rulfo Short Story Prize. 2010 wurde er in die spanische Ausgabe der «Granta»-Anthologie aufgenommen, unter die 20 besten spanischsprachigen Autoren unter 40 gewählt. 2019 wurde er mit dem Premio Alfaguara ausgezeichnet.

 

Christian Hansen wurde 1962 in Köln geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, lebt in Berlin und Madrid. Er übersetzte u. a. César Aira, Roberto Bolaño, Julio Cortázar.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «No derrames tus lágrimas por nadie que viva en estas calles» bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U., Barcelona.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«No derrames tus lágrimas por nadie que viva en estas calles» Copyright © 2019 by Patricio Pron

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Thomas Dworzak/Plainpicture

ISBN 978-3-644-00046-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Die alte Welt stirbt, die neue liegt in den Wehen: Die Stunde der Ungeheuer ist gekommen.

Antonio Gramsci

Inhalt

Ravenna, Florenz, Genua, Rom / März 1978 (1)

Turin / November 1977

Ravenna, Florenz, Genua, Rom / März 1978 (2)

Pinerolo / April 1945

Florenz / März 1978

Valsessi / Oktober 1944

Florenz / April oder Mai 1947

Mailand / Dezember 2014

Einige der in diesen Büchern erwähnte Personen

Anmerkung des Autors

Ravenna, Florenz, Genua, Rom / März 1978 (1)

Wir Dichter beginnen in unserer Jugend mit der Traurigkeit; / und später, am Ende, kommen Niedergeschlagenheit und Wahnsinn dazu.

«An Delmore Schwartz (Cambridge 1946)»

Robert Lowell

Oreste Calosso. Genua, 16. März 1978

Der einundzwanzigste April 1945 begann mit strahlendem Sonnenschein, wie alle Tage dieses schrecklichen Monats. Das weiß ich noch genau, auch dass Luca Borrello mit offenen Augen dalag und in den Himmel schaute, als wir seine Leiche fanden, als hätte auch er gerade noch gedacht, was für ein herrlicher Tag das war.

Atilio Tessore. Florenz, 11. März 1978

Am einundzwanzigsten April 1945 regnete es den ganzen Vormittag, dann kam die Sonne raus; da hatten wir uns aber ironischerweise alle bereits ins Trockene geflüchtet, und niemand zeigte das geringste Interesse, noch einmal hinaus- und spazieren zu gehen; tatsächlich waren einige von uns schon im Begriff, aufzubrechen.

Michele Garassino. Genua, 13. März 1978

Ich erinnere mich nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Sie meinen, mir ist auch schleierhaft, warum ich mich erinnern können sollte, wie das Wetter an einem x-beliebigen Tag vor dreißig Jahren war.

Espartaco Boyano. Ravenna, 10. März 1978

Am einundzwanzigsten April 1945 regnete es den ganzen Tag, und das erschwerte die Suche. Nach und nach gaben fast alle Helfer auf, von einigen wenigen abgesehen, die wie ich trotz der schlechten Wetterbedingungen weitersuchten. Keine Ahnung, ob sie das aus Neugier taten oder weil sie davon überzeugt waren, der Verschwundene hätte jeder von ihnen sein können, oder aus der – gar nicht so abwegigen – Überlegung heraus, sie würden, wenn sie sich an der Suche beteiligten, vom Kreis der Verdächtigen ausgenommen werden. Wenn sich nämlich herausstellen sollte, dass Borrello doch nicht Hals über Kopf abgereist, sondern einem Unfall oder Mord zum Opfer gefallen war.

Atilio Tessore. Florenz, 11. März 1978

Warum sollte ich befürchten, zum Kreis der Verdächtigen gezählt zu werden? Hatte ich nicht tags zuvor für Borrello Partei ergriffen, der meinte, dass wir mit einem baldigen Regimewechsel rechnen müssten und die Pflicht hätten, uns daran zu beteiligen, damit unser Projekt nicht ganz vor die Hunde ging? Hat man Ihnen, jung, wie Sie sind, nicht schon erzählt, dass man Borrello damals Defätismus vorwarf, dass einige behaupteten, er sei ein Spitzel, dass sogar gemunkelt wurde, er habe den Verstand verloren? Mit anderen Worten, dass er aus Vereinsamung und möglicherweise aus Lebensüberdruss den Verstand verloren habe und sein letztes Projekt – über das nur Gerüchte kursierten, wenngleich diese sich hartnäckig hielten und interessanterweise sogar miteinander übereinstimmten, als hätten all jene, die sie kolportierten, Borrello mit eigenen Augen an seinem Projekt arbeiten sehen oder, was wahrscheinlicher ist, das Gerücht in der Annahme akzeptiert, Borrellos Werk, das sich verzettelte und verwandelte und zunehmend idiosynkratische und befremdliche Formen annahm, als hätte nicht auch L’anguria lirica[*] idiosynkratische und befremdliche Züge besessen und in eine Richtung gewiesen, der nur Borrello zu folgen wünschte und der wir folgen zu wollen behaupteten, der wir aber nicht folgten, wohl weil wir verstanden hatten, dass Kunst und Leben niemals wirklich vermischt werden durften, dass die Kunst der – beunruhigende oder versöhnliche – Traum einer gewissen geistigen Nachtarbeit sein musste, die nur von der Möglichkeit phantasieren durfte, Kunst und Leben zu vereinen, und dass beides auch deswegen nie miteinander vereint worden war, weil diese Vereinigung ein Abgrund war, über den man sich besser nicht beugte und über den wir uns nur eine Handbreit beugten, um sogleich entsetzt zurückzuweichen, in der Annahme, sage ich, dass Borrellos Werk nur das Ende finden konnte, das es tatsächlich oder Gerüchten zufolge gefunden hatte, auf die Weise enden konnte, wie es tatsächlich oder Gerüchten zufolge geendet hatte – klar zu erkennen gebe, dass Borrello einen schmalen, undefinierbaren Weg eingeschlagen habe, mit Gehsteigen zu beiden Seiten, auf denen hüben die Kunst, drüben Wahnsinn und Auslöschung angesiedelt waren, und dass er erschöpft auf einem von beiden gestrandet sei, dann nach vorn schaute, ans Ende des Wegs, um zu entdecken, dass der Weg keinen Horizont hatte, sondern auf einen Vorhang zulief, der einen Horizont bloß vortäuschte, und dass sich hinter dem Vorhang nur eine massive Felswand befand, so wie jene, an deren Fuß er gefunden worden war, wie man mir sagte, oder dass dahinter ein Unbekannter stand, der über die Ignoranz oder Naivität des Wanderers schallend lachte, vielleicht aber auch nur ein Spiegel, ein Spiegel, in den weder Borrello noch einer von uns jemals hätte schauen wollen.

Turin / November 1977

Wir gestehen der Jugend alles Recht und all die Autorität zu, die wir den Alten, Sterbenskranken und Toten verweigern und brutal entreißen wollen.

«Notwendigkeit und Schönheit der Gewalt»

