17,99 €
Das Schicksal deutscher Vertriebener aus Mittel- und Osteuropa nach 1945
Die Vertreibung über 14 Millionen Deutscher aus den einstigen Ostgebieten im Zuge des Zweiten Weltkriegs war die größte gewaltsame Bevölkerungsverschiebung in der europäischen Geschichte. Zahlreiche Menschen starben durch Kugeln oder Krankheiten; Familien wurden auf dem Weg in die unbekannte neue Heimat zerrissen. Wer überlebte, wagte unter widrigen Bedingungen den Neuanfang. Während ihre Integration in der BRD eine Erfolgsgeschichte wurde, blieb das Schicksal der Vertriebenen in der DDR ein Tabu. Viele packten bis zum Mauerbau abermals ihre Koffer und flohen erneut. Doch die Vertriebenen in beiden deutschen Staaten teilten die unverarbeiteten Traumata infolge der Flucht. SPIEGEL-Autoren und Historikerinnen zeigen, wie sie bis heute nachwirken und die Haltung vieler Deutscher gegenüber Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika prägen. Und sie machen klar, warum wir die dunkle Vorgeschichte der Zwangsumsiedlungen kennen müssen, um deutsche Fluchtschicksale zu verstehen.
Mit Zeitzeugenberichten und zahlreichen Abbildungen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Vertreibung über 14 Millionen Deutscher aus den einstigen Ostgebieten im Zuge des Zweiten Weltkriegs war die größte gewaltsame Bevölkerungsverschiebung in der europäischen Geschichte. Zahlreiche Menschen starben durch Kugeln oder Krankheiten; Familien wurden auf dem Weg in die unbekannte neue Heimat zerrissen. Wer überlebte, wagte unter widrigen Bedingungen den Neuanfang. Während ihre Integration in der BRD eine Erfolgsgeschichte wurde, blieb das Schicksal der Vertriebenen in der DDR ein Tabu. Viele packten bis zum Mauerbau abermals ihre Koffer und flohen erneut. Doch die Vertriebenen in beiden deutschen Staaten teilten die unverarbeiteten Traumata infolge der Flucht. SPIEGEL-Autoren und Historikerinnen zeigen, wie sie bis heute nachwirken und die Haltung vieler Deutscher gegenüber Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika prägen. Und sie machen klar, warum wir die dunkle Vorgeschichte der Zwangsumsiedlungen kennen müssen, um deutsche Fluchtschicksale zu verstehen.
Felix Bohr, geboren 1982 in Trier, studierte Geschichte und katholische Theologie in Berlin und Rom und promovierte in Göttingen über die bundesdeutsche »Kriegsverbrecherlobby«. Beim SPIEGEL war er ab 2018 Redakteur im Ressort Deutschland/Panorama und politischer Korrespondent in Baden-Württemberg mit den Themenschwerpunkten Landespolitik und Kirchen. Seit Oktober 2021 ist er Redakteur im Geschichte-Ressort des SPIEGEL.
Solveig Grothe, geboren 1975, absolvierte nach dem Abitur ein Volontariat bei der Altmark Zeitung, wo sie anschließend als Redakteurin arbeitete. Sie studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Soziologie in Magdeburg. Ab 2004 war sie als Redakteurin bei netzeitung.de mit Schwerpunkt Politik und Medien tätig und übernahm 2006 die Projektleitung der Readers Edition. 2007 entwickelte sie das Zeitgeschichte-Projekt »einestages« und gründete das Zeitgeschichte-Ressort auf SPIEGELONLINE. Heute arbeitet sie im Geschichte-Ressort des SPIEGEL.
www.dva.de
FELIX BOHR UND SOLVEIG GROTHE (HG.)
Das Schicksal der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs
Mit Beiträgen von Alois Berger, Friederike Bieber, Felix Bohr, Markus Deggerich, Mary Fulbrook, Solveig Grothe, Christoph Gunkel, Katja Iken, Dela Kienle, Jasmin Lörchner, Verena Lugert, Kathrin Maas, Jan Opielka, Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr, Frederik Seeler, Frank Thadeusz, Johanna Wagner
Deutsche Verlags-Anstalt
Die Texte dieses Buches sind erstmals in dem Magazin »Verlorene Heimat. Flucht und Vertreibung: Hitlers Krieg und die Folgen« (Heft 6/2023) aus der Reihe SPIEGELGESCHICHTE erschienen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2024 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: akg-images
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32371-4V001
www.dva.de
Vorwort
»Die vergessenen Kinder«
Tausende Waisen wurden 1945 in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien zurückgelassen. Ein Betroffener erzählt.
