Verletzte Kinderseele (Fachratgeber Klett-Cotta) - Dorothea Weinberg - E-Book

Verletzte Kinderseele (Fachratgeber Klett-Cotta) E-Book

Dorothea Weinberg

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Beschreibung

Wenn ein Kind traumatisiert wurde, sind seine engsten Bezugspersonen in besonderem Maße gefordert, seelischen Verletzungen mit dem richtigen Verhalten zu begegnen. Das Buch gibt wichtige Informationen zum Verständnis und formuliert klare Verhaltensregeln für Eltern, Pflege- und Adoptiveltern. Kinder sind in ihren Verarbeitungsmöglichkeiten leicht überfordert, wenn schlimme Ereignisse in ihr Leben treten. Das kann ein schwerer Unfall sein, der plötzliche Verlust eines Elternteils, Gewalt innerhalb oder außerhalb der Familie, Missbrauch und vieles andere mehr. Leserinnen und Leser erfahren, wie Kinder auf seelische Verletzungen reagieren und wie Erwachsene sich verhalten müssen, um - das Vertrauen des Kindes in seine Bezugspersonen und seine Sicherheit wiederherzustellen - Ängsten, Alpträumen, Schlafstörungen, aber auch Apathie und Trancezuständen richtig zu begegnen - zu erkennen, wann ein Kind leidet, auch wenn es sich scheinbar normal verhält - Triggersituationen zu identifizieren und Kindern zu helfen, damit umzugehen. Konkrete Hilfestellung für schwierige Situationen mit klaren Handlungsanweisungen. Dieses Buch richtet sich an: - Eltern - Adoptiveltern - Pflegeeltern - BetreuerInnen und ErzieherInnen in Kinderheimen und Einrichtungen

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Seitenzahl: 173

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DOROTHEA WEINBERG

Verletzte Kinderseele

Was Eltern traumatisierter Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Weiß-Freiburg GmbH – Graphik & Buchgestaltung

Titelbild: © drubig-photo – Fotolia

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-86048-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10795-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20270-0

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schnelleinstieg

◾ Was ist eine Traumafolgestörung?

Die akute Belastungsreaktion

Die einfache posttraumatische Belastungsreaktion

Die komplexe posttraumatische Belastungsreaktion

◾ Was Trigger sind und wie sie den Alltag beherrschen können

◾ Traumatische Erfahrungen integrieren

◾ Die Gefühlssprache des Kindes verstehen und beantworten

◾ Wenn Gefühle fehlgesteuert werden

◾ Behandlungserfolge – realistisch eingeschätzt

◾ Schuldgefühle von Eltern und Pflegeeltern

◾ Übungen

◾ Bücher zum Weiterlesen

Inhalt

Vorwort

1 Was versteht man unter Traumafolgestörungen?

Schwierige Kinder – Jede Diagnose kann eine Traumafolgestörung sein

Die akute Belastungsreaktion

Die einfache posttraumatische Belastungsreaktion

Die komplexe posttraumatische Belastungsreaktion

Die komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung (KEF)

Gehirn, Trauma, Dissoziation und Ego-State-Wechsel

Werden alte Gefahrerlebnisse aktualisiert, kommt es zu Retraumatisierungen

Exkurs: Die Rolle von Familiengerichten und gerichtlichen Gutachtern für das Kindeswohl

2 Wie Trigger den Alltag beherrschen

Biologische Stressreaktionen

Projektion

Detektivisch tätig werden

3 Traumatische Erfahrungen integrieren

4 Die Gefühlssprache Ihres Kindes verstehen und beantworten lernen

Verbale Kommunikation wird blockiert

Gefühle werden körpersprachlich kommuniziert und ausgetauscht

Übungen

Fremde Gefühle können in Ihnen Platz greifen

Übung

Beziehungsnähe, Körpersprache und Ego-States bei der Komplexen Entwicklungsstörung nach Frühtraumatisierung

Wie kann man mit eskalierenden Interaktionen umgehen?