F.T. Marinetti

Ein paar Meter weiter vorn krümmt sich der Rücken des alten Professors, so sehr, dass von seinem Nacken nichts mehr zu sehen ist; die Mulde, die durch die Krümmung des Rückens in der Jacke entsteht, dazu noch die Gewohnheit, beim Gehen den Kopf vorzurecken – was man, wie Pietro oder Peter Linden weiß, den seine Mutter, und nur sie, auch «Pitz» und «Peeke» ruft, als «Schwanenhals» bezeichnet, und er weiß auch, dass es sich dabei um eine Fehlhaltung handelt, die man korrigieren kann, denn er selbst hat als Kind darunter gelitten und wurde von seiner Mutter auf die damals übliche Weise davon kuriert, indem sie ihm einen Stapel Bücher auf den Kopf legte und ihn dazu verdonnerte, durchs Haus zu gehen, ohne sie fallen zu lassen –, sind der Grund, dass man vom Hinterkopf des alten Professors nur die Spitzen der Ohren und etwas weißes Haar sieht, das seinen Schädel krönt und in diesem Moment wegen des Windes etwas zerzaust ist, scheint sich der Winter doch verfrüht zu haben, und die Stadt bekommt seine Winde zu spüren – was nebenbei für die meiste Zeit des Jahres gilt –, die die Kälte aus den Turin umgebenden Bergen herantragen, auf deren Gipfeln schon Schnee liegt. Aber das macht nichts, denn Pietro oder Peter Linden kennt den alten Professor gut und braucht nur ein, zwei Details – die Farbe der Jacke, die er heute trägt, bleigrau, oder dieses Stocken, wenn der alte Professor den rechten Fuß vorsetzt, denn Pietro oder Peter Linden weiß, weil der alte Professor in einem seiner Seminare einmal davon erzählt hat, ohne dass es dafür eigentlich einen Anlass gab, man habe ihm den neu machen müssen, er sei damals in den Trümmern des Hauses eingeklemmt worden, das seine Frau und er während der letzten Kriegstage in Mailand bewohnten und das einstürzte, als das Nachbargebäude von einer Granate getroffen wurde; dem alten Professor zufolge mit rund zwanzig eingeschlossenen Kindern darin, denn das Nachbarhaus war eine Schule –, zwei, drei Details also, um ihn in der Gruppe von Menschen auszumachen, die an der Ecke der Straßen Giuseppe Verdi und Gioacchino Rossini stehen und darauf warten, dass der Verkehr etwas abflaut, damit sie auf die andere Seite können, hinüber zum Corso San Maurizio, um von dort weiter in Richtung Fluss zu laufen; eine Straßenecke, an der Linden und der alte Professor gleichzeitig angekommen sind – was der alte Professor natürlich nicht weiß –, nachdem sie zuvor das Universitätsgebäude verlassen und, ebenfalls gemeinsam, allerdings in einem gewissen Abstand zueinander, durch die Via Fratelli Vasco gelaufen sind. Linden musste sich nur wie ein Student verhalten, um dem alten Professor in kurzer Entfernung folgen zu können, und weiter vorn sind es die Arkadengänge, die ihm Deckung gegeben haben, dann die Menschenmenge, die um diese Tageszeit auf den Straßen unterwegs ist, mit einer gewissen Eile, weil in wenigen Minuten die Geschäfte schließen, aber immer noch zu langsam für Linden, der oft den Eindruck hat, als bewegten sich die Leute nicht schnell genug, wenn sie auf der Straße unterwegs sind, sodass er, der erhebliche Risiken auf sich zu nehmen bereit ist, um der Ankunft einer neuen Welt den Weg zu ebnen, die weder er noch seine Kameraden sich vorzustellen vermögen und von der sie wahrscheinlich ausgespuckt werden, wenn sie eines Tages kommt, falls sie denn jemals kommt, bezüglich dieser Welt nur zwei Dinge zu wissen glaubt, die er, der sich manchmal dabei überrascht, wie er mit einem maliziösen Lächeln auf den Lippen an sie denkt, für unverhandelbar hält: dass es in dieser neuen Welt Bücher gibt und dass man es den Leuten verbieten wird, zu flanieren, und sie stattdessen dazu verpflichtet, sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit zügig fortzubewegen oder zu Hause zu bleiben. Sich der Langsamkeit anzupassen, die nötig ist, um, ohne aufzufallen, hinter dem alten Professor herzugehen, stellt tatsächlich die einzige Schwierigkeit dar, die ihm in den letzten acht Tagen begegnete, an denen er ihm jeweils von der Universität bis zu seinem Haus gefolgt ist, auf immer dem gleichen Weg, den der alte Professor zurücklegt, ohne jemals anzuhalten oder sich umzudrehen, als schwebte über ihm nicht der Schatten eines Verdachts oder als wäre er sich der Möglichkeit nicht bewusst, dass seine Worte – einige davon, jene nämlich, die er regelmäßig in einer Lokalzeitung äußert oder in seinen Seminaren von sich gibt, die Linden im vergangenen Semester besucht hat und mit denen er im Großen und Ganzen zufrieden war, trotz der zahlreichen abfälligen Bemerkungen, mit denen der alte Professor die politischen Splittergruppen und Zellen bedenkt, die fast alle gewaltbereit sind, sich fast alle aus jungen Leuten zusammensetzen, mit denen er, Linden, anfangs sympathisiert und denen er sich später angeschlossen hat, wobei seine Position unter ihnen noch nicht gefestigt ist, weshalb die Beschattung des alten Professors für ihn eine Art Prüfung darstellt – ihn teuer zu stehen kommen könnten, und Linden erinnert sich insbesondere an ein paar Formulierungen aus dem letzten Jahr, als sein Seminar von einer Handvoll junger Leute unterbrochen wurde, die von ihm forderten, es ausfallen zu lassen, damit sie, die Studenten – von denen es, Linden eingeschlossen, nur etwa eine Handvoll gab –, an der Demonstration teilnehmen konnten, die sich in diesem Moment auf dem Innenhof der Universität formierte und bei der einige schon Parolen schrien, andere Barrikaden aus Tischen und Bänken bauten, in der Absicht, sie in Brand zu stecken, sollte die Polizei den Innenhof stürmen, was diese, die schon aufgezogen war und in der Via Po und Via Giuseppe Verdi eine waffenstarrende Mauer gebildet hatte, bei der geringsten Provokation zu tun gewillt schien, und der alte Professor schaute sie nur an und sagte: «Ich werde nicht zulassen, dass dieses Seminar aus politischen Gründen unterbrochen wird.» Ein oder zwei der Anwesenden schlossen sich den Spontis an, die das Seminar unterbrochen hatten, und liefen mit ihnen die Treppen hinunter in Richtung Innenhof, Linden aber – der damals nicht wusste, dass er bald einer von ihnen sein, mit ihnen auf eine Konfrontation mit der Geschichte zusteuern würde, nicht ahnend, dass einer von den jungen Leuten in der Kommandozelle, der er sich in Kürze anschließen wird, seine Supervision übernehmen wird, dass ein anderer ihn schließlich davon überzeugen kann, dass jetzt der Moment sei, sich gegen den Staat aufzulehnen, dass wieder ein anderer, einer, der seine Wohnung öfter für politische Versammlungen zur Verfügung stellt, die Linden damals noch nicht besuchte, aber bald besuchen wird, einige Jahre später bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen werden sollte – ging nicht mit hinunter, war also einer der wenigen, die hören konnten, was der alte Professor murmelnd zu sich selbst sagte: «Wir haben auch geglaubt, wir würden für etwas kämpfen, aber wir haben nur für uns selbst und für unsere Jugend gekämpft, und wir haben sie verloren», und was der alte Professor damals sagte, hat sich Linden eingeprägt, ebenso ganze Sätze aus den Zeitungsartikeln des alten Professors, in denen er sich gewöhnlich für eine härtere Haltung in der Auseinandersetzung mit den jungen Leuten und für eine Rückkehr zu Werten ausspricht, die im Wesentlichen religiöser Natur sind und mit einer Lebensweise einhergehen, die nicht sehr verschieden ist von der der Eltern und Großeltern des alten Professors, wenn auch gerade nicht mit der des alten Professors selbst, der wie alle seiner Generation ein Leben mit dem Rücken zu diesen Werten führen musste, unter anderem weil er an zwei Weltkriegen teilgenommen hat und weil die Weltkriege die Lebenswelt seiner Eltern und Großeltern zerstört haben, in deren Kontext jene Werte noch sinnvoll und angemessen schienen. Vielleicht, denkt Linden, während er die Via Gaudenzio Ferrari hinter sich lässt – wenige Meter voraus der Rücken des alten Professors, vom Gewicht des Kopfes und der Gleichgültigkeit gebeugt, die die Schaufenster der Geschäfte in ihm hervorrufen –, sind diese Werte ja ersonnen worden, um die Kriege und die auf sie folgende Welt zu verhindern, aber viel wahrscheinlicher ist tatsächlich, dass sie zu beidem beigetragen haben, weshalb sie nicht gerade obsolet, aber doch unbrauchbar für alles andere als einen Fortbestand des Status quo sind, den es nach seiner und seiner Kameraden Ansicht zu verändern gilt. Der gegenwärtige Zustand der Republik Italien macht es erforderlich, denkt Linden, dass sich die Konfrontation zuspitzt, dass mehr und immer schlagkräftigere Mittel eingesetzt werden, um den Vormarsch des Staates einzuschränken, obwohl die vermehrten Aktionen möglicherweise im Sinne einer Rechtfertigung dazu beitragen könnten, dass der Staat mit noch größerer Härte vorgeht, um sie zu verhindern oder zu unterdrücken. Linden sieht sich nicht imstande, zu sagen, was in dieser Hinsicht zu tun das Beste wäre, und tatsächlich interessiert ihn nur das «Tun», worin eine politische Überzeugung ebenso enthalten ist – dass sich die Situation in Italien ändern muss, wobei nicht so wichtig ist, was sie ersetzen soll – wie das Gefühl eines inneren und folglich nicht unbedingt sichtbaren Mangels, der sich jedoch – und das allerdings sichtbar – in seinem blonden Haar manifestiert, womit er sich von den anderen abhebt, die auf der Via Rossini unterwegs sind, obwohl es in Turin nicht wenige Blonde gibt, und in seinem Namen, zwei Dinge, für die er sich schämt, weil sie zeigen, dass er zumindest teilweise Deutscher ist – will sagen, dass zumindest ein Teil von ihm mit den Verursachern des italienischen Ruins in den Kriegsjahren identisch ist –, wenngleich die Dinge in seinem Fall komplexer sind, da er nicht wie etliche seiner italienischen Kameraden aus einer gewollten oder ungewollten Verbindung zwischen italienischen Frauen und deutschen Wehrmachtssoldaten hervorgegangen ist, sondern seine Eltern sich etliche Jahre nach dem Krieg in Mailand kennengelernt haben, als seine Mutter mit dem Chor ihrer Kirchengemeinde an einer dieser endlosen Tourneen teilnahm, welche die deutsche evangelische Kirche damals mit ziemlicher Regelmäßigkeit organisierte, um zwischen den ehemaligen