Von Felix Bohr
»Es gab 1945 keine Willkommenskultur«
Historiker erklären, wie die Flucht ablief – und wie die Integration gelang.
Von Felix Bohr und Solveig Grothe
Wer Wind sät, wird Sturm ernten
Die Vertreibung der Deutschen ist nicht ohne die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verstehen. Das wird gern verdrängt.
Von Mary Fulbrook
Abschiebung bei Nacht – ohne Vorwarnung
»Polenaktion«:Die Ausweisung Tausender Juden 1938 war Generalprobe für den Holocaust.
Von Jasmin Lörchner
»Ich war kein Täter, aber …«
1940 vertrieb die SS Zehntausende Polen, um auf ihren Höfen »Volksdeutsche« anzusiedeln.
Von Martin Pfaffenzeller
Mein Vater schrie jede Nacht im Schlaf
Wie die Flucht aus Schlesien bis heute weiterwirkt
Von Markus Deggerich
Auszug aus Karelien
Finnland: 1944 mussten 400 000 Karelier ihre nun sowjetische Heimat verlassen. Ihre Eingliederung gilt als vorbildlich.
Von Martin Pfaffenzeller
Kopf gegen Herz
Marion Gräfin Dönhoff ließ der Verlust ihrer Heimat nicht bitter werden. Doch mit ihrer Haltung machte sie sich viele Feinde.
Von Dela Kienle
»Wir Deutschen waren schließlich der Feind«
Tausende deutsche Flüchtlinge wurden in dänischen Lagern interniert. Wurden sie dort unmenschlich behandelt?
Von Katja Iken
Schiff, brüchig
Die erstaunliche Geschichte eines besonderen Beibootes
Von Johanna Wagner
Der Plan von der Abschaffung der Minderheiten
»Aktion Weichsel«: 1947 deportierte Polen 140 000 Ukrainer in die ehemals deutschen Gebiete. Das war der Plan dahinter.
Von Jan Opielka
Stumme Zeugen
Im Südosten Polens erinnern Denkmäler mit kyrillischer Inschrift an die ausgelöschten Dörfer zweier Volksgruppen.
Von Solveig Grothe
Abrakadabra – Flüchtlinge weg
Wie die SED-Führung das Vertriebenenproblem wegzauberte – mit Folgen bis heute.
Von Solveig Grothe
»Wer nicht angekommen ist, kann andere nicht willkommen heißen«
Eine Soziologin hat untersucht, wie Fluchterfahrungen von 1945 politische Einstellungen der Gegenwart mitformen.
Von Eva-Maria Schnurr
Heer ohne Soldaten
Einst waren Vertriebenenverbände mächtige Lobbygruppen. Heute haben einige wieder Zulauf. Warum?
Von Frederik Seeler
Der Goldzug der Nazis
In Polen sollen Nazis einen Zug mit Gold vergraben haben.
Von Frank Thadeusz
Bildanalyse: »Das Mädchen mit der Rettungsweste«
Was erzählt das Kunstwerk auf einem Seenotrettungsschiff?
Von Kathrin Maas
Ein jüdischer Staat in Bayern?
Holocaustüberlebende kamen 1945 im bayerischen Föhrenwald unter – das »letzte Schtetl« Europas entstand.
Von Alois Berger
Wie lief Omas Flucht ab?
So recherchieren Sie die Fluchtgeschichte Ihrer Familie.
Von Friederike Bieber
Das Espelkamp-Experiment
Vertriebene bauten nach dem Krieg die Modellstadt Espelkamp auf. Ist der Ort ein Vorbild für gelungene Integration?
Von Christoph Gunkel
Kompendium: Gerichte mit Tradition
Anhang
Chronik: Das Jahrhundert der Vertreibungen
Empfehlungen: Bücher, Filme, Museen und Online-Angebote
Autor*innenverzeichnis
Dank
Register
Bildnachweis
Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung von mehr als 14 Millionen Deutschen waren die größte gewaltsame Bevölkerungsverschiebung in der europäischen Geschichte. Bis zu zwei Millionen Menschen starben gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Weg in die unbekannte neue Heimat durch Kugeln und Krankheiten, erfroren im Eis oder ertranken in der Ostsee. Familien wurden zerrissen, Eltern von Kindern getrennt.
Ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung hat ein solches Schicksal in der eigenen Familiengeschichte. Doch es gibt kaum noch Möglichkeiten, sich aus erster Hand darüber zu informieren. In vielen Familien wurde eisern geschwiegen. Großeltern und Urgroßeltern sind inzwischen verstorben. Wer die Flucht noch als Kind miterlebt hat, ist heute 80 oder 90 Jahre alt.