Was sind die typischen Trigger bei Ihrem Kind?

Selbstkonzept und Anstrengungsverweigerung

5 Fehlsteuerung von Gefühlen – Abläufe der aggressiven Dysregulation

6 Welche Behandlungserfolge sind möglich?

Einfache Traumafolgestörungen

Komplexe PTBS

Komplexe Entwicklungsstörung nach Frühtrauma

7 Eltern: Schuld und Schuldgefühle

Leibliche Eltern

Aufnehmende Eltern

8Anhang

Anleitungen zur Selbstberuhigung für Eltern

Spiele, die Ihrem Kind weiterhelfen können

Literatur zur Vertiefung

Vorwort

An wen richtet sich dieser Ratgeber?

An alle Menschen, die sich um Kinder kümmern, die durch seelisch schädigende Phasen ihres Lebens gehen mussten, so wie Vernachlässigung und Vereinsamung in den ersten Lebensjahren, Gewalt und sexueller Missbrauch durch Familienangehörige. Aber auch lebensbedrohliche oder schmerzüberflutende Erlebnisse, eigene Nahtoderfahrungen oder eigenes Sterben (vor Reanimation), plötzliche und unvorbereitete Trennungs-, Verlust- und Todeserfahrungen können die Verarbeitungsmöglichkeiten von Kindern leicht überfordern, sodass das Kind innerlich verändert aus diesen Situationen herauskommt: Ängste, Albträume, Schlafstörungen, Übererregungs- und Anspannungszustände – oder auch Apathie und Trancezustände – Aggressionen, Verlust des Urvertrauens und des Vertrauens in seine wichtigsten Bindungen und zunehmende Vermeidung angstbesetzter Situationen sind die typischen Zeichen einer überforderten Verarbeitung. Allerdings gibt es auch solche Verläufe, in denen das Kind scheinbar angepasst und zufrieden sein Leben wieder aufnimmt und erst Jahre später zusammenbricht – es war eben nur eine Scheinanpassung, zum Beispiel um die wichtigsten Bezugspersonen nicht zu überfordern oder um in einer chronisch bedrohlichen Familiensituation möglichst wenig aufzufallen oder gar Schwäche zu zeigen.

Der Ratgeber richtet sich insbesondere an leibliche Eltern und Elternteile, die sich um ein betroffenes Kind kümmern, als auch an aufnehmende Eltern, zum Beispiel Adoptiv-, Pflege- oder Kinderdorfeltern. Und darum spreche ich diese beiden Gruppen auch direkt an. Im familiären Alltag ist die emotionale Dichte so hoch, dass permanent sogenannte »Trigger« (s.S.9) auftauchen, die traumabedingte Interaktionen und damit verbunden enormes Leid für die Eltern in Gang setzen. Alle anderen Leserinnen und Leser, die immer wieder mit traumatisierten Kindern zu tun haben wie LehrerInnen, PädagogInnen, Großeltern etc. holen sich bitte die für sie wichtigen Informationen und Anregungen ebenso aus diesem Buch!

Liebe Eltern!

Ich will Ihnen zunächst etwas über mich erzählen, damit Sie meinen Erfahrungs- und Wissenshintergrund besser einschätzen können:

Ich habe mich schon immer zur Arbeit mit Kindern hingezogen gefühlt. Schon als 13-Jährige habe ich große Kindergruppen geleitet – manchmal waren es mehr als dreißig Kinder. Es ist also sicherlich eine Begabung und eine Passion in mir. Mit 18 Jahren habe ich ein halbes Jahr in einem Kinderheim als Erziehungspraktikantin gearbeitet und schnell meine ganz persönlichen Erfahrungen mit traumabedingten Interaktionen gemacht: Einmal sollte ich zum Beispiel einem Siebenjährigen die Haare schneiden, aber er saß partout nicht ruhig, kasperte immer mehr herum und wurde frech zu mir. Aus einem Impuls heraus habe ich ihm plötzlich eine Ohrfeige verpasst, worauf er sich brav hinsetzte, lächelte und seine Welt offensichtlich wieder in Ordnung war. Meine allerdings nicht. Aber er ließ sich anstandslos die Haare schneiden. Die Wohngruppenleiterin, der ich mein Fehlverhalten natürlich meldete, erklärte mir damals: Der kleine Junge war in seiner frühesten Kindheit von seiner Mutter verlassen worden, sein Vater hatte zusammen mit seiner eigenen Mutter versucht, sich um ihn zu kümmern. Obwohl er seinen Jungen lieb hatte, setzte es oft Schläge, weil er mit seinem renitenten Verhalten nicht anders umzugehen wusste. Als die Großmutter nicht mehr helfen konnte, kam der Kleine ins Heim und setzt dieses Verhalten fort: provozieren, bis der Erwachsene die Fassung verliert1. Was damals schon jedem klar war, dass es sich nämlich um einen Kreislauf von Provokation, Hilflosigkeitsgefühle, aggressive Affekthandlung und damit Klärung des Machtgefälles handelte. Und dass es sich – auch beim Erwachsenen – um ein Wiederholen frühkindlicher Interaktionsmuster handelte. Und dass ein solches Handeln in unserer modernen demokratischen Gesellschaft in eine Sackgasse führt … Aber in diesem Buch soll deutlich werden, dass noch ganz andere Bedeutungsebenen und seelische Mechanismen mitspielen und ungewollt unser Handeln und Fühlen bestimmen. Und dass es hilfreich sein kann, diese zu verstehen und sich auf deren Auftreten aktiv vorzubereiten.

Ich habe diese kleine Erfahrung geschildert, um deutlich zu machen, dass ich Ihre Situation nicht für einfach halte. Denn das war ja nur eine Lappalie im Vergleich zu dem, was Sie vielleicht ganz häufig erleben: Einen Beschuss von Vorwürfen, Beschimpfungen, Beleidigungen, Angriffen, durchaus auch körperlicher Art, beklaut werden, belogen werden, ignoriert werden, abgelehnt werden … trotz all Ihrer aufopferungsvoller Mühe und Plage und oft auch Liebe für das Kind. Ich könnte es nicht besser machen als Sie – trotz meines Fachwissens und meiner Erfahrung.

Wissen und Erfahrung gründen auf meiner über dreißigjährigen kindertherapeutischen Praxis, einem exzellenten Studium der Psychologie mit kinderpsychologischem Schwerpunkt in Marburg, der Personzentrierten Psychotherapieausbildungen (nach Rogers) für Kinder und Erwachsene, einer zehnjährigen Arbeit in einem großen Kinderheim in Nürnberg als Psychologin, meiner Kinderpsychodramaausbildung, der Begegnung mit der kroatischen Traumapsychologin Irena Besic während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien und in der Folge davon der Entwicklung meiner eigenen kindertraumapsychologischen Behandlungsmethoden, dem Aufbau unseres Kleinstkinderheimes Centar Duga im Nordwesten Bosniens und der Arbeit mit den dortigen Babys und Kleinstkindern und der daraus hervorgegangenen Entwicklung von Bindungstherapie – und aus der bald zwanzigjährigen Praxis als niedergelassene Kinderpsychotherapeutin mit Trauma- und Bindungsschwerpunkt in Nürnberg. Seit fünfzehn Jahren unterrichte ich meine eigenen traumatherapeutischen Behandlungsmethoden für KollegInnen und Traumapädagogik für Pflegeeltern.

Die Kommunikation (nonverbal, verbal), das Verhalten (aggressiv, erstarrt, apathisch oder scheinbar angepasst) und die Ausstrahlung (womöglich Außenstehenden gegenüber charmant und bezaubernd, aber im familiären Binnenraum wütend, oppositionell und/oder depressiv) dieser Kinder produzieren oftmals massive Verwirrungen und lassen dramatische zwischenmenschliche Dynamiken entstehen. Nicht weil sie es sich so wünschen, sondern weil sie tatsächlich sehr oft nicht anders können.

