Verlieb dich nicht in einen Kobold - Sibille Meier - E-Book

Verlieb dich nicht in einen Kobold E-Book

Sibille Meier

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Beschreibung

Nach einer gescheiterten Beziehung steht der junge Architekt Steve Hoffmann ohne Arbeit und ohne Dach über dem Kopf auf der Strasse. Er kommt bei einem Studienfreund unter und macht sich auf die Suche nach Arbeit. Dabei lernt er Marc Beyer kennen, der Steve mit der Leitung eines bedeutenden Umbaus beauftragt. Mit sich und seinem Leben im Reinen beginnt Steve zu Hause nach dem Rechten zu sehen, wobei ihm eine als Kobold verkleidete junge Frau über den Weg läuft. Zu Steves Leidwesen verschwindet der Kobold, ohne ein Wort zu sagen, gleich wieder in der benachbarten Kita. Steve geht die Koboldfrau mit den faszinierenden graublauen Augen nicht mehr aus dem Kopf und er schaut sich in der Nachbarschaft nach ihr um. Ohne Erfolg. Die Koboldfrau ist und bleibt verschwunden. Endlich! Ein paar Tage später trifft er den Kobold alias Edith Burgener zufällig wieder und eine turbulente Zeit beginnt

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Herzlichen Dank an

Kari, Frieda und Gitta

für eure wertvolle Unterstützung

Inhaltsverzeichnis

Tapetenwechsel

Endlich frei

Ein Gefallen für Miriam

Männerhaushalt

Besprechung in der Kita

Ein Jobangebot in Übersee

Neuanfang

Frühlingsfest

Ein Engagement für den Kobold

Benos Nachbarn

Schlechte Nachricht

Ein weiterer Auftrag

Besuch bei Paul

Erstes Date

Traute Zweisamkeit

Miriams Geheimnisse

Auf dem Polizeiposten

Der Kobold geht zurück

Die Schulthess-Villa

Ein neues Refugium

Unerwartete Rückkehr

Freitagabend in der Sommerlatt-Manufaktur

Pleiten, Pech und Pannen

Ein Kobold und Lebensretter

Besuch zu später Stunde

Wer hätte das gedacht

Bei den Beyers zu besuch

Ein Kleid für Sophia

Die versteckten Leichen der Markwalds

Stadtbummel mit Sophia

Auf ins Bündnerland

Wanderung durchs Landwassertal

Burgener-Männerabend

Ein gemütlicher Sonntag

Wieder zu Hause

Wie schnell doch die Zeit vergeht

Grandhotel Palace

Wie weiter

Sommerhitze Feuersbrunst

Besichtigung einer Liegenschaft

Schweres Trauma

Burgener-Männerabend-Therapie

Der Familienschatz der Schulthess

Epilog

Die Autorin

Werke von Sibille Meier

Tapetenwechsel

Es war an einem der seltenen schönen Februartage. Die Sonne, die sich um diese Jahreszeit meist hinter einer dicken Nebeldecke verbirgt, sandte ihre wärmenden Strahlen über das Limmattal und liess erahnen, dass der Frühling nicht mehr weit weg sein konnte.

Trotz kalendarischer Winterzeit ging es in der Sommerlatt-Manufaktur für Einrichtung und Innendekoration zu wie in einem Bienenhaus im Hochsommer. Die emsige Betriebsamkeit war der Messe für Raumgestaltung geschuldet, welche in zwei Wochen in Zürich stattfinden sollte.

Steve sass an seinem Arbeitsplatz und versuchte zu arbeiten. Aber übermässige Hektik war ihm schon immer ein Gräuel gewesen und so fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Kurz entschlossen packte er seine Sachen zusammen, verliess das Büro und ging nach Hause, um dort in Ruhe weiterzuarbeiten.

Im Wintergarten von Ingrid Sommerlatts Wohnung machte er es sich bequem und setzte seine Arbeit fort. Aber selbst hier, in der Abgeschiedenheit, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Ingrid hatte ihm den Auftrag erteilt, neue Muster für die nächste Kollektion auszuarbeiten. Aber Steve konnte sein Hirn zermartern, soviel er wollte, es kam ihm nichts annähernd Brauchbares in den Sinn. Was wohl auch der Tatsache geschuldet war, dass ihm diese Art von Arbeit nicht wirklich zusagte.

Der Auftrag, neue Muster zu entwerfen, wäre ja noch halbwegs akzeptabel gewesen, wenn er denn andere Farben hätte verwenden dürfen. Aber laut Ingrid mussten es unbedingt Farbtöne in Lila und Pink sein.

Steve seufzte und strich sich missmutig mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. Er richtete sich auf, reckte und streckte sich und versuchte, die Verspannungen im Nacken und Schulterbereich zu lösen.

‹Wie um Himmelswillen bin ich nur hierher geraten? Ich gehöre nicht zu diesem extravaganten Haufen und brauche dringend einen ’Tapetenwechsel’. Um im Jargon der Branche zu bleiben.›

Natürlich wusste Steve, wie er zu dieser Anstellung gekommen war. Als Architekt hatte er den Umbau einer Nobelvilla nahe der Stadt Baden geleitet und traf auf Magnus Sommerlatt und dessen Tochter Ingrid. Damals war Steve von der Arbeit des Innendekorateurs und Raumdesigners beeindruckt gewesen. Was bei einer Inneneinrichtung alles zu berücksichtigen war!?! Heute jedoch fand er das Gehabe um das ‘Interieur’ einfach nur nervtötend.

Aber zu der Zeit war Steve wieder einmal allein gewesen und so gab das eine das andere. Ehe er sich versah, hatte er eine Festanstellung bei der Sommerlatt-Manufaktur und war aus der kleinen möblierten Einzimmerwohnung am Stadtrand aus- und bei Ingrid Sommerlatt eingezogen. Zu Beginn seiner Anstellung arbeitete Steve in erster Linie mit Magnus zusammen und war für die verschiedensten Umbauten verantwortlich.

Vor einem Jahr erlitt Magnus einen Herzinfarkt. Steve hatte neben ihm im Wagen gesessen und konnte das Schlimmste gerade noch verhindern, indem er Magnus ins Steuer griff und den Wagen zum Stehen brachte. Dennoch machte Steve sich Vorwürfe. Warum nur hatte er nicht bemerkt, wie es um Magnus Gesundheit stand?

Nach dem Herzinfarkt musste Magnus sich einer Herz OP unterziehen und übertrug die Leitung der Sommerlatt-Manufaktur bis auf Weiteres seiner Tochter.

Aber Ingrid interessiert sich mangels Fachkenntnis nicht für das Resort Umbauten. Was zur Folge hatte, dass die entsprechenden Aufträge immer weniger wurden, bis sie letztendlich vollkommen ausblieben.

So musste sich Steve seit zwei Monaten notgedrungen ebenfalls mit dem ‘Interieur’ befassen.

‹Das ist keine Arbeit für mich. Ich muss hier weg. Je eher, desto besser. – Nur, wie wird Ingrid es aufnehmen, wenn ich ihr sage, dass ich die Sommerlatt-Manufaktur verlassen werde? – Das wird Ärger geben. Grossen Ärger. – Wahrscheinlich wird unsere Partnerschaft das nicht überleben. – Wenn man überhaupt noch von einer Partnerschaft sprechen kann. Für Ingrid bin ich doch nur einer ihrer vielen Lakaien. Ein Accessoire, das sie nach Belieben austauschen kann. – Und wie sie mich neulich gemassregelt hat, nur weil ich die Modeschau dieses Fernando Gordini vorzeitig verlassen habe. Warum nur habe ich mir das gefallen lassen? – Ich werde wohl ausziehen müssen. Auch gut. In dieser Wohnung gefällt es mir schon lange nicht mehr und wenn ich ehrlich bin, habe ich mich hier auch nie wirklich zu Hause gefühlt.›, gestand Steve sich nur zu bereitwillig ein.

Der Gedanke, bei Ingrid auszuziehen, war Steve nicht unsympathisch. Er hatte es längst satt, ihren Launen ausgesetzt zu sein und dem Frieden zuliebe nach ihrer Pfeife zu tanzen. Steve wollte wieder sein eigener Herr und Meister sein und sehnte sich nach einer Arbeit, die seinen Fähigkeiten als Architekt entsprach. Auf alle Fälle wollte er sich nicht mehr mit ‘Schickimicki Zeug’ befassen müssen. Da war er sich sicher.