Wie richtig sind die Erinnerungen nach so langer Zeit noch? Autorinnen und Autoren haben für dieses Buch in der eigenen Familiengeschichte recherchiert, Zeitzeugen gesucht und mit Experten gesprochen. Sie haben die wichtigsten Aspekte auf dem Stand der aktuellen Forschung zusammengetragen – und dabei festgestellt, dass das Thema bis heute viele Menschen beschäftigt.
Nie musste Deutschland so viele Flüchtlinge aufnehmen wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zugezogenen waren Deutsche – und doch gab es so etwas wie Rassismus, erinnern sich Zeitzeugen. In vielen Regionen trafen unterschiedliche Dialekte und Konfessionen aufeinander, das sorgte für Konflikte. Trotz gemeinsamer Nationalität stießen Neuankömmlinge fast überall auf Feindseligkeit, wurden als »Polacken« und »Rucksackdeutsche« diffamiert.
Die Integration der Vertriebenen war ein schmerzhafter Prozess und prägte maßgeblich die Geschichte der Bundesrepublik. »Es gab 1945 und in den Jahren danach keine Willkommenskultur«, sagt die Direktorin der in Berlin ansässigen Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Gundula Bavendamm, im Interview. Erst in den Fünfzigerjahren, als mit Wirtschaftsboom und Lastenausgleich in der Bundesrepublik der Wohlstand wuchs, verloren sich die Vorbehalte.
Während die Integration in der Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte wurde, blieben der Begriff »Vertreibung« und mit ihm das Schicksal der Vertriebenen in der DDR ein Tabu. Es war nicht legitim zu sagen, dass man Ostpreuße oder Schlesierin war oder aus Pommern stammte. Fast eine Million Menschen packten bis zum Mauerbau erneut ihre Koffer und flohen ein weiteres Mal. Die Aufarbeitung des Themas begann für diesen Teil Deutschlands erst sehr viel später.
Gemeinsam waren den Vertriebenen in beiden deutschen Staaten die unverarbeiteten Traumata infolge der Flucht. In West wie in Ost wirken sie bis heute nach. Wer seiner ganz persönlichen Familiengeschichte auf die Spur kommen will, findet im Buch eine Anleitung zur Recherche nach geflüchteten oder vertriebenen Vorfahren.
Zur Beschäftigung mit dem Thema gehört indes auch, die Vorgeschichte der Zwangsumsiedlungen zu kennen. Die Vertreibung der 14 Millionen aus den ehemaligen deutschen »Ostgebieten« hätte es ohne die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht gegeben. Doch das werde gern verdrängt, schreibt die Professorin für Deutsche Geschichte am University College London Mary Fulbrook.
Die Vorgeschichte mache es schwer, die deutschen Vertriebenen als Opfer zu sehen oder sie wegen ihres Schicksals zu bemitleiden, meint Fulbrook. Juden, Polen und andere »minderwertige Rassen« seien im Zuge der »Germanisierung« in Mitteleuropa vertrieben worden. Bereits im Oktober 1938 jagten die Nationalsozialisten 18 000 jüdische Menschen mit polnischem Pass über die deutsch-polnische Grenze. Mehr als 13 Millionen Menschen wurden zur Zwangsarbeit auf deutsches Gebiet verschleppt, jüdische Menschen enteignet, ghettoisiert, ausgebeutet und ermordet.
Die Deutschen waren also bei Weitem nicht die einzigen Betroffenen: Rund 80 Millionen Menschen in Europa wurden im 20. Jahrhundert Opfer von Flucht und Vertreibung. In diesem Fall sprechen Historiker gar von der größten Zwangsumsiedlung in der Menschheitsgeschichte.
Auch Finnland war betroffen. Der Auszug aus Karelien ist bis heute eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte des Landes. 400 000 Menschen mussten im Zweiten Weltkrieg ihre nun plötzlich sowjetische Heimat verlassen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der im Jahr 2022 begann, rief bei Zeitzeugen böse Erinnerungen wach. Der jahrzehntealte Schock sitzt tief, obwohl die Umsiedlung als vorbildhaft gilt.
Die gefährliche Idee, dass Nationen nur Angehörige eines »Volkes« umfassen sollten, legitimierte Vertreibungen vielerorts. Das galt schon für die Zwangsumsiedlung von 1,5 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland und fast einer halben Million Türken aus Griechenland in die Türkei. Sie wurde 1923 nachträglich auf Initiative des Völkerbundes durch den Vertrag von Lausanne legalisiert.
