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Detective Amy Winter kennt das Böse. Sie hat es selbst erlebt.
Die nervenaufreibende Fortsetzung der Thriller-Reihe von Bestsellerautorin Caroline Mitchell
Mitten in der Nacht wird die vierjährige Ellen von einem Fremden entführt. Kurz darauf erhält ihre Mutter Nicole vier Phiolen und eine Drohbotschaft, verfasst in einer Handschrift, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt. Doch Nicole wusste, dass dieser Tag kommen würde – sie hat ihn seit Jahren gefürchtet.
Eine der Phiolen ist vergiftet, und Nicole muss sie trinken, damit der Entführer den Aufenthaltsort ihrer Tochter preisgibt. Der Absender behauptet, Luka Volkov zu sein, der längst tot sein sollte.
Kriminalinspektorin Amy Winter, die immer noch mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit als Tochter eines Serienmörders kämpft, setzt alles daran, Ellen zu finden. Als ein weiteres Kind entführt wird, beginnt ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. Um die Kinder zu finden, steht sie vor einer schmerzhaften Wahl: Muss sie sich ausgerechnet an die Person wenden, die sie für immer hinter sich lassen wollte?
Weitere Titel in der Reihe
Tödliches Spiel (ISBN: 9783989984080)
Erste Leser:innenstimmen
„Die Mischung aus psychologischer Tiefe und nervenaufreibender Spannung ist perfekt für einen Thriller“
„Ein absolut fesselnder Kriminalthriller, dessen unerwartete Wendungen und tiefgründige Charaktere mich in seinen Bann gezogen hat.“
„Detective Amy ist wirklich eine starke Ermittlerin, deren Geschichte mich bis zur letzten Seite mitgerissen hat.“
„Dieser hochspannende Thriller über eine atemlose Jagd gegen die Zeit lässt einen nicht los!“
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mitten in der Nacht wird die vierjährige Ellen von einem Fremden entführt. Kurz darauf erhält ihre Mutter Nicole vier Phiolen und eine Drohbotschaft, verfasst in einer Handschrift, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt. Doch Nicole wusste, dass dieser Tag kommen würde – sie hat ihn seit Jahren gefürchtet. Eine der Phiolen ist vergiftet, und Nicole muss sie trinken, damit der Entführer den Aufenthaltsort ihrer Tochter preisgibt. Der Absender behauptet, Luka Volkov zu sein, der längst tot sein sollte. Kriminalinspektorin Amy Winter, die immer noch mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit als Tochter eines Serienmörders kämpft, setzt alles daran, Ellen zu finden. Als ein weiteres Kind entführt wird, beginnt ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. Um die Kinder zu finden, steht sie vor einer schmerzhaften Wahl: Muss sie sich ausgerechnet an die Person wenden, die sie für immer hinter sich lassen wollte?
Deutsche Erstausgabe Dezember 2024
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-409-7
Copyright © 2019, Caroline Writes Ltd Titel des englischen Originals: The secret child
Übersetzt von: Marijke Kirchner Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: @ Ranimi, @ Cavan shutterstock.com: @ Artazum, @ Nadezhda Palanskaya Korrektorat: Katrin Ulbrich
E-Book-Version 28.02.2025, 09:47:44.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Dieses Buch widme ich meinen Lesern, die es mir ermöglichen, den besten Job der Welt zu haben.
„Kein Geheimnis bleibt für immer ungelüftet.“ Jean Racine
Der Blick des Eindringlings schweifte über das schlafende kleine Mädchen. Wie sicher musste sie sich in ihrem großen Zimmer fühlen. Beschützt. Er grollte hasserfüllt. Der Laut kam tief aus seiner Brust. Die Gedanken des Entführers waren dunkel und verzehrten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Er konnte sein Gehirn pulsieren spüren. Die Gedanken quälten ihn, immerhin hatte er jahrelang darüber nachgedacht und geplant, ohne Erleichterung zu bekommen.
Er fuhr mit den Fingern über den Schminktisch und schaute sich in ihrem luxuriösen Zimmer um. Sein Blick fiel auf das Holzschaukelpferd, frisch lackiert, samt Echthaarmähne und Schweif. Auf den Schafsfellteppich, der auf dem Boden ausgebreitet lag. Er öffnete die Schranktür und berührte die Kleider des kleinen Mädchens. Er spürte, wie ihm die Galle die Kehle hochstieg. Sie hatte eine Mütze aus Kaninchenfell, einen pelzgefütterten Mantel – unschuldige Kreaturen waren dafür gehäutet worden. Das Leid der Tiere war den Bewohnern dieses Haushalts egal.
Auch der Schmerz der Menschen kümmerte sie nicht. Das Knistern der Flammen im Erdgeschoss drang an seine Ohren und erinnerte ihn an seine Aufgabe, und deren Dringlichkeit.
„Wer bist du?“ Ellen blinzelte, als sie aufwachte und ihn am Ende ihres Bettes stehen sah. Der Mondschein sickerte durch ihre Schlafzimmergardinen und spendete ihr genug Licht, um seine Umrisse zu erkennen.
„Schhh“, hauchte er und presste kurz einen Finger gegen seine Lippen. „Das ist ein Geheimnis.“
„Bist du der Buhmann?“, fragte das kleine Mädchen und setzte sich auf. Ihr Mund stand offen und ihre Zunge glitt über ihre Vorderzähne.
Der Mann lächelte. Sie war reif, furchtlos. So ganz anders als andere Mädchen in ihrem Alter. Die vierjährige Ellen lebte in einer Blase, war von der echten Welt abgeschirmt worden und wusste nichts von den Gefahren, denen sie ausgesetzt war … bis jetzt. Sie strich sich die blonden Locken aus den Augen und blinzelte, um besser sehen zu können.
„Das Haus steht in Flammen“, sagte er. „Wir müssen raus.“ Er nahm ihre Brille vom Nachttisch und reichte sie ihr, wobei er das Zittern in seiner Hand bemerkte. Trotz all der Planung konnte er nicht glauben, dass er es so weit geschafft hatte. Konnte er das tatsächlich durchziehen? Es war zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
Ellen atmete tief ein, als sie ihre Brille aufsetzte. Die meisten Kinder wären bei einer solchen Neuigkeit mit wild klopfendem Herzen aus dem Bett gesprungen. Aber nicht Ellen. Sie war anders, genau wie er.
Ein beißender Geruch drang durch das Schlafzimmerfenster und bestätigte ihr seine Worte.
„Zeit zu verschwinden“, flüsterte er und schlug sanft ihre Federdecke zurück. „Hier ist es nicht mehr sicher.“ Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, seine Augen waren dunkle Seen, sein Schal und seine Mütze verbargen einen Großteil seines Gesichts. Aber man hätte ihn eh nicht identifizieren können. Schließlich war er ein toter Mann.
„Wo sind Mummy und Daddy?“, fragte Ellen mit ihren blauen Augen, die hinter den dicken Brillengläsern fast comicartig erschienen.
„Sie sind in Sicherheit.“ Er knirschte mit den Backenzähnen, aber er brachte die Worte über die Lippen. Wenn es nach ihm ginge, hätte er das Kind entführt, ohne ein Wort zu sagen, aber Zusicherungen war das beste Mittel, um sie ruhig zu halten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Muskeln waren angespannt, während Adrenalin durch seine Adern raste. Die Zeit wurde knapp, sein Stresspegel stieg und beschleunigte seinen Atem. „Wir müssen gehen. Jetzt.“ Er beugte sich vor und hob sie hoch. Die Zeit für Überredungskünste war vorbei.
Das Feuer war ein Ablenkungsmanöver, das die Babysitterin im Erdgeschoss in Panik versetzt hatte. Niemand sah, wie er mit dem Kind im Arm durch die Seitentür verschwand. Es würde nicht bei einem Kind bleiben. Er war auf dem Kriegspfad. Bald würden noch mehr Kinder unbemerkt aus ihren Heimen verschwinden.
Der Gedanke, dass der Gerechtigkeit endlich Genüge getan wurde, spornte ihn an, und er setzte das Kind auf den Rücksitz seines Mietwagens.
„Wohin fahren wir?“, fragte Ellen, als er sie anschnallte.
„Wir unternehmen ein Abenteuer. Und jetzt sei still. Ich muss mich konzentrieren.“ Er konnte es sich nicht leisten, dass seine Migräne zurückkam. Wenn der Schmerz ihn einholte, trat die Vernunft in den Hintergrund und seine Handlungen wurden von einer übermenschlichen Entität angetrieben. Das Heulen der Sirenen durchbrach die Stille der Nacht und spornte seine Bewegungen an, als er auf den Fahrersitz sprang. Sobald er den Wagen gestartet hatte, trat er das Gaspedal durch, und Kies klackerte gegen den Unterboden des Autos, als er davonraste.
Mit dem Lineal in der Hand stellte sich Amy auf die Zehenspitzen und streckte sich, um den Block mit den gelben Post-its auf dem obersten Regal zu erreichen. Sie verfluchte sich für ihre heutige Kleiderwahl und schaute über ihre Schulter, bevor sie das Lineal in die Tiefen des Regals stieß. Sie fluchte genervt. Hätte sie ihren Hosenanzug statt des Bleistiftrocks angezogen, hätte sie auf den Schreibtisch klettern und sich den Block schnappen können, bevor sie gesehen wurde. Solche Verstecke waren notwendig, seit die Verwaltung ihre Anfragen nach mehr abgelehnt hatte. Post-its waren wie Goldstaub.