Inzwischen war es Abend geworden, die Sonne verschwand hinter dem Horizont und im Wintergarten wurde es kalt. Steve nahm sein Notebook vom Tisch und verlegte seinen Arbeitsort ins Wohnzimmer. In der grossen ausladenden Küche holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und war gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer, als Ingrid nach Hause kam.

Die Wohnungstür wurde mit solcher Wucht aufgestossen, dass sie an der Wand aufschlug. Die sündhaft teure Louis-Vuitton-Handtasche flog achtlos in die nächstbeste Ecke der Garderobe und der Eingangstür wurde erneut ein Tritt versetzt, worauf diese mit lautem Knall ins Schloss fiel.

Es bestand kein Zweifel, Ingrid war wütend. Mit funkelnden Augen stolzierte sie auf ihren hochhackigen Pumps ins Wohnzimmer und baute sich vor Steve auf.

«Verdammt Steve! Was machst du hier? Wie kommst du dazu, das Büro einfach so zu verlassen und nach Hause zu gehen?»

Steve machte es sich derweilen auf dem weissen Ledersofa bequem. Er lehnte sich entspannt zurück und nahm erst einmal einen Schluck aus der Bierflasche.

«Hallo Ingrid. Ich wünsche dir auch einen guten Abend.», grüsste er sie mit ruhiger Stimme.

Seine Gelassenheit machte Ingrid nur noch wütender. Ihre Augen verengten sich und sie presste die rot geschminkten Lippen aufeinander.

«Wir haben bis zum Beginn der Messe noch so viel zu tun und arbeiten bis zum Umfallen, und was machst du? Du lässt einfach so alles stehen und liegen und gehst nach Hause!»

«IHR habt so viel für die Messe zu tun. ICH bin, was die Messe betrifft, aussen vor. Wenn ich dich erinnern darf: DU wolltest MICH bei den Vorbereitungen für die Messe NICHT dabei haben. Die Muster in Lila und Pink sind gemäss DEINER Planung für die nächste Kollektion bestimmt. Zudem habe ich dir schon mehrmals erklärt, dass ich bei der Hektik im Büro nicht arbeiten kann.», antwortete Steve sachlich. Aber seine Argumente fanden kein Gehör.

«Jeder Mitarbeiter in der Firma arbeitet zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, um die laufenden Aufträge neben den Vorbereitungen für die Messe erledigen zu können und was macht der Partner der Chefin? Der macht Blau! Weisst du, wie das aussieht? Du hast gefälligst in der Firma zu bleiben, bis auch der Letzte unserer Angestellten gegangen ist!», wies sie ihn mit scharfem Ton zurecht.

«Ach, ja? Das ist mir neu. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur ansatzweise etwas in dieser Art in meinem Arbeitsvertrag steht. Wäre das der Fall gewesen, ich hätte den Vertrag nie und nimmer unterzeichnet. Und von Blau machen kann keine Rede sein. Wie du siehst, habe ich die Arbeit mit nach Hause genommen.»

«Verdammt Steve, versteh doch endlich! Du bist kein ‘normaler’ Angestellter. Du bist mein Lebenspartner und wirst mit mir einmal die Sommerlatt-Manufaktur übernehmen. Als angehender Chef kannst du von den Angestellten nur den Einsatz verlangen, den du selbst zu erbringen bereit bist!»

«ICH? Chef der Sommerlatt-Manufaktur? – DU ja. – ICH nein. – Zudem entsprechen die mir zugeteilten Arbeiten in keiner Weise meiner Stellenbeschreibung und erst recht nicht meinen Fähigkeiten. Ich mag diese Art von Arbeit nicht. Das Entwerfen von Mustern in Lila und Pink ist einfach nur peinlich und ich weigere mich, weiter daran zu arbeiten.», erwiderte Steve.

«Das wagst du nicht! Was glaubst du, wer du bist? Du hast gefälligst die Arbeiten auszuführen, die dir zugeteilt werden, wie jeder andere auch!», befahl Ingrid mit gefährlichem Unterton, der jedem anderen Mitarbeiter das Blut in den Adern gefrieren liess, Steve jedoch nur ein sarkastisches Lächeln entlockte.

«Meine Arbeit sagst du? Ich bin Architekt. Architekten entwerfen und bauen Häuser. Aber sie befassen sich keinesfalls mit lila und pinkfarbenen Mustern für Tapeten, Teppiche und Vorhänge.»

«Ach, du bist dir also zu gut für die Arbeit als Designer? Ohne uns Designer und Innendekorateure wären eure Häuser doch nur kalter Stein und grauer Beton! Wir bringen Farbe und Leben in eure leblosen Gemäuer! Ohne uns würde niemand in euren Steinhaufen leben wollen!»

«Ach, ja? Farbe und Leben sagst du? Wo zum Teufel hast du denn die Farben und das Leben bei deiner Wohnungseinrichtung gelassen? Hier ist alles weiss, kalt und steril! Ein Krankenhaus ist gemütlicher eingerichtet als deine Wohnung!», warf Steve ihr an den Kopf.

«So? Wenn dir nicht gefällt, wie ich hier wohne, dann kannst du ja ausziehen.», antwortete Ingrid schnippisch.

«Worauf du Gift nehmen kannst. Genau das werde ich tun. Ich ziehe aus!» Steve erhob sich, holte seine zwei Koffer aus der Abstellkammer und begann zu packen.

‹Das hätte ich schon längst tun sollen. Aber besser spät als nie.›, dachte Steve, während er seine Siebensachen in der Wohnung zusammensuchte und in die Koffer stopfte.

«Steve Hoffmann! Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht mehr ins Büro zu kommen. Verstehst du? Dann sind wir geschiedene Leute!», drohte Ingrid.

Aber ihre warnenden Worte verfehlten ihr Ziel. Sie perlten an Steve ab wie Regentropfen an einer gut imprägnierten Regenjacke.

«Ach, ja? Soweit ich weiss, sind wir nicht verheiratet, nicht einmal verlobt. Aber wenn du mit geschiedene Leute meinst, dass wir uns trennen und mein Arbeitsvertrag mit der Sommerlatt-Manufaktur per sofort aufgelöst ist, dann stimme ich dir zu. – Ja. Wir sind geschiedene Leute.», erwiderte Steve ungerührt und packte weiter.

Ingrid traute ihren Ohren nicht. Wie konnte Steve es wagen, sie einfach so zu verlassen und sie damit vor der ganzen Belegschaft blosszustellen?

«Das kannst du nicht machen! Steve, das kannst du mir, meinem Vater und der Firma nicht antun! Ausgerechnet jetzt, wo es Vater gesundheitlich wieder besser geht und in der Firma alles drunter und drüber läuft!» Ingrid spielte ihr letztes Ass aus.

Als Steve damals von ihrem Vater angestellt worden war, erkannte Ingrid gleich, dass Magnus den jungen, aufstrebenden Architekten mochte und die beiden Männer eine besondere Freundschaft verband, die ihr von Anfang an ein Dorn im Auge war. Immer hin, Steve würde es kaum wagen, ihren herzkranken Vater mit seinem fristlosen Abgang zu brüskieren. Da war sich Ingrid sicher.

Aber Steve überhörte ihre Anspielung auf Magnus Gesundheitszustand und ging auch sonst nicht weiter auf ihre Argumente ein.

«Ach komm schon, Ingrid. Bei dir geht es doch immer drunter und drüber. Dafür sorgst du selbst nur zu gerne. Immer unter Spannung, immer unter Druck und dabei kommst du immer absolut makellos daher. Wie aus dem Töpfchen oder aus dem Ei gepellt, damit auch ja alle voller Hochachtung zu dir aufschauen, Miss Perfekt! Ich finde das so zum Kotzen! Kannst du nicht auch mal normal daher kommen?»

Steve hatte seine wenigen Habseligkeiten beisammen und stellte seine Koffer in den Flur. Ohne Ingrid eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er an ihr vorbei ins Wohnzimmer und holte sein Notebook, das noch immer eingeschaltet auf dem Salontisch lag. Bei der Garderobe nahm er seinen Wintermantel vom Haken, zog einen Schlüsselbund mit Wohnungs- und Büroschlüssel aus der Manteltasche und drückte ihn Ingrid in die Hand.

«Ich wünsche dir und deinen Mitarbeitern viel Erfolg bei der Messe.»

Er zog seinen Mantel an, nahm die Koffer und verliess ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Hinter sich hörte er, wie Ingrid ihn mit den schlimmsten Worten, die seinesgleichen suchten, bedachte, um dann die Türe erneut zuzuschlagen. Aber das war Steve sowas von egal.

Endlich frei

Steve trat auf die Strasse hinaus und atmete befreit die kalte Winterluft ein. Er zog sein Handy aus der Manteltasche und wählte die Nummer von Beno Markwald.