Feinden «Bande zu knüpfen» und damit man, konkreter und unterschwelliger, den Deutschen die tragischen Taten der Vergangenheit verzieh, bei denen die Deutschen anfangs Täter und später Opfer oder, in gewisser Hinsicht, einfach immer Opfer waren, obwohl sein Name gar nicht von dort stammt, sondern von einem Tischler aus dem Kanton Bern, der vor rund sechzig Jahren nach Turin gekommen war, um in der Industrie zu arbeiten. Die Sache ist Linden nicht gleichgültig, aber er fragt sich, ob sie die gleiche Bedeutung für ihn hat wie die Ereignisse um die Eskalation der Gewalt seit dem fünfzehnten März 1972 in Italien, in deren Verlauf sich die Rhetorik radikalisiert hat, die Formen des Kampfes gegen den Staat sich radikalisiert haben und dieser sich seinerseits zu radikaleren Antworten auf die Provokationen bereit gefunden hat, die der Unzufriedenheit und einer erweiterten Vision des Politischen entspringen, oder sind Radikalisierung und Ablehnung etwa nicht politisch? Ist es nicht offensichtlich, dass sich der alte Professor, der wenige Meter vor ihm hergeht, in diesem Fall geirrt hat und dass seine Klasse, wenn sie bestehen blieb, das in erster Linie aus politischen Gründen tat? Dass die Existenz einer Trennung zwischen den Formen des politischen Protests und den Weisen der Wissensvermittlung in Wirklichkeit ein politisches Problem ist? Linden, der sich dem Corso San Maurizio nähert, gemeinsam mit dem Professor und einer Handvoll anderer Personen, die ihm gleichgültig sind und denen er nur gerade so viel Aufmerksamkeit schenkt wie nötig, um den Erfolg seiner Beschattung sicherzustellen, hält es für erforderlich, zu allen Mitteln zu greifen, um beide Bereiche, Politik und Erfahrung, Reflexion und Aktion, zu vereinen; die Praxis, auch die künstlerische, und, sagen wir es so, das Leben. Linden verzögert seine Schritte absichtlich, versteckt sich hinter zwei Frauen, die mit dem Einkauf nach Hause kommen – Tomaten, Brot, Zwiebeln, etwas, das aussieht wie Basilikum, vielleicht auch Minze, Fleisch, das schon das Einwickelpapier mit Blut getränkt hat und außen an der Einkaufstüte von einer der Frauen einen feuchten Fleck bildet –, denn der Corso San Maurizio ist eine breite Straße, auf der um diese Zeit wenige Menschen unterwegs sind, und wenn der alte Professor sich umdrehte – obwohl er sich noch kein einziges Mal umgedreht hat und es nicht so aussieht, als würde er es noch tun; möglicherweise ja nie: so sicher ist sich Linden seines diskreten Vorgehens und des Schutzes, den die Legitimität seines Handelns in ihm und um ihn herum erzeugt, als stellten sie eine Art gepolsterter Wand dar, die ihn von den anderen trennt und Gefahren fernhält –, würde er ihn beim langsamen Überqueren vielleicht erkennen, das einer Linie folgt, die von Bussen und fahrenden oder auf dem Mittelstreifen parkenden Autos interpunktiert wird, von Fahrern, die vor dem Zebrastreifen hupen und brüllen, weil sich die Passanten für ihren Geschmack grundsätzlich zu langsam fortbewegen, insbesondere die beiden Frauen, die mit ihrem Einkauf heimkehren, und Linden, der ihnen folgt, hebt den Kopf, um den alten Professor nicht aus den Augen zu verlieren, der einige Meter vor ihm hergeht, den Corso schon fast vollständig überquert hat und jetzt einen Augenblick vor der Auslage einer Confiserie stehen bleibt und zögert, anscheinend über das nachdenkend, was er sieht, möglicherweise darüber, ob der Kauf einer Schachtel Pralinen notwendig und angemessen wäre, keine von den großen und teuren vielleicht, sondern eine kleine, schlichte, die er unauffällig in die Tasche stecken könnte, aber er verwirft den Gedanken und geht langsam weiter, lässt die Via Santa Giulia hinter sich, nähert sich mit festem Schritt der Straßenbahnhaltestelle der Linie 16, deren Route Linden nicht kennt, und erreicht schließlich den Corso Regina Margherita, der Linden vor dieselben Schwierigkeiten stellt wie der Corso San Maurizio, die er lösen will, indem er hinter jemandem Deckung sucht, zum Beispiel hinter den Frauen, die vom Einkaufen zurückkommen; aber die Frauen sind schon in der Santa Giulia abgebogen, und als Linden nach ihnen Ausschau hält, findet er sie nicht, weshalb er die – freilich riskante – Entscheidung trifft, die er schon bei der zweiten oder vierten Beschattungsaktion hatte treffen müssen, nämlich die, entschlossen auszuschreiten, den alten Professor hinter sich zu lassen – der nicht merkt, gar nicht mitbekommt, dass er von einem Studenten und Teilnehmer eines seiner früheren Seminare überholt wird, von einem, der sich an eine Situation erinnert, in der er kategorisch erklärt hatte, er werde nicht zulassen, dass man sein Seminar aus politischen Gründen unterbricht; das heißt, aus anderen politischen Gründen als jenen, die er regelmäßig in der Presse und in seinen Seminaren verteidigt und die für die Rückkehr zu Ordnung und Tradition plädieren oder zu dem, was er unter Tradition versteht, im Wesentlichen nämlich die idealisierte Version jener Zeiten, die auf die Revolution gefolgt waren, die ausgelöst wurde, als man an einem Ort in Palästina jemanden an ein Kreuz genagelt hatte –, um sodann die Straße zu überqueren und sich in einen Kiosk zu flüchten; dort kauft er ein paar Zeitungen, und wegen der Nachbarschaft zu den Zeitungen, einfach weil seine Hand sich dorthin verirrt und eine Karte zu fassen bekommt, kauft er, ehe er auch nur weiß, warum und wozu, zusätzlich eine Ansichtskarte von der Mole Antonelliana, ohne zu wissen, wem er sie schicken soll, obwohl er sie natürlich seinem Vater hätte schicken können, wenn der nicht vor einigen Jahren gestorben wäre, in der Umgebung eines Krankenhauses in der Umgebung von Mailand, das Linden bei seinem einzigen Besuch eher wie ein Ort vorgekommen ist, an dem die Alten und Verrückten zusammen mit allem, was sie in den Kriegsjahren erlebt, gesehen und getan haben, wie Sondermüll deponiert werden. Linden sieht, wie der alte Professor auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Schaufenster des Zeitungsladens vorbeigeht, und folgt ihm mit den Augen, bis eine Säule die Fensterscheibe unterbricht und der Professor außer Sicht gerät; während er ihn vorbeigehen sieht, ist Linden mitten im Laden stehen geblieben und wacht aus seiner Versenkung erst auf, als der Alte, der ihn bedient und glaubt, Linden habe noch etwas vergessen oder traue sich bloß nicht, eine weitere Bitte zu äußern, ihn mit starkem Triester Akzent – dem Akzent eines Vertriebenen, denkt Linden – fragt, ob er vielleicht etwas anderes suche, und aus den Tiefen des Ladentischs einige pornographische Fotografien hervorholt, die aussehen, als seien sie vor Jahrzehnten angefertigt worden, vor dem Krieg möglicherweise, und die Linden an etwas erinnern, das er nicht eindeutig identifizieren kann, eine Art kindlicher Scham vor den ersten stammelnden Manifestationen des Begehrens und der Neugier auf Frauen, sodass er zögert und dann sagt, er sei nicht interessiert, er habe nur geträumt, und den Laden verlässt, aber vorher hört er noch, wie der Triester hinter seinem Rücken «Tunte» murmelt: Als er sich umdreht, sieht er, wie er selbst die Fotografien betrachtet, mit einem unbegreiflichen Ausdruck im Gesicht. Der alte Professor wiederum befindet sich schon annähernd in der Mitte der Ponte Rossini, wo er in diesem Moment einem Mann ausweicht, der ein Köfferchen trägt und in die gegensätzliche Richtung strebt, zur Haltestelle der Straßenbahn und direkt auf Linden zu, der die Straße überquert, ihm seinerseits ausweicht und weiter hinter dem Professor hergeht, der über den Lungo Dora Firenze hinweg der Via Reggio folgt und zur Via Pisa kommt und dort etwas tut, was er an den vergangenen Tagen nie getan hat, an den Tagen, da Linden ihm gefolgt ist und sich immer gefragt hat, wo die geplante Aktion sich wohl am besten durchführen ließe, auf der Höhe der Brücke, die gute Fluchtmöglichkeiten bietet, oder wenn der Professor zu Hause anlangt oder an irgendeinem Punkt dazwischen, diesmal nämlich betritt er an der Ecke der Straßen Reggio und Pisa eine Buchhandlung, und das lässt Linden erstarren, der sich fragt, was er jetzt tun soll, ebenfalls hineingehen oder draußen warten, aber in dem Fall, wo?, weil die Buchhandlung Schaufenster über die ganze Breite hat und sich schwerlich eine Stelle denken lässt, an der man von drinnen nicht gesehen würde, aber während er sich langsam der Buchhandlung nähert, sieht er den alten Professor bereits wieder herauskommen und begreift; versteht, weshalb er hineingegangen ist und die Buchhandlung gleich wieder verlassen hat, und nimmt davon mental Notiz, um anschließend dem Professor weiter zu folgen, der anschließend nicht mehr von seiner üblichen Route abweicht; das heißt, er geht die Via Reggia entlang, biegt links in die Via Parma und steuert, noch langsamer jetzt, da der Weg ihn schon erschöpft zu haben scheint, auf Hausnummer neunundvierzig zu, wo er anhält, aus dem hinteren Fach seiner Aktentasche einen Schlüssel holt und ihn ins Türschloss eines Gebäudes steckt, das man – aber weder Linden noch der alte Professor können das wissen, Letzterer allerdings wird, anders als Linden, nicht einmal die unmittelbaren Veränderungen in der Straße, der Stadt, dem Land mitbekommen – in einigen Jahren abreißen wird, um Platz für eines jener modernen, funktionalen Gebäude zu schaffen, die im Viertel aus dem Boden schießen, seit die Bewohner der alten Paläste finden, dass sich die Zeiten geändert haben und es nötig ist, andere Häuser für sich zu suchen, andere Lebensformen, was tatsächlich das Einzige ist, das Linden und seine Gesinnungsgenossen anstreben, obwohl sie es am Ende möglicherweise bereuen werden: eine neue Epoche, in der Kunst und Leben wieder vereint sind, nach Jahrzehnten eines eklatanten, wechselseitigen Unverständnisses und gegenseitiger Verachtung, Ergebnis einer Zeit, die man – und tatsächlich glauben das Linden und jene, die ihm den Auftrag zur Beschattung erteilt haben, der schon fast erledigt, endlich zu Ende geht – in der Gestalt des alten Professors verkörpert sehen könnte, der mit dem Türschloss ringt, der mühsam einen der beiden großen Türflügel des Gebäudes aufdrückt, hineinschlüpft und zum letzten Mal Lindens Blicken entschwindet.

