Verhängnisvoller Champagner - Tom Hillenbrand - E-Book

Verhängnisvoller Champagner E-Book

Tom Hillenbrand

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Beschreibung

Ein aufsehenerregender Mord in einer Kellerei – und Ermittlungen, die die dunklen Geheimnisse der Champagnerindustrie enthüllen. Seine Lehre hat der Luxemburger Koch Xavier Kieffer einst in der Champagne absolviert. Als er dort einen alten Freund besucht, der inzwischen ein Champagnerhaus leitet, wird er Zeuge eines schrecklichen Unfalls. Oder war es Mord? Kieffer beginnt zu ermitteln und muss feststellen, dass sich hinter den luxuriösen Fassaden der großen Champagnerhäuser allerlei Geheimnisse verbergen – und dass nicht alles, was perlt und moussiert, auch tatsächlich den Namen Champagner verdient. Während seiner Recherchen in Paris, Reims und Luxemburg lernt der Koch, dass manchen jedes Mittel Recht ist, um im globalen Milliardengeschäft mit Schaumwein mitzumischen.

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tom Hillenbrand

Verhängnisvoller Champagner

Ein kulinarischer Krimi Xavier Kieffer ermittelt

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Titelseite

Über Tom Hillenbrand

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

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Über Tom Hillenbrand

Tom Hillenbrand studierte Europapolitik, volontierte an der Holtzbrinck-Journalistenschule und war Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine Bücher erscheinen in vielen Sprachen, wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

www.tomhillenbrand.de

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Über dieses Buch

Der Luxemburger Koch Xavier Kieffer führt ein Restaurant mit besonderer regionaler Küche in der Hauptstadt seines Landes, seine Lehre aber hat er vor vielen Jahren in einem Sternelokal in der Champagne absolviert. Als er dort einen alten Freund besucht, der inzwischen ein Champagnerhaus leitet, wird er Zeuge eines schrecklichen Unfalls. Oder war es Mord?

Kieffer beginnt zu ermitteln und muss feststellen, dass sich hinter den luxuriösen Fassaden der großen Champagnerhäuser allerlei Geheimnisse verbergen – und dass nicht alles, was perlt und moussiert, auch tatsächlich den Namen Champagner verdient. Während seiner Recherchen in Paris, Reims und Luxemburg lernt der Koch, dass manchen jedes Mittel recht ist, um im globalen Milliardengeschäft mit Schaumwein mitzumischen. Und dass er in die Zeit seiner Ausbildung zurückreisen muss, um herauszufinden, warum sein alter Freund sterben musste.

Ein sehr persönlicher Fall für den »Luxemburger Kochtopfdetektiv« (Die Welt) – hochspannend, atmosphärisch und überraschend.

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: buxdesign | Lisa Höfner

Covermotiv: © GettyImages / Stone / Maren Caruso

 

ISBN978-3-462-31036-8

 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Epilog

Glossar: Küchenlatein

Essen

Champagner

Alle vorkommenden Personen und Champagnermarken sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder echten Champagnermarken sind rein zufällig.

1

In den Achtzigerjahren

Xaviers Klinge macht aus der Karotte auf dem Schneidebrett kleine Würfel, aber lieber würde er Boudier zu Frikassee verarbeiten, diesen miesen Menschenschinder. Er greift nach der nächsten Karotte, versucht, das Brummen in seinem Schädel zu ignorieren.

»Na, arbeiten wir wieder in Zeitlupe heute?«, dröhnt eine tiefe Stimme.

Xavier steht links von Boudiers anderen beiden Lehrlingen, Paul Perrain und Leonardo Gutiérrez-Esteban. Außerdem ist an diesem Vormittag noch Luc Reiser mit von der Partie. Selbst aus drei Metern Entfernung sieht man, dass er sich ziemlich dämlich anstellt. Aber Luc lernt ja auch Sommelier und nicht Koch. Deswegen hat er immerhin eine Ausrede für das Massaker auf seinem Schneidebrett. Xavier hingegen hat keine, außer vielleicht den gestrigen Abend. Erst um vier Uhr war er im Bett.

»Und jetzt: Karotte. Brunoise.«

»Tomate. Concassée.«

Als Boudier Lucs Gehäcksel sieht, schnaubt er.

»Das ist nicht Brunoise, Sportsfreund. Das ist Haché. Noch mal!«

So geht das eine Weile. Xavier schwitzt. Er hat Restalkohol und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, vermutlich auch Rest-THC.

»Jetzt: Mirepoix!«

»Zu wenig Sellerie, Paul. Zu fein, Luc. Und nun: Schalotten. Ciselée.«

Letzteres ist die Anweisung für sehr feines Würfeln. Das ist nicht gerade Xaviers Lieblingsübung, denn er besitzt, um Boudier zu zitieren, »Luxemburger Bratwurstfinger«. An diesem Morgen zittern die Bratwürstel zudem.

Ihre gestrige Schicht hat keineswegs bis vier Uhr gedauert, lediglich bis halb eins. Danach waren zwar noch Gäste im Restaurant, aber die versorgte Boudier höchstselbst mit Getränken und Anekdoten. Xavier hätte also ins Bett gehen können. Stattdessen fuhren er und sein argentinischer Kompagnon Leo noch ins Städtchen. In Châlons-sur-Marne hatte um diese Zeit nichts mehr auf, außer einer Pinte, in der allabendlich das Strandgut der Stadt angespült wird. Im »Petit Pot« geht es hinter verschlossener Tür bis zum Morgengrauen weiter.

Xavier war höchstens zwei Stunden dort, doch die haben ihm den Rest gegeben. Zwei Rotwein, mehrere 103er, ein Joint – das andere Zeug hat er zum Glück abgelehnt.

Trotzdem fühlt er sich fürchterlich. Verstohlen schaut Xavier zu dem Argentinier hinüber. Eigentlich müsste Leo genauso am Ende sein wie er, doch sein Kumpel steht kerzengerade am Pass. Seine Wangen sind rosig, seine Haare perfekt gegelt.

»Was ist denn das für eine grobmotorische Scheiße, Xavier?«, fragt Boudier.

Er tippt auf das Schalotten-Ciselée, tut etwas davon auf einen Löffel. Boudier platziert einige der Gemüsefitzel auf seinem Handrücken, unterhalb von Daumen und Zeigefinger. Dann bläst er auf die Schalotten. Er hält seine Hand in die Runde und erklärt:

»Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Und daran erkennt ihr ein schlampiges Ciselée. Die Schalotten sollen sich später beim Kochen quasi auflösen. Dafür müssen sie so fein geschnitten sein, dass man sie wegpusten kann. Punkt. Mit denen da«, er deutet auf Xaviers Arbeitsplatte, »kannst du vielleicht Bauerneintopf machen. Machen wir hier Bauerneintopf, Xavier?«

»Nein, Chef.«

»Und warum nicht?«

»Weil wir kein Landgasthof sind.«

Boudier nickt anerkennend.

»Weil wir kein Landgasthof sind, sondern ein Restaurant mit einem Gabin-Stern und sechzehn Punkten im Levoir-Brillet. So, und jetzt noch mal von vorne.«

Geschlagene drei Stunden quält sie Boudier an diesem Montag mit Schnitttechniken, außerdem mit der Zubereitung verschiedener Basissaucen. Bei Letzteren immerhin schneidet Xavier ganz gut ab. Nach dem Verkosten seiner Espagnole erklärt Boudier, er besitze »ohne Frage das Talent«, sei aber »leider handwerklich betrachtet kaum besser als eine Thekenschlampe«. Leo hingegen bekommt zu hören, dass »Disziplin auch nichts nutzt, wenn man überhaupt keinen Geschmack hat«. Man kann dem Alten allerlei vorwerfen, aber nicht, dass er mit Feedback geizt.

Ein Lichtblick ist, dass es sich um einen Montag handelt, den Schließtag des »Renard Noir«. Gegen fünfzehn Uhr entlässt Boudier sie deshalb. Der schlaksige Paul, ungeselligster der drei Küchencommis, schwingt sich umgehend auf sein Rennrad und verduftet. Xavier und Leo hingegen steigen in Lucs rostige alte Ente und fahren ins Städtchen. Es ist ein herrlicher Junitag, noch nicht besonders warm, aber dennoch mit reichlich Sonne und knallblauem Himmel.

Während der Fahrt fragt Leo ihren Jungsommelier: »Amigo, irgendwelche guten Partys in nächster Zeit?«

Anders als Xavier, Paul und Leo stammt Luc von hier. Das Maison Reiser, ein Champagnerhersteller in der Nähe von Le Mesnil-sur-Oger, befindet sich seit Ewigkeiten im Besitz seiner Familie. Als ältester Sohn wird Luc den Laden eines Tages übernehmen, die Ausbildung zum Sommelier ist lediglich eine Station auf seinem Weg zum Champagnerbaron.

Der schöne Luc, wie sie den blonden Franzosen auch nennen, ist deshalb eine große Hilfe, wenn es darum geht, Feste und Partys aufzutun. Davon gibt es in dieser ländlichen Gegend weitaus weniger, als ihnen lieb wäre. Außerdem sind sie meistens blank. Luc aber weiß stets, wo die Scheune zittert, wo irgendwelche Winzer ein Fest veranstalten. Und wenn Xavier und Leo mit dem Erbprinzen der überall bekannten und geachteten Familie Reiser auftauchen, schenkt man ihnen stets großzügig ein. Kurzum, der Typ ist ein wandelnder VIP-Pass.

»Momentan nicht viel los«, erwidert Luc. »Die Weinberge sind voll, alle müssen arbeiten.«

Sie fahren nach Châlons. Als sie geparkt haben, will Leo sich in Richtung Kathedrale aufmachen, in die Altstadt. Luc schüttelt den Kopf. Er deutet auf die andere Straßenseite, wo eine Treppe hinabführt zum Ufer.