«Hallo Steve, alter Gauner. Wie gehts, wie stehts?», ertönte die aufgestellte Stimme seines Studienfreundes, die ein wohltuender Kontrast zu Ingrids eben noch gehörtem Gekeife war.

«Gut. Danke der Nachfrage. Ich bin gerade bei Ingrid ausgezogen und brauche für ein paar Tage ein Dach über dem Kopf. Was meinst du? Gibst du mir Asyl?», fragte Steve und Beno lachte.

«Ja. Klar. Wurde auch Zeit, dass du dein Leben wieder in deine eigenen Hände nimmst. Soll ich dich abholen kommen? Ich kann aber erst in einer Stunde bei dir sein.»

«Danke für dein Angebot, aber über eine Stunde in der Kälte stehen, ist mir zu lang. Ich nehme mir ein Taxi. Liegt der Hausschlüssel noch immer am selben Ort?»

«Ja liegt er. Also bis später und lass dich von Ingrid nicht wieder einfangen.»

«Bestimmt nicht. Bis später und danke für deine Hilfe.»

«Keine Ursache.»

Nach dem äusserst erfreulichen Telefonat bestellte Steve sich ein Taxi. Es war dunkel geworden und ein kalter Wind zog auf. Steve schlug den Mantelkragen hoch und steckte die Hände in die Manteltaschen. Keine zehn Minuten später hielt ein Taxi vor ihm am Strassenrand. Steve stieg ein und gab dem Fahrer die Adresse. Der Mann nickte und fuhr auf direktem Weg nach Wettingen in ein Einfamilienhausquartier unweit der Limmat, welches bei der einheimischen Bevölkerung liebevoll ‘Schöpflihuuse’ genannt wurde. Vor einem älteren Einfamilienhaus mit Schuppen, Garage und einem kleinen Garten hielt der Fahrer an. Steve bezahlte und gab dem Taxifahrer ein ordentliches Trinkgeld.

Er holte den Schlüssel aus dem Versteck, schloss die Haustür auf und trat ein. Im Flur atmete er erst einmal erleichtert den vertrauten Geruch des alten Hauses ein.

‹Endlich wieder frei.› Steve trug seine Koffer ins Gästezimmer im oberen Stock, in dem er schon während seiner Studienzeit ab und zu übernachten durfte. Er packte seine Sachen aus und richtete sich häuslich ein.

Auch wenn Steve sich in dem Haus gleich wieder heimisch fühlte, so wollte er Benos Kühlschrank dennoch nicht plündern und liess sich vom Kurier eine Pizza, einen grünen Salat und zwei Flaschen Bier liefern. Er machte es sich gerade im Wohnzimmer gemütlich, als er hörte, wie die Haustüre ging und kurz darauf Beno ins Zimmer trat.

«Du hast es also tatsächlich geschafft und dich aus Ingrids Klauen befreit.» Beno lachte und umarmte Steve freudig.

«Hallo Beno. Ja. Ich habe mich von Ingrid getrennt und meine Festanstellung bei der Sommerlatt-Manufaktur auch gleich hingeschmissen. – Hast du schon gegessen oder willst du einen Teil von meiner Pizza ab haben?»

«Danke. Ich habe schon gegessen. Aber einem Bier bin ich nicht abgeneigt.»

Steve reichte Beno die zweite Flasche, die er für seinen Freund bestellt hatte, und sie begannen, in Erinnerungen an ihre Studienzeit zu schwelgen.

Damals hatte Beno seinen Freund nach einer durchzechten Nacht mit nach Hause genommen. Paul Markwald, Benos Vater, gewährte Steve Obdach und von da an hatte er die Wochenenden und vor allem die Feiertage bei den Markwalds verbracht. Vor einem Jahr erlitt Paul einen Hirnschlag und musste ins Pflegeheim.

Seine eigenen Eltern hatte Steve nie kennengelernt. Alles, was er über sie wusste, hatte ihm seine Grossmutter erzählt.

«Wie lange gedenkst du, die Zelte bei mir aufzuschlagen?», fragte Beno und holte Steve aus seinen Erinnerungen.

«Nicht lange. Bis ich eine eigene Bleibe gefunden habe. Warum? Gehe ich dir schon auf den Geist?»

«Nein. Bestimmt nicht. Im Gegenteil, ich habe dich gerne hier. Aber ohne Anstellung wirst du es schwer haben, eine eigene Wohnung zu finden.», gab Beno zu bedenken.

«Stimmt. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist mir die Lust auf eine Festanstellung gründlich vergangen.»

«Kann ich verstehen. Es gibt auch temporäre Jobs. Schon mal daran gedacht?»

«Nein. Und selbst wenn, dann nur als freier Mitarbeiter. – Die Firma, für die du arbeitest, sucht nicht zufällig einen überaus flexiblen und zuverlässigen Architekten?»

«Leider nein. Wir haben zurzeit selbst Überkapazität.», bedauerte Beno.

«Kein Problem. Ich werde schon etwas finden, und wenn nicht, gehe ich eben Strassen fegen.»

«Ja. Sicher. Du als Strassenfeger. Wer’s glaubt. Aber was würdest du von einer nächtlichen Tour durch unsere früheren Stammkneipen halten?»

Steve hielt viel von Benos Vorschlag und so zogen die beiden Freunde wie in alten Zeiten los und genossen etwas zu trinkselig das Nachtleben bis in die frühen Morgenstunden.

Ein Gefallen für Miriam

‹Na endlich!› Edith sass ungeduldig an einem Tisch des Wiener Cafés am Badener Bahnhofplatz und wartete schon seit einer geschlagenen halben Stunde auf Miriam.

«Mensch Miri. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.», begrüsste Edith ihre Freundin und umarmte sie.

«Hallo Edith. Tut mir leid, aber ich bin nicht eher aus der Kita rausgekommen.», entschuldigte sich Miriam.

«Wie geht es dir?», fragte Edith, obwohl sie die Antwort schon kannte, denn dazu brauchte sie ihre Freundin nur anzuschauen.

Miriam winkte ab und liess sich müde auf die Bank hinter dem Tisch fallen. Sie brauchte all ihre Willenskraft, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.

«Schon gut, Miri. Du brauchst nichts zu sagen. Ich sehe auch so, wie es dir geht.» Mitfühlend legte Edith ihre Hand auf Miriams Arm.

«Danke. Auch dass du dir Zeit für mich nimmst.» Miriam presste die Lippen aufeinander und senkte traurig den Kopf.

«Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Als ich mich von Damian getrennt habe, bist du mir auch beigestanden.»

Miriam schüttelte zaghaft den Kopf und wischte imaginäre Brotkrumen vom Tisch.

«Ich hätte nie gedacht, dass Beno mich einfach so stehen lassen würde.» Und die Tränen liefen Miriam nun doch über die Wangen. Wie immer, wenn sie an den verhängnisvollen Abend vor zwei Monaten dachte.

Edith stand auf, setzte sich neben ihre Freundin auf die Bank und nahm sie in die Arme, was zur Folge hatte, dass Miriam nur noch mehr weinte. Die anderen Gäste im Café wurden auf sie aufmerksam und drehten sich neugierig nach ihnen um.

«Komm Miri. Lass uns woanders hingehen. Hier haben wir zu viele Zuschauer.»

Edith rief die Kellnerin an den Tisch, bezahlte und führte ihre Freundin aus dem Café. Langsam schlenderten sie hinunter zur Limmatpromenade und setzten sich auf eine Bank am Flussufer.

«Edith. Du bist meine beste Freundin. Ohne dich hätte ich die letzten zwei Monate nie überstanden.»

«Schon gut. Vor einem Jahr hast du für mich dasselbe getan. Schon vergessen?»

«Ja. Schon. Nur warst du damals nicht so von der Rolle, wie ich es heute bin.»

«Weil ich im Gegensatz zu dir nicht den Mann fürs Leben verloren habe. Damian ist und war nie der Richtige für mich. Zudem verliess ICH IHN und nicht ER MICH. Das kannst du mit deiner Situation nun wirklich nicht vergleichen.»

«Ich weiss. Aber du gehst deinen Weg und baust dir ein kleines Schneideratelier auf. Ich dagegen hänge bei meiner Mutter in der Kita herum. – Wenn Beno mir doch wenigstens die Möglichkeit geben würde, ihm zu erklären, was an jenem Abend wirklich geschehen ist. Aber ich kann ihn anrufen, so viel ich will, er drückt mich jedes Mal weg. Auch auf meine Briefe antwortet er nicht.», schluchzte Miriam.