 

Ein paar Tage später ist der alte Professor tot: von Kugeln durchsiebt bei einer Aktion, die ein Exempel statuieren soll und die – den Verlautbarungen zum Trotz, mit der die Organisation, der Linden angehört, die Hinrichtung für sich beansprucht und weitere ähnliche Aktionen gegen Vertreter des alten Regimes und der Staatsräson in Aussicht stellt – in Wirklichkeit schlecht, ausgesprochen schlecht gelaufen ist, was Linden, der an der Aktion nicht beteiligt war – obwohl in gewisser Weise schon, schließlich war er es, der ihn beschattet und anschließend eine detaillierte Skizze von Wegstrecken, Zeiten, Zwischenfällen erstellt hatte, die er seinem Verbindungsmann übergab, der ihn später wissenlässt, er habe ausgezeichnete Arbeit geleistet und man werde ihn möglicherweise bald mit ähnlichen Aufgaben betrauen, der ihn außerdem fragt, ob er Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen habe –, sofort versteht, als er die Nachricht in der Zeitung liest und auf diese Weise erfährt, dass der Professor verblutet ist, da sich sämtliche Schussverletzungen auf die Beine des Toten konzentrierten; was bedeutet, dass man die Absicht hatte, den alten Professor nur einzuschüchtern, der dann vor der Tür seines Hauses verblutete, während er auf einen Krankenwagen wartete, den ein Anwohner, der seinen Namen nicht nennen wollte, vom Telefon einer nahen Bar aus anrief und den rechtzeitig zu schicken der italienische Staat, den er in seinen Seminaren und Zeitungsartikeln verteidigt hatte, offenbar außerstande war, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, weil es zeigt, dass nicht nur Linden und die Mitglieder der Organisation, der er angehört, ungeschützt sind, die das so gewollt und für ihre Aktionen Heimlichkeit und Untergrund gewählt haben, sondern auch die Personen, die sich für den Schutz des Staates und die Verteidigung durch seine Institutionen entschieden haben: Sie sind vom Staat alleingelassen worden, ohne dass dieser Staat deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, weil er möglicherweise ebenfalls verstanden hat, dass sich die Zeiten geändert haben und man das Neue nur mit dem Neuen besiegen kann, maskiert freilich als das Alte und Überholte und durch diese Maskierung legitimiert, durch jene Aura von Respektabilität, die Linden an vielen Orten bemerkt; in Rom zum Beispiel, wohin ihn die Organisation geschickt hat, kurz bevor man die Aktion gegen den alten Professor verübt, und wo er die Nachricht in einem Café nahe des Bahnhofs Termini in der Zeitung liest; er hat dort eine konspirative Wohnung, die er mit einem anderen Aktivisten teilt, der ihm gesagt hat, er heiße Paolo und gehöre zur Gefängnis-Kontaktgruppe in der Region Bologna, was ihm Linden jedoch nicht glaubt, weil er als Mitglied der Gefängnis-Kontaktgruppe keine konspirative Wohnung benutzen würde, weil er außerdem gar keinen Bologneser Akzent hat, sondern einen, der vage auf Süditalien verweist, möglicherweise auf Kalabrien; und weil er gesehen hat, wie er in seinem Zimmer große Geldsummen zählt, die er dann in einer unter dem Kopfende seines Bettes versteckten Kiste verstaut, möglicherweise in Erwartung eines Waffengeschäfts, das abzuschließen er im Begriff steht, vielleicht auch um Linden auf die Probe zu stellen, damit er sich versucht fühlt, das Geld zu nehmen und sich aus dem Staub zu machen, etwas, wofür ihn die Organisation mit dem Leben bezahlen ließe und was er nicht zu tun gedenkt; es könnte auch sein, dass der angebliche Bologneser ein Maulwurf ist, der in der Wohnung installiert wurde, um auf einen wichtigeren Vertreter der Organisation zu warten und ihn festzunehmen, Dinge, die in der Vergangenheit geschehen sind und weiterhin geschehen, was dazu führen wird, dass seine Organisation, wie früher oder später alle Organisationen, über sich selbst herfallen und ihr revolutionäres Potenzial mit der undankbaren Aufgabe verspielen wird, interne Säuberungen durchzuführen, Maulwürfe zu enttarnen, ihre Aussagen und Rechtfertigungen anzuhören, sie hinzurichten, zu entlasten, zu benutzen, Linden weiß das, er weiß es, weil sein Vater es ihm im Laufe seines Lebens Dutzende oder möglicherweise Hunderte Male gesagt hat, er, der während des Krieges bei den Partisanen war und Deutsche und Kollaborateure und leider auch ein oder zwei Maulwürfe hat erschießen müssen, obwohl für ihn nie eindeutig feststand, ob sie wirklich Maulwürfe waren, weshalb es durchaus sein kann, dass die Zweifel oder vielleicht die Gewissensbisse am Ende zu seinem Zusammenbruch und dem Entschluss beitrugen, seinem Leben ein Ende zu setzen, wobei sein Beispiel seinem Sohn eine Warnung hätte sein können, die dieser aber nur teilweise beherzigt hat, denn auch er ist, so zumindest seine Selbstwahrnehmung, zu einem Partisanen geworden; aber Linden weiß auch, oder sieht ein, dass ihm in Rom Gefahr droht, dass die Gräben, die sich zwischen den einen und den anderen auftun, für ihn diffuser zu werden beginnen, als sie es eigentlich sind – wenn sie denn überhaupt existieren –, weshalb er, so schnell er kann, nach Turin zurückkehrt und dort, bevor er wieder Kontakt aufnimmt, eine Sache erledigt, die er sich vor Tagen vorgenommen hat: Er geht eines Nachmittags wieder zu der Ecke Via Reggio und Via Pisa, betritt eine Buchhandlung, die, obwohl sie außen fast nur Fensterfronten hat, innen ungewöhnlich dunkel ist, tritt an den ebenfalls verglasten Ladentisch, hinter dem er einen Angestellten sieht, der auch, von der Brille bis zu den Händen, wie aus Glas gemacht scheint, und fragt ihn, ob die Bücher, die der alte Professor bestellt habe, schon gekommen seien, und der Angestellte, der ganz aus Glas zu sein scheint, mustert ihn, und Linden fügt hinzu, er sei der Assistent des alten Professors und in der Universität habe man ihm aufgetragen, die Bestellung abzuholen, die der alte Professor in den letzten Stunden seines Lebens noch hatte aufgeben können, und sie zu bezahlen, sodass der gläserne Angestellte, der möglicherweise auch denkt, Linden sei gläsern und seine Absichten seien es auch, ihn um einen Augenblick Geduld bittet und ins Lager geht, den Namen des alten Professors murmelnd, als müsste er den Namen beschwören, während er auf den Bücherpaketen nach ihm sucht, und schließlich findet er das entsprechende Paket und kehrt zum Tresen zurück, reicht es Linden, der es kaum richtig anschaut, das Geld hervorholt und den Angestellten bittet, eine Rechnung auf den Namen des Leiters der Bibliothek des Fachbereichs auszustellen, an dem der alte Professor beschäftigt war, weil, betont Linden, das in solchen Fällen Vorschrift ist, und nimmt anschließend die Beileidsbezeugungen des gläsernen Angestellten entgegen, eines verzweifelt mit den Tränen kämpfenden Figürchens, das stammelnd erklärt, der alte Professor sei so ein guter Kunde der Buchhandlung gewesen, greift schließlich nach Paket und Rechnung, die er dem Angestellten praktisch aus den gläsern kristallinen Händen reißen muss, und eilt sodann aus der Buchhandlung und die Via Reggio hinunter, ohne sich umzuschauen, ohne sich ein einziges Mal umzuschauen, während er sich fragt, was er weiter tun soll und wo.