Bei alldem habe ich sehr viel gelernt: Von den Kindern und Eltern und ihren alltäglichen Kämpfen und von den Eltern, die in manchen Situationen plötzlich auf unerwartete Lösungen gestoßen sind. Oder von den Eltern, die durch ihre innere Einstellung zum Leben, zu sich selbst und zum Kind eine ganz besondere Ausstrahlung von Wärme, Ruhe und Kraft entwickelt haben, die sie ein Stück davor schützt, sich in die traumabedingten Interaktionen hineinziehen zu lassen. Und von den Eltern, die trotz aller trauma- und bindungspsychologischer Fachkenntnis, die sie sich angeeignet haben, ihr Kind niemals als einen »Fall von Traumafolgestörung« (z.B. Bindungsstörung, Borderline, Störung des Sozialverhaltens etc.) empfunden haben, sondern immer als einen ganz besonderen Menschen. Zum Aufbau des Buches:

Im ersten Kapitel werden Sie erfahren, was Psychotherapeuten unter einer Traumafolgestörung verstehen und welche Diagnosen hier greifen. Es handelt sich um ein anspruchsvolles Kapitel, welches Ihnen die Grundgedanken der Psychotraumatologie nahebringt. Es ist als Basis unverzichtbar, damit die nachfolgenden, eher an Ihren Problem ausgerichteten Kapitel verständlich werden. Fallgeschichten und Übungen (besonders auch im Anhang des Buches) werden Ihnen helfen, mit schwierigen Situationen besser umzugehen.

Zum Abschluss noch ein kurzer Satz zu mir: Ich selbst habe zwei wunderbare Töchter, die mich auf ihre je eigene und äußerst lebhafte Art auch oft genug hart auf die Probe gestellt haben – aber glücklicherweise sind sie jetzt erwachsen.

Was dieses Buch alles nicht leisten kann:

Ihnen Ihre Probleme abnehmen

Patentrezepte geben

Ihnen fundierte Informationen über den Einsatz von Psychopharmaka geben

Einen umfangreichen Wissens- und Forschungsstand zu den traumapsychologischen, neurologischen, gesundheitlichen, genetischen und epigenetischen Folgen von unverarbeiteten und nicht integrierten traumatischen Erfahrungen vermitteln

2

Einen allgemeinen Überblick über psychotherapeutische Behandlungsmethoden von Traumafolgeerkrankungen bei Kindern geben

3

Die rechtlichen Rahmenbedingungen zu Umgang, Sorgerecht oder Strafverfahren erläutern.

Was ich als Autorin nicht leisten kann:

Eigentlich scheint mir dieses Büchlein das schwierigste zu sein, das ich bisher geschrieben habe. In meinen anderen Publikationen habe ich meine traumatherapeutischen Konzepte und Erfahrungen begründet und dargestellt und bin damit in meinem klar umschriebenen Berufsfeld geblieben. Jetzt wage ich mich in ein riesiges, turbulentes Feld hinaus, in dem ich mich nicht selbst bewege, sondern mir nur von allen Beteiligten erzählen lasse: Das Feld der Familien, der Erziehungskonflikte, der emotionalen Explosionen und Implosionen … Dabei ist jede Familienkonstellation einmalig und ganz besonders.

Wenn Sie fachlichen Rat für Ihre Situation benötigen, empfehle ich Ihnen, mit diesem Buch zum Jugendamt oder zur Erziehungsberatungsstelle zu gehen und diese Stellen zu bitten, Ihnen eine/n Behandler/in zu vermitteln, die/der in diesem Sinne arbeitet! Ich habe viele Fachleute entsprechend ausgebildet. Von einer Kontaktaufnahme zu mir bitte ich abzusehen, da meine Praxis ohnehin völlig ausgelastet ist. Vielen Dank!