Man sah darin »eine sinnvolle ethnische Flurbereinigung, um den neu entstandenen Nationalstaat Türkei und das Königreich Griechenland innerlich zu konsolidieren«, sagt der emeritierte Professor für Kulturstudien in Ostmitteleuropa Stefan Troebst im Interview. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 seien die Siegermächte dann zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: Polen und die Tschechoslowakei seien nur zu stabilisieren, wenn die deutschen Minderheiten die Länder verließen.
In Polen war die Sache mit dem Auszug der Deutschen noch nicht getan: Das kommunistische Satellitenregime verfolgte einen weitreichenden Plan zur Abschaffung von Minderheiten. In der »Aktion Weichsel« deportierte Polens Führung 1947 rund 140 000 Ukrainerinnen und Ukrainer aus dem Osten des Landes in die nun frei gewordenen ehemals deutschen Gebiete. Auch die ruthenischsprachigen Lemken und Bojken wurden vertrieben.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1991 zerfielen ideologisch zusammengehaltene Nationalstaaten. Es folgten Bürgerkriege mit Vertreibungen wie etwa in Jugoslawien. Überhaupt scheint das Thema nie abgeschlossen: Neue Fluchtbewegungen treiben Menschen aus Afrika, dem Nahen und dem Mittleren Osten nach Europa. Zuletzt mussten wegen des russischen Angriffskriegs Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verlassen. Viele kamen dabei auch nach Deutschland. Die Aufarbeitung sowohl der eigenen Geschichte als auch der Blick zu den europäischen Nachbarn könnten helfen, mit den Herausforderungen umzugehen.
Die Soziologin Uta Rüchel hat in Ost- und Westdeutschland untersucht, wie Fluchterfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute auch politische Einstellungen prägen. Sie sagt: »Wer nicht angekommen ist, kann andere nicht willkommen heißen.«
Tausende deutsche Waisenkinder wurden 1945 in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien zurückgelassen. Nun widmet sich eine Historikerin ihrem Schicksal.
Von Felix Bohr
Alfred Czesla hatte immer gehofft, seine deutsche Geburtsurkunde noch zu finden. Er fragte in den Waisenhäusern nach, in denen er als Kind aufwuchs, stellte Suchanträge bei den polnischen Behörden. Das Dokument wäre für ihn die endgültige Bestätigung seiner Abstammung gewesen. Doch am Ende fand er heraus, dass man es 1951 vernichtet hatte. »Es tut so weh«, sagt er. »Ich bin zutiefst betrübt darüber.«
Czesla sitzt vor dem Fernseher im Wohnzimmer seiner Wohnung am Rand der ermländisch-masurischen Hauptstadt Olsztyn, die bis 1945 Allenstein hieß und heute zu Polen gehört. Er zappt durch die Kanäle: »Ich habe 200 deutsche Sender.« Czesla liest deutschsprachige Zeitungen, trinkt bayerisches Weizenbier und macht seine Einkäufe in Olsztyn bei Lidl oder Kaufland. »Ich habe mich immer als Deutscher gefühlt.« Alfred Czesla war eines von Tausenden deutschen Waisenkindern, die bei Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien zurückgelassen wurden wie Bilder an der Wand. Im Chaos des Aufbruchs kümmerte sich kaum jemand um ihr Schicksal. Krankenschwestern und Pädagogen nahmen Reißaus vor der anrückenden Roten Armee und ließen die Kleinen unbeaufsichtigt zurück.
Andere Kinder verloren ihre Eltern in den Kriegswirren oder im Treck der Flüchtenden. In Städten wie Koszalin (Köslin) lebten eine Zeit lang obdachlose Minderjährige auf der Straße. Im nördlichen Ostpreußen irrten elternlose »Wolfskinder« durch die Wälder. In Waisenhäusern gingen Bewohnerlisten verschütt. Weil viele der dort lebenden Kleinkinder nach 1945 polnische Namen bekamen, verlor sich jede Spur ihrer deutschen Herkunft.
Die Geschichte der Waisen aus den ehemaligen Ostgebieten ist bislang weitgehend unbekannt. Jetzt hat die Historikerin Teresa Willenborg das Schicksal von Deutschlands vergessenen Kindern umfassend erforscht. Im Rahmen eines von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekts sprach sie mit zahlreichen Zeitzeugen, wertete Fotomaterial aus und analysierte bisher unveröffentlichte Akten in deutschen und polnischen Archiven.
»Laut Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes befanden sich noch 1952 etwa 4200 deutsche Vollwaisen in Polen«, sagt Willenborg. »Polnischen Unterlagen zufolge waren es bis zu 15 000 Elternlose.« Ihre genaue Anzahl lasse sich nicht mehr feststellen. Allein in dem ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Potulitz (Potulice) in Pommern wurden 1947 rund 6000 deutsche Mädchen und Jungen gezählt. In Niederschlesien gab es zur selben Zeit 85 Einrichtungen mit 2307 deutschen Kindern. Manche von ihnen entdeckten erst Jahre später ihre deutsche Herkunft, so wie Alfred Czesla.