 

Sein Leben lang hat Linden in der Literatur mehr gesehen als einen bloßen Zeitvertreib; mehr noch: Er sieht in ihr eine unabdingbare Notwendigkeit, eine Überzeugung, die womöglich das Ergebnis der ihm von seiner Mutter auferlegten Übungen oder der Ermahnungen seines Vaters ist, der zwar immer keine Zeit für sie fand, an ihrer Wichtigkeit aber keinen Zweifel ließ und das an seinen Sohn weitergab, dem er einmal sogar erzählte, er habe gegen Kriegsende einen Schriftsteller kennengelernt, der ihm, ohne einen Grund dafür zu haben, das Leben gerettet hatte, was Linden damals rätselhaft vorkam und später bloß wie eine von vielen Geschichten vom Krieg, der ja in gewissem Sinne aus nichts als Geschichten besteht; und so kommt es, dass er einmal mehr, unabhängig davon, was sein Vater in Bezug auf die Literatur und ihre Nützlichkeit geglaubt haben mag – für Linden kann es sie nur in Verbindung mit einer anderen Frage geben, der des «Um was zu tun» mit der Literatur –, wie auch immer, erneut alles beiseiteschiebt, um zu lesen, in diesem Fall die Bücher, die der alte Professor kurz vor seinem Tod bestellt hat, drei an der Zahl. In den nächsten Monaten wird er das mehrfach tun, wird die Möglichkeiten verstreichen lassen, sich mit der Organisation, der er angehört, in Verbindung zu setzen, was in nicht geringem Maße auch damit zusammenhängt, dass man wenige Wochen zuvor einige Aktivisten in ihren Zellen in einem westdeutschen Gefängnis ermordet haben wird oder diese sich umgebracht haben werden, mit dem Ergebnis, dass die kleine Welt, die Linden und seine Freunde und Bekannten um sich herum mit dem Ziel geschaffen hatten, dass sie die andere irgendwann ersetzen würde, die Welt dort draußen, die ihnen immer befremdlicher erscheint, sich noch weiter reduziert und gleichzeitig um eine bis zu diesem Moment ungeahnte Möglichkeit erweitert, die nämlich, nicht nur eingesperrt und gefoltert, sondern ermordet zu werden; obwohl es auch so gewesen sein könnte, denkt Linden auf dem Weg zu dem Treffen seiner Zelle, wo man über das Ereignis und die möglichen Vergeltungsmaßnahmen diskutieren wird, dass jene Aktivisten – deren Namen Linden so wie viele andere junge Leute überall in Europa gut kennt: Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Irmgard Möller, die überleben wird – nicht in ihren Zellen ermordet wurden, sondern dass sie sich selbst umgebracht haben, als Reaktion auf das Scheitern der letzten zu ihrer Befreiung unternommenen Aktion, der Entführung eines Flugzeugs mit seinen Passagieren und der Besatzung, das in eine Stadt in Afrika umgelenkt wurde – eine Stadt übrigens, in der Linden in der Zukunft eine Zeitlang leben wird, obwohl er das natürlich noch nicht weiß, und von deren Flughafen er mehrfach abfliegen und sich jedes Mal fragen wird, wo genau sich die Aktion ereignet und ob sie irgendwelche konkreten Spuren hinterlassen hat –, in der Absicht, mit der bundesrepublikanischen Regierung in Verhandlung zu treten, wozu diese jedoch nicht bereit war: Das Flugzeug wurde während der Nacht gestürmt; seine Entführer erschossen. In dieser Nacht treffen sich die Mitglieder der Zelle, der Linden angehört, um über die Aktion zu diskutieren, in einer konspirativen Wohnung in der Gegend von Mirafiori Nord, vis-à-vis der Kirche San Salvario, einer Wohnung, die er vor Wochen unter einem falschen Namen gemietet und mit dem Geld der Zelle, der er angehört, bezahlt hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie einzurichten, weshalb es dort nur ein Radio und eine Schreibtischlampe gibt, die jemand, der einige Zeit in der Kommune untergekommen war, in der auch Linden wohnt, offiziell zumindest, dort vergessen hat, als er auszog – oder rausgeworfen wurde, Linden erinnert sich nicht mehr genau –, sowie einige Matratzen, auf denen sich die Mitglieder der Zelle ausgestreckt haben, um zu rauchen, zu reden und Schlüsse aus dem Scheitern der Rettungsaktion ihrer westdeutschen Vorbilder und aus ihrem Tod im Gefängnis zu ziehen; aber diese Nacht wird mit keiner Schlussfolgerung enden, denn alle sind wie gelähmt, aus Verblüffung und Empörung und einer Art Angst, auch wegen der Ungewissheit, ob der Tod der Deutschen nun Mord oder Selbstmord war, zwei Optionen, über die sich ihre Anhänger und Gegner in Lindens Gruppe in dieser Nacht entzweien, zwei Optionen, die verschiedene Schlüsse, verschiedene Lesarten der Aktion zulassen und über sie entscheiden, sie in einem Fall zu einer erfolgreichen, im anderen zu einer gescheiterten Aktion machen: Wenn es Mord war, darf man sicher sein, dass sich die Konfrontation mit dem Staat weiter zuspitzt, da der Tod der deutschen Aktivisten – die man in der Presse, auch oder gerade in der italienischen, «Terroristen» nennt und zu keinem Zeitpunkt anders nennen wird – die unterschwellige Gewalt rechtsstaatlicher Institutionen offenkundig macht und zeigt, dass Recht und Gesetz nicht einmal für deren Hüter verbindlich sind, wodurch die öffentliche Meinung sich auf die Seite derer neigen würde, die diese Rechtsstaatlichkeit durch eine ersetzen wollen, die weniger auf Ungleichheit und der Herrschaft des Geldes gegründet ist; wogegen, wenn es sich um Selbstmord handelt – obwohl der Gedanke, dass ein solcher Selbstmord in einem Hochsicherheitsgefängnis möglich gewesen sein soll, in einem Gefängnis, das gebaut wurde, um die Möglichkeit von Selbstmord gerade auszuschließen, absurd erscheint –, die Aktion auch erfolgreich ist, zumindest dem Anschein nach erfolgreich, weil es bedeutet, dass die politischen Aktivisten auch dann noch über ihr Schicksal selbst bestimmen, wenn der Staat sie in seiner Gewalt hat; diese Demonstration selbstbestimmten Handelns und tragischer Autonomie kann man als einen Auftrag und eine Lehre für all diejenigen interpretieren, die, wie Linden und die übrigen Mitglieder der Zelle – deren Decknamen so absurd sind wie der, den Linden sich für sich selbst ausgesucht hat und den einzuprägen er sich nur widerstrebend die Mühe gemacht hat –, sie sich zu Leitbildern erwählt haben, doch legt sie auch den Schluss nahe – den Linden in dieser Nacht nicht offen zu ziehen wagt, da seine Position in der Organisation nach wie vor prekär ist und man ihn von bewaffneten Aktionen bislang ausschließt, was sowohl eine Maßnahme darstellt, ihn zu schützen, bis er mehr Erfahrung gesammelt hat, als auch eine stillschweigende Anerkennung, dass seine Fähigkeiten auf anderen Gebieten geschätzt werden, im Konzipieren von Aktionen, im Beschaffen konspirativer Wohnungen, gefälschter Papiere und Informationen aller Art, für die es von Vorteil ist, dass Linden sich in einer Grauzone zwischen Legalität und jener Illegalität bewegt, in der die übrigen Mitglieder der Zelle schon vollständig abgetaucht sind –, dass die, die sie sich zu Leitbildern gewählt hatten, von diesen