«Das tut mir so leid für dich Miri. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun.»

«Vielleicht kannst du das ja auch. – Meine Mutter möchte in der Kita ein Frühlingsfest veranstalten und hat mir die Verantwortung für den Unterhaltungsblock übertragen. Sie meinte, ich käme so auf andere Gedanken. Aber mir ist nicht nach lustig sein. Kannst du mir vielleicht bei der Unterhaltung helfen?»

«Ja. Sicher. Sehr gerne. Was habt ihr euch denn vorgestellt?»

«Nicht viel. Einige Spiele, etwas Farbe, vielleicht ein Mal- und Basteltisch. Viel mehr ist mir nicht eingefallen.»

«Wie alt sind die Kinder denn?»

«Zwischen zwei und zehn Jahre.»

«Gut. Lass mich mal überlegen. – Wir brauchen ein Thema. Fällt dir da vielleicht etwas ein, das passen könnte?», fragte Edith und Miriam überlegte.

«Seit ein paar Wochen verschwinden in der Kita immer wieder Schuhe. Ich vermute, dass ein Fuchs der Übeltäter ist. Aber meine Mutter erzählt den Kindern, dass es ein Kobold sei, der sein Unwesen treibt. Die Kinder finden das lustig und haben begonnen, sich gegenseitig die Schuhe zu verstecken. Darum war ich heute auch so spät dran. Wir haben über eine halbe Stunde suchen müssen, bis wir alle Schuhe wieder beisammen hatten.», erzählte Miriam und verdrehte die Augen.

«Ein Kobold, das ist doch eine gute Idee. Ich weiss auch schon, wo ich ein Kobold-Kostüm herbekomme.» Edith war begeistert und Miriam atmet erleichtert auf.

«Danke Edith, dass du bereit bist, mir zu helfen.»

«Keine Ursache. Ich mag Kinder und ein Fest in der Kita ist eine willkommene Abwechslung.»

Diese Aussage entsprach mehr der Wahrheit, als Edith lieb sein konnte. In letzter Zeit hatte sie nicht viele Aufträge erhalten und zu Hause warteten nur ein paar Änderungen auf sie.

Männerhaushalt

Nach der durchzechten Nacht hatte Steve sich einfach auf sein Bett fallen lassen und war augenblicklich eingeschlafen. Als er nun aufwachte, trug er noch immer die Kleider vom Vortag und sein Kopf dröhnte.

«Oh. Nein.», stöhnte er. ‹Selbst schuld. Kommt davon, wenn man sich im Alter von dreissig Jahren wie ein pubertierender Teenager aufführt.›

Von Menschen, die zu tief ins Glas schauten und nicht wussten, wann es genug war, hielt Steve nicht viel. Sein Selbstmitleid hielt sich somit in Grenzen und er stand trotz Kopfschmerzen auf, duschte und zog sich an.

‹Gott ist das herrlich! Endlich wieder einmal nur in Jeans und T-Shirt zu schlüpfen und sich nicht in einen unbequemen Anzug mit Hemd und obligater Krawatte zwängen zu müssen.›

Da es schon nach zehn Uhr war, entschloss sich Steve im nahe gelegenen Kaufhaus-Restaurant das Frühstück einzunehmen und die Tageszeitung zu lesen. Danach suchte er in verschiedenen Stellenvermittlungsportalen nach einer passenden Arbeit. Aber er fand nichts, was ihn begeistern konnte.

‹Kein Weltuntergang. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.› Steve zuckte gleichgültig mit den Schultern und machte sich auf den Heimweg.

Als er die Liegenschaft der Markwalds bei Tageslicht erblickte, stellte er überrascht fest, dass der Garten und auch das Haus in einem desolaten Zustand waren. Schemenhaft konnte er sich erinnern, dass Paul Markwald sich jeweils um die Gartenarbeit gekümmert hatte.

‹Wahrscheinlich hat Beno keine Zeit, sich um das Haus und den Garten zu kümmern.›, dachte Steve und begann, sich nützlich zu machen.

Als Beno nach Hause kam, hatte Steve das Badezimmer und die Küche geputzt, im Wohnzimmer abgestaubt und die Böden und Teppiche gesaugt.

«Wow! Du willst dich wohl unentbehrlich machen.», stellte Beno überrascht fest, als er nach Hause kam.

«Nein. – Aber etwas Reinlichkeit hat noch niemandem geschadet. Zudem wusste ich nicht, was ich mit meiner freien Zeit tun sollte.», erklärte Steve.

«Danke. Das Putzen hatte ich am Wochenende eingeplant. – Was hast du denn dieses Wochenende vor?», wollte Beno wissen.

«Ehrlich gesagt, keine Ahnung.», gab Steve unumwunden zu und kratze sich nachdenklich am Kinn.

Die letzten zwei Jahre waren Steves Wochenenden meist von Ingrid verplant gewesen und an diesem Freitagabend hätte er sie an eine Vernissage in die städtische Galerie begleiten sollen.

«Wir könnten ins Kino gehen.», schlug Steve vor.

«Was läuft denn?», fragte Beno.

«Keine Ahnung. Hast du eine bessere Idee?»

«Ja. Ich wollte heute Abend meinen Vater im Pflegeheim St. Bernhard besuchen und dann könnten wir gemeinsam übers Wochenende ins Tessin fahren.», schlug Beno vor.

«Klingt gut. Ich bin dabei. – Wenn du mich überhaupt dabei haben willst.»

«Warum sollte ich dich nicht dabei haben wollen?», fragte Beno verständnislos.

«Na ja. Vielleicht würdest du ja lieber mit deiner Freundin ins Tessin fahren wollen.»

«Wenn ich denn eine hätte.»

«Was? Du bist auch Single? Was ist denn mit der hübschen Rothaarigen geschehen, mit der ich dich vor einem Monat gesehen habe?»

«Du meinst Miriam. Und das muss mindestens zwei Monate her sein, als du mich mit ihr gesehen haben willst.», präzisierte Beno.

«Stimmt. Das war noch vor Weihnachten. – Was lief mit ihr schief?»

«Miriam hatte sich verändert. Sie wurde immer stiller und verschlossener. Da war etwas im Busch. Aber ich hatte selbst so viel an der Backe. Vati kam aus der Reha und musste ins Pflegeheim und dann war da noch das Grossprojekt, das noch vor Weihnachten beendet sein musste. Als ich spät abends nach Hause kam, habe ich Miriam in der Küche mit einem anderen beim Knutschen erwischt.», erzählte Beno.

«Ach du Schande! Tut mir leid. Das wusste ich nicht.»

«Wie auch. Ich habe es verständlicherweise nicht an die grosse Glocke gehängt. – Was solls. Ich bin Single und gedenke, es bis auf Weiteres auch zu bleiben.», erklärte Beno und zuckte dabei mit den Schultern.

Bildete Steve es sich nur ein oder litt Beno viel mehr unter der Trennung, als er zugeben wollte? Auf alle Fälle ging Beno die Sache mit Miriam mehr an die Nieren als ihm die Trennung von Ingrid. Steve war über die Trennung erleichtert. Beno dagegen schien bedrückt und traurig zu sein.

«Also. Was meinst du? Kommst du mit ins Tessin?», unterbrach Beno die Betrachtungen seines Freundes.

«Ja. Ich bin dabei.»

Und so machten sich die beiden Freunde auf den Weg ins Pflegeheim. Paul Markwald sass seit dem Hirnschlag im Rollstuhl, aber im Kopf war er noch immer topfit. Er erkannte Steve sofort wieder und freute sich sehr über dessen Besuch. Auch konnte er sich noch genau erinnern, was Beno und Steve in ihrer Studienzeit alles ausgefressen hatten. Selbst die Namen der jeweiligen Freundinnen kannte er noch.

Als Steve ihm auf die Frage, ob wenigstens er verheiratet sei, erklärte, dass er wie Beno Single sei, schüttelte der alte Herr verständnislos den Kopf.

«Das kann doch nicht wahr sein. Was ist denn nur los mit euch? Ihr seht beide recht passabel aus, seid im besten Alter und einen guten Beruf habt ihr auch. Die Frauen müssten bei euch Schlange stehen. Ihr macht etwas falsch. Wenn ich nicht in diesem dämlichen Ding sitzen müsste, würde ich euch zeigen, wie man Mädels aufreisst.», ereiferte sich Paul und brachte Steve und Beno mit seinem Gefühlsausbruch zum Lachen.

«Mädels aufreissen ist nicht das Problem. Aber oberflächliche Beziehungen habe ich mehr als genug gehabt.», fand Beno.

«Ach was. Ihr seid nur an die falschen Frauen geraten. Warum schaut ihr euch nicht hier im Pflegeheim um? Hier gibt es jede Menge nette junge Dinger unter den Pflegefachfrauen oder dem Hausdienst.»

«Danke für den Tipp. Aber an das Sprichwort ‘Wer sucht, der findet,’, glaube ich in Sachen dauerhafte Beziehung schon lange nicht mehr.», meinte Beno.

Dennoch liess sein Vater nicht locker und erteilte den beiden Grünschnäbeln Tipps und Ratschläge in Sachen Frauen. Beno und Steve amüsierten sich köstlich über die Unterweisung und die Anekdoten von vor vierzig Jahren.

Nach einer Stunde verabschiedeten sie sich von Paul mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen. Das nächste Mal natürlich mit Anhang.

Das anschliessende Wochenende verbrachten Beno und Steve wie geplant gemeinsam in Ascona am schönen Lago Maggiore. Nach einem üppigen Frühstück genossen sie im Wellness-Bereich des Hotels eine Massage und fuhren am Nachmittag mit dem Schiff auf die Insel Brissago. Das Abendessen nahmen sie in einem gemütlichen Grotto ein, um anschliessend den Tag im Casino ausklingen zu lassen.

Am Sonntag machten sie sich wieder auf den Heimweg. Und weil sie für die Rückfahrt den ganzen Tag Zeit hatten, entschlossen sie sich, über den Gotthardpass zu fahren und ihre Schweizer Geschichtskenntnisse wieder etwas aufzufrischen. Bei der Schöllenen Schlucht legten sie einen längeren Kaffeehalt ein und bei der Tells Platte am wilden Urner See assen sie Älplermagronen und Apfelmus. Kurz um, es war ein geselliges Wochenende mit viel Erzählen, Erinnern und Lachen.

Besprechung in der Kita

Am Montagnachmittag standen Edith und Miriam im Garten der Kita und überlegten, was sie den Kindern am Frühlingsfest anbieten wollten. Die Sonne schien und aus Nachbars Garten war der Lärm einer elektrischen Heckenschere zu hören. Edith schaute Miriam fragend an.

«Mensch Miri. Ist Beno etwa zu Hause?» Miriam schüttelte nur traurig den Kopf.

«Nein. Beno ist um diese Tageszeit nie zu Hause. Er hat wohl jemanden beauftragt, die Gartenarbeit für ihn zu übernehmen.»

Edith schaute neugierig über die Hecke und entdeckte einen gut aussehenden Mann mit breiten Schultern und dichtem, schwarzem Haar, der gerade dabei war, einen Strauch zurückzuschneiden.

«Wow! – Der Kerl sieht gut aus. Kennst du ihn?», wollte Edith wissen.

«Du schon wieder. Willst du mich etwa verkuppeln?», fragte Miriam missmutig.

«Nö. Auch wenn das in deiner Situation nicht einmal das Schlechteste wäre. Aber wie du weisst, bin auch ich Single. Auch wenn du Liebeskummer hast, so sollte ich mich doch wenigstens umschauen dürfen. Also was ist? Kennst du den Kerl?»

Miriam verdrehte genervt die Augen, schaute dann aber Edith zuliebe doch über die Hecke.

«Das ist ein ehemaliger Studienkollege von Beno. So weit ich mich erinnern kann, heisst er Steve. Beno hat ihn mir letztes Jahr auf der Messe für Bau und Wohnen im Tägerhard vorgestellt. – Nur muss ich dich enttäuschen. Der Kerl ist mindestens eine Nummer zu gross für dich.», erklärte Miriam.

«Ach ja? – Warum das denn?»

«Dieser Steve soll mit Ingrid Sommerlatt liiert sein. Zumindest hat mir Beno das erzählt.», erklärte Miriam.

«Ingrid Sommerlatt? Die Nobel-Raumdesignerin, von der in der Klatschpresse so viel geschrieben steht?»

«Ja, genau die.»

«Seltsam. – Wenn er mit der Sommerlatt zusammen ist, warum schneidet er dann in Benos Garten die Bäume und Sträucher zurück?», gab Edith zu bedenken, aber Miriam zuckte nur mit den Schultern.

«Keine Ahnung. Vielleicht ist Bäume schneiden in der gehobeneren Gesellschaft gerade en vogue.»

«Wie ist dieser Steve denn so?», fragte Edith weiter.

«Nett, denke ich. Wir haben keine fünf Minuten miteinander gesprochen. Aber Beno hält viel von ihm. Reichen dir diese Angaben? Können wir vielleicht wieder an unserem Projekt weiter arbeiten?», fragte Miriam überdrüssig.

«Ja. Ich denke, diese Informationen reichen fürs Erste.», erklärte Edith lachend.

«Gut, Mädels. Zeigt mir mal eure Vorschläge für das Frühlingsfest.» Rita Stauber, Miriams Mutter, war aus der Kita gekommen.

Die Frauen setzten sich auf eine alte Bank, die auch schon bessere Tage gesehen hatte, und überlegten, was sie den Kindern an Unterhaltung bieten wollten. Edith zog aus einer Tasche ein Kobold-Kostüm hervor, das sie beim Kostümverleih in der Stadt ausgeliehen hatte.

«Mensch Edith, das ist wundervoll. Die Kinder werden sich freuen.» Rita schlug vor Begeisterung die Hände zusammen. Miriam hingegen freute sich nicht im Geringsten.

«Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich dieses Ding anziehen werde?», erklärte sie, während Edith das Kostüm mit der orangen Perücke hochhob.

«Warum denn nicht? Unter dieser Perücke kannst du dich richtig gut verkriechen. Vor lauter Auffallen fällst du nicht auf.», gab Edith lachend zu bedenken.

«Ja. Sicher. Vergiss es, das Ding ziehe ich nicht an!», weigerte sich Miriam standhaft und so erklärte Edith sich letztendlich bereit, am Frühlingsfest den Kobold zu mimen.

Ein Jobangebot in Übersee

Nach dem gemütlichen Wochenende im Tessin suchte Steve weiter nach Arbeit. Er versandte seine Bewerbungsunterlagen an verschiedene Architekturbüros in der Region und rief Freunde und Bekannte von früher an. Die meisten von ihnen waren überrascht von ihm zu hören.

«Was? Gibt es dich auch noch? Ich dachte, du bist im Ausland.», bemerkte ein ehemaliger Arbeitskollege.

Steve wurde erneut bewusst, wie sehr Ingrid die letzten zwei Jahre über sein Leben bestimmt hatte. Die meisten Freunde und Bekannte hatte er in der Zeit kaum mehr gesprochen, geschweige denn gesehen.

‹Warum nur habe ich das zugelassen? Wie konnte ich mich nur so fremdbestimmen lassen?›

Während des Wochenendes im Tessin hatte Steve Beno auf den verwilderten Garten angesprochen und wie er richtig vermutet hatte, konnte Beno sich neben der Arbeit nicht auch noch um den Garten kümmern. So hatte er Beno angeboten, die Gartenarbeit für ihn zu übernehmen.

Steve holte die elektrische Gartenschere aus dem Schuppen und begann die Bäume und Sträucher zurückzuschneiden. Die Zweige und Äste sammelte er ein und schichtete sie fein säuberlich auf einen Haufen neben dem Schuppen. Dabei fiel ihm hinter der Hecke in Nachbars Garten ein oranges Etwas auf, das sich leicht hin und her und auf und ab bewegte.

Was zum Teufel war das denn? Beno hatte letzten Abend beiläufig erwähnt, dass es im Nachbarhaus eine Kita gab.

‹Wahrscheinlich ein Spielzeug.›, dachte Steve gleichmütig und arbeitete weiter.

Nach getaner Arbeit brachte er die Heckenschere wieder in den Schuppen zurück. Dabei fiel ihm ein Rasenmäher auf, der von einer Plane bedeckt in einer Ecke stand. Steve nahm den Rasenmäher hervor und unterzog diesen einer genaueren Inspektion. Es war unschwer zu erkennen, dass auch der Rasenmäher in einem desolaten Zustand war und Steve entschloss sich, das Gerät bei Gelegenheit in einem Fachgeschäft überholen zu lassen.

Als Beno am Abend nach Hause kam, erkannte Steve gleich, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte. Beno war schweigsam und mit seinen Gedanken meilenweit weg. Selbst als er Steves Tageswerk begutachtete, sprach er kaum ein Wort.

«Was ist? Habe ich etwas falsch gemacht?», fragte Steve.

«Quatsch. Was hättest du denn falsch machen sollen? Ich stelle nur einmal mehr fest, dass du einen grüneren Daumen hast als ich. Danke für die Gartenarbeit.»

«Bitte. Gern geschehen. – Mensch Beno. Was ist nur los mit dir? Dich bedrückt doch etwas.»

«Stimmt. Komm, lass uns rein gehen. Ich erzähle es dir bei einem Bier.»

Steve räumte den Rasenmäher wieder in den Schuppen und folgte Beno ins Haus. Er setzte sich an den Küchentisch und Beno holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank. Steve nahm eine der Flaschen dankend entgegen, prostete Beno zu und trank einen Schluck.

«Ok. Dann schiess los. Was hast du auf dem Herzen?»

Beno setzte sich ebenfalls an den Tisch und begann zu erzählen.

«Habe ich dir schon einmal von unserem VIP-Kunden erzählt, dessen Firma in Asien und Amerika mehrere Niederlassungen hat?», fragte Beno und Steve überlegte.

«Ja. Hast du. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern. Ich war damals ganz schön neidisch auf dich, denn ich musste mich zur selben Zeit um eine Babyzimmer-Ausstattung kümmern.», gestand Steve ein und Beno starrte seinen Freund ungläubig an.

«Nein! Wirklich? Babyzimmer-Ausstattung? Du? Mensch Steve. Davon hast du mir nie etwas erzählt.» Beno lachte los.

«Wie auch. Das war mir nun wirklich zu peinlich. Auch wenn ich Kinder mag. – Aber nun zu dir Beno. Was hat es mit diesem VIP-Kunden auf sich?», hackte Steve nach und wechselte das Thema.

«Wir haben für diesen Kunden in der Schweiz einen neuen Hauptsitz gebaut. Nun möchte er wegen der Corporate Identity die Niederlassungen in Amerika und Asien dem Hauptsitz entsprechend angleichen.»

«Ja und? Mach’s nicht so spannend.»

«Der Kunde möchte mich als Projektleiter in Amerika haben. Mein Chef wäre einverstanden.»

«Mensch Beno! Das ist der Wahnsinn! Dieses Angebot musst du unbedingt annehmen.»

«Würde ich ja auch gerne. Nur habe ich meinen Vater im Pflegeheim und dieses alte Haus hier.», gab Beno zu bedenken.

«Ach, das Haus kannst du vermieten und um deinen Vater brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der würde dir den Kopf ganz schön zurechtrücken, wenn er wüsste, dass du ihn als Ausrede zum Kneifen benutzt.»

«Quatsch. Von Kneifen kann keine Rede sein. Nur wäre ich für mindestens zwei Jahre ausser Landes und so lange möchte ich meinen alten Herrn nicht allein lassen. Zudem, um das Haus vermieten zu könne, müsste ich es erst renovieren.»

«Ja. Das stimmt allerdings. Warum hast du das Haus denn so verfallen lassen?»

«Nicht ich. Mein Vater wollte nichts an dem Haus machen lassen. Und nach seinem Hirnschlag hatte ich weder Zeit noch Lust, mich darum zu kümmern.»

«Hm. Hör mal Beno. Wie es aussieht, brauche ich etwas länger, um in der Baubranche wieder Fuss fassen zu können. Darum und auch weil ich finde, dass du den Job in Amerika auf keinen Fall sausen lassen solltest, mache ich dir einen Vorschlag, den du nicht ablehnen kannst. Ich biete dir an, mich während deiner Abwesenheit um deinen Vater und das Haus zu kümmern. Als Gegenleistung lässt du mich hier in deinem Haus wohnen. Einverstanden?»

«Mensch Steve, das würdest du wirklich für mich tun?»

«Ja. Ich hab Paul schon immer gern gemocht und in diesem alten Kasten hier fühle ich mich wie zu Hause. Keine Ahnung warum. Aber es ist so. Beno, du würdest mir einen grossen Gefallen tun, wenn du mein Angebot annehmen würdest.»

«Und wie ich dein Angebot annehme. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Du bist wirklich ein echter Freund.»

«Ach ja? Findest du das wirklich? – Mir wird erst jetzt bewusst, dass ich dich und auch unsere anderen Freunde in den letzten zwei Jahren schmählich vernachlässigt habe. Es ist mir, als hätte ich ein anderes Leben geführt.»

«Na ja. Das hast du ja auch. Ingrid ist sehr besitzergreifend und manipulativ. Sie teilt mit niemandem. Entweder du gehörst mit Haut und Haaren ihr oder du kannst gehen. Darum habe ich ehrlich gesagt auch nie verstanden, was du an ihr gefunden hast.»

«Das weiss ich heute auch nicht mehr so genau. Ihre Perfektion, ihr makelloses Auftreten und ihre Erfolge sind nicht von schlechten Eltern. Seltsamerweise haben mich am Ende unserer Beziehung genau diese Eigenschaften an ihr am meisten genervt.», bemerkte Steve nachdenklich.

«Wann soll das Abenteuer Amerika denn losgehen?»

«In einem Monat. Dann ist es beschlossene Sache?»

«Ja. Ist es.»

Neuanfang

Die Zeit bis zu Benos Abreise verging schnell. Beno hatte noch viel zu erledigen und Steve bekam Arbeit. Ein Alexander Bastaler, seines Zeichens Leiter und Mitbesitzer des Architekturbüros Bastaler und Partner, erteilte ihm den Auftrag, ein bestehendes Umbauprojekt zu überarbeiten. Es ging dabei um ein altes Fabrikgebäude im Badener Industriequartier. Der ursprünglich zuständige Architekt war schwer erkrankt und konnte das Projekt nicht weiter betreuen. Zudem hatte der Bauherr eine Liste mit zusätzlichen Anforderungen vorgelegt, die in den Bauplänen noch nicht berücksichtigt worden waren.

Mit Freude und grossem Eifer machte Steve sich an die Arbeit. Er glich die Liste des Bauherrn mit den Bauplänen ab und machte sich Notizen. Dabei erkannte er gleich, dass der Bauherr mit dem 0815 Vorschlag seines Vorgängers nie und nimmer zufrieden sein konnte. Aus dem Fabrikgebäude sollte ein besonderes Wohnhaus werden, das war der Liste deutlich zu entnehmen. Steve schaute sich jeden einzelnen Punkt auf der Liste noch einmal genau an und begann die Vorgaben bestmöglich umzusetzen. Am Ende hatte er zwei neue Vorschläge ausgearbeitet.

Am Abend vor Benos Abreise gingen die beiden Freunde noch einmal bei Paul im Pflegeheim vorbei. Dieser erteilte seinem Sohn scherzhaft die Absolution für die Reise nach Amerika und gab ihm zu verstehen, dass er notgedrungen auch mit einer Amerikanerin als Schwiegertochter leben könnte. Beno verdrehte die Augen, presste die Lippen aufeinander und schaute gequält zu Boden.

Auch wenn Beno sich auf die Arbeit in Amerika freute, so ging es im nicht wirklich gut, da war sich Steve sicher. Beim für längere Zeit letzten gemeinsamen Bier sprach Steve Beno darauf an:

«Beno, was ist los mit dir? Was quält dich? Und sag mir nicht, dass ich falschliege. Ich kenne dich gut genug.»

«Ach Steve. Du hast ja recht. – Ich gehe nicht nur wegen der Arbeit nach Amerika. Die Trennung von Miriam geht mir noch immer sehr nahe. Alles hier erinnert mich an sie und ich hoffe, dass ich in Amerika besser über sie hinweg komme.»

«Du liebst Miriam noch immer.», stellte Steve konsterniert fest und Beno nickte.

«Ja. Es hat mich so richtig erwischt. – An jenem Abend, als ich sie mit dem anderen Kerl erwischt habe, wollte ich ihr einen Heiratsantrag machen.»

«Ach du Scheisse! Das tut mir so leid. – Du weisst aber schon, dass davonlaufen keine Lösung ist?»

«Sagt ausgerechnet einer, der in einer Nacht- und Nebelaktion bei seiner Ex aus- und bei mir eingezogen ist.», bemerkte Beno sarkastisch.

«Das war kein Davonlaufen. Das war ein längst überfälliger Schritt in Richtung Freiheit.», verteidigte sich Steve.

«Aha. Ein Schritt in die Freiheit und zurück in die Einsamkeit. Klingt meines Erachtens nicht wirklich besser.»

«Stimmt. Ist es auch nicht. – Dein Vater scheint recht zu haben. Wir beide sind wirklich zwei hoffnungslose Fälle. – Vielleicht sollten wir uns seine Ratschläge doch einmal etwas genauer anschauen.», schlug Steve scherzhaft vor. Die Männer brachen in lautes Gelächter aus, um kurz darauf schweigend ihr Bier zu trinken und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.

Am nächsten Morgen begleitete Steve Beno zum Flughafen und sie verabschiedeten sich voneinander mit einer freundschaftlichen Umarmung.

«Dass du mir gut zu meinem alten Herrn und dem Haus schaust.», mahnte Beno.

«Ja. Klar. Und du vergiss nicht, eine Schwiegertochter mit nach Hause zu bringen.»

Beno lachte gequält und verdrehte theatralisch die Augen.

‹Armer Beno. Ihn hat es wirklich schwer erwischt.›, dachte Steve und schaute seinem Freund nach, wie er durch den Zoll ging und in Richtung Gate verschwand.

Steve wandte sich ab und ging ins Parkhaus, wo Benos grüner Audi geparkt war.

‹Beno ist immerhin verliebt, wenn auch unglücklich. Ich dagegen weiss nicht einmal, wie sich verliebt sein anfühlt.›

Nicht dass Steve in der Vergangenheit keine Freundinnen gehabt hätte. Aber die waren meist süss, nett, hübsch, intelligent gewesen und man konnte sich gut mit ihnen unterhalten. Er hatte die Frauen gemocht und als jeweilige Partnerin stets respektiert. Aber Liebe war es nie wirklich gewesen.

‹Was solls, wahrscheinlich bin ich gar nicht in der Lage zu lieben. Und wenn ich sehe, wie Beno leidet, sollte ich wohl dankbar dafür sein.› Steve stieg ein und schlug die Wagentür etwas zu heftig zu.

Auf dem Heimweg fuhr Steve bei einem Fachgeschäft für Gartengeräte vorbei, holte den revidierten Rasenmäher ab und kaufte noch zwei Kanister Benzin dazu. Zu Hause angekommen, stellte er den Rasenmäher und die Kanister in den Schuppen. Das Gras war kaum gewachsen und so war das Rasenmähen auf der To-do-Liste nach hinten gerutscht.

Und so machte sich Steve daran, die Veranda zu streichen. Aus Nachbars Garten war lautes Kinderlachen und übermütiges Kreischen zu hören. Steve gefielen die hellen Kinderstimmen und er unterbrach seine Tätigkeit, um dem vertrauten Geräusch aus seiner Kinder- und Jugendzeit zu lauschen. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm er die Arbeit wieder auf und strich weiter.

Frühlingsfest

‹Zu dumm. Ausgerechnet heute.›, dachte Edith, als sie die Praxis ihres Hausarztes verliess.

Edith hatte das Wochenende bei ihrer Familie in Davos verbracht und es war hoch zu und her gegangen. Obwohl der Schnee noch immer knietief lag, hatten ihre Brüder einen Burgener-Männerabend, ausnahmsweise mit Beteiligung der Frauen, einberufen. So waren alle bis Mitternacht draussen um ein grosses Lagerfeuer gesessen, hatten Geschichten erzählt, Lieder gesungen, gelacht und getanzt.

Am Sonntagmorgen hatte Edith Halsschmerzen und ihre Stimme war heiser. Wieder zurück in ihrer kleinen Wohnung in Baden brachte sie kaum ein Wort mehr heraus und musste zum Arzt, der eine Kehlkopfentzündung diagnostizierte. Neben warmem Tee und einem Halstuch empfahl er ihr, die Stimme zu schonen und wenn möglich für die nächste Zeit das Sprechen zu unterlassen. Was Edith nicht wirklich schwerfiel, da ihre Stimmbänder eh streikten und sie nicht viel mehr als ein erbärmliches Krächzen hervorbrachte.

Aber heute war das Frühlingsfest in der Kita. Ein Kobold, der nicht sprechen kann! Wie sollte das denn gehen? Edith war ratlos, machte sich aber dennoch mit dem Kostüm auf den Weg. Vielleicht konnte sie Miriam doch noch überreden, den Kobold zu mimen. Aber alles Bitten war zwecklos. Miriam weigerte sich standhaft, das Kostüm auch nur anzufassen, geschweige denn anzuziehen.

«Komikfiguren sprechen in der realen Welt sowieso nie. Weder in Euro Disney noch im Europapark. Also ist es kein Problem, wenn auch du als Kobold nicht sprechen kannst.», erklärte Miriam erbarmungslos.

Edith seufzte. Miriam hatte recht, sie brauchte nicht zu sprechen, und so fügte sie sich in ihr Schicksal und zog das Kostüm und die orange Perücke an. Miriam bedachte ihre Freundin mit einem prüfenden Blick.

«Da fehlt noch was.» Miriam holte ihren braunen Eyeliner aus der Handtasche und malte Ihrer Freundin Sommersprossen auf die Wangen. Dann zauberte sie eine rote Clownsnase hervor und setzte sie Edith auf.

«Perfekt. Edith. Jetzt siehst du aus wie der kleine Pumuckl.» Edith schaute in den Spiegel und seufzte erneut.

‹Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Was solls. Hauptsache den Kindern gefällts.›, dachte sie schicksalsergeben und ging hinaus in den Garten.

Die ersten Kinder waren bereits eingetroffen und umringten den Kobold mit vor Erwartung glänzenden Augen. Mit Grimassen, Armen und Beinen versuchte Edith den Kindern verständlich zu machen, was sie mit ihnen spielen wollte. Das sah so ulkig aus, dass sich die Kinder vor lauter Lachen kugelten, und Edith blühte in ihrer Rolle als sprachloser Kobold auf.

Sie spielten Fangen, Blinde Kuh und Fussball. In ihrem Übermut trat der Kobold den Ball etwas zu fest, sodass dieser in hohem Bogen über die Hecke in Nachbars Garten flog. Edith zog die Schultern ein, presste die Lippen aufeinander und schaute schuldbewusst von einem Kind zum anderen, die vor Begeisterung johlten. Dem Kobold blieb nichts anderes übrig, als sich mit eingezogenem Kopf und grossen Schritten auf den Weg durch die Hecke in Nachbars Garten zu schleichen und den Ball zu holen.

Noch bevor Edith sehen konnte, wo der Ball hingeflogen war, entdeckte sie Steve, der auf einer Leiter stand und beinahe andächtig die Veranda strich.

Sie blieb stehen und schaute ihm zu, wie er mit dem Pinsel sachte über das Holz fuhr. Er unterbrach seine Tätigkeit und schien zu lauschen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund, dann nahm er seine Arbeit wieder auf. Ediths Herz fing an, wie wild zu schlagen. Sie senkte den Blick und entdeckte den Ball, der nicht weit weg von ihrem Versteck auf der Wiese lag. Möglichst unauffällig schlich sie hin, hob den Ball auf und lief so schnell sie konnte durch die Hecke zurück in die Kita.

Steve wollte den Pinsel gerade in die Lasur tunken, als er im Augenwinkel eine Bewegung in der Hecke wahrnahm. War da eben etwas? Steve schaute genauer hin, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Er zuckte mit den Schultern und arbeitete weiter. Da schon wieder. Was war das nur für ein wuscheliges, oranges Ding? Aber bevor Steve es erkennen konnte, war es auch schon wieder weg. Steves Neugier war geweckt. Er stieg von der Leiter und suchte das Gebüsch nach was auch immer ab, konnte jedoch nichts finden. Vielleicht war es nur ein ferngesteuertes Spielzeug der Kinder gewesen, die im Garten nebenan spielten. Steve beschloss, eine Pause einzulegen und sich im Haus ein Bier zu holen.

Edith war mit dem Ball wieder bei den Kindern angekommen und das Spiel konnte weitergehen. Obwohl Edith sich sichtlich bemühte, den Ball kein weiteres Mal über die Hecke in Nachbars Garten fliegen zu lassen, schaffte es ein Kind dennoch, den Ball an ihr vorbeizuschiessen. So blieb Edith nichts anderes übrig, als erneut mit gespielt schlechtem Gewissen, geduckt und mit grossen koboldhaften Schritten in Nachbars Garten zu schleichen.

Um keinen Preis wollte Edith, dass dieser umwerfende Mann von nebenan sie in diesem Aufzug sah. Sie duckte sich so gut es ging in die Hecke und hielt nach Steve Ausschau. Zu ihrer Erleichterung konnte sie ihn nirgendwo entdecken und der Ball war Gott sei Dank nicht weit geflogen. Sie hob den Ball auf und wollte sich wieder aus dem Staub machen, als Steve mit einem Bier in der Hand um die Hausecke bog.

Steve sah gerade noch, wie das orange Ding im Gebüsch verschwand.

‹Das ist definitiv kein ferngesteuertes Spielzeug.›, stellte er amüsiert fest und seine Neugier war geweckt.

«Hallo Kleiner. Wer bist du denn?», rief Steve und das Rascheln in der Hecke hörte augenblicklich auf.

‹Nein auch das noch.›, dachte Edith. ‹Ausgerechnet der umwerfendste Mann, den ich in je zu Gesicht bekommen habe, wird mich in diesem Aufzug sehen. So peinlich! Es wäre nichts anderes als recht, wenn ich mich jetzt wie Pumuckl unsichtbar machen könnte.›

Steve kam näher und Edith blieb nichts anderes übrig, als aus der Hecke aufzutauchen.

Steve schaute die zierliche Gestalt mit dem orangen Wuschelkopf fasziniert an und erkannte die Figur sogleich.

«Ach. Du bist der Pumuckl, nicht wahr? Was machst du denn in meinem Garten?», fragte er amüsiert.

Der Kobold war erwischt und fühlte sich in seiner Haut sichtlich unwohl. Er hielt den Kopf gesenkt, presste die Lippen aufeinander und schaut mit wunderschönen, graublauen Augen verlegen zu ihm auf.

«Kannst du nicht sprechen?», fragte Steve lächelnd.

Der Kobold nickte heftig, drehte sich um und lief mit einem Ball unterm Arm in Richtung Nachbars Garten davon.

Mit klopfendem Herzen kam Edith in die Kita zurück und war sichtlich erleichtert, dass der zweite Teil des Festes auf Grund der noch kühlen Temperaturen ins Haus verlegt worden war. Die Kinder sassen hungrig um einen Tisch und stopften genüsslich Marmorkuchen und Brownies in sich hinein.

Edith war erschöpft und es fiel ihr schwer, sich weiter auf die Kinder zu konzentrieren. Zudem tauchte Steves Gesicht immer wieder vor ihr auf. Seine dichten, schwarzen Haare, die unglaublich dunkelblauen Augen und sein umwerfendes Lächeln raubten ihr selbst in der Erinnerung den Verstand und liessen ihr Herz höherschlagen.

«Du siehst müde aus, kleiner Pumuckl. Ich denke, du solltest nach Hause gehen und dich ausruhen.»

Ritas fürsorgliche Stimme riss Edith aus ihren Gedanken und sie wurde von Rita sanft, aber bestimmt ins Büro geschoben. Kaum war die Bürotür zu, zog sich Edith die Perücke und die rote Nase vom Kopf und liess sich erleichtert auf einen Stuhl fallen.

«Edith. Ich denke, du hast mehr als genug getan. Du gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus.», erklärte Rita in einem Ton, der keinen Widerspruch zu liess.

Edith nickte nur, zog das Kobold-Kostüm aus und machte sich auf den Heimweg. In ihrer kleinen Wohnung angekommen, liess sie sich müde und erschöpft auf ihr Bett fallen.

‹Wahrscheinlich habe ich mich übernommen. Der Arzt hat mir geraten, in der nächsten Zeit etwas kürzerzutreten.›

Aber die Kinder waren so begeistert gewesen und den Kobold zu mimen, hatte ihr unerwartet viel Spass bereitet.

Nur dass ausgerechnet Steve sie in diesem Aufzug gesehen hatte, war ihr peinlich. Immer wieder sah sie ihn vor sich. Seine kräftige Statur, sein Lächeln, seine blauen Augen und ihr Herz schlug schon wieder Purzelbäume.

‹Mensch Edith. Du hast keine Ahnung, wer der Kerl ist. Er sieht umwerfend aus. Ja. Aber viel mehr weisst du nicht über ihn.›

Als der Kobold in der Hecke verschwunden war, musste Steve über den amüsanten Vorfall lachen. Zu gerne wäre er in die Kita hinüber gegangen und hätte dem Kobold beim Spielen mit den Kindern zugesehen.

‹Das ist wohl das berühmte Kind im Manne.›

Er machte es sich auf der Bank unter den Bäumen bequem und trank sein Bier. Sein Blick wanderte immer wieder suchend zur Hecke hinüber, aber der Kobold mit den faszinierenden, graublauen Augen tauchte nicht wieder auf und auch die Kinderstimmen waren verstummt.

Steve trank sein Bier aus und machte sich wieder an die Arbeit. Am Abend war die Veranda gestrichen und er begutachtete zufrieden sein Werk.

‹Es wird wohl noch ein zweiter Anstrich von Nöten sein. Aber das wird bis nächste Woche warten müssen.›

Er reinigte die Pinsel, räumte alle Malutensilien inklusive Farbe in den Schuppen und ging ins Haus. Während er duschte und in Jeans und T-Shirt schlüpfte, musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wer seine Nachbarn waren. Er nahm sich vor, diese Tatsache zu ändern und sich am nächsten Tag bei seinen Nachbarn vorzustellen.

Nach dem Abendessen setzte Steve sich an den Stubentisch und las seine E-Mail durch. Herr Bastaler hatte ihm zusätzliche Wünsche des Bauherrn übermittelt. Endlich erfuhr Steve, um wen es sich beim Bauherrn handelte, denn Herr Bastaler hatte bis anhin ein Geheimnis daraus gemacht.

Das Fabrikgebäude gehörte der Schulthess-Immobilien und zu Steves grosser Überraschung war Marc Beyer, der Geschäftsleiter und Vorsitzende des Verwaltungsrates höchst persönlich für den Umbau zuständig. Steve erinnerte sich, dass Ingrid hinter diesem Beyer her war, wie der Teufel hinter der armen Seele.

‹Mensch! Besser hätte es nicht kommen können. Ich muss eine absolut perfekte Arbeit abliefern. Wenn ich Erfolg habe, wird mir vielleicht auch die Leitung des Umbaus übertragen.›, dachte Steve und machte sich mit grossem Eifer an die Arbeit.

Ein Engagement für den Kobold

‹Oh Gott. Nein. Ist es wirklich schon morgen?›, seufzte Edith und schaute auf den Wecker.

Es war gerade mal sieben Uhr vorbei und der Termin in Astrids Stoffladen war um zehn. Sie hatte somit noch genügend Zeit und braucht sich nicht zu beeilen. Dennoch stand sie auf, trank ihrer Stimme zuliebe eine Tasse warmen Tee und machte sich auf den Weg zum Kostümverleih in der unteren Halde.

Eine helle Türglocke bimmelte, als Edith den Laden betrat. Martin Scherrer, ein schlanker, grossgewachsener Mann, anfangs vierzig, kam aus dem hinteren Bereich.

«Hallo Edith. Wie war dein Auftritt als Kobold, hattest du Erfolg?», fragte Martin neugierig.

Edith nickte nur. Sie konnte noch immer nicht sprechen und versuchte, mit Gesten ihrem Gegenüber zu erklären, dass sie stumm war. Martin schaute ihr dabei amüsiert zu.

«Ach du Ärmste. Du hast deine Stimme verloren?», übersetzte er ihre Gesten.

«Wie konntest du dann den Kobold spielen?», wollte Martin wissen und Edith blieb nichts anderes übrig, als ihm den Kobold vorzuspielen.

Ediths Bewegungen und ihre koboldhaften Grimassen sahen so ulkig aus, dass Martin Tränen lachte.

«Mensch Edith! Du bist ja ein richtiges Naturtalent. Hast du am Freitagnachmittag schon etwas vor?»

Edith hörte mit dem Koboldmimen auf, holte einen Notizblock aus ihrer Handtasche und kritzelte etwas darauf. Dann hielt sie Martin den Block unter die Nase.

«Ich gehe am Freitag nach Hause.», las er laut und Edith nickte.

«Ach. Du könntest doch auch erst am Freitagabend nach Davos fahren. Meine Schwester Nina hat mich angefragt, ob ich in ihrer Kita beim Spiel- und Spassnachmittag als Magier auftreten könnte.» Martin seufzte. «Den Gefallen hätte ich ihr auch gerne getan. Nur leider muss ich am Freitagnachmittag in der Primarschule Mathematik unterrichten. Aber du könntest mich vertreten und als Kobold in die Kita gehen.»

Edith schaute Martin bestürzt an und schüttelte heftig den Kopf.

«Ach komm schon, Edith. Die Kinder würden sich bestimmt freuen und ich würde dir auch die Gage überlassen.»

Martin liess nicht locker und weil die Aussicht auf einen zusätzlichen Verdienst nicht ungelegen kam, willigte Edith letztendlich ein.

Benos Nachbarn