Durch Châlons fließt die Marne, außerdem gibt es einen Marne-Kanal. Dies hier sieht aus wie Letzterer. Rechts am Ufer sind ein paar Boote vertäut, links erstreckt sich ein kleiner Park. Luc deutet auf zwei Parkbänke.

»Qué pasa? Setzen wir uns da jetzt hin oder was? Wie so Assis?«, fragt der Argentinier.

»Warte nur ab«, erwidert Luc, »das hat alles seine Richtigkeit. Ein Gläschen, Männer?«

»Hier ist doch weit und breit kein Supermarkt«, sagt Leo.

»Ich bin natürlich vorbereitet.«

Luc geht zurück zum Auto, kommt mit einer Weinkiste unter dem Arm zurück. Xavier hört die Flaschen im Karton klimpern. In der anderen Hand trägt Luc eine Plastiktüte.

»Hast du die etwa im ›Renard‹ mitgehen lassen?«, fragt Xavier.

Leo lacht.

»Und ich dachte, der Alte zählt seine Flaschen jeden Abend durch, che.«

Luc schüttelt den Kopf.

»Ganze Kiste klauen wäre bisschen dreist. Nein, die hatte ich schon im Kofferraum. Aber Eiswürfel habe ich mitgehen lassen, denn dieser Pouilly-Fumé muss knackekalt sein.«

Kurz darauf prosten sie einander zu, trinken, rauchen, schwatzen. Die Sonne scheint ihnen ins Gesicht. Auf dem Kanal fährt ab und zu ein Ruderbötchen vorbei.

»Ich gebe zu, es ist ganz okay hier«, sagt Leo. »Trotzdem brauche ich bald un bocado, einen … ah … Happen. Hast du vielleicht Gänseleberpastete und Baguette einstecken, Reiser?«

»Das nicht, aber etwas viel Köstlicheres.«

»Qué?«

Luc schaut auf die Swatch an seinem Handgelenk.

»Geduld. In ein paar Minuten geht die Show los.«

Xavier sagt nichts, sondern zündet sich eine weitere Ducal an. Er wohnt seit knapp einem Jahr hier, aber an dieser Stelle war er noch nie. Er muss zugeben, dass sie ganz nett ist.

Eine Gruppe kommt den sandigen Uferpfad hinab in ihre Richtung. Es handelt sich um Leute in ihrem Alter, neunzehn, zwanzig, vielleicht. Sie schieben ihre Fahrräder, haben Taschen dabei.

»Hier um die Ecke ist eine Außenstelle der Hochschule«, sagt Luc.

»Und?«, fragt Leo.

»Die Studis gehen nach den Vorlesungen oft hier an den canal latéral und hängen ab.«

Xavier mustert die Näherkommenden. Es sind alles Mädchen. Leos Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen. Schon fährt sich der Argentinier durch die Haare, streicht sein Lacoste-Shirt glatt. Er lacht.

»Woher weißt du das, Luc. Du Schlingel, spionierst du kleinen Studentinnen nach?«

»Meine Cousine studiert Grafikdesign. Von ihr weiß ich, dass in dem Studiengang fast gar keine Typen sind«, grinsend wendet er sich ihnen zu, »und dass einer der Kurse um vier endet.«

Die Studentinnen stellen ihre Fahrräder ab, gehen zum Ufer. Luc winkt einer von ihnen zu.

»Hi, Monique.«

»Hallo, Luc. Was macht ihr denn hier?«

»Wir hatten heute früher Schluss.«

Er deutet auf den Weinkarton.

»Wollt ihr Mädels vielleicht ein Gläschen mit uns trinken? Eisgekühlt, natürlich.«

Eine Stunde später ist von dem Wein kaum noch etwas übrig. Die Zahl der Studis ist inzwischen auf fast zwanzig angeschwollen, mit den drei »Renard«-Lehrlingen mittendrin. Vor allem Leo ist in seinem Element, flirtet mit mehreren Mädchen gleichzeitig. Luc legt sich ebenfalls mächtig ins Zeug. Xavier hingegen ist nicht in Stimmung. Vielleicht liegt es an seinem Restkater, den auch der gute Pouilly noch nicht ganz vertrieben hat.

»Was ist los, che gordo?«, raunt Leo ihm zu.

»Ich glaube, ich packe es gleich.«

»Haben sie dir ins Gehirn geschissen? Das sind genug Chicas fürs ganze nächste Jahr.«

»Hm. Mag sein.«

Einen Moment lang starrt Leo ihn an. Dann sagte er: »Geschenkte Gäule, che. Also«, er kichert anzüglich, »Stuten eigentlich.«

»Lass gut sein, Leo. Heute bin ich raus.«

Er wirft seine Zigarette weg, steigt die Treppe zur Straße hinauf. Inzwischen ist es nach sechs, die Sonne steht schon tief. Als Xavier oben an der Straße ankommt, sieht er sie.

Sie hat braune Haare, immer ein guter Anfang. Auf einem alten Motobécane-Rennrad rollt sie die abschüssige Straße hinab. Sie sitzt kerzengerade, fährt freihändig. Mit einer Hand beschirmt sie ihr Gesicht, mit der anderen zündet sie sich eine Zigarette an. Dabei dreht sie den Kopf etwas zur Seite, damit ihr der Rauch nicht in die Augen gerät.

So kommt sie auf ihn zu, umschienen von den goldenen Strahlen der untergehenden Sonne.

Sie rollt vorbei. Xavier steht wie angewurzelt auf dem Trottoir, beobachtet, wie sie bremst und flott absteigt. Schon läuft sie, das Motobécane geschultert, die Treppe hinab, in Richtung der Feiernden. Sie geht wie ein Kerl. Mit ihren raspelkurzen Haaren und der Latzhose sieht sie ein bisschen aus wie das Mädchen aus diesem Video von Dexys Midnight Runners, das ständig auf MTV läuft.

Xavier klopft sich eine Ducal aus der Schachtel. Langsam geht er zurück zu den anderen.

»Che, wo kommst du denn jetzt wieder her?«, fragt Leo.

Xavier ignoriert ihn, greift sich die letzte Weinflasche. Rasch füllt er zwei Pappbecher. Während er auf sie zugeht, läuft in seinem Kopf »Come on, Eileen«.

2

Kieffer stand hinter der Theke und fragte sich, wo Jacques steckte. Der Kellner war nirgends zu sehen. Jene Gruppe Amerikaner, der er vor seinem Verschwinden die Menükarten ausgehändigt hatte, schaute bereits ungeduldig.

»Habe ich dir schon von meiner neuesten Eroberung erzählt?«, sagte eine Stimme. Sie gehörte Kieffers bestem Freund und Stammgast, Pekka Vatanen. Wie beinahe jeden Abend saß der hagere Finne an der Theke, vor sich einen Kühler mit einer Flasche Rivaner.

»Hast du noch nicht.«

Vermutlich handelte es sich wieder um eine von Vatanens Frauengeschichten. Kieffers Freund arbeitete beim Europäischen Parlament oben auf dem Kirchberg. Er reiste häufig zu Plenar- und Ausschusssitzungen nach Brüssel oder Strasbourg. Der Finne lernte dort andauernd Diplomatinnen, Lobbyistinnen oder Praktikantinnen kennen. Für einen Schwerenöter wie Vatanen war das außerordentlich praktisch.

Sein Freund schenkte sich nach und wollte gerade beginnen, Kieffer die Sache darzulegen. Doch der hob die Hand.

»Merk dir, was du sagen wolltest. Ich muss kurz den Tisch da machen. Wo zum Teufel ist dieser Kellner bloß?«

»Vielleicht macht er Homeoffice?«

»Witzig, Pekka.«

Er ging zu dem Tisch mit den halb verdursteten Amerikanern. Sie waren zu fünft, drei Männer und zwei Frauen, alle in dunkelblauer Geschäftskleidung. Kieffer tippte auf Fondsmanager.

Er trat an den Tisch, setzte sein breitestes Chefkochlächeln auf.

»Guten Abend«, sagte Kieffer auf Englisch, »bereit für die Getränke?«

Der Älteste am Tisch, ein Herr mit kahl rasiertem Schädel, nickte und sagte: »Wasser. Flasche. Und eine Diet Coke für mich.«

»Gerne. Möchten Sie auch einen Aperitif?«

Die vier jüngeren Mitarbeiter blieben stumm. Vermutlich warteten sie, ob ihr Spesenverwalter einen bestellte. Kurz fragte Kieffer sich, ob er vielleicht falsch lag und es sich doch nicht um Fondsmanager handelte, sondern um Wirtschaftsprüfer. Letztere waren immer ein bisschen knickerig.

Der Glatzkopf schaute in die Runde, lächelte. Kieffer kannte diesen Blick. So guckten die Leute immer, wenn sie ihren Tisch beeindrucken wollten, indem sie etwas Teures bestellten. Der Mann zeigte auf die Getränkekarte.

»Das hier, ah, Domaine Schmartz-Weber. Ist das Champagner?«

»Das ist ein Crémant.«

Die Amerikaner sahen ihn verständnislos an.

»Ein Schaumwein, kommt aus Luxemburg. Wird genauso gemacht wie Champagner, also: Flaschengärung. Dieser ist sehr gut.«

»Okay. Aber es ist kein richtiger Champagner?«

»So darf nur heißen, was wirklich aus der Champagne kommt. Aber wie gesagt …«

»Haben Sie keinen richtigen Champagner? Wir hätten gerne den wahren Jakob.«

Der Glatzkopf sagte the real McCoy, aber Kieffer vermutete, dass er damit den Jakob meinte – dass er keine Kopie wollte. Der Koch spürte, wie sein Blutdruck anstieg. Natürlich hatte er auch französischen Champagner im Keller. Aber der Crémant war diesem geschmacklich ebenbürtig und zudem eine hiesige Spezialität.