„Hab ich dich!“, rief sie aus, als sie den Block aus dem Regal schoss. Doch ihr Triumph war nur von kurzer Dauer, als sie sah, wie ihre DCI sich duckte, um dem gelben Geschoss auszuweichen, das durch den Raum sauste.
„Nicht gerade die herzliche Begrüßung, die ich erwartet hatte“, sagte Pike trocken und hob den Block von Amys Büroboden auf. Zumindest nannte Amy es gerne ein Büro. In Wahrheit war es nur halb so groß wie das von DCI Pike, das sich im Stockwerk darüber befand und einen viel besseren Blick auf die Straßen darunter bot. Amys „Büro“ bot gerade genug Platz für das lächerlich hohe Bücherregal, einen abgenutzten Aktenschrank, zwei Drehstühle und ihren Schreibtisch.
DCI Pike trug einen grauen Hosenanzug und setzte ihre tiefen Stirnfalten gekonnt in Szene, als sie Amy musterte. Ihr braunes Haar war heller als Amys und sehr kurz, fast abgehackt frisiert, was ihren strengen Ausdruck markanter wirken ließ.
„Entschuldigung, Ma’am.“ Amy errötete und verstaute die Post-its in ihrer Schreibtischschublade. Genau wie die bereits darin liegenden Textmarker, Lineale und ihr Terminkalender würden sie im kommenden Jahr nicht mehr das Licht der Welt erblicken. Organisiert zu sein war wichtig, soweit es Amy betraf, obwohl ihr Leben in letzter Zeit eine beunruhigende Wendung von ihrer Routine genommen hatte. „Kann ich dir einen Kaffee anbieten?“, fragte sie, neugierig, was es mit dem unangekündigten Besuch auf sich hatte.
Amys Beziehung zu DCI Pike war seit ihrem letzten Fall sehr angespannt gewesen. In letzter Zeit fühlte sie sich jedes Mal, wenn sie allein waren, als stünde sie auf Messers Schneide. Dieses Treffen war da keine Ausnahme.
„Es ist ein neuer Fall reingekommen“, sagte Pike und verschwendete keine Zeit, ihre Anwesenheit zu erklären. „Es ist ein hochkarätiger Fall und muss mit Fingerspitzengefühl behandelt werden.“
„Das klingt ganz nach meinem Geschmack“, antwortete Amy, die hinter ihrem Schreibtisch stand. „Erzähl mir mehr.“ Amy war bei der Polizei für ihre unheimliche Gabe bekannt, sich in die Psyche der finstersten Straftäter hineinzuversetzen. Erst vor Kurzem hatte sie herausgefunden, woher ihre Intuition stammte, nachdem sie die Tür zu ihrer Vergangenheit als Kind fest hinter sich verschlossen hatte. Doch nun war die Tür aus den Angeln gehoben worden, und ihre dunkelsten Erinnerungen wurden zu einem wahren Albtraum, als die Wahrheit ans Licht kam. Doch sie würde diese Tatsache zu ihrem Vorteil nutzen. Menschen helfen, die sich nicht selbst helfen konnten.
Die Wahrheit war so schrecklich, dass sie es noch nicht öffentlich gemacht hatte. Bis zu ihrem vierten Lebensjahr war Amy von Serienmördern aufgezogen worden, die als die „Bestien von Brentwood“ bekannt waren. Es war ein Segen, dass ihre Adoptiveltern Robert und Flora Winter sie bei sich aufgenommen hatten. Nachdem sie kürzlich ihre leiblichen Geschwister kennengelernt hatte, war klar, dass Amy Glück gehabt hatte.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihre schreckliche Vergangenheit verdrängt. Doch seit der Wiedervereinigung mit ihrer leiblichen Schwester Sally-Ann wurde sie von Albträumen über die Zeit im Haus der Familie Grimes heimgesucht. Sie musste neue, glücklichere Erinnerungen schaffen und ihre Schwester in ihr Leben integrieren, wenn sie eine Chance haben wollte, weiterzumachen.
„Hast du schon mal von Dr. Hugh Curtis gehört?“ DCI Pikes Stimme klang wie die einer Frau, die ihr ganzes Leben lang geraucht hatte.
Amy neigte ihren Kopf zur Seite. „Der Name kommt mir bekannt vor. Ist er berühmt?“
Pikes Blick ruhte auf dem gerahmten Foto von Amys Adoptivvater, Superintendent Robert Winter, das auf ihrem Schreibtisch stand. Für den Bruchteil einer Sekunde war die Trauer ihrer DCI über seinen Verlust offenkundig.
„Ja“, sagte Pike und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Er wurde gerade mit einem OBE ausgezeichnet.“
Amy nickte. Was auch immer der Fall war, ihr Team würde sich perfekt darum kümmern. Es war für die Bearbeitung von Fällen mit hoher Priorität gebildet worden, die zwangsläufig in der Presse landen würden. „Um was geht es?“
„Kindesentführung. Dr. Curtis und seine Frau waren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung und ihre vierjährige Tochter Ellen wurde aus ihrem Zimmer entführt. Sie war in der Obhut eines Kindermädchens. Es sieht so aus, als hätte der Täter ein Feuer im Untergeschoss gelegt, um sie abzulenken.“
„Vier Jahre?“, sagte Amy und spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Wirklich? Ich habe noch nichts in den Nachrichten gesehen.“
Jeden Morgen nach dem Aufwachen durchstöberte sie die Zeitungen und las die neuesten Schlagzeilen. Verbrechen, die Kinder involvierten, trafen sie am härtesten von allen.
„Die Feuerwehr hat uns auf die Brandstiftung aufmerksam gemacht. Wir wussten nichts von Ellens Verschwinden, bis ihre Großmutter es heute meldete.“ Gelächter ertönte außerhalb ihres Büros. Es stammte von DC Molly Baxter. Amy würde ihr schrilles Kicherns überall wiedererkennen. Aber ein scharfer Blick von DCI Pike durch das Fenster bereitete jeglicher Heiterkeit ein Ende.
„Sie arbeitet gern hier.“ Amy lächelte, aber Pikes Blick sagte ihr, dass sie die Polizeiarbeit schon lange nicht mehr liebte. Amy verschränkte die Arme vor der Brust, um die Kälte abzuwehren, die sich in den Raum geschlichen hatte. „Warum haben Ellens Eltern sie nicht als vermisst gemeldet?“
Sträflich vernachlässigende Eltern ließen ihre eigene Kindheit hochkochen. Die Wahrheit über ihre eigenen biologischen Eltern zu entdecken, hatte weitreichende Auswirkungen auf fast jeden Aspekt ihres Lebens.
„Ich möchte, dass du das herausfindest“, antwortete Pike.
„Glaubst du, dass Ellens Entführung ein Ablenkungsmanöver ist?“ Bei Verbrechen gegen Kinder war der Täter dem Opfer oft bekannt, sei es ein Freund, ein Verwandter oder jemand aus dem näheren Umfeld. „Könnte es sein, dass ihre Eltern etwas verheimlichen?“
„Möglich, aber ich bezweifle es.“ DCI Pike verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte sich nicht hingesetzt und obwohl Amys Beine langsam müde wurden, tat sie es Pike gleich und blieb starr stehen. Selbst jetzt ließ ihre kämpferische Ader nicht zu, dass sie klein beigab.
Pike fuhr fort: „Dr. Curtis ist ein intelligenter Mann. Hätte er die Sache eingefädelt, hätte er sich wohl eher wie alle anderen besorgten Eltern verhalten und uns sofort informiert.“
„Natürlich“, erwiderte Amy, leicht beschämt, dass sie so lange gebraucht hatte, um auf die gleiche Idee zu kommen. „Könnte Ellen nicht Angst vor dem Feuer gehabt haben und weggelaufen sein?“
„Ihre Großmutter besteht darauf, dass sie das nicht getan hätte – und in Anbetracht von Ellens Alter bin ich geneigt, ihr zuzustimmen. Die Babysitterin sagte, sie habe ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen, und als sie um neun Uhr nach ihr schaute, schlief sie tief und fest.“
„Klingt ganz nach einer Entführung“, sagte Amy. „Wenn ihre Eltern zögerten, die Polizei einzuschalten, könnte das bedeuten, dass sie vielleicht bereits eine Lösegeldforderung erhalten haben.“
„Es sieht ganz danach aus.“ DCI Pike sah auf ihre Uhr. „Du bist mit dem Fall betraut worden. Halte mich auf dem Laufenden.“
Zahlreiche Ideen drängten sich Amy auf, während ihre Gedanken um den Fall kreisten. Sie hätte sie gern mit Pike durchgesprochen, während sie gemeinsam den Tatort untersuchten. Sie hatten das Glück, dass ihre Dienstgrade ihnen mehr Freiheiten erlaubten als normalen Polizisten ihres Ranges, aber das schien Pike nicht ausnutzen zu wollen. „Bürogebunden“, hatte Paddy sie einmal genannt, und heute konnte Amy sehen, was er meinte. „Wurden die Angehörigen bereits befragt?“, fragte sie, als Pike sich zum Gehen wandte.
„Die Beamten sind jetzt am Tatort“, antwortete sie und schloss ihre Finger um die Türklinke, als könnte sie nichts davon abhalten, zu gehen. Sie warf einen letzten Blick über ihre Schulter. „Ich möchte, dass du dir das anschaust. Du hast ein ausgezeichnetes Gespür für diese Dinge.“ Sie öffnete die Tür. „Aber denk daran, Diskretion ist entscheidend.“
„Verstanden“, sagte Amy, die bei dem Gedanken, einen so großen Fall zu übernehmen, einen Anflug von Aufregung verspürte. Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie sich schuldig gefühlt, weil sie aus dem Elend anderer Menschen Profit schlug. Aber sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre geschärften Sinne und ihre persönlichen Erfahrungen ihr halfen, Zusammenhänge zu erkennen, die anderen Polizisten entgingen. Als sie das Foto ihres Vaters betrachtete, verspürte sie einen Anflug von Stolz. Trotz allem, was in diesem Jahr geschehen war – der Tod ihres Vaters und das Auftauchen ihrer leiblichen Mutter – hatte sie die Zähne zusammengebissen. Ja, es gab Zeiten, in denen Lillian nahe daran war, sie zu brechen, und der Kampf war noch nicht vorbei.
Doch jetzt würde sie sich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren. Sie hatte ein gutes Team hinter sich, das ihr den Rücken stärkte: ein halbes Dutzend Beamte mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten, die alle sorgfältig nach ihren speziellen Fähigkeiten ausgewählt worden waren. Sobald sich die Aufregung gelegt und sie eine Routine gefunden hatten, hatten sie die kleinen Eigenheiten der anderen kennengelernt. Und nun fühlte es sich langsam so an, als ob sie am Steuer einer fein kalibrierten Maschine säße. Sie glaubte an ihr Team und vertraute jedem einzelnen von ihnen, sogar DC Steve Moss, der einen holprigen Start gehabt, aber hart gearbeitet hatte, um sich zu beweisen. Kein Tag in ihrem Job war wie der andere. Die Aufgabe verlangte ihr alles ab, was sie zu bieten hatte, und noch mehr.
***
„Molly, ich möchte, dass du mit mir kommst“, sagte Amy, nachdem sie ihr Team auf den neuesten Stand gebracht hatte. „Leute, ihr wisst, was zu tun ist. Bringt den Ball ins Rollen. Ihr beginnt mit den Hintergrundrecherchen, und wenn sich etwas Interessantes ergibt, dann sagt mir Bescheid. Ruft mich auf meinem Handy an, anstatt den Äther zu verstopfen.“
Sie hielt inne und ließ ihren Blick entschlossen durch den Raum schweifen. „Wir bringen Ellen nach Hause.“ Sie zog ihre Jacke an und wartete darauf, dass Molly die Schlüssel des unmarkierten Polizeifahrzeugs entnahm und quittierte. Sie würde nicht zulassen, dass ihr Team aus den Augen verlor, dass ein vermisstes vierjähriges Mädchen das Herzstück des Falls war. Amy, die selbst als Kind Opfer von Gewalt geworden war, verstand das Trauma und die Verwirrung, die Ellen Curtis empfinden musste. Das hatte sie Jack und Lillian Grimes zu verdanken.
Amy war mit ihrem Leid nicht allein. Bis vor Kurzem hatte die ganze Welt geglaubt, ihre ältere Schwester sei ein weiteres tragisches Opfer gewesen, ermordet von Jack und Lillian. Die Tatsache, dass Sally-Ann die leibliche Tochter des Ehepaares war, machte den ohnehin schon grausamen Fall nur noch schrecklicher.
Zu entdecken, dass sie am Leben war, veränderte alles. Sie freute sich, dass ihre Schwester lebte, aber es war trotzdem eine der vielen Facetten ihrer Vergangenheit, mit der Amy noch lernen musste zurechtzukommen. Wie konnte Sally-Ann so lange im Verborgenen leben? Warum taucht sie jetzt auf? Solche Fragen zu stellen, würde bedeuten, den Schorf von einer alten Wunde zu kratzen. Es war einfacher für Amy, sich in die Arbeit zu stürzen, als sich in der Vergangenheit zu verlieren.
Nowokusnezk, Sowjetunion, 1984
Ivan ließ den Kopf hängen, während er an ihrem provisorischen Küchentisch saß. „Ich habe nie erwartet, so hart arbeiten zu müssen, um so arm zu sein.“ Seine Worte klangen heiser vom Zigarettenrauch in seinen Lungen. Nachdem er seine Schicht in der Kohlenmine beendet hatte, sah er nun seiner Frau Sasha beim Kochen zu. Wie immer sprach er auf Russisch, aber die Worte ließen sich leicht ins Englische übersetzen. Sasha war stolz auf ihre britischen Wurzeln und hatte ihrem Sohn die Sprache von klein auf beigebracht.
Im Alter von nur sechs Jahren kannte Lukasha Ivanovich Volkov nur Entbehrungen, doch seine Lehrer sagten, dass er einer der Glücklichen war. Sein Vater hatte eine Arbeit und war fleißig. Seine Mutter war gebildet und einfallsreich. Was Luka betraf … er war klug. „Seiner Zeit voraus“, sagten seine Lehrer.
Das Wichtigste war jedoch, dass seine Familienmitglieder einander liebten, was man von vielen in ihrer Straße nicht behaupten konnte. Armut schürte Frustration, und Gewalt war in ihrem Viertel an der Tagesordnung. Während Luka und seine Familie in einer privaten, kleinen Wohnung lebten, die eigens für die Minenarbeiter gebaut worden war, teilten sich andere eine Gemeinschaftsunterkunft ohne Gas, Heizung oder fließendes Wasser. Der Kamin in ihrer Wohnküche war besser als gar nichts, und an den meisten Tagen hatten sie genug Holz, um zu kochen und sich zu wärmen.
Dennoch beklagte sich seine Mutter: „Warum gibt es bei all den Minen und Stahlwerken so viel Armut? Ich habe stundenlang im Regen auf das wenige Fleisch gewartet.“ Sie rührte den Eintopf um und runzelte die Stirn. Das Leben in Nowokusnezk war hart, und wer nicht arbeiten konnte, hatte Mühe, seine Kinder zu ernähren. Mit grimmigen Gesichtern und verarmt flohen viele jungen Leute von zu Hause und lebten unter den wilden Straßenkötern, während sie um Essensreste bettelten. Die meisten Menschen konnten sich keine Haustiere leisten, und diejenigen, die welche hatten, hatten sie schon vor langer Zeit ausgesetzt. Drogenmissbrauch war ein Problem, eine vorübergehende Erlösung für Jugendliche ohne Hoffnung und ohne Unterstützung. Doch selbst unter den Klebstoffschnüfflern und den Mittellosen gab es noch eine kleine Gruppe von Menschen, die sich untereinander halfen. Ein unterstützendes Lächeln, ein aufmunterndes Wort; sie mussten zusammenhalten, weil es sonst keinen Sinn hatte, weiterzumachen.
Luka versuchte, sich über solche Dinge keine Gedanken zu machen, während er mit seinem Spielzeugflugzeug spielte. Er stellte sich vor, wie er damit flog und die fernen Länder besuchte, über die er in Büchern gelesen hatte. Wie wunderbar musste es sein, wie ein Vogel durch die Lüfte zu gleiten.
„Luka, komm und hol dir dein Essen“, sagte seine Mutter. „Und wasch dir die Hände.“
„Ja, Mamotschka“, sagte er und stand auf. Sein Magen knurrte, als er seinen Eintopf reinhaute, doch dann fiel sein Blick auf Mamas Portion, die halb so groß war wie seine.
Aber Mama konzentrierte sich darauf, seinen Vater umzustimmen. „Wir hätten nicht so viele Sorgen, wenn du mich das Stipendium beantragen lassen würdest“, sagte sie. Mit ihrem lockigen schwarzen Haar und den langen dunklen Wimpern sah Mama besonders hübsch aus, wenn sie lächelte. Aber heute waren ihre Gesichtszüge angespannt, ihre Worte von verbissener Entschlossenheit durchdrungen.
Papa rollte mit den Augen, während die Brühe von seinem Löffel tropfte, den er in der Luft hielt. Sein Gesicht war mit Kohlenstaub befleckt, der die Falten, die für sein Alter zu zahlreich waren, noch hervorhob. „Ich habe es dir doch schon gesagt. Wenn es zu schön ist, um wahr zu sein, dann ist es das meistens auch.“
„Aber das Curtis Institute wäre unser Freifahrtschein nach England. Stell dir doch nur mal vor, London zu sehen? Die leuchtend roten Busse, die bunten Kleider und Geschäfte. All die Touristenattraktionen. Der Tower of London und Schloss Windsor.“
„Und wie willst du es dir leisten, dir das anzusehen? Glaubst du, dieser Dr. Curtis führt dich durch London und erwartet keine Gegenleistung?“
„Aber er geht nicht leer aus, oder? Luka ist intelligent. Seine Lehrer sagen, er sei begabt.“ Sasha ging auf ihren Mann zu. „Ich kann mir einen Job suchen und Geld verdienen, während er an der Studie teilnimmt. Das könnte uns den Weg zu einem besseren Leben ebnen.“
„Und er kann in London keine begabten Kinder finden?“
„Sie suchen nach Kindern aus aller Welt. Ich bitte dich. Lass mich den Antrag stellen und sehen, was dann passiert.“
Laut seufzend ließ Ivan den Löffel in seine Schüssel sinken. „Gut, wenn es dich glücklich macht, aber mach dir keine zu großen Hoffnungen. Leute wie wir haben nicht so viel Glück.“
Luka wischte sich einen Tropfen Brühe vom Kinn, der daran herunterlief. Bald würde sein Magen wieder knurren, aber für den Moment gab es Hoffnung. „Fahren wir nach England?“ Sein Herz hämmerte bei dem Gedanken.
Seine Mutter wandte sich ihm zu, ihr Lächeln erhellte den Raum. „Vielleicht, Sinotschka. Vielleicht.“
Amy hatte kaum ihr Büro betreten, als ihr Schreibtischtelefon klingelte. „Hallo?“, sagte sie, ohne auf die Anzeige zu schauen. Sie schnappte sich ihr Holster von der Stuhllehne, doch verlor sichtlich an Begeisterung, als sie die Stimme des Anrufers erkannte.
„Endlich lässt sich meine geliebte Tochter dazu herab, meine Anrufe entgegenzunehmen.“ Wie flüssiges Gift sickerte die Stimme von Lillian Grimes durch die Leitung.
Amys Laune verschlechterte sich rapide. Es war schon schlimm genug, dass die Frau sie in ihren Albträumen verfolgte; warum musste sie auch noch darauf bestehen, sie bei der Arbeit anzurufen? „Fahren Sie zur Hölle“, sagte sie, bevor sie den Hörer auf die Station knallte. Sie musste sich um einen Tatort kümmern, und es hatte keinen Sinn, noch mehr Energie auf Lillian Grimes zu verschwenden. Als das Telefon zum zweiten Mal klingelte, ließ sie ihrem Ärger freien Lauf.
„Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich verklage Sie wegen Belästigung!“
„Womit habe ich das denn verdient?“ Die Stimme am anderen Ende war freundlich und warm, ganz im Gegensatz zu der der intriganten Anruferin Sekunden zuvor. Amy hatte DI Donovan von der Polizei Essex erst vor Kurzem kennengelernt. Vielleicht kannte er sie sogar zu gut.
Amy seufzte. Die gescheiterte Beziehung zu ihrem Ex, Adam, hatte sie in dem Gedanken bestärkt, dass sie allein besser dran war.
„Oh. Entschuldige, ich dachte, du wärst jemand anderes.“
„Ich bin erleichtert, das zu hören.“ Sein Lächeln übertrug sich auf seine Stimme. „Alles in Ordnung? Du hast mich nicht zurückgerufen.“
„Tut mir leid.“ Amy schaute aus dem Fenster ihres Büros und beobachtete ihr Team bei der Arbeit. „Ich stecke bis zu den Haaren in einem Fall. Wir sind erst um zwei Uhr heute Morgen fertig geworden und ich musste in aller Herrgottsfrühe wieder antanzen.“
„Ah, das Leben eines Bobbys. Was gibt es Schöneres?“
„Ich schätze, ich bin einfach unersättlich. Hör mal, ich kann jetzt nicht reden. Ist es wichtig?“ Sie war immer noch genervt von Lillians Anruf und der Terminkalender auf ihrem Schreibtisch war überfüllt mit Dingen, die sie erledigen musste.
„Nein … ich wollte nur sagen, dass ich bald in der Gegend sein werde. Vielleicht können wir uns mal treffen?“
„Ja, sicher.“ Ihr Blick flackerte zu Molly, als die junge Beamtin sich ihrer Bürotür näherte, die ersehnten Autoschlüssel in der Hand.
„Ähm, tut mir leid, aber ich …“
„… muss los“, beendete Donovan ihren Satz. „Kein Problem. Wir hören uns später.“
Amy legte auf und hielt inne, um tief Luft zu holen. Sie war zu sehr mit der Arbeit beschäftigt, um sich Gedanken über eine aufblühende Beziehung zu machen. Sie stand unter Strom, spürte die Dringlichkeit, die jeden neuen Fall ankündigte. Während Molly sie zum Tatort fuhr, nutzte Amy die Zeit zum Nachdenken.
***
Als DI der Spezialeinheit für hochkalibrische Fälle wurde es Amy nie langweilig. Sie bekam oft Einblick in luxuriöse Londoner Wohnhäuser, aber die Hausbesitzer waren um ihr Leid nicht zu beneiden. Ihr Kummer war genauso real wie der derjenigen, die kaum einen Penny zur Verfügung hatten. Dies schien auch heute der Fall zu sein, als sie die Curtises über das Verschwinden ihres vierjährigen Kindes befragte.
Dr. Curtis war mit seinen ein Meter zweiundsiebzig kein besonders großer Mann, aber sein selbstbewusstes Auftreten deutete an, dass er es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Sein silbergrauer Bart war penibel gestutzt, der Blick aus seinen himmelblauen Augen durchdringend.
Er ging vor Amy und Molly her, um sie über eine Wendeltreppe in das Wohnzimmer der Familie zu führen. An den Wänden hingen Auszeichnungen und Familienfotos, und der zarte Duft eines Dr. Vranjes Ingwer-Limetten-Diffusor erfüllte den Raum. Als sie in der Woche zuvor mit Sally-Ann bei Harrods gewesen war, war Amy bei ihnen hängen geblieben – bis sie das Preisschild sah. Aber angesichts der Einrichtung dieses Hauses waren die fünfundsiebzig Pfund teuren Diffusor die billigsten Gegenstände in Raum.
Als Amy gegenüber des Arztes Platz nahm, wurde ihre Aufmerksamkeit von seiner Frau angezogen. Nicole Curtis war mit achtunddreißig Jahren siebenundzwanzig Jahre jünger als ihr Mann und Ehefrau Nummer drei. Ihr gelocktes braunes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und ihre schlanke Statur wurde durch ihr schwarzes, eng anliegendes Kleid nur noch unterstrichen. Händeringend saß sie neben Dr. Curtis, und ihre Augen wanderten von seinem Gesicht zu Amy, während sie abwechselnd das Wort ergriffen. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie eindeutig daran gewöhnt, sich im Hintergrund aufzuhalten.
Amys kühle graue Augen waren scharf und konzentriert, als sie Mrs. Curtis mit ihrem Blick durchbohrte. „Warum haben Sie Ellen nicht als vermisst gemeldet? Ich habe Ihre Aussagen gelesen, aber ich habe noch keine Erklärung dafür gefunden, warum Sie nicht sofort angerufen haben.“
„Sie sind hier, nicht wahr?“, erwiderte der Arzt knapp. „Sie wurde offensichtlich als vermisst gemeldet.“
„Aber nicht von Ihnen“, antwortete Amy und starrte weiter seine Frau an. „Was mich zu der Frage bringt, warum.“ Sie beobachtete, wie Frau Curtis sich wand. „Ihr Verschwinden könnte alles Mögliche bedeuten. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.“
Nicole öffnete den Mund, um zu antworten, aber ihre Stimme wurde von der ihres Mannes übertönt.
„Ich kann Ihnen versichern, dass wir der Polizei keine Informationen vorenthalten –“
Aber Dr. Curtis war nicht der Einzige, der andere unterbrechen konnte. Amy fuhr fort, als hätte er kein Wort gesagt. „Es gibt mehrere Gründe, warum Eltern ihre Kinder nicht als vermisst melden. Ich muss leider sagen, dass mir beides schon untergekommen ist.“
„Und mit leider meinen Sie …?“, fragte Nicole ängstlich.
„Es endet nie gut“, antwortete Amy, ohne tiefer darauf einzugehen. „Sie könnten von den Entführern gewarnt worden sein, nicht mit der Polizei zu kooperieren, weil jemand eine Lösegeldforderung stellt. Oder Sie könnten für Ellens Verschwinden verantwortlich sein und versuchen, es zu vertuschen …“ Sie hob eine Hand, um Dr. Curtis zum Schweigen zu bringen, als er zu protestieren begann. „Wie auch immer, ich werde dieses Haus nicht verlassen, bis Sie mir sagen, was hier vor sich geht.“
Amy hörte, wie Molly neben ihr laut schluckte, ihre Knie fest zusammenpresste und ihr schwarzes Ledernotizbuch darauf aufklappte, um sich Notizen zu machen. Amy mochte Molly. Sie war eine ebenso gute Polizistin wie einige der alten Hasen in ihrem Team. Aber sie hatte die unschöne Angewohnheit, vor prominenten Persönlichkeiten in Ehrfurcht zu kauern, was Amy sich schon vor langer Zeit abgewöhnt hatte. Prominente waren nicht weniger schuldig an ihren Verbrechen als jeder andere.
„Wir haben unserem Kind nichts angetan.“ Mit angespannter Miene erhob sich Dr. Curtis von seinem Sitzplatz. „Ellen schlief sicher in ihrem Bett, als wir zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung aufbrachen. Die Babysitterin hat um einundzwanzig Uhr nach ihr gesehen, und sie schlief fest. Um zehn Uhr rief sie den Notruf an, als das Feuer ausbrach. Als sie hinaufging, um Ellen zu wecken, war sie verschwunden.“ Er ging im Zimmer auf und ab, während er sprach. Das stimmte mit der Aussage überein, die er zuvor gemacht hatte.
„Sie gehen meiner Frage aus dem Weg“, entgegnete Amy kalt.
„Das liegt daran, dass es nichts mehr zu sagen gibt.“ Dr. Curtis hielt vor dem Kamin im viktorianischen Stil inne und starrte ins Leere.