1 Was versteht man unter Traumafolgestörungen?

Schwierige Kinder – Jede Diagnose kann eine Traumafolgestörung sein

Sie haben sicherlich schon einmal von der Diagnose des »Posttraumatischen Belastungssyndroms« (PTBS) gehört. Man könnte leicht denken, dass PTBS die richtige Diagnose für alle Fälle von traumatischen Erfahrungen ist, die zu seelischen Problemen geführt haben. Es ist aber leider komplizierter. Fast alle seelischen Krankheiten können direkte Folgen einer unzureichenden Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen sein. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass alle psychischen Störungen auf Traumata zurückgehen, denn sie können auch aus ganz anderen Gründen entstanden sein. Bei folgenden Auffälligkeiten sollte immer die Möglichkeit einer vorangegangenen Traumatisierung in Betracht gezogen werden: Bei Angststörungen wie Trennungsangst, Überängstlichkeit, Phobien und Panikattacken sollten wir immer fragen: »Gab es ein Schockerlebnis, bevor die Probleme begannen?« Denn wenn die Ängste in Wirklichkeit eine Traumafolge-Erkrankung darstellen, müssen sie auch so behandelt werden und nicht wie eine »normale« Angsterkrankung!

Dasselbe gilt für die oppositionell-aufsässige Verhaltensstörung, für die hyperkinetisch-unaufmerksamen und verträumt-unaufmerksamen Störungsbilder, für aggressives und dissoziales Verhalten.

Dies gilt sowieso für depressive, anhaltend traurige, apathisch-lustlose Dauerzustände, aber auch zum Beispiel für ein scheinbar ferner liegendes Störungsbild wie die sogenannte »sekundäre Enuresis« (ein Rückfall ins Einnässen, nachdem das Kind schon stabil trocken gewesen ist) und sogar die primäre Enuresis (wenn das Kind also noch nie über einen längeren Zeitraum trocken war), die ja fast immer Folge einer Reifungsverzögerung im Nervensystem ist.

Selbst bei autistischen Störungsbildern, die ja an sich eine starke genetische Komponente haben, sollte man bedenken, dass eine anhaltende frühe emotionale Verwahrlosung und Verlassenheit sehr oft autistisch anmutendes Verhalten produziert, welches dann Ausdruck einer schweren Bindungsstörung ist und leicht verwechselt werden kann. Auch hier bräuchte es aber eine ganz andere Behandlung als eine Autismus-Behandlung, nämlich eine Behandlung des Bindungstraumas!

Generell sollten Kinderpsychologen und -therapeuten und alle, die ein psychisch auffälliges Kind begleiten, bei jeder Traumafolgestörung immer darauf achten, wie sicher sich ein Kind erlebt und ob die Bindungsfähigkeit und -entwicklung betroffen ist. Denn typischerweise hat die Traumaerfahrung das Vertrauen in die Bezugspersonen, dass sie das Kind schützen und emotional auffangen können und wollen, beschädigt.

Nach meiner Erfahrung müsste die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in Kliniken und Praxen häufiger gestellt werden. Dies wird unterlassen, weil es ein Problem mit der Diagnostik gibt.

Aber schauen wir uns also zunächst einmal die wichtigsten Diagnosen an.

Die akute Belastungsreaktion

Kinder reagieren nach Schockerfahrungen häufig unmittelbar mit veränderten Emotionen und ungewohntem Verhalten: Zunächst tritt schlagartig ein Gefühl der Betäubung auf, meist gepaart mit einem intensiven Erlebniseindruck der Schocksituation. Wenn sich das Bedrohungserlebnis schnell beenden lässt und das Kind nicht emotional allein gelassen war, können dann zwar noch heftige Affekte auftauchen, aber diese lösen sich meist nach Stunden oder wenigen Tagen auch auf.