Das »Deux Eglises« bot in erster Linie regionale luxemburgische Küche an und servierte dazu Tropfen von der Mosel. Doch er ahnte, dass es keinen Sinn machte, dem Glatzkopf diese Dinge auseinanderzusetzen. Also sagte er: »Selbstverständlich, der Herr. Ich hätte einen.« Er hielt dem Mann die Karte hin und zeigte auf die nächste Seite. »Einen Haendinger Jahrgangschampagner. Ferner einen Ledoux & Duvalle.«

An den Gesichtern sah Kieffer, dass diese Leute den Namen des ersten Champagnerhauses noch nie gehört hatten. Bei der Erwähnung von Ledoux & Duvalle leuchteten ihre Augen hingegen.

»Great! Wir nehmen eine Flasche von dem Ledoux & Duvalle.«

Es war der schlechtere der beiden – Schaumwein von der Stange, sozusagen.

»Eine hervorragende Wahl«, sagte Kieffer, »Flasche kommt sofort. Mit dem Essen schauen Sie noch? Sehr gut, ich bin gleich wieder da.«

Er ging zurück zur Bar, wo Pekka und seine Eroberungsgeschichte warteten, begab sich dann jedoch nicht hinter die Theke, sondern ging zur Treppe.

Das »Deux Eglises«, dessen Koch und Besitzer er war, befand sich in einem alten Gemäuer, das zu napoleonischen Zeiten als Garnisonsgebäude gedient hatte. Die schmale steinerne Treppe, die er nun hinabstieg, führte in einen Keller, den man beinahe als Verlies hätte bezeichnen können. Seine Gewölbe bestanden aus mehr als einem halben Dutzend kavernenartiger Räume, miteinander durch schmale Gänge verbunden.

Dass der Keller so weitläufig war, lag daran, dass sich das Gebäude direkt am Hang des Bock befand, jenes Felsens, auf dem die Luxemburger Oberstadt stand. Das »Deux Eglises« hingegen lag in der Unterstadt, nahe der steilen Felswand. Und irgendein französischer Militäringenieur hatte es vor hundertfünfzig Jahren für sinnvoll erachtet, vom Haus aus mehrere Tunnel weit in den Fels hineintreiben zu lassen, um dort Munition oder anderes Material zu bunkern.

Kanonenkugeln oder Schießpulver lagerten in den Kellern des »Deux Eglises« keine mehr. Stattdessen befanden sich im hinteren Teil, wo es selbst im Hochsommer angenehm kühl blieb, nun die Weine. Kieffer ging zu dem Regal mit den Crémants und Champagnern. Normalerweise erledigte Jacques diese Kellergänge, und so war er schon einige Zeit nicht mehr hier gewesen. Nun aber fiel ihm auf, dass er mehr Champagner besaß als gedacht. Neben dem Haendinger und dem Ledoux, die auf der Karte standen, fand er einige Flaschen Brillat-Chabrol, außerdem eine Magnum von Veuve Aulnoit. Am meisten überraschte ihn jedoch ein ungeöffneter schwarzer Karton mit der Aufschrift »Balzac Royal«. Unter schwungvollen, in Gold aufgedruckten Lettern waren aufgefächerte Pokerkarten abgebildet. Die oberste zeigte einen Joker. Dieser sah nicht aus wie ein klassischer Harlekin, sondern eher wie ein krimineller Clown. Er grinste maliziös. Statt eines Narrenstabs hielt er eine Pistole in der rechten. Die linke umfasste einen Champagnerkelch. Darunter stand: »Wild Card« und »Elite Champagne«.

Kieffer stutzte. Hatte er dieses Zeug bestellt? Es erschien ihm unwahrscheinlich. Die Hand ins Feuer legen wollte er dafür aber auch nicht. Manchmal kam er erst spät am Abend dazu, Wein oder andere Dinge nachzuordern. Vielleicht war er bei einem dieser Online-Einkäufe nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen?

Er öffnete den Karton. Die Flaschen darin waren vollständig in Goldfolie eingefasst. Auf der Vorderseite prangte das Logo mit dem Killerclown, groß und reliefartig. Er schaute sich die Rückseite an. »An elite champagne for real players and true connaisseurs« stand da.

»Für Angeber und Lambofahrer wohl eher«, brummte Kieffer. Er stellte den Bling-Bling-Champagner zurück ins Regal, griff sich stattdessen den Ledoux. Außerdem nahm er eine Flasche Rivaner mit. Vatanen hatte zwar gerade erst angefangen. Doch sein Gefühl sagte ihm, dass der trinkfreudige Finne heute in Stimmung war. Besser, er stellte ihm eine zweite Flasche kalt.

Als er die Treppe hochstieg, kam ihm Jacques entgegen.

»Xavier, da bist du ja, Ich habe dich überall gesucht.«

»Da sind wir schon zwei. Wo warst du denn?«

»Ich musste kurz telefonieren.«

»Und die Leute mussten kurz bestellen.«

Er drückte Jacques die Champagnerflasche in die Hand.

»Tisch vier. Und Essen müssen die auch noch bestellen.«

»Das habe ich bereits erledigt.«

»Immerhin etwas.«

»Die in der Küche haben gesagt, du sollst kommen.«

»Ich bin auf dem Weg.«

Die Küche des »Deux Eglises« befand sich im Obergeschoss. Kieffer stieg die schmale Treppe hinauf. Eigentlich hätte es oben noch ruhig zugehen müssen. Es war halb sieben und der große Ansturm setzte in der Regel erst eine Stunde später ein. Dann kamen die Teller mit Judd und Biwwelamoud im Minutentakt an den Pass, wo Kieffer oder seine Souschefin Claudine sie abnahmen.

Doch schon bevor er oben ankam, ahnte er, dass etwas im Busch war. Als er die Küche betrat, sah er, dass ihn seine Intuition nicht getrogen hatte. Ein Vorbereitungskoch stand fluchend neben seiner Station. Claudine hielt die Hände über den Kopf.

»Probleme?«, fragte er.

Claudine wandte sich ihm zu.

»Da bist du ja endlich. Hat Jacques es dir schon gesagt?«

»Er hat nur gesagt, dass ich hochkommen soll.«

»Nicht, dass du Sicherungen mitbringen sollst, aus dem Keller?«

»Nein, Er hat mir nur … was ist denn jetzt das Problem?«

»Ein Herd tut es noch, die anderen sind tot.«

Sie zeigte auf jene Stationen, an denen normalerweise Saucen und Gebratenes zubereitet wurden.

»Und du glaubst, die Sicherungen sind rausgeflogen? Aber das Licht«, er deutete gen Decke, »geht ja.«

»Ich weiß. Ich hab alles rein und raus, aber es hat nichts gebracht.«

Kieffer ging erneut in den Keller, suchte Sicherungen, fand aber erst nach zehn Minuten welche, lief wieder hoch, setzte sie ein. Doch die Herde blieben kalt.

»Scheißdreck«, sagte er zu Claudine.

»Kannst du laut sagen. Was machen wir jetzt?«

Kieffer kratzte sich am Kinn. In einem größeren Restaurant als dem seinen hätte man vielleicht einfach die Stationen tauschen können. Aber in ihrer kleinen Kochkemenate war das nicht möglich – es gab keine Ersatzherde.

»Kundendienst?«, schlug Claudine vor.

»Bis die hier sind, an einem Sonntag, ist der Service durch.«

Er überlegte angestrengt. Im Geiste lief er durch Clausen. So hieß das Luxemburger Unterstadtviertel, in dem das »Deux Eglises« lag. Es war nicht sehr groß, besaß höchstens tausend Einwohner. Kieffer, der in der ville basse aufgewachsen war, kannte die meisten von ihnen.

»Arsène«, rief er.

»Wer?«

»Arsène Schleck. Der ist Elektriker.«

»Sagt mir nix.«

»Vorne an der Rue Malakoff, das grüne Haus?«

»Da ist ein Laden? Das ist doch ein Wohn-«

Kieffer war schon auf dem Weg nach unten. In der Tat befand sich in dem fraglichen Haus kein Elektrogeschäft – und selbst wenn, dann hätte es geschlossen. Aber er wusste, dass der alte Arsène früher überall in der Gegend tätig gewesen war. Das letzte Mal hatte Kieffer ihn vor einigen Jahren gesehen, als Schleck im »Deux Eglises« essen gewesen war.

Er verließ das Restaurant, eilte die Einfahrt hinunter, vorbei an dem Schild mit den zwei blauen Laternen. Der Koch lief die Rue Jules Wilhelm hinauf. Links von ihm befand sich der Hang des Bockfelsens, rechter Hand erstreckte sich das etwas tiefer gelegene Clausen. Die Straße stieg leicht an. Wäre Kieffer ihr weiter gefolgt, wäre er irgendwann auf den Kirchberg gelangt, jenes Plateau außerhalb der Stadt, auf dem sich das Europa- und das Bankenviertel befanden. Stattdessen bog er nach rechts ab, in die schmale Rue Malakoff.

Kurz darauf klingelte er an der Tür eines kleinen, aber properen Hauses. Es dauerte etwas, bis die Tür sich öffnete. Vor ihm stand ein Mann, aber es war nicht Arsène Schleck. Sein Gegenüber war eher Mitte vierzig denn Mitte siebzig. Er kaute noch. Offenbar hatte Kieffer ihn beim Abendessen gestört. Der Mann runzelte die Stirn.

»Ja, bitte?«

»Entschuldigen Sie bitte den Überfall. Ich komme von dem Restaurant um die Ecke.«

»D’ Zwou Kierchen?«

»Genau.«

»Ich glaube nicht, dass wir was bestellt haben.«

»Ah, ja, nein. Wir liefern auch gar nicht. Ich meine … ist dies das Haus von Arsène Schleck? Ich wollte fragen, ob er zu sprechen ist.«

»Papp? Hier ist …«

Er schaute den Koch fragend an.

»Xavier Kieffer.«

»Ein Haer Kieffer.«

Kurz darauf erschien Arsène Schleck an der Tür. Er sah so aus, wie Kieffer ihn in Erinnerung hatte, nur mit weniger Haaren auf dem Kopf.

»Mensch, der Junge vom alten Claude. Dich habe ich ja lange nicht gesehen«, sagte er.

»Guten Abend, Haer Schleck. Es ist mir sehr unangenehm, so bei Ihnen reinzuplatzen. Aber ich bin etwas in der Bredouille.«

»Ach ja?«

»Meine Herde haben den Geist aufgegeben.«

»Vielleicht ist die Sicherung rausgeflogen.«

Kieffer erläuterte Schleck, dass er dies bereits überprüft habe.

»Ich verstehe. Und das da soll wohl«, er zeigte auf Kieffers rechte Hand, »ein Bestechungsgeschenk sein, was?«

Dem Koch fiel nun auf, dass er immer noch den eigentlich für Vatanen bestimmten Rivaner in der Hand hielt. Der Alte griff nach der Flasche. Kieffer gab sie ihm.

»Tja, dann geh ich wohl besser mal schauen.«

Schleck junior schien von der Idee nicht begeistert.

»Denk an deine Hüfte, Papp.«

»Auf dem Boden rumkriechen kann ich tatsächlich nicht mehr. Aber das kann ja der junge Mann hier übernehmen. Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Xavier? Die habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.«

»Sie ist vor zwei Monaten gestorben.«

»Das tut mir leid. Aber komm, gehen wir. Vermutlich ist es dringend, weil deine Gäste nichts zu essen bekommen.«

»Ja, genau.«

»Henri«, sagte er zu seinem Sohn gewandt, »nimm mal den Wein.«

Während Schleck sich eine Jacke überzog, sagte Kieffer: »Der Wein war übrigens nicht alles, ich meine, ich lade Sie so oft zum Essen ein, wie Sie wollen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie …«

»Dank mir nicht zu früh. Wenn es nämlich die Unterputz-Leitung ist, bleibt die Küche erst mal kalt, vierzig Jahre Elektrikerfahrung hin oder her.«

Kurz darauf waren sie auf dem Weg zum »Deux Eglises«. Kieffer schleppte Schlecks Werkzeugkasten.

»Und dein Vater?«, fragte der Alte. »Lebt der denn noch?«

»Nein, auch nicht mehr.«

»Ihr hattet damals ein Haus in der Tilleschgaass, nicht wahr?«

»Ja. Da wohne ich jetzt.«

»Und zuvor deine Mutter?«

»Nein, die ist schon vor Jahren nach Arlon gezogen, nach dem Tod meines Vaters.«

Sie kamen im Restaurant an. Während der alte Schleck Leitungen und Herde prüfte, assistierte Kieffer ihm und beantwortete zudem weitere Fragen zu seiner Familie, die der pensionierte Elektriker erstaunlich gut zu kennen schien. Er wusste, dass Kieffers Vater Claude bei der Großherzoglichen Armee gedient und dort den Rang eines adjudant-chef bekleidet hatte. Er erinnerte sich sogar daran, dass Constant Kieffer, sein Großvater väterlicherseits, Brauer gewesen war.

»Und natürlich dein Urgroßvater, der alte Jempy. Was für ein Kerl das gewesen sein muss«, sagte er.

Kieffer wusste nicht, von wem Schleck redete. Von einem Uropa namens Jempy hatte er noch nie gehört. Die Heldentaten seiner Urahnen waren ihm momentan auch völlig gleichgültig. Alles, was er wollte, war Huesenziwwi und Frell am Riesling zu kochen, und dafür benötigte er diese Scheißherde. Dennoch nickte er freundlich und sagte: »Hm, ja, der soll ein ganz besonderer Bursche gewesen sein.«

»Gib mir mal die Crimpzange, Junge.«

»Äh, die was?«

»Für die Kabelschuhe.«

Kieffer wusste nicht genau, was Schleck meinte. Nachdem er eine Weile in dessen Werkzeugkasten gekramt hatte, fand er eine exotisch aussehende Zange und reichte sie dem Alten. Tatsächlich schien es die richtige zu sein.

Schleck beugte sich über einen der Herde. »Wenn ich das hier erneuert habe, sollte eigentlich alles wieder gehen.«

Ohne aufzublicken, murmelte er: »Meine Großmutter hat mir von ihm erzählt.«

»Von wem? Diesem Jempy?«

»Jawoll. Jempy Kieffer, der Schrecken der Unterstadt. Hatte immer irgendwelche Dinger am Laufen. War gut darin, Sachen zu organisieren, zu beschaffen. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich denke schon.«

»Ist dann nach Amerika. Angeblich war er dort ein Bandit. Ein Luxemburger Billy the Kid.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Jetzt probieren wir es mal.«

Schleck schaltete den Herd an. Die Kontrollleuchten an der Vorderseite flammten auf. Kieffer bedeutete einem der Kollegen, ihm eine Pfanne zu reichen. Er stellte sie auf das Induktionsfeld. Sie wurde warm.

»Sie retten uns das Leben, Haer Schleck.«

Der Alte machte eine abwehrende Geste.

»Gern geschehen. Es waren die Kontakte und der Starkstromanschluss. Die Elektrik hier ist nicht mehr ganz neu. Ihr solltet überlegen, sie mal rundum zu erneuern.«

Kieffer nickte und begleitete Schleck nach unten.

»Sie und ihre ganze Familie werden hier festlich bewirtet.«

»Vorsicht. Ich habe einige Kinder und Kindeskinder.«

»Je mehr, je munterer. Sagen Sie einfach Bescheid.«

Er bat Jacques, den Elektrikermeister zurück zu seinem Haus zu begleiten und dessen Werkzeugkasten zu schleppen. Er selbst musste zusehen, dass die Küche wieder in Gang kam.

3

Die nächsten zwei Stunden war Kieffer vollauf damit beschäftigt, die aufgelaufenen Bestellungen abzuarbeiten. Er stand am Pass und kontrollierte Teller voller Bouneschlupp, Fëschfriture und Kanéngche mat Moschterzooss. Obwohl sie so rasch arbeiteten wie möglich, ging es ihnen wie einem Motorsportteam, das den ersten Reifenwechsel versemmelt hatte – der Rückstand war nicht mehr aufzuholen. Die Gäste bekamen zwar alle ihr Essen, aber viele mussten lange warten.

Als er gegen elf Uhr die Küche verließ, um im Schankraum nach dem Rechten zu sehen, waren die meisten verbliebenen Gäste bereits beim Dessert. Kieffer wies Jacques an, großzügig Espressi und Schnäpse auf Kosten des Hauses zu verteilen.

»Läuft nicht rund heute, hm?«, sagte Vatanen, der immer noch an der Theke saß. Er war bereits bei der zweiten Flasche, darauf zumindest deuteten seine geröteten Wangen und sein leicht glasiger Blick hin. Kieffer goss sich ebenfalls ein Glas ein, einen Riesling.

»Du merkst auch alles, Pekka.«

»Bei mir war es auch eher unrund heute.«

»Und ich dachte, die EU-Verwaltung läuft wie eine perfekt geölte Maschine.«

»Xavier, immer diese Beamtenfeindlichkeit. Das kann ich nicht gutheißen. Aber ja, es stimmt. Es gibt gerade einen größeren Umbau und der bringt alles durcheinander.«

»Sprichst du von dem neuen Gebäude?«

Das Gebäude auf dem Kirchberg, in dem Vatanen lange gesessen hatte, war eines der ältesten im gesamten Europaviertel gewesen. Erst vor Kurzem war der Finne umgezogen, in einen Neubau auf der anderen Seite der Avenue Kennedy.

»Nein, vom Organigramm.«

Vatanen begann, Kieffer etwas über verschiedene Generaldirektionen zu erzählen, über DG FINS, DG PERS und DG EPRS, was auch immer dieser Buchstabensalat bedeutete. Der Koch hörte nur mit einem Ohr hin. Sein Kopf war zu voll. Der Service war zwar durch, aber er musste dringend noch eine Bestellung auf den Weg bringen, da er am Montagmittag nach Paris fahren wollte.

»… und dadurch den gesamten Workflow zu zerstören, den wir in den vergangenen fünf Jahren aufgebaut haben. Unglaublich, oder?«

»Ein Skandal, Pekka.«

»In der Tat. Na ja, was soll’s. Dafür läuft es mit der Neuen.«

»Neue Freundin?«

»Oh ja. Eine Schwedin. Ich fahre sie morgen besuchen.«

»In Brüssel?«

»In Stockholm. Åsa arbeitet dort für das Agrarministerium. Ich fliege hin und werde«, er goss sich Wein nach, »das für eine kleine Challenge nutzen.«

»Eine Challenge? Und zwar?«

»Ich rawdogge den Flug.«

»Du machst was?«

Vatanens Gesicht verzog sich zu einem etwas mitleidigen Lächeln.

»Manchmal glaube ich, du lebst unter einem Stein, mein Bester.«

Kieffer schüttelte den Kopf, deutete hinter sich.

»Neben einem vielleicht, dem Bockfels. Aber nicht drunter. Und man muss ja nicht jeden Quatsch kennen, den sich irgendwelche Internetfuzzis ausdenken, oder? Zumindest klingt es nach einem Internettrend.«

»Ist es auch. Es geht dabei um Selbstbeherrschung. Während des Flugs.«

Nun glaubte Kieffer, vielleicht doch schon etwas über dieses Rawdogging-Phänomen in der Zeitung gelesen zu haben. Leute absolvierten Langstreckenflüge, ohne in ihr Handy zu gucken – oder in irgendetwas. Sie lasen kein Buch, schauten keinen Film, sondern starrten stattdessen stundenlang den Vordersitz an. Angeblich stärkte das die Willenskraft. Oder vielleicht war es auch eine Art von Meditation.

»Und das machst du? Du verzichtest während des Flugs vollkommen?«

»Ja.«

»Also kein Netflix?«

»Wieso Netflix? Nein, ich verzichte«, er vollführte mit den Händen eine Geste, die illustrieren sollte, um was für eine Riesenchallenge es sich handelte, »während des gesamten Flugs auf Alkohol. Auch vorher schon, in der Lounge.«

Kieffer überlegte, wie lange ein Flug von Luxemburg nach Stockholm wohl dauerte. Es konnten nicht mehr als zweieinhalb Stunden sein. Rechnete man die Zeit am Gate waren es vielleicht drei. Drei Stunden lang nichts zu trinken, tagsüber zumal, schien ihm keine besonders beeindruckende Leistung zu sein, einerseits. Andererseits war der Challenger nicht irgendwer, sondern ein Mann, der gefühlt zu siebzig Prozent aus Weißwein bestand.

Kieffer riet seinem besten Freund seit Jahren, er möge ein bisschen weniger trinken. Vatanen hatte das stets ignoriert, aber nun … tat sich da etwas? Der Koch versuchte, beeindruckt dreinzuschauen.

»Was?«, sagte Vatanen.

»Das … das ist super Pekka. Ich meine, es ist …«

»Ja?«

»Es ist ein guter Anfang.«

»Der Anfang vom Ende, wenn du mich fragst. Aber mein Arzt hat gesagt, der erste Schritt sei, nicht mehr tagsüber zu trinken. Herrgott, was ist bloß aus der Welt geworden.«

»Inwiefern?«

»Ich bitte dich, Xavier. Ein Mittagessen ohne Wein?«

»Tja, selbst bei den Franzosen ist der trockene Lunch inzwischen gang und gäbe, Pekka.«

»Pah. Nur ein Zeichen dafür, dass selbst die bekloppt geworden sind.«

»Ich fahre morgen nach Paris und teile dir demnächst gerne mit, ob das zutrifft – dass die Franzosen den Verstand verloren haben, meine ich.«

»Du fährst zu Valérie? Unter der Woche?«

»Ich bin schon groß und darf meine Freundin auch unter der Woche besuchen. Genau wie du deine Schwedin übrigens.«

»So meinte ich das nicht. Nur weil ihr sonst doch immer am Wochenende …«

Einer der Gäste winkte. Es war der glatzköpfige Ami.

»Sorry. Ich muss mal kurz.«

Er ging zu den Amerikanern.

»Was kann ich Ihnen Gutes tun?«

»Wir hätten gern noch eine Flasche Champagner.«

»Okay. Wieder den Ledoux?«

»Was gab es noch?«

»Haendinger und ah, Balzac.«

Der Mann hob die Augenbrauen.

»Oh wow. Wild Card?«

Kieffer nickte.

»Der stand aber nicht auf der Karte?«

»Ist unsere private Reserve.«

»Großartig. Dann davon eine Flasche.«

Kieffer war nach wie vor schleierhaft, woher die goldenen Flaschen stammten. Folglich kannte er den Einkaufspreis nicht, aber glücklicherweise hatte der Gast auch nicht gefragt, was das Zeug kostete. Er würde sich einfach einen Mondscheinpreis ausdenken.

Zurück an der Theke beauftragte er den gerade mit einigen Desserts vorbeilaufenden Jacques, eine Flasche des Angeberschampus zu holen. Dann wandte er sich wieder Vatanen zu.

»Zu deiner Frage von vorhin: Ja, normalerweise sehen Valérie und ich uns an Wochenenden, aber auch das nur sporadisch.«

»Oh weh. Ist diese junge Liebe etwa schon erkaltet?«

»Quatsch. Du weißt doch, wie ihr Job ist.«

Valérie war Journalistin und Restaurantkritikerin. Sie arbeitete für das Foodportal Gabin.com, das aus Frankreichs traditionsreichem Restaurantführer hervorgegangen war, dem Guide Gabin. Valérie selbst war die Enkelin des Gründers. Manchmal reiste sie wochenlang durch Asien oder die USA, und Kieffer sah sie entsprechend lange nicht.

»Aber morgen Abend gibt es einen Empfang des Gabin in Paris. Nennt sich ›Gabin Culinary Innovator Awards‹. Und da komme ich mit.«

»Haute volée, Sterneköche und du mittendrin?«

»So sieht es aus, ja.«

»Ich dachte, dieser ganze Sternekram geht dir auf den Zeiger.«

»Ich habe nichts dagegen, es ab und an zu essen, Pekka. Solange ich nur selbst nicht in so einer Knochenmühle arbeiten muss, damit bin ich fertig. Außerdem geht es wohl diesmal nicht um das edelste Restaurant, sondern um den innovativsten Koch.«

»Aha. Und wo findet dieser Superevent statt?«

»Irgendwo an der Seine, glaube ich.«

»Klingt schick«, antwortete Vatanen.

Während der Finne sein Glas nachfüllte, betrachtete er eingehend die Oberfläche der Theke.

»Betrachtest du dein Spiegelbild, Pekka?«

»Das wäre eher schwierig bei dem Tresen.«

»Wieso, ist er schmutzig? Ich habe den gerade vorhin erst …«

»Rissig, eher. Tja. Irgendwann ist der Lack halt ab.«

Vatanens Tonfall schien anzudeuten, dass er nicht nur Kieffers Theke meinte, sondern eventuell das ganze Restaurant. Vielleicht meinte er aber auch seinen Job, sein Leben oder sogar die ganze Welt. Einen Moment starrte der Finne trübselig vor sich hin. Dann zuckte er mit den Achseln und trank einen großen Schluck Weißwein.

4

Als Kieffer von Valérie erfahren hatte, dass der Gabin-Event auf einem Seine-Boot stattfinden sollte, war er skeptisch gewesen. Bei diesen Kähnen dachte er unweigerlich an amerikanische und asiatische Touristen, die den Fluss entlangschipperten, sich durch ein »authentisches« französisches Drei-Gänge-Menü fraßen und währenddessen Fotos von Nôtre-Dame und Eiffelturm knipsten. Aber eigentlich hätte er wissen müssen, dass es bei einer Veranstaltung des Guide Gabin gediegener zugehen würde.

Auf Höhe der Île aux Cygnes im Westen der Stadt hatte der Gastroführer insgesamt drei Boote am Seineufer gechartert und außerdem am Uferkai Freiluftbars und Essenstände aufstellen lassen. Von der gut gewählten Location aus sah man die Freiheitsstatue, die Wolkenkratzer-Skyline am Quai de Grenelle und in einiger Entfernung auch den Eiffelturm.

Kieffer stand am Ufer, ein Glas Wein in der Hand, und schaute sich den Trubel an. Es mussten über tausend Gäste anwesend sein. In Grüppchen standen sie herum, Fingerfood und Champagnerflöten in den Händen.

Der Koch fühlte sich ein wenig verloren. Die Sache mit der schadhaften Elektrik des »Deux Eglises« hatte ihn schlecht schlafen lassen. In einem wirren Traum war ihm ein Elektriker erschienen, mit dem Antlitz des glatzköpfigen Gasts von gestern Abend. Der Amerikaner hatte die gesamte Verkabelung seiner Küche herausgerissen und geschrien: ›It’s fucked up beyond all repair.‹ Fünfzigtausend Dollar werde ihn das alles kosten, mindestens.

Zur Müdigkeit kam, dass er hier kein Schwein kannte. Früher einmal war er selbst Teil dieses ganzen Sternezirkus gewesen, hatte nach seiner Lehre im »Renard Noir« in einem Pariser Einsterner namens »Louvois« gearbeitet, danach sogar in einem Zweisterner namens »La Houle«. Doch irgendwann war Kieffer die Haute Cuisine zu viel geworden. Er war zurück nach Luxemburg, um dort zu kochen, wie er wollte, ohne Sterne und Hauben, ohne amuse geules und petit fours, ohne Weinkarten von der Dicke eines Telefonbuchs.

Er stand vor einem großen Plasmabildschirm, auf dem ein PR-Film des Gabin lief. Alte, in kobaltblaues Leder gebundene Bücher wurden gezeigt, jene legendären Gastroführer, mit denen das Unternehmen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren groß geworden war. Man sah Aufnahmen des Maison Gabin, eines Art-déco-Gebäudes unweit des Arc de Triomphe; Gabin-Inspektoren, die Speisen begutachteten und sich mithilfe einer Smartphone-App Notizen machten.

Er wandte den Blick ab, schaute sich die Leute an. Es war noch nicht dunkel, aber die Sonne versteckte sich bereits hinter den Gebäuden auf der westlichen Uferseite, vergoldete die Freiheitsstatue an der Spitze der Schwaneninsel.