im Stich gelassen wurden, indem sie lieber den Kampf aufgegeben haben, als weiter den Folgen ebendieses Kampfes zu trotzen, was Linden ehrenhafter findet, aber auch verrückter. In diesem Aufgeben des Kampfes liegt ein gewisses innerliches Scheitern der Aktion, das Linden an das ebenfalls innerliche Scheitern derer erinnert und über Jahre erinnern wird, die irgendwann einmal gekämpft und verloren haben, wie sein Vater, der gegen die Besetzung Norditaliens durch die Deutschen und gegen den Faschismus gekämpft und dann am Ende in gewisser Weise beidem nachgetrauert hat, gefangen in einem Spinnennetz aus Krediten, das schließlich beides erstickte, ihn und die Tischlerei, die er in dem Mailänder Außenbezirk aufzubauen versucht hatte, in dem Linden aufgewachsen ist, womit er seinem Sohn, ohne es zu wissen, die Gründe geliefert hat, den Groll und die Frustration zu empfinden, die kaum viel präsenter gewesen sein dürften denn als Kulisse für die theatralischen Aktionen, die Linden seit seiner Kindheit durchgeführt hat – zumindest glaubt er das, der er zu der Ansicht neigt, dass alles Vorspiegelung oder Verstellung sei, besonders in der Kindheit –, und die ihn dazu gebracht haben, sich der Zelle von Polit-Aktivisten anzuschließen, mit denen er jene besondere Nacht teilt, in der er sich auch nicht traut, seine Zweifel bezüglich der Angemessenheit der gegen den alten Professor verübten Aktion laut auszusprechen oder, besser gesagt, bezüglich der offenbar von allen gutgeheißenen Überzeugung, diese Art von Aktionen werde den Weg ebnen für die Heraufkunft einer neuen Welt mit Werten, die etwas mehr denen ähneln, für die sein Vater und die anderen Partisanen zu ihrer Zeit gekämpft haben und die sich nicht einmal im Durcheinander des Kriegsendes durchzusetzen vermochten, andererseits besteht aber auch die Möglichkeit – die keiner erwähnt in dieser Nacht, die keinem auch nur in den Sinn zu kommen scheint oder über die lieber keiner ein Wort verlieren möchte –, dass sich die deutschen Aktivisten, über die sie in jener Nacht in der konspirativen Wohnung diskutieren, gegen die Umstände durchgesetzt und einen sozusagen postumen Sieg errungen haben, indem sie den letzten Rest an Freiheit, der ihnen geblieben war, darauf verwendeten, ihren Selbstmord wie Mord aussehen zu lassen; das heißt, es so aussehen zu lassen, dass die Schuld an ihrem Tod auf den Staat zurückfallen muss, er sich sozusagen die Hände schmutzig gemacht hat, obwohl es evident ist, dass der Staat schon seiner Definition nach blutbefleckte Hände hat, ein Umstand, der Linden, obwohl er versteht und gutheißt, in diesem Moment daran hindert, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die deutschen Aktivisten könnten ihre Ermordung vorgetäuscht haben, weil er glaubt – und das ist gewissermaßen die letzte Grenze: die er weder jetzt noch jemals zu übertreten sich traut –, dass die affirmativen politischen Aktionen immer die Wahrheit auf ihrer Seite haben, was ihn verurteilen wird, ihn und seine ganze Generation, die am Ende zugeben muss, dass sie diese Grenze ein ums andere Mal überschritten hat, meistenteils aus Ignoranz. Linden traut sich auch nicht, in dieser Nacht offen zu gestehen, dass er gegen alle Gebote der Sicherheit vor Tagen in die Buchhandlung gegangen ist, in der er den alten Professor hatte verschwinden sehen, um sich aus purer Neugier die Bücher zu kaufen, die der alte Professor bestellt hatte; genauso wenig wagt er zu gestehen, dass er anschließend, nach der Lektüre der Bücher, gedacht hat, dass die Aktion gerechtfertigt war oder gerechtfertigt wäre, wenn sie allein die Titel und die Autoren der Bücher erfahren hätten, da der Professor drei Bücher von Autoren bestellt hatte, die als faschistische Autoren in die italienische Literaturgeschichte Eingang gefunden haben – wenn sie das haben, was Linden nicht genau weiß: Er studiert ja nicht Literatur, sondern Journalismus, den er immer als eine bestimmte Form von Literatur verstanden hat, eine ohne deren weiterreichende Berufung, eine überzeugte Literatur, und Linden würde zustimmen, dass sein Zweck und sein Nutzen auf die Gegenwart beschränkt sind, auf eine momenthafte Gegenwart, die er nur einfängt, um sie augenblicklich wieder loszulassen, sie möglichst erklärt, aufgeklärt, unter Umständen sogar verwandelt –, als Schriftsteller, die den Faschismus unterstützt und bejubelt haben und mit ihm untergegangen sind, dass aber andererseits der Eindruck, die Aktion gegen den alten Professor sei durch seine Lektüren gerechtfertigt, in dem Moment verflog, als Linden in einem der Bücher – der Name des Autors, Espartaco Boyano, war ihm mit Sicherheit vollkommen unbekannt, ebenso die der beiden anderen Titel, Ottavio Zuliani und Oreste Calosso – auf einen Namen stieß, den er, der von der Literatur jener Zeit nicht die geringste Ahnung und für sie nicht das geringste Interesse hat, seinen Vater viele Male hatte erwähnen hören, als dieser ihm von den letzten Kriegswochen erzählte, in denen er bei einem Angriff durch einen Unfall von seiner Partisaneneinheit getrennt wurde und sich mit gebrochenem Bein ein oder zwei Tage lang, wie lang genau, sollte er nie erfahren, durch eine Schlucht schleppen musste und in dieser Schlucht orientierungslos herumirrte, bis er in die Ebene gelangte, wo er von einem Mann gefunden wurde, der aus dem Wald auftauchte und ihm das Leben rettete, um dann sein Häscher, aber auch sein Freund zu werden, und aus diesem Grund erinnerte sich Linden bei der Lektüre der Bücher an den Namen und dachte, es gäbe etwas, das noch nicht gesagt worden sei, und dass er seinen Vater besuchen gehen und ihn nach allem fragen müsse, dachte es und erinnerte sich aber im gleichen Moment, dass sein Vater tot war, gestorben in der Umgebung eines Krankenhauses in der Umgebung von Mailand, und dass er selbst über das Wann und Wie entschieden hatte, was Linden seitdem für einen «guten» Tod hält, obwohl er sich damit möglicherweise nur über den Verlust seines Vaters hinwegtrösten will – dabei besteht für Linden kein Zweifel daran, dass andernfalls dieser Tod nicht eigentlich der seines Vaters oder des Mannes gewesen wäre, den er als seinen Vater gekannt hat und der sich freiwillig dem Widerstand angeschlossen und jeden einzelnen Moment seiner Existenz selbst bestimmt hatte, ausgenommen seine Krankheit und die Schulden –, und es war offenkundig, dass er nicht mehr mit ihm würde sprechen können, weshalb er einen anderen Weg einschlagen, auf andere Weise so viel wie möglich über diesen Mann herausfinden musste Aber wann und wie, das ist etwas, das er in dem Moment, während er jene Bücher las, nicht wusste und auch in der Nacht nicht weiß, in der er davon nichts sagt und nicht über das spricht, was er in Rom gesehen hat, und kein Wort über seine ersten Zweifel verliert.