Die einfache posttraumatische Belastungsreaktion

Wird aber ein Gefühl von Sicherheit und Aufgehobenheit nicht schnell wiederhergestellt, bleibt das Kind in einem Zustand innerer Erstarrung, einem Gefühl, neben sich zu stehen und kraftlos zu sein, zurück. Oder aus den anderen motorischen Stressreaktionen (Kampf, Flucht und Täuschung) bleiben ein ungewöhnlicher Bewegungsdrang, ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis, aggressive Übererregung oder auch Vermeidungsverhalten, Anklammern und Furchtäußerungen zurück. Andere Kinder zeigen ein erstaunliches »alltagstaugliches« Funktionieren, von dem sie sich aber doch wie abgetrennt fühlen. Betroffene sind oft schreckhaft und überwachsam, können sich nicht gut entspannen, schlafen schlecht ein und durch, haben Albträume und tagsüber sogenannte »intrusive Erinnerungen«: Dabei spielen sich die sinnlichen Erlebniseindrücke während der Schockerfahrung im Kopf immer wieder ab und können nicht willentlich verhindert oder beendet werden. Die Kinder vermeiden immer mehr Situationen, die sie womöglich an das schreckliche Erlebnis erinnern könnten. Wenn diese Probleme sich nach Tagen oder allerspätestens acht Wochen nicht gelöst haben – und dafür können Sie als Bezugspersonen viel tun –, muss man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung sprechen.

Der weitere Verlauf jeder Traumafolgeerkrankung Ihres Kindes hängt jetzt tatsächlich stark von Ihnen als Bezugspersonen ab. Denn wenn Sie sich über die Schwangerschaft und Ihr Baby freuen konnten und Sie haben Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre Ihres Kindes ohne größere Mangelerlebnisse (z.B. selbst viel zu wenig unterstützt und eingebettet zu sein), Schocks (z.B. plötzliche schwere Verluste) und schwerwiegende Krankheiten durchlebt (z.B. postnatale Depression oder Suchterkrankungen), und wenn Sie Ihr Kind (auch mit seinem Geschlecht, Wesenszügen oder möglicherweise Behinderungen) mit offenem Herzen annehmen konnten und seine ersten vier bis sechs Lebensjahre trotz aller Sorgen und Belastungen als schön erlebt haben … Dann, ja dann ist Ihnen etwas Wunderbares gelungen, was nicht nur Ihnen selbst zu verdanken ist, sondern üblicherweise auch Ihrem emotionalen Umfeld und Ihrer eigenen Ursprungsfamilie. Denn vermutlich gab es in Ihrem Leben wichtige Bezugspersonen, die Ihnen ein offenes Herz und emotionalen Halt gegeben haben, als Sie selbst noch klein waren. Auch wenn dies nicht Ihre leibliche Mutter gewesen sein sollte. Das alles sind wichtige Voraussetzungen, die Sie befähigten, einfühlsam, emotional belastbar und intuitiv strukturierend mit Ihrem kleinen Kind umzugehen. Dadurch konnte es Bindungssicherheit aufbauen und Fähigkeiten entwickeln, eigene negative Gefühlsstürme Ihnen gegenüber auszudrücken, aber sich auch selbst ein Stückchen zu beruhigen. Wenn das so gelaufen ist, haben Sie gute Chancen, dass Sie die seelische Not Ihres Kindes bemerken und darauf frühzeitig reagieren werden. Das sind üblicherweise die Kinder, bei denen es bei einer »einfachen« PTBS bleibt.