»Ich wurde am 23. Februar 1945 in Sensburg geboren, das heute Mrągowo heißt, und kurz nach meiner Geburt evangelisch getauft«, erzählt er. »Mein Vater Max starb einen Monat nach meiner Geburt bei einem Luftangriff in der Nähe von Königsberg, meine Mutter Bertha ein halbes Jahr später.« Seine Mutter sei Arbeiterin in einer Munitionsfabrik gewesen, der Vater Chauffeur bei der Wehrmacht. »Ich habe die Augen meiner Eltern nie gesehen«, sagt Czesla. »Das war ein Trauma. Verstehen Sie?«
Czesla ist heute 78 Jahre alt, hat graues schütteres Haar und wache blaue Augen. Er setzt seine Brille auf und geht vom Wohnzimmer in die Küche, wo sein Computer steht. Alles, was er über sein Leben herausfinden konnte, befindet sich in digitalen Ordnern auf seinem Desktop. »Meine Familie war arm«, erzählt er. »Bis Ende 1945 lebte ich in der Obhut meiner Großmutter. Sie hatte es nicht einfach und starb bald.« Danach habe seine jahrelange Odyssee durch insgesamt sechs Waisenhäuser begonnen. »Es war eine schwierige Wanderung.«
Alfred Czesla in seiner Wohnung in Olsztyn, Polen, 2023.
Deutsche Waisen machten in den Heimen oft triste Erfahrungen. Ein Zeitzeuge berichtete der Historikerin Willenborg: »Wir waren unter katastrophalen Verhältnissen untergebracht. Es war so schlimm, dass die Behörden die lokale Bevölkerung zu Hilfe aufriefen.« Er und sein Bruder seien dann zu einer Frau gekommen, bei der es ihnen aber auch nicht besser ergangen sei. »Wir wurden über die ganze Zeit schwer misshandelt.«
In Polen wurden deutsche Kinder von Landwirten in der Feldarbeit eingesetzt. In Pommern klagte ein polnischer Schulinspektor im September 1948, es sei äußerst schwierig, deutsche Kinder ausfindig zu machen, weil sie »oft als billige Arbeitskräfte von einem Bauern zum anderen weitergereicht werden. Da bei solchen Kindervermittlungen Geld genommen wird, besteht der Verdacht, dass es sich hier um eine Art von Kinderhandel handelt.« In Bydgogoszcz, auf Deutsch Bromberg, wurden laut Willenborg sogar Zweijährige zur Arbeit eingesetzt. Sie zogen Einkaufswagen mit Lebensmitteln.
Nach der Terrorherrschaft Hitlerdeutschlands waren deutsche Mädchen und Jungen im befreiten Polen nicht gern gesehen. Fast jede polnische Familie hatte im Krieg unermessliches Leid erfahren. Die Erinnerungen an die Naziverbrechen waren frisch. Das Land lag in Trümmern. »Die polnische Regierung hatte in der Nachkriegszeit zusätzlich rund drei Millionen polnische sozial bedürftige Kinder zu versorgen, darunter etwa 1,5 Millionen Halb- und Vollwaisen«, sagt Willenborg.
Viele junge Polinnen und Polen hatten deutsche Besatzungsverbrechen miterleben müssen. Ein 19-jähriges Mädchen aus Warschau berichtete nach Kriegsende: »Ich war Zeugin, wie ein betrunkener Soldat auf der Kierbedź-Brücke in Warschau einen kleinen Juden festnahm und einem vorbeigehenden Passanten befahl, ihn in den Fluss zu werfen. Der Mann flehte um Gnade für das Kind, und der Kleine küsste die Schuhe des Soldaten. Nichts hat geholfen. Der Deutsche zwang den Mann unter Androhung des Todes, seine bestialische Marotte auszuführen.«
Solche Erlebnisse führten bei den Betroffenen noch Jahre später zu Trauer und Angstzuständen. Erschwerend hinzu kam auch für viele Polinnen und Polen der Heimatverlust und die Entwurzelung infolge des Kriegs. Das galt auch für Zehntausende polnische Kinder, die die deutschen Besatzer zwischen 1939 und 1945 ins Reich verschleppt hatten. Viele waren blond und blauäugig und entsprachen somit den rassischen Kriterien der Nationalsozialisten. Sie sollten in Heimen und bei Pflegefamilien »germanisiert« und in die »Volksgemeinschaft« integriert werden. Erst nach dem Krieg konnten manche von ihnen in die Heimat zurückkehren. »In der Nachkriegszeit war das Hauptaugenmerk des polnischen Staates auf polnische Kinder gerichtet«, sagt Willenborg. »Deutsche Kinder, die sich der Polonisierung widersetzten, galten als Störfaktoren.«
Flüchtlingskinder im Januar 1945: Einige verloren auf der Flucht ihre Eltern, sie schlugen sich allein weiter durch.