 

Bei dem einzigen Besuch, den er ihm abgestattet hatte, bevor er Selbstmord beging, damals, als er auch noch gehen konnte, hatte sein Vater nach einem Nachmittag in den Gärten jenes Krankenhauses am Rand von Mailand gesagt, er müsse zurück in sein Zimmer. «Nehmen wir den Weg dort», sagte er und wies in die Hecken und Dornensträucher, die sie vom Hauptgebäude des Krankenhauses trennten. «Welchen Weg?», hatte Linden gefragt, und sein Vater, zu stolz, zuzugeben, dass er sich geirrt hatte, erwiderte: «Den da, der noch nicht erfunden ist», woraufhin er ihn stehenließ und sich mühsam zwischen Hecken und Dornensträuchern einen Weg bahnte, und plötzlich verstand Linden, begriff zum ersten Mal in seinem Leben alles und begann endlich ebenfalls loszulaufen, neben ihm her.

 

Einige Zeit nach dem Tod der deutschen Aktivisten im Gefängnis wird Linden damit beauftragt, Personenprofile mehrerer örtlicher Journalisten zu erstellen; diesmal, sagt man ihm, wird das Beschatten jemand anders übernehmen, aber er soll vor Ort in eine Bibliothek gehen, sich unter falschem Namen anmelden und Zeitungsarchive durchsehen, Ansichten vergleichen; Linden tut das, wobei er sein Augenmerk speziell auf einen Journalisten richtet, dessen Artikel sich nicht durch die ablehnende Haltung gegenüber Lindens Organisation von anderen abhebt – das ist ein gemeinsamer Zug aller oder fast aller in der Presse veröffentlichten Artikel, die sich mit der Organisation beschäftigen –, sondern durch die Ansicht – die, wenn sie Verbreitung findet, für die Organisation viel beschämender, viel gefährlicher ist –, sie bestünde aus gewöhnlichen Verbrechern, weshalb es keiner neuen Gesetze bedürfe, um ihre Mitglieder vor Gericht zu stellen. Die Ansicht ist pervers, denkt Linden: Sie ignoriert wissentlich den politischen Charakter der von der Organisation begangenen Taten, die ja gleichsam ihre öffentlichen Verlautbarungen darstellen, sowie die Tatsache, dass diese Verbrechen nicht das Ziel, sondern das Mittel oder eines der Mittel zur Entfaltung ihrer politischen Absichten sind; Linden lassen die Ansichten dieser Artikel keine Ruhe, sie geben ihm zu denken, und für eine Sekunde glaubt er sich mit ihnen zu identifizieren oder vielmehr identifiziert er seine Widersprüche mit den Widersprüchen des Autors dieser Artikel, die der natürlich nur vortäuscht, obwohl Letzteres keine Rolle spielt. Einige Tage später liest er in der Lokalpresse, dass einer der Journalisten, über die er Nachforschungen angestellt hat – einer der erbittertsten Gegner der Organisation, ausgerechnet der, welcher ihm selbst und seinen Widersprüchen einen Spiegel vorzuhalten schien –, als Reaktion auf die Ermordung der deutschen Aktivisten im Gefängnis erschossen worden ist; Linden findet die Aktion absurd und befürchtet, dass sie ihn gefährden kann, da er sich die Artikel des Mannes und die Ausgaben, in denen sie erschienen sind, persönlich ausgeliehen hat, unter falschem Namen zwar, aber doch mit unverhülltem Gesicht, und von Dutzenden Personen beim Lesen dieser Artikel beobachtet worden ist und von den Bibliothekaren, die ihm das Material bereitgestellt haben, höchstwahrscheinlich wiedererkannt wird. Linden sieht in der örtlichen Presse außerdem die Fotografien von vier der sechs Mitglieder seiner Zelle, deren wahre Namen er hier zum ersten Mal liest, schwarz auf weiß, sieht sie in der Zeitung auf eine Weise abgedruckt, dass durch die Veröffentlichung der Fotos die Atmosphäre von Intimität und Komplizenschaft zerstört wird, die Linden und die anderen Zellenmitglieder in den letzten Monaten, die seit der Aktion gegen den alten Professor verstrichen sind, mühsam aufgebaut haben – insbesondere in den ersten Monaten des neuen Jahres, in denen sie regelmäßig zu Treffen in der Wohnung in Mirafiori Nord zusammengekommen sind, bei denen die Verblüffung und das Entsetzen im Vordergrund stehen, in die sie die Ermordung oder der Selbstmord der deutschen Terroristen versetzt hat – und die von einer Mischung aus Vorsicht und Nähe geprägt ist, als sei die Zelle eine Art Zufluchtsort statt ein Ort maximaler Exponiertheit. Beim Betrachten der Konterfeis seiner ehemaligen Kameraden begreift Linden plötzlich, dass er in Gefahr ist, und fragt sich, was er tun soll; er beschließt, dass er eine Reise unternehmen wird, eine, die das Ziel haben soll, alles über den Mann herauszufinden, der seinem Vater das Leben gerettet hatte, dass er aber auch versuchen will, sich in Sicherheit zu bringen und dem Verrat zuvorzukommen, mit dem zu rechnen ist, sobald die Mitglieder seiner Zelle gefasst sind – alle werden gefasst werden, und in relativ kurzer Zeit, wie Linden sich nach Jahren erinnern wird, immer noch verblüfft –, gleichsam um Ordnung zu schaffen im Durcheinander einer Epoche, die er in diesem Moment für definitiv vergangen hält, aber auch für potenziell zukünftig, wenn er, wie er es sich vornimmt, die noch lebenden faschistischen Schriftsteller findet und auf die gleiche Weise hinrichtet, wie seine Organisation es mit dem alten Professor getan hat und mit dem Journalisten, der Mitte Januar hingerichtet wird und zwölf oder dreizehn Tage später stirbt, als Linden bereits fern von Turin weilt. So überzeugt Linden sich selbst davon, dass es sich um eine private Reise handelt und zugleich um eine, die er im Namen seiner Organisation unternimmt, die er nicht verlassen will, trotz der Fehler, die, wie er im Stillen einräumt, gemacht worden sind, und packt im Folgenden seine Sachen und reinigt seine Wohnung sorgfältig von Fingerabdrücken, ebenso die von ihm mitbenutzten Bereiche des Hauses, dessen Bewohner ihm dabei gleichgültig zuschauen, und begibt sich dann in den Mailänder Bahnhof zu einem Treffen mit einem Angehörigen der örtlichen Zelle, den er vor ein paar Monaten kennengelernt hat und der ihm einen Geleitbrief für eine konspirative Wohnung in Genua übergibt; im dichtbesetzten Bahnhofscafé, das sich seine Pracht und seinen alten Glanz bewahrt hat, obwohl sich beides jetzt als die Manifestation von zumindest fragwürdigen ästhetischen Vorlieben darstellt, ist Pietro oder Peter Linden schon drauf und dran, den anderen über die Möglichkeit zu informieren, eine Aktion gegen faschistische Schriftsteller zu unternehmen, hält sich aber im letzten Moment zurück; der andere sagt, er habe etwas für ihn in der Toilette des Bahnhofcafés deponiert, dann gibt er ihm die Hand und geht, und Linden sieht sein Gesicht erst zwei Jahre später wieder, als er bei einer fehlgeschlagenen Aktion von der Polizei angeschossen und festgenommen wird, und erinnert sich an das, was geschah, als er vom Tisch aufstand, zur Toilette ging und dort unter einem der Waschbecken, mit Klebeband an der Hinterseite befestigt, eine braune Papiertüte fand, die gefälschte Ausweispapiere enthielt, außerdem ein Bündel Lire, handschriftliche Anweisungen, in denen ihm mitgeteilt wird, er dürfe sich im März nicht in Rom aufhalten, und eine geladene Pistole, die erste, die er je in der Hand hatte.

 

Im Anschluss daran geschieht Folgendes: Linden nimmt den Zug nach Genua, kommt im Bahnhof an, steigt aus und beschließt, dass er nicht die konspirative Wohnung benutzen wird; er nimmt sich ein Zimmer in einem Hotel im Bahnhofsviertel, in dem außer ihm zwei Äthiopier und ein Rentnerehepaar aus Voltaggio wohnen, das nach Genua gekommen ist, weil der Mann sich einer Knieoperation unterziehen muss: Irgendwann wird er ihm das Knie zeigen, eines Morgens, während sie in der Schlange vor dem Badezimmer stehen, es ist eine Art eiternder Wulst über einem von Krebs, Verwundungen und während des Krieges an der Front hastig und schlecht durchgeführten Operationen verwüsteten Gelenk; wenige Tage später wird das Ehepaar aus dem Hotel verschwinden, aber Linden wird die Besitzerin des Etablissements nach ihnen fragen, wenn er von der Arbeit im Bahnhof zurück ist, die ihm die Äthiopier besorgt haben, Kisten mit Vorräten in die Kellerräume einer Bar entladen; die Besitzerin wird ihm sagen, dass sie nach Voltaggio zurückgekehrt sind und dass man das Bein des Mannes hat amputieren müssen. Einige Zeit später wird Linden in Florenz Atilio Tessore kennengelernt haben, der ihm erzählt haben wird, dass er einmal während des Krieges einen Schriftsteller kennengelernt hat, der, als er irrtümlich ein Minenfeld überquerte, einen Fuß verlor, und dass den Mann der Verlust eines Körperteils weniger schmerzte als der seines ganzen Geldes und eines Buchmanuskripts, das er im Stiefel versteckt bei sich trug; zu dem Zeitpunkt wird er auch die Bücher von Tessore und den anderen Futuristen aus der Gegend von Perugia gelesen haben – von denen er schon weiß, dass sie Futuristen und nicht irgendetwas anderes waren; oder doch: dass sie Futuristen und Faschisten waren, in dieser Reihenfolge –, aber er wird nicht ein einziges Werk von Borrello gefunden haben. Und schließlich wird er zu dem Zeitpunkt beschlossen haben, Espartaco Boyano zu interviewen, unter falschem Namen und falscher Identität, sich in die kleine, dunkle Wohnung einzuschleichen, die der alte futuristische Dichter in der Via di Roma, Hausnummer dreiundzwanzig, bewohnt, unweit der Kirche Santa Maria in Porto, wohin er gefunden haben wird, nachdem er einen Blick ins Telefonbuch geworfen hat und bevor er die anderen interviewt – Atilio Tessore in Florenz und Michele Garassino in Genua; den Befehlen seiner Organisation zuwiderhandelnd, auch Oreste Calosso in Rom –, Hinweisen folgend, die diese und jene ihm gegeben haben werden, und wird etwas verstanden haben, aber zu dem Zeitpunkt wird das nicht mehr seine Geschichte sein, sondern die einer Handvoll Schriftsteller und eines Kongresses zur Unterstützung einer sterbenden und möglicherweise von Anfang an imaginären Republik und die Geschichte von zwei guten Männern, von denen einer sein Vater sein wird, und von zwei Mördern; aber, wie gesagt, es wird die Geschichte von anderen sein, nicht die von Linden, und sie wird auch genau so erzählt werden müssen – was er viele Jahre später in Bologna machen wird, unter schmerzlichen Umständen, von denen er vom selben Moment an und während der folgenden Jahre so tun wird, als habe er sie vergessen –, wie etwas, das gar nicht ihm zugestoßen ist; oder zumindest wie etwas, das ihm nicht in seiner Jugend zugestoßen sein wird, sondern kurz nach deren Ende, nach dem Tod des alten Professors und dem des Journalisten, Taten, an denen er in nicht geringem Maße mitgewirkt haben wird, ohne fortan zu wissen, was er von seiner Verantwortung für diese beiden Taten und für jene, die sich daran anschlossen, halten soll, gefangen im Zwiespalt zwischen seinen Überzeugungen und den Ereignissen, die ihr Ergebnis gewesen sein werden und die er dereinst seinem Sohn nie wird verständlich machen können, obwohl dieser, als auch er seinen Marsch durch die Institutionen antritt, ihn darum bittet. Häufig wird er in den kommenden Jahren daran denken, aber er wird auch, oft und ohne es sich erklären zu können, an jenen Mann aus Voltaggio denken, den seine Frau nach Genua begleitet hatte, damit man ihm ein Bein abschneidet.

Ravenna, Florenz, Genua, Rom / März 1978 (2)

Die Bilder sollten nicht das Verbrechen selbst zeigen, sondern jene, die es miterlebt haben.

Was ist Erinnerung?

Claude Lanzmann

Michele Garassino. Genua, 13. März 1978

Ach ja, richtig, der Kongress faschistischer Schriftsteller, ja: Unter uns haben wir ihn irgendwann den «Kongress idealistischer Schriftsteller» genannt; heute denke ich, «Kongress der autistischen Schriftsteller» oder der Idioten oder der Verrückten wäre ein passenderer Name gewesen.

Atilio Tessore. Florenz, 11. März 1978

Die Idee stammte anscheinend von Ezra Pound, der Fernando Mezzasoma von der Zweckmäßigkeit überzeugen konnte, einen Kongress faschistischer Schriftsteller zu veranstalten, um auf diese Weise der schlechten Presse entgegenzuwirken, die der Sozialrepublik Italien von Beginn an entgegenschlug, seit nämlich ein paar deutsche Fallschirmjäger Mussolini befreit hatten, damit er sich mit Hitler traf, und der ihm daraufhin, weiß der Teufel, warum, ein Land schenkte. In Wirklichkeit war das Problem der Sozialrepublik Italien nicht die schlechte Propaganda, sondern ein politisches oder militärisches: Eine Handvoll Leute versuchte ein nationales Projekt am Leben zu erhalten, das von Süden her durch den Vormarsch der Alliierten bedroht war; von Norden her durch die deutsche Besatzung; in seinem Innern durch Mutlosigkeit und Unerfahrenheit, Abneigung, Unfähigkeit der Regierenden und außerdem von jenen Verbrecherbanden, die die Geschichte geschrieben haben, um ihren Verbrechen den Anstrich heroischer Taten zu geben, und sich «Partisanen» nennen ließen; was die Sozialrepublik Italien von allen Seiten, sogar von oben und unten – also tatsächlich von überall her –, bedrohte, war eher die Wirklichkeit, die ja immer die schlimmste Bedrohung ist, obwohl ein Kongress faschistischer Schriftsteller in diesem Moment nicht die schlechteste Idee zu sein schien, zumal es eine war, die sich relativ leicht umsetzen ließ, da Pound in regelmäßigem Briefkontakt mit vielen Personen innerhalb und außerhalb Italiens stand, die mehr oder weniger offen für das Regime einzutreten pflegten, und außerdem wir, die faschistischen Schriftsteller, damals nicht viel zu tun hatten, weil die Papierknappheit und die internationale Blockade uns dazu verdammte, lediglich mit der Aussicht auf eine Veröffentlichung in der Zukunft zu schreiben, wenn der Krieg vorbei war; klar, dass es fast allen von uns evident erschien, dass, wenn der Krieg vorbei und von den einen oder anderen für beendet erklärt wäre, wir sehr wahrscheinlich nicht das veröffentlichen könnten, was wir schrieben, ganz zu schweigen davon, dass viel dafür sprach, dass wir alle, wenn der Krieg erst einmal vorbei war, an Laternen baumeln würden. Also, dachte ich, warum nicht an einem Kongress faschistischer Schriftsteller teilnehmen: Ein ähnlicher Kongress in Spanien während des Bürgerkriegs hatte anscheinend gewisse Früchte getragen – natürlich waren das «antifaschistische» Schriftsteller, sagten sie zumindest, obwohl der Kongress ganz offensichtlich ihnen einen größeren Dienst erwiesen hat, als sie der Republik einen erwiesen haben, was auch ein Argument war, an unserem, unserem kleinen Faschisten-Kongress, teilzunehmen –, weshalb die Verantwortlichen der Sozialrepublik dem alten Ezra grünes Licht gaben – was in Wirklichkeit der einfachste Weg war, ihn sich vom Hals zu schaffen, ich weiß, wovon ich rede, und für niemanden empfinde ich so große Sympathie wie für die armen Kranken in jenem Krankenhaus in Washington, in dem man ihn einschloss, wegsperrte; wir hätten das schon lange vor ihnen tun müssen, aber ehrlich gesagt wollten wir unserem ohnehin nicht sehr zahlreichen medizinischen Personal nicht das Leben schwermachen –, und Ezra sagte zu, akzeptierte und veröffentlichte einen Aufruf an die unserer Sache gewogenen Schriftsteller in einer zweiwöchig erscheinenden Zeitschrift namens Il Popolo di Alessandria, in der ich im Oktober 1944 zum ersten Mal von dem Kongress gelesen habe, obwohl ich natürlich in den nachfolgenden Monaten mehr und mehr Informationen über die Veranstaltung, vor allem aus dem Mund anderer Schriftsteller, bekommen sollte, nicht zuletzt vom notorisch geschwätzigen Ezra selbst, und trotzdem denke ich heute, dass es zumindest rückblickend das Beste und Erstrebenswerteste, das Praktischste gewesen wäre, wenn ich an diesem Tag die Zeitung nicht gekauft hätte.

Espartaco Boyano. Ravenna, 10. März 1978