Kieffer nahm einen grau melierten Herrn mit auffälliger Designerbrille ins Visier. War das nicht Rory Tannenberg, der britische Starkoch? Es sah ganz so aus. Und die Frau, die da gerade einen Hotdog aß, konnte eigentlich nur Julia Vermont sein, eine bekannte Schauspielerin. Mehrere Leute filmten die Diva, während sie von ihrer Wurst abbiss.

»Hungrig, hm? Starrst du sie an oder ihr Essen?«, sagte eine Stimme.

Sie gehörte Valérie. Kieffer drehte sich um. Seine Freundin, normalerweise eher ein Jeans-und-Turnschuh-Typ, hatte sich für diesen Abend herausgeputzt. Valérie Gabin trug einen dunkelgrünen Hosenanzug, dazu ein goldenes Top und ebenfalls goldene Pumps. Ihre kastanienfarbenen Haare wirkten dunkler als sonst und Kieffer fragte sich, ob Valérie begonnen hatte, sich die Haare zu färben.

Er legte einen Arm um sie, gab ihr einen Kuss.

»Ich habe mich vor allem gefragt, wieso jemand auf einem Gabin-Event Hotdogs isst.«

»Die Frage kann ich beantworten. Komm mit.«

Valérie nahm seine Hand, führte ihn durch die Menge, in Richtung eines der Bootsstege. Ihm fiel auf, dass überall gefilmt wurde – nicht mit Profikameras, sondern mit Handys, an denen oft kleine Leuchtringe oder Mikros befestigt waren.

»Sind das irgendwelche Internetheinis?«, fragte er.

»Influencer? Ja. Wir haben diesmal eine Menge von denen eingeladen.«

»Gehen die nicht allen auf die Nerven?«

»Schon, aber sie sind notwendig. Wenn du dein Restaurant heutzutage bekannt machen willst, geht das nicht mehr ohne Foodblogger und solche Leute. Hier führen wir ihnen die Köche zu.«

»Ich hätte jetzt eigentlich gedacht, dass Foodblogger Konkurrenz für euch wären.«

»Hm, nicht wirklich. Klar, wir bewerten auch Restaurants und schreiben drüber. Aber die berichten hier vor allem über unseren Event, das bringt positiven buzz.«

Kieffer hasste diesen ganzen Social-Media-Quatsch noch mehr als überaffektierte Haute Cuisine. Sein Restaurant besaß zwar eine Webseite, aber er weigerte sich weiterhin standhaft, dafür auch einen Instagram-Account anzulegen, wie seine Souschefin es ihm mehrfach geraten hatte. Sollte er da etwa Bilder posten, auf denen er in seiner Bouneschlupp rührte?

Sie erreichten den Anleger, gingen an Bord. Auf dem Vorderdeck stand eine drei Meter hohe Statue eines kleinen dicken Kochs mit überdimensionierter Toque. Sie wirkte cartoonhaft, wie aus einem uralten Zeichentrickfilm. Auf ihrer Kochmütze prangte ein leuchtendes goldenes ›G‹. Dies war Georges, der kleine Koch, das Maskottchen des Gabin. Neben der Statue stand eine junge Frau mit Selfiestick und drehte ein Video.

»Und wer wird heute ausgezeichnet?«, fragte Kieffer.

»Das sag ich dir jetzt nicht, zu viele Ohren hier und noch geheim. Aber nominiert sind Vásquez, Hougaard und Bussière.«

»Von Vásquez habe ich schon mal gehört. Ist das der aus Lima?«

»Aus den Anden. Um zu seinem Restaurant zu gelangen, muss man zwei Stunden zu Fuß den Berg rauf. Die Zutaten stammen alle aus Höhenlagen, viele davon sind total unbekannt. Er hat ein eigenes Sammlerteam, alles Bergsteiger.«

»Klingt aufwendig.«

»Er hat nur fünfzehn Plätze pro Abend.«

»Dann muss er aber richtig hinlangen.«

»Tut Vásquez auch. Aber es gibt halt Leute, die das nicht kümmert, solange es einzigartig ist.«

Sie schoben sich durch die Menge. Valérie wollte anscheinend aufs Achterdeck, wo sich ein Essenstand befand.

»Und die anderen?«

»Ebenfalls nominiert ist Johan Hougaard. Der macht total irre Sachen, zum Beispiel Schneckenkaviar und gefrorenen Salat.«

»Ist mir auch schon mal passiert, als der Kühler kaputt war«, sagte er.

Valérie knuffte ihn in die Seite.

»Du bist blöd. Als Ex-Sternekoch solltest du wissen, dass es eben nicht darum geht, die x-te Variante von blanquette de veau zu servieren.«

»Klar. Ist ja quasi Kunst. Aber ist es genießbar?«

»Muss Kunst immer genießbar sein?«

»Ja. Nein. Ach, ich weiß nicht.«

»Das hier wird dir jedenfalls zusagen, glaube ich.«

Sie näherten sich dem grellbunten Stand. Wenn Jean-Paul Gauthier eine Imbissbude entworfen hätte, sähe sie vermutlich so aus. Auf dem Dach prangte ein Leuchtschild mit der Aufschrift »Haute Dogue«.

»Der macht die Dinger, die Julia Vermont da vorhin gegessen hat?«

»Die. Dam-Bi Kim ist eine Street-Food-Impresaria. Warte kurz, ich hole uns was.«

Die Schlange vor dem Stand war beachtlich, aber Valérie ging an ihr vorbei und verschwand aus Kieffers Blickfeld. Wenige Minuten später tauchte sie wieder auf, mit zwei Hotdogs und zwei Gläsern. Er ging auf sie zu, nahm ihr die Würstchen ab.

»Was genau ist das jetzt?«

»Artisanale Toulouser Bratwurst auf Balsamico-Fenchel, mit einer Sauce aus Bleu d’Auvergne und Perigord-Trüffeln. Dazu«, sie reichte ihm ein Glas, »ein Jahrgangs-Champagner, Rosé, Millésime 2018.«

Es klang entsetzlich chichi, und Kieffer wollte es fürchterlich finden. Doch als er abbiss, musste er feststellen, dass der Haute Dogue fantastisch schmeckte. Der Champagner passte ebenfalls hervorragend dazu.

»Okay, überzeugt«, sagte er kauend, »und die Köchin, ist die von hier? Weil koreanisch ist das ja nicht gerade.«

»Die Koreaner sind berühmt dafür, Spezialitäten aus anderen Ländern in Streetfood zu verwandeln.«

»Ist das so?«

»Ja. Solltest du dir mal auf YouTube anschauen. Die machen wirklich geiles Zeug.«

Sie strich ihm über die Wange.

»Du fühlst dich hier ein bisschen lost, oder, Süßer?«

»Nein, alles gut. Ich wanze mich einfach an irgendwen ran.«

»Okay, mach das. Ich muss jetzt gleich arbeiten, die Preisverleihung beginnt in zwanzig Minuten.«

Valérie gab ihm einen Kuss auf die Wange und händigte ihm ihren Haute Dogue aus. Sie hatte nur einmal abgebissen. Kieffer stellte sich an einen Stehtisch, aß erst seine und dann Valéries Wurst. Danach zündete er sich eine Ducal an.

Am Ufer waren inzwischen Scheinwerfer angegangen. Sie beleuchteten eine Bühne, auf der bereits ein Podest mit einer Trophäe aus Plexiglas bereitstand. Valérie betrat sie zusammen mit einer anderen Frau. Soweit Kieffer wusste, handelte es sich um die Pressesprecherin des Gabin.

Er nippte an seinem Glas, stellte fest, dass es leer war. Der Koch machte sich auf die Suche nach einem frischen Getränk. Der Moment schien günstig. Die meisten Gäste waren in Richtung Bühne geströmt oder standen dicht gedrängt an den Relings der Boote, um die Preisverleihung zu verfolgen. Kieffer jedoch war es völlig schnurz, wer »Culinary Innovator« des Jahres wurde – der mit dem schockgefrosteten Salat, der mit dem Gipfelrestaurant oder irgendwer anders. Ihn interessierte nur Valérie. In letzter Zeit war es verdammt schwer, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Er nahm ihr das nicht übel, zumindest redete er sich das ein. Eine berühmte Gastrokritikerin hatte eben viel zu tun. Und er selbst war mit seinen absurden Arbeitszeiten ja auch nicht gerade ein einfacher Kandidat.

Also mussten sie nehmen, was sie kriegten. Die Preisverleihung war um neun zu Ende. Gegen zehn, so der Plan, würden sie sich davonmachen.

Kieffer befand sich inzwischen im Innenbereich des Schiffs. Dort gab es Stände verschiedener Getränkehersteller. Vermutlich zahlten diese für das Privileg, einen Event des Gabin sponsern zu dürfen. Er kam an einem knallgelben Stand von Veuve Aulnoit vorbei, nahm sich ein Glas.

Er wollte schon wieder nach draußen gehen, als er durch eine der Scheiben ein Gesicht erblickte, das ihm bekannt vorkam. Es handelte sich um einen schlanken Mann in Chinos und Hemd, der in etwa Kieffers Alter besaß. Er stand an der Reling – nicht auf der Uferseite, wie die meisten anderen Gäste, sondern auf der zum Fluss. Ihm gegenüber befand sich ein Mann in einem Nadelstreifenanzug. Er sah aus wie ein Banker. Die beiden diskutierten. Es schien, als machten die beiden einander Vorhaltungen.

Kieffer verharrte einen Moment. Der Bart war neu, die kurzen Haare ebenfalls. Früher hatte er eine blonde Mähne besessen – wenn er es denn war. Wegen der Reflexionen in der Scheibe war er sich nicht hundertprozentig sicher. Aber diese Nase …

Kieffer ging zur Tür, drängte sich durch die Menschenmenge. Der Koch erreichte die Backbordseite des Schiffs, an der sich die beiden Männer aufhielten. Ihr Gespräch schien beendet zu sein, der Mann in Nadelstreifen entfernte sich bereits. Der andere blickte hinaus auf den Fluss. Nun bestand kein Zweifel mehr.

»Mensch, Luc«, sagte Kieffer. »Was machst du denn hier?«

5

Kieffer überlegte, wann er Luc Reiser zuletzt gesehen hatte. Er konnte sich ehrlich gesagt nicht mehr an den genauen Zeitpunkt erinnern. Sein ehemaliger Kollege war vor ihm mit der Lehre im »Renard Noir« fertig gewesen und auf das Weingut seiner Familie zurückgekehrt, wie es sich für den Thronfolger einer Champagnerdynastie gehörte.

Nun standen sie sich auf dem Deck gegenüber. Luc war schlank geblieben, ja er wirkte regelrecht hager. Fast schien es, als wären ihm seine Klamotten etwas zu groß. Seine Haare waren kurz geschnitten und schon ziemlich licht. Noch etwas war anders. Er spürte, dass Luc sich irgendwie grundlegend gewandelt hatte. Während sie sich aufs Neue miteinander bekannt machten, überlegte der Koch, wie genau man die Veränderung beschreiben konnte. Wirkte Luc abgeklärter? Müder? Trauriger? Früher war der schöne Luc ein ziemlich unbeschwerter Mensch gewesen. Nun war sein Naturell offenbar ein anderes.

»… na ja, und nach dem Tod meines Vaters habe ich das Maison Reiser dann übernommen.«

»Wann war das?«

»Ist jetzt schon fast zwanzig Jahre her. Er ist nicht sehr alt geworden. Old school, weißt du? Keinerlei Sport und vierzig Gauloises am Tag.«

Lucs Blick fiel auf die Zigarette in Kieffers Hand, und seine Äußerung schien ihm auf einmal unangenehm zu sein.

»Wie auch immer, das Maison ist auf jeden Fall eine Menge Arbeit. Es ändert sich eben alles.«

»Inwiefern?«

»Die Großen Häuser, Ledoux, Aulnoit und so weiter, die gehören inzwischen alle zu Hüetli oder MRIT.«

Kieffer nickte. Hüetli war ein großer Lebensmittelkonzern. Bei MRIT handelte es sich um ein Konglomerat aus Herstellern von Luxusgütern – Modemarken, Spirituosen, Champagner.

»Und gegen die kommt man schwer an?«, fragte der Koch.

Luc nickte. Er nippte an seinem Longdrink. Kieffer hingegen war bereits beim vierten Glas Rosé-Champagner. Inzwischen erschien ihm die ganze Welt recht rosig.

»Wie hat es dich denn auf diese Veranstaltung verschlagen, Luc?«

»Wie du siehst, sind wir kein Sponsor«, er deutete auf Kieffers Glas, »aber einer der nominierten Köche ist ein guter Bekannter. Er hat unsere Champagner auf der Karte – Daniel Bussière.«

»Ist das der mit dem gefrorenen Salat?«

»Nein, der mit den komischen Namen.«

Kieffer schaute verständnislos.

»Eines seiner Gerichte heißt ›Wie lange dauert ein Tango?‹; ein anderes hat er ›Kommt drauf an, wie dein Vibe so ist‹ genannt. Exzentrisch, aber es schmeckt hervorragend. Mal schauen, ob er gewinnt. Ein bisschen netzwerken kann man hier natürlich auch. Es sind viele Restaurantchefs da.«

»Verstehe.«

Luc erzählte ihm vom Maison Reiser. Seine Schwester Nicole, eine Önologin, hatte einen australischen Winzer geheiratet und kelterte nun im Barossa Valley Cabernet und Shiraz. Seitdem musste der Champagnerprinz das Maison alleine bewirtschaften, unterstützt von seiner Frau. Die Geschäfte liefen aber gut, behauptete er.

Kieffer war sich nicht so sicher. Er gab zwar nicht sonderlich viel auf seine Menschenkenntnis, und leicht angetrunken war er auch. Aber Luc und er hatten zusammen geschuftet, gefeiert und gesoffen. Er kannte den Kerl. Und deshalb vermutete er, dass Luc log.

Was er an dem Kerl seinerzeit stets bewundert hatte, war dessen Selbstsicherheit. Kieffer hingegen hatte damals nicht gewusst, wer er war und was aus ihm werden würde. Abgebrochenes Studium, dann eine Lehrstelle als Koch – er war von Selbstzweifeln zerfressen gewesen, und hatte dies oft hinter Großspurigkeit und Arroganz zu verbergen gesucht. Luc hingegen ruhte damals in sich selbst. Er wusste ja, dass am Ende alles gut für ihn liefe. Es wartete eine klangvolle Champagnermarke, das kleine, aber feine Maison Reiser, dessen Blubberwasser bei englischen Pferderennen und amerikanischen Golfturnieren ausgeschenkt wurde. Der schöne Luc war die personifizierte Sorglosigkeit gewesen, jemand, der sich auf das freute, was noch kam. Der über fünfunddreißig Jahre ältere Luc, dem der Koch nun gegenüberstand, sah hingegen aus wie jemand, der sich davor fürchtete, was ihm als Nächstes bevorstand.

»Und du, Xavier? Es ist mir peinlich, aber du hast inzwischen bestimmt ein Sternerestaurant. Und ich hab es nicht auf dem Schirm.«

»Ich habe ein Restaurant, aber eines ohne Sterne.«

»Aber du warst doch …«

Er beendete den Satz nicht, vermutlich aus Höflichkeit. Wahrscheinlich hatte er etwas sagen wollen wie: ›Du warst doch auf dem Weg nach ganz oben.‹ Stattdessen sagte Luc: »Bist du etwa auch einer von denen, die ihre Sterne zurückgegeben haben?«

Kieffer war in den Sternerestaurants nur Postenkoch oder Souschef gewesen, weswegen er formal betrachtet gar keine eigenen Gabin-Sterne besessen hatte, die er hätte zurückgeben können. Dennoch war sein Abgang aus der Haute Cuisine eine schwierige und schmerzvolle Angelegenheit gewesen. Das konnte und wollte er Luc aber nicht auseinandersetzen. Deshalb sagte er nur: »Es ist ein kleines Spezialitätenrestaurant in Luxemburg – eher bodenständig. Nichts, womit man einen Stern bekommt.«

»Verstehe. Aber du schaust immer noch gerne, was in der Welt der Sterne«, er deutete auf die Menge, »so passiert?«

»Eigentlich gar nicht. Und von den meisten Nominierten hatte ich ehrlich gesagt noch nie gehört. Aber«, er deutete auf Valérie, die am Rande der Bühne stand, während auf einer Leinwand ein Videoeinspieler lief, »das ist meine Freundin.«

Luc schien sichtlich beeindruckt.

»Wow. Valérie Gabin ist deine Freundin?«

Kieffer nickte, sagte aber nichts.

»Und wie ist sie so?«

Kieffer ahnte, wie Luc es meinte. Bevor der Guide Gabin an eine amerikanische Mediengruppe verkauft worden war, hatte Valérie dort als Chefredakteurin fungiert. Sie und ihre Inspektoren waren bei den Köchen gefürchtet gewesen. Als besonders schlimm galten in der Branche seinerzeit persönliche Einladungen ins Hauptquartier des Gabin, bei denen der Guide den schlotternden Küchenchefs auseinandersetzte, was an ihrer Speisekarte verbesserungsfähig war. Ein Bekannter von Kieffer hatte das Ganze einst mit einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt verglichen. Geführt hatte diese Gespräche meist Valérie, oder wie sie in der Branche genannt wurde: La Gabin.

»Also, zu mir ist sie ganz nett«, sagte er. »Ist außerdem ja nicht mehr so.«

»Was?«

»Diese Inkognito-Inspektoren, die ganze Geheimniskrämerei. Das war der alte Gabin.«

»Der Kreml der Gastroszene.«

»Genau. Inzwischen ist alles online, es fließen auch Bewertungen von Gästen ein, du weißt schon.«

»Verstehe. Vielleicht kannst du sie mir mal vorstellen.«

Kieffer spürte, dass er nun etwas Dämliches, ja Kleinliches sagen würde. Aber es rutschte ihm dennoch heraus.

»Na, ich weiß ja nicht, ob ich dir meine Freundin zuführen sollte.«

Er sagte es mit einem ironischen Unterton. Luc schaute trotzdem schuldbewusst drein.

»Es tut mir immer noch leid. Ist unglücklich gelaufen damals.«

»Alte Geschichten, Luc. Schwamm drüber. Wir hatten das ja schon geklärt.«

»Nein, wirklich, Xavier, ich kann verstehen, dass du mir das nachträgst.«

»Wenn ich es irgendwem nachtragen müsste, dann vielleicht eher Yves. Aber echt jetzt, Luc, das war ein Scherz jetzt grad. Muss an«, er deutete auf sein Glas, »der lustigen Witwe liegen. Ich stelle sie dir selbstverständlich gerne mal vor.«

Luc schien erleichtert.

»Was ist eigentlich aus Yves geworden?«, fragte Kieffer.

»Er leitet das Maison Colrier. Recht erfolgreich, wie man hört.«

Lucs Stimme troff vor Verachtung, als er dies sagte. War er neidisch, dass das Geschäft des anderen besser lief als sein eigenes? So hatte Kieffer Luc eigentlich nicht eingeschätzt. Ihm waren die anderen stets egal gewesen, er hatte sich an niemandem messen müssen, war sein eigener Maßstab gewesen. Aber was zählte Kieffers Einschätzung noch? Sie war fast vierzig Jahre alt.