Czesla sagt: »Ich habe immer Glück gehabt. Ich bin Menschen begegnet, die mir geholfen haben.« Wie seine Tante Ida, die unmittelbar nach dem Krieg aus Ostpreußen nach Westdeutschland entkommen war. Sie suchte ihren Neffen fast ein Jahrzehnt lang, konnte ihn aber lange nicht finden. »Das war kein Wunder«, sagt Czesla. »Ich erhielt als Kleinkind eine neue Geburtsurkunde und die polnische Staatsbürgerschaft. Mein Name wurde in Antoni Cieśla geändert.« Von seiner deutschen Abstammung habe er erst 1954 erfahren.
»Als ich neun Jahre alt war, kam meine Tante ins Waisenhaus, wo ich mit polnischen und deutschen Kindern lebte. Ich erinnere mich, dass sie immer schwarz gekleidet war. Sie sprach mit mir auf Deutsch, warf allerdings masurische Wörter ein, sodass ich sie verstand.« Der masurische Dialekt, eine mit vielen deutschen Lehnwörtern durchsetzte Mundart, ist heute weitgehend ausgestorben. Tante Ida habe ihm Süßigkeiten mitgebracht, so Czesla. Nachdem sie gegangen sei, hätten die polnischen Kinder angefangen, ihn mit seiner deutschen Herkunft zu hänseln. »Das war für mich ein Signal, dass ich zwar zur Gruppe dieser Kinder gehörte, aber nicht aus ihr stammte.« Czesla begann, sich selbst Deutsch beizubringen.
Seine Tante wollte ihn in die Bundesrepublik holen, doch die polnischen Behörden untersagten es. »Sie hat um mich gekämpft und im Mai 1956 einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden der Volksrepublik Polen gerichtet«, sagt Czesla. Darin schrieb seine Tante: »Bitte überdenken Sie meine Bitte, und erteilen Sie mir die Erlaubnis, den Sohn meiner verstorbenen Schwester so schnell wie möglich aus dem Waisenhaus abzuholen. Meine verstorbene Schwester Bertha flehte mich an, Alfred nicht zu verlassen und seine Mutter zu sein. Es ist schwer für mich, weil mein Herz blutet und ich um Alfred weine.«
»Ich weiß nicht, aus welchen Gründen die Behörden der Volksrepublik Polen den Antrag schließlich abgelehnt haben«, sagt Czesla. Nachdem seine Tante Ida gestorben war, versuchten in Westdeutschland lebende Familienmitglieder auch in den folgenden Jahren, ihm die Ausreise zu ermöglichen – vergebens. Dabei erhielt sein Onkel 1960 eine Einreisegenehmigung für ihn in die Bundesrepublik. »Ich war damals 15 Jahre alt und erfuhr nichts von den Bemühungen meines Onkels«, sagt Czesla. »Ich blieb in Polen.«
Andere deutsche Waisenkinder hingegen zogen nach Westen: Tausende von ihnen wurden in den Nachkriegsjahren in die Bundesrepublik und die DDR überführt. Eine Bedingung war, dass ihre leiblichen Eltern, wenn sie überlebt und ihre Kinder ausfindig gemacht hatten, deren Rückführung beantragten. Im Archiv des Deutschen Roten Kreuzes in Hamburg fand Historikerin Willenborg Briefwechsel zwischen Kindern und Eltern. »Mir geht es hier schlecht, liebe Mutti«, schrieb etwa ein deutsches Mädchen aus Polen an ihre Mutter in Flensburg. »Wenn du kannst, liebe Mutti, dann hol mich doch nach Hause.«
Bevor die Minderjährigen nach Deutschland ausreisen durften, hatten sie sich einer staatlichen »Untersuchung zur Klärung der Abstammung« zu unterziehen. Vor einer Kommission mussten sie beglaubigen, dass sie sich zur deutschen Nation zugehörig fühlten. Für die Ausreise waren auch Kinder vorgesehen, die als schwer erziehbar galten oder infolge jahrelanger Nazipropaganda »vom Hitlergeist durchdrungen waren«, wie es in einem Dekret hieß.