»Beispiel:Ihr Kind erleidet mit sechs Jahren einen bedrohlichen Tierangriff oder einen Verkehrsunfall mit erheblichen Verletzungen, und die Versorgung wird den medizinisch-körperlichen Erfordernissen unterworfen. Dabei kommen leicht seine emotionalen Bedürfnisse nach Beruhigung durch Ihren Körper und nach emotionalem Halt unter die Räder. Dadurch wird der seelische Schockzustand verlängert, auch wenn die organische Schockreaktion medizinisch behandelt wurde. Die instinktiven Kampf- und Fluchtaktivierungen während der traumatischen Erfahrung bleiben unter der übermächtigen Erstarrungsreaktion erhalten, der übermächtige und nicht verarbeitbare Erlebniseindruck des Heranrasens, Zusammenprallens und Überwältigtwerdens von Eindrücken und Schmerzen, womöglich des Aufgebens und Loslassens von Lebensenergie und-wille… dies alles prägt sich schlagartig und über alle sinnlichen Wahrnehmungskanäle in den Organismus ein. Spezielle, für Schockerfahrungen zuständige Wahrnehmungs-, Speicherungs- und Gedächtnismechanismen setzen ein, die nicht auf die psychische Verarbeitung des Erlebten zielen, sondern auf dessen Isolation. Denn nur durch Abspaltung des Unerträglichen kann der Organismus weiter funktionieren, was ja– biologisch gesehen– das Überleben wahrscheinlicher macht.

Diese Abläufe verschärfen wir ungewollt, indem unsere westliche, von Leistungsdenken und Individualitätsstreben geprägte Kultur folgende biologischen »Enttraumatisierungsprogramme« unterdrückt:

Zittern – wir beißen lieber die Zähne zusammen, wir reißen uns zusammen, wir wollen Haltung bewahren, nicht die Kontrolle über uns verlieren, nicht als verrückt dastehen, wenn unsere Zähne klappern und der ganze Körper schlackert – womöglich stundenlang. Interessanterweise geben wir dieses Tabu unbewusst an unsere Kinder weiter.

Körperliche Nähe – wir setzen sehr auf körperliche Distanz (Maxi- Cosi, Kinderwagen, eigenes Bettchen, eigenes Zimmer, Beschäftigung durch technisch- bzw. sogar elektronisch-basierte Rundumunterhaltung …) und individuelle Lösungskompetenz des Einzelnen. Wenn jemand in seelischer Not ist, nehmen wir ihn viel zu selten in den Arm und erst recht nicht in die Herz-zu-Herz-Position, die am besten beruhigen kann.

Dennoch ist es so, dass Eltern, die eine sichere Bindung zu ihrem kleinen Kind herstellen konnten, normalerweise intuitiv im Notfall ihr Kind in die Herz-zu-Herz-Position bringen, es mit ihrem Stimmklang und Atmen, mit ihrem Körpergeruch und rhythmischer Bewegung beruhigen und ihm so die wichtigste Botschaft im Notfall vermitteln: »Du bist nicht allein!«

Wenn aber nicht sehr schnell Schutz, körperliche Nähe, Trost und Beruhigung gegeben werden, kann ein solches Ereignis meist nicht seelisch verarbeitet werden. Der Seelenkörper des Kindes verbleibt in der Schockstarre oder in der Übererregung und reagiert dann mit Symptomen der

Übererregung (zum Beispiel Schreckhaftigkeit, Wachsamkeit, körperliche Unruhe, Aggressivität, Schlaflosigkeit …)

Wiedererlebens (Albträume, Flashbacks, sich aufdrängende [intrusive] Erinnerungen, Reinszenierungen im Spiel, posttraumatische Spiele, in denen nur noch gewalttätige Dinge passieren und es nur Täter und Opfer gibt …)

Vermeidung (von Aktivitäten, Gesprächsthemen und Situationen, die Erinnerungen auslösen könnten; von Ruhephasen und Abgabe von Kontrolle; emotionales Betäubtsein oder Teilnahmslosigkeit, Rückfall in einen Kleinkindzustand, als es sich noch sicher gefühlt hat).

Nur wenn aus jedem dieser drei Bereiche Symptome festgestellt werden, wird eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

Damit ergibt sich auch schon das oben angesprochene Problem der Diagnostik. Denn in psychiatrischen Untersuchungen werden die Eltern häufig nicht nach Traum-Inhalten, spontanem Spielverhalten, merkwürdigen Aussetzern, Triggern etc. gefragt. So kommt der Bereich des Wiedererlebens gar nicht ins Blickfeld. Auch die Kinder werden nur selten nach ihren Träumen gefragt. Noch seltener werden Rollenspiele angeboten, obgleich man dabei die wichtigsten Verhaltensbeobachtungen machen könnte.

Mit einem Stapel Fragebögen und Tests kann man auf jeden Fall nicht viel herausfinden. Dieser Mangel in der diagnostischen Methodik führt dementsprechend zu einer eklatanten Unterschätzung der Wiedererlebenssymptomatik und damit des Vorkommens der PTBS!

Die einfache PTBS erzeugt zwar großes Leiden, kann aber heute durch die modernen traumatherapeutischen Behandlungsmethoden sehr gut geheilt werden.

Natürlich kann ein junger Mensch auch von einer Mehrzahl von traumatisierenden Ereignissen getroffen werden, z.B. Opfer eines Verkehrsunfalles, Zeuge eines Brandes mit Verletzten (denken Sie allein an die Schmerzensschreie!), Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Nachbarn. Hier sprechen wir von multipler Traumatisierung, die ebenfalls sehr gut auf traumapsychologische Behandlung anspricht, die natürlich länger dauert.

Bei den unendlich vielen Ereignissen, die die individuellen psychischen Bewältigungspotentiale massiv überfordern, unterscheidet die Traumapsychologie zwei Gruppen: einerseits die Natur- oder Technikkatastrophen und andererseits sogenanntes »Man-made-Desaster«, also von Menschen verursachtes Unheil. Mir selbst ist es wichtig, beim »Man-made-Desaster« danach zu fragen, wie nah die verursachenden Menschen dem Kind stehen: je näher, desto dramatischer sind die psychischen Folgen! Und damit kommen wir zur »komplexen PTBS«.

Die komplexe posttraumatische Belastungsreaktion

Dieser Begriff kommt zwar nicht in den offiziellen Diagnosekatalogen vor, aber in der traumapsychologischen Diskussion nimmt er dennoch einen festen Stellenwert ein. Damit bezeichnet man die Auswirkung von sich lange Zeit hinziehenden oder sich wiederholenden traumatisierenden Ereignissen, die seelisch nicht verarbeitet werden können. Diese finden dann auch typischerweise im sozialen Nahraum statt, womöglich durch Identifikationsfiguren für das Kind wie Verwandte, Freunde der Familie oder Nachbarn. Noch dramatischer sind die Folgen, wenn es die Eltern selbst sind. Damit »wuchern« diese Erfahrungen extrem in die Identitätsentwicklung des Kindes hinein und bestimmen sein Selbstkonzept. Die Frage eines sexuell missbrauchten Kindes »wer bin ich, dass er so was mit mir macht?« wird dann meistens mit »ich bin ein schlechtes Kind« beantwortet. Oder wenn die Mutter sich suizidierte (oder es »nur« versucht hat), wird die Frage »wer bin ich, dass die Mama sich getötet hat/töten wollte?« beantwortet mit »ich bin schuld daran!« oder »ich bin es ihr nicht wert gewesen weiterzuleben!«

Da außerdem lange Zeiträume in der Entwicklungsperiode der Kindheit durch solche traumatisierende Ereignisse »vergiftet« werden, koppeln sich die Kinder von vielem ab:

einerseits von den normalen und vielfältigen Entwicklungen der Alterskameraden

und andererseits von ihrem eigenen leibseelischen Erleben, das unerträglich ist und deswegen über lange Kindheitsjahre dissoziiert – also abgespalten – wird.

Dadurch ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ein viel tieferes und nachhaltigeres Störungsbild als die einfache oder multiple PTBS. Sie ist dadurch auch viel zeitintensiver und selbstverständlich komplizierter in der psychotherapeutischen Behandlung, da sie zusätzlich eine bindungs- und dissoziationspsychologische Behandlung erfordert.