Applaus brandete auf. Kieffer, der vollständig auf Luc konzentriert gewesen war, wandte seinen Blick zur Bühne. Dort stand Valérie neben einem sportlich aussehenden Enddreißiger mit knallbunter Designerbrille, der eine Trophäe in die Höhe reckte. Der Einblendung auf dem Videoscreen entnahm er, dass es sich um Vásquez handelte – den mit dem Bergsteigerbistro in den Anden.

Musik setzte ein, Valérie verließ die Bühne. Kieffer wusste, dass er bald zu ihr stoßen musste. Sie wollten noch in eine Bar in der Nähe von Valéries Wohnung, um dort zu zweit einen Happen zu essen. Wenn er sie jedoch nicht umgehend loseiste, würde Valérie sich irgendwo festquatschen oder ihn auf die Afterparty irgendeines Sternekochs schleppen. Darauf hatte er keine Lust. Er wollte sie für sich allein, zumindest für ein oder zwei Stunden.

»Luc, ich muss dann mal. Hat mich gefreut.«

»Mich auch Xavier. Hör zu, du, also, ihr«, er zeigte in Richtung Bühne, »pendelt dann quasi zwischen Paris und Luxemburg?«

»Öfter als mir lieb ist.«

»Dann kommst du ja quasi immer bei uns vorbei.«

Wenn man mit dem Auto fuhr, stimmte das – Reims, die Hauptstadt der Champagne, lag auf halbem Weg.

»Besuch uns doch mal. Bring deine Freundin mit.«

Vor allem der zweite Satz klang weniger wie eine Einladung, denn wie eine Bitte.

»Okay, Luc.«

Luc Reiser gab ihm eine Visitenkarte, klopfte Kieffer auf die Schulter. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Kieffer sah ihn fragend an. Nach kurzem Zögern sagte Luc: »Fabienne würde sich bestimmt auch freuen.«

»Fabienne? Fabienne ist deine Frau?«

»Ja. Überrascht dich das?«

Ein halbes Dutzend undiplomatischer Antworten ging Kieffer durch den Kopf. Stattdessen sagte er: »Hm, also eigentlich nicht. Zu dir passte sie definitiv besser als zu mir.«

6

Sie heißt nicht Eileen, sondern Fabienne. Sie sieht nicht aus wie eine Studentin – zumindest nicht wie jene, die Xavier aus Saarbrücken kennt. Dort hat er kurz Materialwissenschaft studiert, bevor er dieses hoffnungslose Unterfangen abbrach und im »Renard Noir« anheuerte.

Fabienne sieht nicht aus wie eine, deren Nase den ganzen Tag in Büchern steckt – eher wie ein Mensch, der mit den Händen arbeitet. Irgendwie stimmt das wohl, denn sie studiert Grafikdesign, verbringt also viel Zeit damit, zu zeichnen, so wie auch jetzt.

Xavier dreht den Kopf, um sie besser betrachten zu können. Fabienne sitzt ihm im Schneidersitz auf einer Picknickdecke gegenüber, irgendwo in den Weinbergen nordwestlich von Châlons. Auf ihren Knien ruht ein Skizzenblock. Neben Xavier liegt ein weiterer Block, dieser allerdings voller Wörter – auf Deutsch. Fabienne lernt es im Nebenfach, aber die Wörter, so sagt sie, seien schwer wie Blei. Sie hat ihn gebeten, ihre Hausaufgaben zu korrigieren. Sein Blick fällt erneut auf jenen Satz, über den er sich vorhin so amüsiert hat: »An Weihnacht in Frankreich, man kann essen von die Kapaun und die Biskuitroller.«

»Nein, nicht«, sagt sie.

»Nicht was?«

»Nicht drehen. Tu den Kopf wieder zurück. Ja, so.«

»Dann kann ich dich aber nicht anschauen.«

»Anschauen ist ja auch mein Job. Schau dir die Landschaft an.«

Er blickt hinaus in die Weinberge. Zu dieser Jahreszeit sind sie sattgrün. Zwischen den Blättern verstecken sich bereits Trauben – winzige grüne Dinger, mehr noch Versprechen denn richtige Früchte. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Fabienne Linien über das Papier zieht.

»Dauert es noch lang?«

»Die Kunst braucht ihre Zeit. Oder hast du was vor?«

»Ich muss in einer Stunde bei der Arbeit sein.«

»Eure Arbeitszeiten sind schrecklich.«

»Und die Arbeit erst.«

Sie antwortet nicht. Er hört, wie sie sich eine Zigarette anzündet.

»Warum tust du es dann?«

»Damit ich mein eigenes Restaurant aufmachen kann, irgendwann später.«

»Klingt, als hättest du das alles genau geplant.«

»Ja klar doch.«

»In Luxemburg?«

»Fuck, nein. Von da bin ich doch grad erst geflohen. Ich gehe nach New York.«

»Und was wirst du da kochen?«

»Französisch, aber in der Punkrock-Version.«

Xavier findet, dass dies gut klingt und zu ihm passt. Gleichzeitig hat er keine Ahnung, was genau es bedeutet. Wie sieht die Punk-Variante von Bœuf bourguignon aus? Er weiß es nicht. Doch das herauszufinden, ist ja vielleicht der Spaß an der Sache.

Aus dem Augenwinkel betrachtet er sie. Xavier ist noch immer verblüfft, wie schnell das alles gegangen ist. Am Montagabend haben sie bis in die Nacht am Kanal gesessen. Am Dienstagmorgen waren sie frühstücken. Und am Mittwoch, nach seiner Schicht … er lächelt versonnen.

»Das mit dem Nichtbewegen gilt auch für den Gesichtsausdruck.«

»Ich denke an was Schönes.«

»Ach ja?«

»Mmh.«

»Schau dir lieber die schönen Weinberge an, ich bin gleich fertig.«

»Die sehen doch überall gleich aus.«

»Habt ihr eigentlich auch welche?«

»In Luxemburg, Fabienne?«

»Ja.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Nein, ich weiß es echt nicht.«

»Natürlich, an der Mosel. Unser Wein ist sehr gut. Ich bringe dir mal einen mit.«

Er schaut erneut hinaus in die Weinberge. Die Stelle, die Fabienne für ihr Picknick ausgesucht hat, ist in der Tat malerisch. Während die Gegend um Châlons ziemlich flach ist, steigt das Gelände weiter im Norden an. Ihr Plätzchen liegt bereits in den Ausläufern der Montagne de Reims, nach Süden kann man weit in die Ebene blicken.

In einiger Entfernung funkelt es auf einmal zwischen den Reben. Irgendetwas liegt auf dem Feld, glitzert in der Nachmittagssonne.

»Malst du manchmal auch die Landschaft hier?«

»Eigentlich nicht, es sei denn, wir kriegen es als Aufgabe. Ich zeichne lieber Menschen oder meinetwegen Gebäude, wenn es sein muss.«

»Wie zum Beispiel?«

»Also, die Kathedrale habe ich natürlich schon mal gezeichnet. Als Aquarell.«

»Welche Kathedrale?«

»Und jetzt willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Was, nein. Was weiß ich denn, was ihr hier für Kirchen habt.«

»Die Kathedrale von Reims. Die kennst du nicht?«

Fassungslosigkeit liegt in ihrer Stimme. Xavier ist ein bisschen genervt davon. Warum glauben Franzosen und Deutsche eigentlich immer, man müsse alles Mögliche über ihr Land wissen, während sie selbst rein gar nichts über seines wussten? Nicht einmal, dass man dort schon vor zweitausend Jahren Wein angebaut hat, als der Rest Nordeuropas noch in die Büsche kackte?

Fabiennes Familie stammt aus der Champagne. Sie kommt, wie man so schön sagt, aus gutem Hause. In ihrer Verwandtschaft, das hat er schon mitbekommen, gibt es diverse Schampusleute, darunter einen Kellermeister bei Bernheim und einen Geschäftsführer bei Haendinger. Ein paar Anwälte und Ärzte gibt es auch, aber die zählen nicht viel. Champagner scheint das Maß aller Dinge zu sein.

»Kirchen sind nicht so mein Ding«, sagt Xavier.

»Aber die lohnt sich. Die französischen Könige wurden dort gekrönt.«

Wieder funkelt da draußen auf dem Feld etwas. Er würde wirklich gern wissen, was das ist. Unruhig rutscht er auf seinem Platz hin und her.

Irgendwann sagt Fabienne: »Fertig.«

Sie hält ihm ihre Kohlezeichnung hin. Ist das wirklich er? Die schulterlangen blonden Haare, der Schnauzer und der Kinnbart, das stimmt alles. Aber hat er wirklich so einen Quadratschädel? Um Fabienne nicht zu verärgern, lobt er das Bild.

»Wie der junge d’Artagnan«, sagt sie. »Nur der Akzent passt nicht.«

»D’Artagnan hatte einen Akzent?«

»Okzitanisch«, sie setzt sich neben ihn, legt eine Hand auf seine Brust, »kann mit deinem natürlich nicht mithalten.«

Sie küssen sich. Eine Weile liegen sie nebeneinander auf der Picknickdecke. Xavier seufzt.

»Was?«

»Ich muss los. Ich darf nicht zu spät sein.«

»Kommst du sonst in Teufels Küche?«

»Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Sie packen zusammen, gehen zu Xaviers altem VW Derby. Auf dem Weg dorthin hält er erneut Ausschau nach jenem Glitzern, das er zuvor ausgemacht hat. Aber nun ist sein Blickwinkel ein anderer oder vielleicht steht die Sonne bereits zu tief. Das Funkeln ist nicht mehr zu sehen.

»Suchst du was?«