Im April 1948 informierte ein polnischer Schulleiter in Olsztyn seine Vorgesetzten über das »asoziale Verhalten« deutscher Kinder. »Morgens um 8.00 Uhr sagte eine Mädchengruppe: Heute ist der Geburtstag von Hitler. Zunächst dachte ich, das ist ein Scherz.« Später sei ein Schüler aus der 5. Klasse mit Hakenkreuzfahne über den Pausenhof gelaufen. »Am selben Tag haben wir in der Nähe der Schule zwei Hakenkreuze bemerkt, die aus Ziegelsteinen gemacht wurden.«
Doch solche Vorfälle blieben die Ausnahme, auch weil die Warschauer Regierung bereits 1945 eine Richtlinie erlassen hatte, wonach deutsche Kinder schnellstmöglich zu »polonisieren« seien. Zu diesem Zweck wurden Heranwachsende wie Alfred Czesla in den Heimen gemeinsam mit Altersgenossen aus Polen untergebracht und von polnischen Erzieherinnen und Erziehern betreut. »Es war verboten, im Waisenhaus Deutsch zu sprechen, und auch in der Schule wurde es nicht unterrichtet«, sagt Czesla.
Für viele Kinder war die »Polonisierung« mit Überforderung und Leid verbunden. »Gekümmert haben sich polnische Frauen um uns Waisenkinder«, erinnert sich ein Zeitzeuge, der heute in der Bundesrepublik lebt. »Sie wollten kein deutsches Wort hören, Polnisch konnten wir nicht, also waren die Kinder stumm, wenn polnische Personen anwesend waren. Man lehrte uns auf Polnisch ›Im Namen des Vaters und des Sohnes‹ und die polnische Nationalhymne. Bis heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich die Hymne höre.«
Alfred Czesla hatte mehr Glück. »Ich habe schöne Erinnerungen an meine Kindheit im Waisenhaus. Ich habe dort wunderbare Erzieher und Lehrer kennengelernt«, sagt er. Sie halfen ihm, auf eigenen Beinen zu stehen und in Polen ein gutes Leben zu führen. Zugleich habe er seine Wurzeln nie verleugnet, so Czesla. »Ich habe meine deutsche Identität bewahrt und bin stolz darauf.« Czesla studierte in Łódź Soziologie und fand nach seinem Abschluss 1970 einen Job in Olsztyn. Er lernte seine Frau Hanna kennen. Mit ihr bekam er einen Sohn, der heute in Berlin lebt. Czesla promovierte und arbeitete 20 Jahre lang als Assistenzprofessor an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Pädagogischen Universität Olsztyn. Zugleich war er Leiter eines Forschungsprojekts für Sozialanalyse im städtischen Reifenwerk.
»1974 fuhr ich zum ersten Mal in die Bundesrepublik«, sagt Czesla. »Der Zug war voller deutschstämmiger Familien. Das waren Spätaussiedler, die aus dem ehemaligen Ostpreußen endgültig nach Deutschland aufbrachen.« Als er zu den Verwandten in Nordrhein-Westfalen kam, wurde er ermahnt, bloß Deutsch zu sprechen. Die Nachbarn sollten nicht erfahren, dass die Familie aus Masuren stammte.
Als 1989 der Eiserne Vorhang auch in Polen fiel, hätte Czesla die Chance gehabt, in die Bundesrepublik zu übersiedeln. Doch er hing an seiner Heimat. Er wurde Mitbegründer deutscher Minderheitenorganisationen in Masuren und dem angrenzenden Ermland. Insgesamt entstanden 26 deutsche Vereine mit zwischenzeitlich etwa 15 000 Mitgliedern. Czesla schrieb mehr als 100 Beiträge in Zeitschriften aus der Region und saß im Beirat des polnisch-deutschen Jugendzentrums in Olsztyn.
Er reiste häufig in die Bundesrepublik und engagierte sich für den Austausch beider Länder. Als seinen »größten Erfolg« sehe er die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande im Jahr 2016, sagt Czesla. Zuvor hatte er bereits das Goldene Verdienstkreuz der Republik Polen erhalten. Dass sich die jahrelang herrschende PiS-Regierung auf Deutschland als Feindbild eingeschossen hat, bedrückt ihn. Denn darunter leidet nicht zuletzt die deutsche Minderheit im Land. 2022 beschloss der polnische Bildungsminister, das Budget für muttersprachlichen Deutschunterricht an Schulen um umgerechnet gut 8,5 Millionen Euro zu kürzen.