„Wenn es um den Verbleib eines vermissten Kindes geht, gibt es immer mehr zu sagen.“ Amy stand auf, ihr Kinn hocherhoben. „Entweder Sie reden jetzt oder wir besprechen das auf dem Revier.“ Sie wandte sich an Mrs. Curtis. Die Beine und Arme schützend verschränkt, schien Nicole vor Anspannung fast zu vibrieren.
„Wir haben ihr nichts getan“, platzte sie heraus. „Und wir haben keine Lösegeldforderung erhalten. Zumindest … noch nicht.“
Amy nickte erleichtert. Endlich kamen sie weiter. Sie hörte, wie Molly mit ihrem Kuli klickte, um sich Notizen zu machen. „Kennen Sie den Entführer?“ Dr. Curtis warf seiner Frau einen warnenden Blick zu, bevor er an ihrer statt antwortete.
„Vielleicht.“
„Würden Sie bitte genauer werden?“, sagte Amy.
„Damit würde ich Ellens Todesurteil unterschreiben“, antwortete er.
Amy seufzte. „Also zahlen Sie sie aus und bringen Ellen sicher zurück? Glauben Sie wirklich, dass es so einfach ist?“
Dr. Curtis schüttelte den Kopf. „Es gibt vielleicht keine Lösegeldforderung, aber wenn wir die Polizei einschalten, wird alles noch viel schlimmer werden.“
„Für wen?“, fragte Amy. „Ich nehme an, dass es irgendeinen Kontakt gegeben hat, sonst hätten Sie uns sofort kontaktiert.“
Amy kniff die Augen zusammen, als sie sah, wie Dr. Curtis seine Frau kopfschüttelnd ansah. „Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich nur das Beste für mein Kind will. Ich kann nicht riskieren, diese Person noch mehr zu verärgern, als sie es ohnehin schon ist.“
Amy gab es auf, Nicole weiter auszufragen, und machte einen Schritt auf ihren Mann zu. „Sie unterschätzen mein Team. Mit unserer Unterstützung können Sie Ihre Tochter wiedersehen. Geben Sie uns wenigstens genug Zeit, um ein paar Nachforschungen anzustellen. Alleine schaffen Sie das nicht.“
„Sag es ihr“, flehte Nicole und hob die Hände vor ihrer Brust, als würde sie beten. „Wir wissen, wer es ist.“
Amy wandte sich an Dr. Curtis, aber dieser presste die Lippen fest aufeinander. „Ich könnte Sie beide wegen Behinderung einer aktiven Ermittlung festnehmen und unser Gespräch auf dem Revier fortsetzen. Wäre Ihnen das lieber?“
„Sie missverstehen mich, Officer.“ Dr. Curtis sah sie an. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wer unsere Tochter entführt hat, denn der Mann, auf den sich meine Frau bezieht, ist tot.“
Deborah McCauley bemühte sich, die Frau am anderen Ende des Telefons zu verstehen. Ihre Worte wurden von herzzerreißenden Schluchzern unterbrochen, und ihr Atem ging stoßweise, während sie in die Leitung schrie.
„Er hat sie, ich weiß es! Er sagte, er würde sich rächen, und das hat er auch!“
„Beruhig dich. Nur Hunde können dich in dieser Frequenz hören. Jetzt atme langsam ein …“, versuchte Deborah die aufgeregte Mutter zu beruhigen. „Und aus …“ Sie war es gewohnt, mit hysterischen Frauen umzugehen. Als Psychiaterin hatte sie es oft mit Menschen zu tun, die alle möglichen Turbulenzen durchmachten, aber Nicole Curtis war eine Klasse für sich.
Deborah schenkte sich Filterkaffee in eine Tasse, setzte sich an die Frühstückstheke ihrer Küche und schlug ihre langen, schlanken Beine übereinander. Ihr Gehstock stand neben ihr an die Theke gelehnt. Er war lang und mit Glitter dekoriert, genau wie der Schuh, der an ihrem großen Zeh wippte. Sie fragte sich, warum jeder Anruf von Nicole mit irgendeinem Drama einherging.
„Es ist Ellen. Er hat mein kleines Mädchen entführt. Und jetzt behandelt uns die Polizei wie Kriminelle. Hugh –“ Nicole stockte, ihre Worte wurden von ihrem Schluchzen übertönt. „Hugh sagte, ich solle nicht anrufen, aber ich … ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Der geschätzte Dr. Hugh Curtis, dachte Deborah und rollte mit den Augen. Wenn die Öffentlichkeit nur die Wahrheit wüsste. Sie war Anfang zwanzig gewesen, als sie zum ersten Mal zusammenarbeiteten, und jetzt, Jahrzehnte später, schockierte sie nichts mehr, was der gute Doktor tat. Diese Erkenntnis war seiner dritten Frau jedoch noch nicht zuteilgeworden.
Deborahs blondes Haar war jetzt mit silbernen Strähnen durchzogen und ihre Gesundheit hatte einen Sturzflug hingelegt. Aber ihre Zeit am Curtis Institut war ihr noch scharf in Erinnerung. Wie eine gewetzte Klinge. Sie holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, Hughs Frau den Trost auszusprechen, den Dr. Curtis nicht zu geben vermochte. „Luka ist tot, das weißt du doch. Er kann dir nicht wehtun.“
„Aber er kann Ellen wehtun. Wer sonst sollte sie entführt haben? Er muss es sein.“ Ein gequältes Wimmern entwich Nicoles Lippen. „Hugh sagte, wir sollten darauf warten, dass der Entführer anruft. Aber was ist, wenn Ellen verletzt ist … oder schlimmer?“
„Warte …“ Deborah runzelte die Stirn und versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. „Fang noch mal von vorne an. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“ Nicole wiederholte ihre Schilderung der Ereignisse.
„Wie ist das möglich?“, fragte Deborah. „Wie konnte er sie entführen, ohne gesehen zu werden?“
„Die Seitentür zur Küche wurde aufgebrochen. Die Polizei glaubt, dass er das Feuer als Ablenkung nutzte, um zu entkommen. Er ist am Leben, Deborah. Ich habe es die ganze Zeit gesagt … glaubst du mir jetzt?“
Es stimmte, Nicole hatte sie gewarnt, aber ihre Bedenken wurden nie der Polizei gemeldet. Seit fünf Jahren bekamen Nicole und Hugh jedes Jahr am selben Tag einen Blumenstrauß nach Hause geschickt. Die Botschaft, die beilag, ging ihr durch Mark und Bein … und jetzt hatte er seine Drohung wahr gemacht.
Deborah wusste, dass es besser war, nicht zu fragen, warum Ellen nicht geschrien hatte. Ihre Reaktionen waren anders als die von gewöhnlichen Kindern, aber das lag eher an ihrer Erziehung als an irgendetwas anderem. Deborahs Gedanken schweiften kurz zu Luka, und Schuldgefühle machten sich breit. „Ich dachte, euer Haus wird videoüberwacht?“, sagte sie, um sich etwas Zeit herauszuschlagen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
Nicole schniefte, ihr Schluchzen ließ endlich nach. „Die Kameras zeichneten nichts auf. Man kann alles live auf der App überprüfen, aber es wird nichts speichert.“
„Natürlich nicht, verdammt.“ Deborah starrte in ihre Kaffeetasse, deren Inhalt inzwischen kalt geworden war. Hinter ihr begann die Waschmaschine mit dem Schleudergang. Nach Nicoles Offenbarung fühlte sich ihr Magen langsam auch so an. Luka war nicht normal, daran gab es keinen Zweifel. Das war auch kein Wunder, nach dem, was sie ihm angetan hatten. Sie senkte den Kopf, als sich Nicoles gequälte Schreie in ihr Gehirn bohrten. „Bist du sicher, dass Ellen keine Angst vor dem Feuer bekommen hat und weggelaufen ist? Du kannst nicht erwarten, dass sie wie andere Kinder reagiert. Sie hat keine Vorstellung von Gefahr.“
Nicole Antwort kam unmittelbar und ihre Stimme wurde wieder höher. „Glaubst du, ich weiß das nicht? Ich bin ihre Mutter. Du brauchst mir nicht zu sagen, was meine Tochter versteht und was nicht. Ich habe Hugh gesagt, dass das passieren würde. Wie soll sie sich wehren? Sie ist erst vier.“
„Hey, du hast mich angerufen, schon vergessen? Kein Grund, mir den Kopf abzureißen.“
„Tut mir leid“, antwortete Nicole ausreichend getadelt.
So ist es schon besser, dachte Deborah, nachdem sie sie wieder an ihrem Platz verwiesen hatte. Hughs Stimme erhob sich aus ihrer Erinnerung: Die Eltern von Versuchspersonen müssen kontrolliert werden. Welch eine Ironie. Wie fühlte er sich jetzt, da er derjenige war, der kontrolliert wurde? Ein anderer Gedanke weckte ihre Sorge. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Behörden ihre Aufmerksamkeit auf sie richten würden. Deborah rieb sich die Stirn, die nun von einem leichten Schweißfilm überzogen war. „Und du hast Luka gegenüber der Polizei nicht erwähnt? Du weißt, was passiert, wenn sie anfangen zu graben …“
„Aber warum sollten wir es ihnen nicht sagen, wenn es hilft, Ellen nach Hause zu bringen? Er ist wieder da. Ich weiß nicht wie, aber er lebt und er hat mein kleines Mädchen entführt.“ Deborah konnte hören, wie sie am anderen Ende der Leitung tief durchatmete. „Du kanntest ihn besser als jeder andere. Was soll ich tun?“
„Hör mir zu. Luka ist tot. Die Polizei weiß Bescheid. Bleib erst einmal ruhig.“ Deborah umklammerte den Hörer fester und starrte ins Leere. „Es hat keinen Sinn, die Vergangenheit aufzuwühlen. Sag ihnen so wenig wie möglich, sonst kommen wir alle ins Gefängnis.“
Damit legte sie auf. Warum Hugh sich ausgerechnet Nicole anvertrauen musste, wusste sie nicht.
Deborahs Apple Watch meldete, dass ihre Herzfrequenz ungewöhnlich schnell angestiegen war. Wie ein verworrenes Netz verstrickten sich Vergangenheit und Gegenwart und es fiel ihr schwer zu atmen.
Mit dem warmen Handy noch immer in der Hand versuchte sie, einen Gruppenanruf mit ihren alten Kollegen zu starten – Stuart und Christina waren zweifellos in Panik. Die Bande der Vergangenheit schweißten sie fest zusammen, auch wenn sie sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die vier waren ihrem Wort treu geblieben. Aber wie lange noch? Wenn ihr Geheimnis ans Licht kam … Ihr Griff um den Hörer wurde fester.
Das würde ihr Ende bedeuten.
Der blaue Fleck auf Ellens Handgelenk wurde langsam gelb und hatte die Größe einer kleinen Butterblume angenommen. Ihr Kidnapper runzelte die Stirn. Er hatte vergessen, wie empfindlich Kinder waren. Zeit in ihrer Gegenwart zu verbringen, bereitete ihm eine Gänsehaut.
„Ich will meine Mummy.“ Ellen zog Handgelenk zurück und verschränkte bockig die Arme. Der Trainingsanzug war eine Nummer zu groß für sie und er hatte sie mit einem Mars-Riegel bestechen müssen, damit sie ihn anzog.
„Hier“, sagte er, öffnete die Plastiktüte und kramte nach einem zweiten Riegel. „Probier das mal. Dann geht es dir besser.“ Ein Hauch eines russischen Akzentes färbte seine Worte.
„Mummy sagt immer, Schokolade ist schlecht für meine Zähne“, meinte Ellen, die offensichtlich nicht an die Freuden eines Mars-Riegels gewöhnt war. Der Gedanke, ihre sorgfältig durchgeplante Diät zu unterbrechen, brachte ihn zum Lächeln. Mit einem Kind in Gefangenschaft musste man Kompromisse eingehen. Das verstand er nur allzu gut.
„Ich werde es ihr nicht verraten, wenn du es nicht tust“, antwortete er. Seine Gedanken verfinsterten sich. Ellen würde nicht mehr lange genug leben, um jemandem ihre Geschichten zu erzählen. Er erhob sich vom Sofa und schaute sich im Zimmer um. Fotografien, Karten und Pläne hatten bis vor Kurzem die Wände geschmückt. Er erinnerte sich an den ersten Tag, an dem er hier ankam, als alles noch so kahl erschien.
Neben der Stelle, an der einst die Pläne von Ellens Elternhaus gehangen hatten, stand nun ein Flachbildfernseher. An der Stelle, an der die Fotos der anderen Kinder gehangen hatten, konnte er noch die letzten Reste des Blu-Tack ausmachen. Jetzt war der Raum nicht mehr als vier fensterlose weiße Wände.
Ellen lutschte an ihrem Mars-Riegel, doch ihre Augen weiteten sich, als sie versuchte, die drohende Gefahr zu begreifen. Ja, sie war abgeschirmt von der Welt aufgewachsen, aber er wusste von den Büchern in ihrem Kinderzimmer, dass ihr das eine oder andere Märchen nicht fremd war. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als er beschloss, einem alten russischen Volksmärchen Leben einzuhauchen. „Ich beschütze dich vor Baba Yaga“, flüsterte er verschwörerisch und schaute über seine Schulter, tat so, als würde er prüfen, ob sie da war.
Ellen nahm den Schokoriegel vorübergehend aus ihrem Mund und leckte sich die Lippen. „Vor wem?“
„Kennst du sie etwa nicht? Baba Yaga – die Hexe, die dein Haus angezündet hat. In Russland nennt man sie Baba Yaga Kostianaya Noga.“ Seine Gesichtszüge wurden lebhaft, als er die Geschichte wiedergab. „Sie hat eine lange, dünne Nase, die an der Decke kratzt, wenn sie schnarcht. Ihre Beine sind aus purem Knochen, ihre Zähne so scharf wie Messer, und sie lebt in einem Haus auf Hühnerbeinen.“ Er genoss die aufflackernde Angst in Ellens Augen. „Deshalb habe ich dich an diesen besonderen Ort gebracht. Verstehst du?“ Er deutete auf die kargen Wände ihres Zimmers. „Keine Fenster.“ Er beugte sich zu ihr und flüsterte: „Sie fliegt in der Nacht umher und ernährt sich von Kindern, deren Eltern böse gewesen sind. Wenn sie in der Nähe ist, verstummen die Vögel, und der Wind warnt alle Menschen in seinem Umkreis.“
„Mummy und Daddy sind nicht b-böse“, stotterte sie und schluchzte erstickt. Er hatte diesen Teil der Geschichte improvisiert und genoss dessen Wirkung.
„Doch, das sind sie“, raunte er, „und deshalb haben sie mich gebeten, dich zu verstecken. Verstehst du das? Deshalb musst du tun, was ich sage.“
Ellen nickte ernst, und die Schokolade tropfte zwischen ihre dicken, kleinen Fingern hervor. Sie hatte keinen Grund, ihm zu misstrauen. Dank der Erziehung ihres Vaters hatte sie kein Verständnis für die Außenwelt. Jedes seiner Worte wurde wörtlich genommen, und sie schenkte ihm ihr volles Vertrauen. Er beobachtete, wie sie zu schluchzen begann und halbherzig den Mars-Riegel an ihre Lippen setzte.
„Nicht weinen.“ Er griff nach einer Packung Feuchttücher auf dem Couchtisch. „Sie wird dich hören. Und jetzt iss auf. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Solange du leise bist, bist du in Sicherheit.“
„Wer bist du?“, fragte sie und wischte sich unbeholfen die Schokolade vom Kinn.
„Du kannst mich Luka nennen“, antwortete er, überwältigt von der Surrealität dieses Moments. Auf Entführung stand eine saftige Gefängnisstrafe. Aber er hatte nicht vor, sich erwischen zu lassen. Er sah das Kind an und schüttelte jegliche Zweifel ab. Es musste getan werden.
„W-wohin gehst du?“ Sie schob sich die Brille auf der Nase hoch und verfolgte mit ihren großen blauen Augen seine Bewegungen, als er auf die Tür zuging.
„Ich gehe Ausschau halten, natürlich. Und denk dran – keinen Mucks.“ Er schloss die schwere Tür hinter sich und blendete Ellens Schluchzer aus. Der schalltote Raum würde ihm etwas Ruhe verschaffen, und sie hatte genug Essen und kohlensäurehaltige Getränke für den ganzen Tag. Er lehnte sich gegen das Bücherregal und schob es zurück, sodass es wieder an Ort und Stelle stand. So fühlte es sich also an, die Kontrolle zu haben. Aber was als Quelle leichter Belustigung begonnen hatte, hinterließ nun einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Ein vierjähriges Mädchen in Angst und Schrecken zu versetzen, war kein Sieg. Außerdem hatte er noch etwas zu erledigen. Der nächste Teil seines Plans musste in die Tat umgesetzt werden. Ellen würde nicht lange hier sein.
Amy schaltete den Wasserkocher ein und gab anderthalb Löffel Kaffee und etwas Zucker in ihre Lieblings-James-Bond-Tasse. Sie hatte einen Riss im Henkel und einen hartnäckigen Wasserfleck an der Seite, der sich nicht mehr entfernen ließ, aber sie war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Ihre Glückstasse. Seine Ratschläge wurden schmerzlich vermisst. Sie schnupperte an der offenen Milchpackung aus dem Kühlschrank, bevor sie einen Klecks auf das Kaffeegranulat gab und das kochende Wasser aufgoss. In einem der seltenen Momente, in denen sie allein war, starrte sie das ungelöste Kaffeekorn an, das obenauf schwamm. Sie konnte fast hören, wie ihr Vater jammerte, dass sie es völlig falsch gemacht hatte.
Das tat sie in letzter Zeit oft. Sie hielt die Erinnerung an ihn wach, indem sie sich vorstellte, was er sagen würde. Sein Tod hatte eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen und das Letzte, was sie brauchte, war Lillian Grimes, die versuchte, diese Lücke zu füllen. Es waren Monate vergangen, seit Amy die niederschmetternde Wahrheit entdeckt hatte, und Lillian schien entschlossen zu sein, sich in ihr Leben zu drängen. Das Echo von Jacks und Lillians Lachen hallte noch immer in Amys Gedächtnis nach, genau wie die Schreie der Opfer, die sie vor über dreißig Jahren von der Straße weggefangen hatten.
Schrie die vierjährige Ellen Curtis gerade irgendwo in einem Keller? Oder war ihre Leiche wie ein Beutel Müll entsorgt oder auf dem Grundstück um Amys Elternhaus vergraben worden? Amys Gedanken schweiften umher, während sie mit uneingeladenen Erinnerungen bombardiert wurde. In letzter Zeit wurde sie in jeder ruhigen Minute zwangsweise in die Vergangenheit zurückkatapultiert: ein Ort voller ungelöster Probleme und hässlicher Erinnerungen, die darauf warteten, ans Licht zu kommen.
DS Paddy Byrne trat neben sie in die Büroküche, eine leere Tasse in der rechten Hand. Er schien zufriedener auf der Arbeit zu sein, jetzt, da sein Leben wieder in geregelten Bahnen verlief. Sie hatten noch kein richtiges Gespräch über die jüngsten Ereignisse in Bezug auf Lillian Grimes geführt, aber die Zeit drängte und ihr Privatleben konnte warten.
„Ich habe gerade das Wasser gekocht.“ Amy lächelte, dankbar für eine Auszeit von ihren Gedanken. „Konntest du schon etwas herausfinden?“, fügte sie in Bezug auf den Fall hinzu. Dr. Curtises Bemerkung, Ellens Entführer sei ein toter Mann, war bizarr, aber weitere Befragungen hatten nichts gebracht, und Amy hatte das Team angewiesen, seine Vergangenheit zu durchforsten.
Dr. Curtis war als Experimentalpsychologe berühmt geworden und hatte nach der Veröffentlichung einer Reihe von Bestsellern über das Verhalten von Kindern mehr Aufmerksamkeit erlangt. Sein Gesicht war oft im Fernsehen zu sehen, da er regelmäßig zu diesem Thema konsultiert wurde, obwohl seine charismatische Leinwandpersönlichkeit weit von dem Mann entfernt war, dem Amy heute begegnet war. Angesichts des Stresses, unter dem er stand, war es kaum verwunderlich, aber Amy spürte, dass hinter Ellens Verschwinden mehr steckte, als Dr. Curtis zugeben wollte.
Paddys Löffel klirrte gegen seine Tasse, als er Zucker in seinen Tee rührte. „Curtis hat eine kurze Zeit in einem Tierversuchslabor gearbeitet, bevor er sich der Kinderpsychologie zuwandte. Das ist allerdings schon vierzig Jahre her, sodass ich mir nicht sicher bin, wie das für diesen Fall relevant ist.“
„Wir müssen alles über ihn wissen. Wir brauchen einen vollständigen Lebenslauf von ihm und auch von Nicole. Ihre Kindheit, ihre Eltern, ihr soziales Umfeld. Hatte einer von ihnen eine Affäre? Schulden sie jemandem Geld? Irgendetwas stinkt hier gewaltig, und ich will wissen, was es ist.“
Es war schon schlimm genug, dass sie so hinterherhinkten, da die Entführung zu spät gemeldet worden war. Amy hatte um zusätzliche Beamte für eine verdeckte Überwachung des Hauses der Familie Curtis gebeten, aber da ein Großteil des Budgets für den letzten großen Fall draufgegangen war, würde das wohl abgelehnt werden. Im Moment war die Familie das Opfer, aber Amy wusste aus Erfahrung, wie schnell sich die Dinge ändern konnten.
Paddy nippte an seinem Tee. „Die Beamten, die an der Hausdurchsuchung beteiligt waren, sagten, Ellens Zimmer sei vorbildlich gewesen. Das ganze Haus war wie geleckt, nichts war fehl am Platz.“
„Ich schätze, wenn man so reich ist wie Curtis, kann man es sich leisten, Reinigungskräfte zu bezahlen, die hinter einem ausräumen.“ Amy fragte sich, wie gewissenhaft ihr Haus nach Ellens Verschwinden gereinigt worden war. Sie nippte an ihrem Kaffee, ohne die Zeit aus den Augen zu verlieren. „Nicole hatte etwas sehr Stepford Wives-mäßiges an sich“, fuhr sie fort. „Du hättest sehen sollen, wie Curtis sie ansah. Wir müssen mit ihr allein reden.“ Aber alle Versuche, dies zu tun, waren gescheitert, und solange das Paar nicht zu Verdächtigen deklariert wurde, konnte Amy das nicht erzwingen. Sie sah auf ihre Uhr. Zeit für die Besprechung.
Seite an Seite ging sie mit Paddy zum Konferenzraum, ihre Tasse Kaffee in der Hand. Selbst in ihren Stöckelschuhen wurde sie von Paddy in den Schatten gestellt. Ihre Beziehung hatte sich seit der Aufdeckung von Sally-Anns Identität gefestigt. Paddy war nicht nur einer von Amys engsten Freunden, er lebte auch mit ihrer Schwester zusammen. Er war genauso überrascht gewesen wie sie, als er erfuhr, wer sie wirklich war. Sie waren alle ein wenig geschockt und arrangierten sich mit der Situation, bis sie einen besseren Weg fanden, alles zu verarbeiten.
Innerhalb weniger Minuten versammelte sich ihr Team im Raum, und Amy begann mit dem Briefing der mit dem Fall betrauten Spezialbeamten. Sie starrte das Telefon auf dem Schreibtisch an, als es klingelte und sie mitten im Wort unterbrach. Die Kollegen an der Rezeption wussten, dass sie keine Anrufe an diese Nummer weiterleiten durften. Wen wollten sie also durchstellen?
„Einen Moment Ruhe, bitte“, sagte sie und unterbrach das Hintergrundgeplapper, als sie den Hörer abnahm. „DI Winter am Apparat. Wir sind mitten in der Besprechung. Ich hoffe, es ist wichtig.“
„Entschuldigen Sie die Störung, Ma’am, aber ich habe hier einen Anrufer, der darauf besteht, mit Ihnen direkt zu sprechen.“ Daphne von der Rezeption klang etwas gekränkt. „Ich habe es über Ihr Funkgerät versucht, aber Sie haben nicht reagiert.“
Amys Funkgerät lag auf ihrem Schreibtisch, aber um fair zu sein, schaltete sie es öfter ein als die meisten anderen. Von uniformierten Beamten wurde erwartet, dass sie ihr Funkgerät immer eingeschaltet hatten, aber Detectives kamen damit durch, es im Hintergrund laufen zu lassen, solange sie per Telefon erreichbar waren. Außerdem hielten ihre Akkus kaum den ganzen Tag und waren, wie alles andere auch, Mangelware.
„Kannst du den Anrufer bitten, eine Nachricht zu hinterlassen?“ Amy vermutete, dass es sich um einen weiteren Folgeanruf handelte. Ihr Aufruf war gerade erst in der Presse veröffentlicht worden, was bedeutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie wieder mit Anrufen überschwemmt würden und sich die Spur verlor. Sie seufzte. In diesem Tempo würden sie das Briefing nie zu Ende bringen, und sie war sich bewusst, dass alle Augen auf sie gerichtet waren.
„Ich fürchte nicht“, antwortete Daphne. „Er sagt, er hat das Kind von Dr. Curtis.“
„Du willst mir also sagen, dass der Entführer in der Leitung ist.“ Amy erhob ihre Stimme so, dass sie jeder im Raum hören konnte. Ihr leises Gemurmel verstummte sofort. „Worauf wartest du dann noch? Stell ihn durch!“ Sie hob den Finger an die Lippen und bedeutete ihren Kollegen, still zu sein, während sie die Freisprechanlage aktivierte. Amy würde nie eine Auszeichnung für ihren tadellosen Small Talk am Telefon gewinnen. Wahrscheinlich war es ein Scherzanruf, aber es würde nicht schaden, wenn sie vorsichtig war. Sie beobachtete, wie Paddy sein Handy aus der Tasche zog, seine Aufnahme-App startete und es über den Tisch in ihre Richtung schob. Molly setzte sich auf und griff nach ihrem Notizblock, den Stift in der anderen Hand. Sie würde sich jedes Wort notieren, das gesagt wurde.
Der Anruf kam ihr zu gut vor, um wahr zu sein. Wie ein Geschenk, das ihr in den Schoß gefallen war. War Ellens Entführer wirklich in der Leitung?
Nicole starrte wehmütig aus dem Fenster. Ellens Verschwinden hatte sie dazu gebracht, alles neu zu überdenken. Sie hatte alle rausgeschmissen und ihnen gesagt, sie brauche Zeit zum Nachdenken. Hugh hatte sich auf die Suche nach ihrer Tochter gemacht und sie angewiesen, zu Hause zu bleiben, falls Ellen zurückkäme. Als ob das so einfach wäre. Genau das, was Nicole zu ihrem viel älteren Mann hingezogen hatte, hatte auch zu ihrem Untergang geführt. Es war seine Schuld, dass Ellen aus ihrem eigenen Bett geholt worden war. Sein Handeln hatte sie in Gefahr gebracht.
Luka war am Leben. Davon war sie überzeugt. Wer sonst würde ihnen jedes Jahr an seinem Todestag einen Kranz schicken? Und die Worte auf der Karte, die in einem steifen schwarzen Umschlag steckte, der auf der Vorderseite angeheftet war … sie ließen sie bis aufs Mark erschauern.
Wie sie nun wusste, war sie nicht die Einzige, die solche Nachrichten erhielt. Die geflüsterten Telefonate ihres Mannes verrieten ihr, dass auch Deborah, Stuart und Christina die jährlichen Warnungen erhielten.
Sie drehte die Karte um, um die Worte erneut zu lesen.
Marienkäfer, Marienkäfer, flieg heim, dein Haus brennt, deine Kinder sind allein …
Luka
Sie hätte sie DI Winter geben sollen, aber stattdessen hatte die Karte ein Loch in die Tasche ihres Kleides gebrannt. Warum hatte sie nicht auf Hugh gehört, als er ihr sagte, sie solle die Karte wegwerfen? Er wäre außer sich, wenn er wüsste, dass sie sie die ganze Zeit über aufbewahrt hatte. Die Karte war eine Warnung vor dem, was kommen würde – Rache für all das, was in der Anstalt ihres Mannes vorgefallen war. Er war betrunken gewesen, als er sich ihr anvertraut hatte, und jetzt hatten sie zu viel Angst, zur Polizei zu gehen. Jedes Jahr nach der Lieferung der Blumen blieb es still, und sie redeten sich ein, dass ihr Peiniger nur leere Drohungen machte. Wann hatte er Ellens Entführung zu planen begonnen? Wie konnte er einem unschuldigen Kind etwas antun? Auge um Auge … Die Worte drangen ihr bis ins Mark, beladen mit einer düsteren Vorahnung.
Es war so schwer, niemanden zu haben, mit dem sie reden konnte. Hugh behauptete, Ellen zu lieben, aber sie teilten nicht die typische Vater-Tochter-Beziehung. Jeden Abend saß er in seinem Büro und machte sich Notizen, schrieb in sein Tagebuch und informierte seine Kollegen über ihre Fortschritte. Ellen war ein Versuchsobjekt, wie so viele vor ihr. Ein Kanarienvogel in einem goldenen Käfig. Nicole hatte daran gedacht, ihn zu verlassen, Ellen weit wegzubringen und neu anzufangen. Aber womit? Solange sie bei Hugh lebte, war für sie gesorgt – für sie beide. Er hatte ihr versichert, dass Ellen anders sei und dass ihm ihr Bestes am Herzen lag, aber würde er sein Wort halten? Sie hätte niemals das Geld über die Freiheit ihrer Tochter stellen dürfen …
Nicoles Gedanken wurden durch das schrille Klingeln der Türglocke unterbrochen. Konnte das …? Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. War es Ellen? Oder brachte die Polizei schlechte Nachrichten?
Scheinbar in Zeitlupe öffnete sie die Haustür. Das Letzte, womit sie gerechnet hatte, war ein von Kopf bis Fuß in Leder gekleideter Kurier auf ihrer Türschwelle, dessen massige Statur das Licht von draußen ausblendete. „Ja?“, sagte sie mit großen Augen und ohne zu blinzeln, während sie darauf wartete, dass er sprach.
Sein Gesicht war durch das getönte Visier des Helms verdeckt, und er reichte ihr schweigend das Päckchen in seinen Händen.
Nicole nahm es entgegen und ihr blieb der Mund offen stehen, als sie merkte, dass dies keine gewöhnliche Lieferung war. Zum einen nutzten die meisten Kurierdienste einen Lieferwagen, und die Art und Weise, wie der Mann über ihr aufragte, bereitete ihr Unbehagen.
Er drückte ihr das Paket in die Hand, bevor er wegging.
„Muss ich dafür unterschreiben?“, rief Nicole ihm nach, aber er ignorierte ihre Worte.
Nicole sah an ihm vorbei über den leeren Hof, während er neben seinem Motorrad innehielt. Es war eine kleine Gnade, dass die Medien ihre Adresse noch nicht gefunden hatten, denn ihr Aufruf war gerade in der Presse erschienen. Beobachtete Luka sie gerade? War er Luka?
Nicole wurde bleich. „Ist das eine Lösegeldforderung?“, rief sie ihm zu, plötzlich von Angst erfüllt. Sicherlich würde er sie nicht hier, am helllichten Tag, abliefern? Aber der Kurier ignorierte ihre Frage und das Aufheulen seines Motorrads übertönte ihre Worte, als er davonfuhr.
Nicole zerrte an dem braunen Packpapier, während sie ins Haus zurückging, und ihre Hände zitterten, als ein kleiner Karton zum Vorschein kam. Ihr Blick wurde sofort von dem schwarzen Umschlag angezogen, der beigefügt war. Dieselbe Art von schwarzem Umschlag, in dem sich die Karte mit seiner Unterschrift normalerweise befand, die sie jedes Jahr erhielt. Der Umschlag wirkte teuer, aus dickem Briefpapier.
Sie dachte an die Geschichten, die sie über Terroristen gelesen hatte, die Sprengstoff mit der Post verschickten. Sie biss sich auf die Unterlippe, zog die weiße Karte heraus und erkannte das kindliche Gekritzel der Unterschrift sofort wieder. Ihre Augen huschten von links nach rechts, als sie die Worte las.
Im Inneren befinden sich vier Fläschchen. Eins ist voller Gift. Die anderen drei sind sicher. Trink eine und ich werde die Polizei über Ellens Aufenthaltsort informieren. Riskiere dein Leben für deine Liebsten – eine Wahl, die mir nicht vergönnt war.
Luka
„Ich verstehe das nicht“, sagte sie laut, und ihr Herz schlug so heftig, dass sie es durch den dünnen Stoff ihres Kleides spüren konnte, als sie eine Hand auf ihre Brust legte. Sie schloss die Tür hinter sich und sperrte die Außenwelt aus. Luka war am Leben, davon war sie überzeugt. Aber was meinte er mit eine Wahl, die mir nicht vergönnt war?
Nicole untersuchte das Paket. Im Inneren befanden sich vier Glasfläschchen, die im Licht der Sonne glitzerten. Drei enthielten eine blaue Flüssigkeit. Das vierte schimmerte rot. Ihre Finger strichen über den schwarzen Schaumstoffhalter, der die Fläschchen an ihrem Platz hielt. Es war klar, dass Luka sich gut auf diesen Tag vorbereitet hatte. Alles an diesem Moment fühlte sich zu monumental an, um es allein zu verarbeiten. Sie ging wie ferngesteuert ins Wohnzimmer. Wo war Hugh? Sie war es nicht gewohnt, selbst Entscheidungen zu treffen. Sie brauchte ihn, damit …
Das Päckchen vibrierte in ihrer Hand und ließ sie mit einem Schrei zusammenfahren, als sie aus ihrer Trance erwachte. Nicole beruhigte sich und lauschte dem Klingeln, das aus dem Inneren zu kommen schien. Vorsichtig griff sie mit den Fingern in den Spalt zwischen Schaumstoff und Karton und zog ein schwarzes iPhone heraus. Es war definitiv gebraucht und auf dem Bildschirm waren die Worte „Geh ran“ zu sehen, als der FaceTime-Anruf einging. Ein Schluchzen schnürte Nicole die Kehle zu, als sie ungläubig auf das ramponierte Handy niedersah. War sie dabei, dem Entführer ihrer Tochter von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten? War Ellen bei ihm? Sie drückte auf das grüne Telefonsymbol. „Du hast eine Minute.“ Die raue Stimme ließ sie zusammenzucken, als das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm erschien. Zumindest dachte sie, dass es ein Mann war. Sein Antlitz war von einer halbtransparenten Maske verdeckt, deren orangefarben angemalte Lippen und dicke schwarze Augenbrauen ihm ein angsteinflößendes Aussehen verliehen.
Nicole starrte ihn an, überwältigt von ihren Gefühlen, während sie versuchte, mit der Situation, in der sie sich befand, fertig zu werden. „Wer sind Sie? Was haben Sie mit Ellen gemacht?“ Sie musste kein Genie sein, um zu kapieren, dass dieser Mann etwas mit der Entführung ihrer Tochter zu tun hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und verlangte, mit Ellen zu sprechen. Doch sein leerer Blick ließ ihr die Worte im Halse stecken bleiben. „Bitte“, krächzte sie. „Lassen Sie mich sie sehen?“
„Ließ die Karte!“, sagte er in einem bedrohlichen Ton. „Du hast drei Minuten Zeit … ab jetzt.“
Nicoles Blick schweifte vom Bildschirm zur Karte. Trink eine und ich werde die Polizei über Ellens Aufenthaltsort informieren.
Warme Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie ihre Stimme wiederfand. „Lassen Sie mich mein Baby sehen! Ich muss sie sehen!“
Der Mann starrte sie an, ohne zu blinzeln, bevor er eine Tür öffnete und die Kamera umdrehte. Hatte sie diese Augen schon einmal gesehen? Doch der Gedanke verflüchtigte sich schnell, als sie das Gesicht ihrer Tochter sah.
Beim Anblick von Ellens Gesicht fühlte sich Nicole, als würde ihr Herz in zwei Teile zerbrechen. Ellen hatte selten Grund zu weinen, aber heute kullerten dicke, fette Tränen über ihre Wangen, während sie nach Luft schnappte. Ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht mit Dreck verschmiert. „Mir gefällt es hier nicht“, schluchzte sie und blickte über die Kamera hinweg zu der Person, deren Gesicht nicht zu sehen war. „Ich will nach Hause.“
„Baby, ich bin da! Mummy ist hier!“, rief Nicole und schluckte ihre Tränen hinunter. Aber Ellen trug ihre Brille nicht, und Nicoles Worte schienen auf taube Ohren zu stoßen. Hatte er den Anruf stumm geschaltet?