Etwas hin- und hergerissen zwischen beiden Nationen ist Czesla dann doch. Wahrscheinlich definiert er sich deshalb in erster Linie als Masure. Er lebt gern inmitten der Seenlandschaft mit ihren endlos scheinenden Alleen. »Meiner Meinung nach ist der Masure von heute ein Mensch, der zweisprachig ist, die Literatur beider Nationen kennt und daraus die Werte schöpft, die für sein Leben wichtig sind«, sagt er.
Doch der promovierte Soziologe weiß auch, dass es sein Idealbild kaum noch gibt. Die deutsche Minderheit in Masuren werde immer kleiner. »Ich habe das Verschwinden Masurens miterlebt«, sagt Czesla. »In den vergangenen Jahrzehnten bin ich Zeuge eines riesigen Exodus der Deutsch-Masuren geworden.« Nach dem Zweiten Weltkrieg seien zwar rund 170 000 von ihnen in Ermland-Masuren zurückgeblieben, etwa weil sie als Handwerker für den polnischen Staat nützlich waren. Doch bis 1985 hätten rund 130 000 von ihnen ihre Heimat verlassen, so Czesla: »Das macht mich noch heute sehr traurig.«
Czesla hat Frieden mit seiner deutsch-polnischen Identität geschlossen. Doch das Schicksal vieler einstiger deutscher Waisenkinder in Polen ist bis heute nicht aufgeklärt. Noch immer gibt es Menschen, die von ihrer Herkunft nichts wissen. Ein ehemaliges Waisenkind aus einem Heim in Duszniki, auf Deutsch Duschnik, wurde erst nach Jahrzehnten von seiner Familie gefunden. Der Mann lebt heute im Süden Polens. Er hat erst jetzt erfahren, dass er als Kind einer deutschen Familie in Breslau geboren wurde.
Zum Weiterlesen: Teresa Willenborg: Kinder im Schatten des Krieges. Heimerziehung in Polen nach 1945. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2024.
SCHNELLES WISSEN
Was ist das deutsch-polnische Zentrum in Berlin?
Das »Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa«, so der offizielle Name der geplanten Institution, soll in Sichtweite des Kanzleramts gebaut werden – an der Stelle, wo früher die Krolloper gestanden hat. Hier verkündete Hitler am 1. September 1939 den Überfall auf Polen. In der Begegnungs- und Bildungsstätte sollen Dauer- und Wechselausstellungen an die deutschen Gräueltaten in Polen während des Zweiten Weltkriegs erinnern. Das Zentrum wird etwa 140 Millionen Euro kosten.
Viele Deutsche haben Vorfahren, die infolge des Zweiten Weltkriegs aus den Ostgebieten vertrieben wurden. Die Historikerin Gundula Bavendamm und der Historiker Stefan Troebst erklären, wie die Flucht ablief und warum die Integration oft schwierig war.
Ein Interview von Felix Bohr und Solveig Grothe
SPIEGEL: Frau Bavendamm, Herr Troebst, rund 14 Millionen Deutsche flohen infolge des Zweiten Weltkriegs und der NS-Terrorherrschaft aus den einstigen Ostgebieten des Reichs oder wurden vertrieben. Können Sie sagen, wie viele Familien es heute in Deutschland gibt, die durch ihre Vorfahren von dem Thema unmittelbar betroffen sind?
Bavendamm: Ungefähr ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung von heute ist familiär mit dieser Thematik mehr oder weniger eng verbunden. Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung hier in Berlin ist dafür ein Seismograf. Fast jeden Tag besuchen Menschen unser Haus mit dem Anliegen, mehr über das Schicksal ihrer Vorfahren zu erfahren.
SPIEGEL: Haben Sie selbst Fluchtgeschichten in Ihren Familien oder Ihrer Umgebung erlebt?
Troebst: Ich lebte als Kind in den Sechzigerjahren in einem württembergischen Dorf, das sozial unterteilt war in die Alteingesessenen und die überwiegend aus Böhmen neu hinzugekommenen Vertriebenen. Sie hatten häufig tschechisch klingende Namen, waren katholisch und als Facharbeiter in der Metall- und Glasindustrie tätig. Die Einheimischen waren protestantisch und vor allem Handwerker und Bauern. Die Alteingesessenen engagierten sich im Schützen- oder Wanderverein, die Vertriebenen in einem Trachtenverein. Im Dorf wurden sie meist als Flüchtlinge bezeichnet. Das galt als Schimpfwort. In meiner Grundschule kursierte ein diskriminierender Witz: »Sag mal einen ein Satz mit Flüchtling und Stalingrad.«
SPIEGEL: Wie war die Antwort?
Troebst: »Im Garten stand ein Kopfsalat, ein Flüchtling stahl ihn grad.«
Bavendamm: