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Vernetzte Versorgung ist heutzutage ein unverzichtbares Thema, um Lösungsansätze für Qualitäts- und Effizienzprobleme im Gesundheits- und Sozialsystem zu ermöglichen. Dennoch wird immer noch mit unkoordinierten Einzelmaßnahmen auf Schnittstellenprobleme zwischen den Sektoren reagiert, sodass ein übergeordnetes Konzept mit optimierten Steuerungswegen vermisst wird. Vor diesem Hintergrund wird im Themenband durch namhafte Autoren die bestehende Versorgungslage in Deutschland analysiert, um auf dieser Basis konkrete Lösungsansätze wie MVZ, Ärztenetze, hausarztzentrierte Versorgung und Gesundheitsregionen hinsichtlich Konzeption, erzielter Erfolge und bestehender Probleme zu erörtern. Der Themenband bietet Verantwortlichen in versorgungspolitischen Institutionen und Hochschuleinrichtungen sowie allen Interessierten einen umfassenden und zukunftsweisenden Einblick ins Thema und zeigt auf, welche vernetzten Versorgungsprozesse nach wie vor Fragen aufwerfen und welche passenden Wege für alle Akteure lösungsorientiert umgesetzt werden können. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Volker Amelung!
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Vorwort (Volker Amelung)
Einleitung
Der Untersuchungsgegenstand: Von der Segmentierung des Gesundheitssystems zu Ansätzen der vernetzten Versorgung
(Johanne Pundt)
Die aktuelle Ausgangssituation: drei Positionen
1 Innovationsfonds: Fördermittel ausgegeben – Mission erfüllt?
(Dieter Cassel; Klaus Jacobs)
1.1 Wettbewerb als Innovationsmotor in der GKV
1.2 Innovationsfonds: Durchbruch oder korporatistische Rolle rückwärts?
1.3 Förderpraxis des G-BA im Jahr 2016
1.4 Selektivvertraglicher Innovationswettbewerb statt korporatistische Innovationssteuerung
1.5 Innovationswettbewerb als ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe
2 Was bedeutet die Einrichtung des Innovationsfonds gem. §§ 92a und 92b SGB V für die Entwicklung integrierender Versorgungsformen in Deutschland?
(Stefan G. Spitzer)
2.1 Zum Begriff und zur Historie der Integrierten Versorgung
2.2 Förderung neuer Versorgungsformen aus dem Innovationsfonds
2.3 Innovationsfonds und integrierende Versorgungsformen
2.4 Innovationsfonds als Herausforderung verstehen
2.5 „Besondere Versorgung“ gem. § 140a SGB V
2.6 Modellvorhaben gem. §§ 63 ff. SGB V – eine vernachlässigte Versorgungsform mit Potenzial
2.7 Vergaberecht
2.8 Verbesserung der Effizienz und Effektivität durch sektorenübergreifende gesundheitliche Versorgung
2.9 Welche Perspektive hat die sektorale Versorgung?
2.10 Über die bessere Verzahnung der sektoralen Leistungserbringung zur Überwindung der sektoralen Trennung
2.11 Fazit
3 Integrierte Versorgung – Warum kommen die Konzepte so schleppend voran?
(Herbert Rebscher)
3.1 Zum Bedingungsrahmen
3.2 Herausforderungen für ein Konzept der vernetzten Versorgung
3.3 Das Wettbewerbskonzept
3.4 Fazit
Probleme der Player, Kunden und Anbieter
4 Die Rolle des Patienten in der vernetzten Gesundheitsversorgung
(Oliver Gröne; Oana Gröne)
4.1 Einleitung
4.2 Konzeptionelle Klärung: ein dreidimensionales Modell der Patientenbeteiligung
4.3 Argumente für die Patientenbeteiligung: Ethik, Ergebnisqualität, Organisationales Lernen
4.4 Wie lässt sich Patientenbeteiligung messen?
4.5 Umsetzung der Patientenbeteiligung in der Versorgungspraxis
4.6 Fazit und Ausblick
5 Anbieterprobleme – ein Bericht aus der Praxis der Vernetzung
(Michael Philippi)
5.1 Der Vernetzungsbegriff: Worüber reden wir?
5.2 Der Vernetzungsgrad im deutschen Gesundheitssystem: Einordnung und Ursachenforschung
5.3 …und es gibt sie doch: Ausprägung vernetzter Versorgung
5.4 Fazit und Ausblick
Lösungsansätze der Praxis: Konzepte, Erfolge, Probleme
6 Gesundheitsregionen in Deutschland
(Josef Hilbert; Maren Grautmann; Petra Rambow-Bertram; Uwe Borchers)
6.1 Gesundheit: Wirtschaftsfaktor und Zukunftsbranche
6.2 Kräfte des Aufwinds: Sektorenübergreifend vor Ort vernetzen und Innovationen fördern
6.3 Vielfalt und Engagement: ein Blick in das Innenleben von Gesundheitsregionen
6.4 Innovationsförderung braucht Ausdauer
6.5 Zusammenfassung
7 Gesundes Kinzigtal – Showcase für eine stetige Weiterentwicklung vernetzter regionaler Versorgung
(Helmut Hildebrandt; Christian Daxer; Saskia Hynek; Bianca Schmieder; Janina Stunder)
7.1 Gesundes Kinzigtal – integrierte Versorgung auf der Basis einer Budgetmitverantwortung
7.2 Evaluationsergebnisse: Erfolg bestätigt
7.3 Drei Beispiele für den Umgang mit Herausforderungen und der Weiterentwicklung
7.4 Fazit und Ausblick
8 Potenziale von MVZ an der Schnittstelle von ambulanter und stationärer Versorgung
(Helge Schumacher; Alexandra Meyer)
8.1 Einordnung der Entwicklung von MVZ
8.2 Rechtliche Rahmenbedingungen im zeitlichen Verlauf
8.3 Rolle der MVZ im Versorgungskontext
8.4 Potenziale im Hinblick auf die aktuellen demografischen Entwicklungen
8.5 Ausblick
9 Praxisnetze: Stand der Anerkennung und Entwicklungschancen
(Bernhard Gibis; Susanne Armbruster; Matthias Hofmann)
9.1 Veränderungsfaktoren für die vertragsärztliche Versorgung
9.2 Gesetzlicher Hintergrund
9.3 Status quo
9.4 Ausblick
10 Hausarztzentrierte Versorgung – Evaluationsergebnisse aus Baden-Württemberg
(Gunter Laux)
10.1 Hintergrund und Fragestellung
10.2 Evaluationsmethoden
10.3 Ergebnisse
10.4 Fazit
11 Vor- und Nachteile des Belegarztwesens
(Ursula Hahn)
11.1 Konstitutive Merkmale und Status quo des Belegarztwesens
11.2 Versorgung durch Belegärzte aus Patientenperspektive
11.3 Stationäre und ambulante Flächendeckung des Belegarztwesens
11.4 Finanzielle und leistungsbezogene Eckdaten für Akteure – und systemische Perspektive
11.5 Heterogene Belegarztlandschaft – Marginalisierung und „echte Versorger“
11.6 Fazit
12 Vernetzte Versorgung neu denken – vom Fall zum Feld: das Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe
(Stefan Bestmann)
12.1 Ein Blick in die real existierende Praxis
12.2 Komplexität des Alltags als Ausgangslage
12.3 Konzipierungen einer gelungeneren Kinder- und Jugendhilfe
12.4 Aufstellung eines Jugendamtes nach dem Fachkonzept Sozialraumorientierung
12.5 Ausblick: unabdingbarer Wandel in der Steuerung und Finanzierung
Nachlese
Vernetzte Versorgung – Lösung für Qualitäts-und Effizienzprobleme in der Gesundheitswirtschaft?
(Ilona Köster-Steinebach)
Anhang
Autoren
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
VOLKER AMELUNG
Mit besser vernetzten Versorgungsstrukturen und -prozessen ließen sich erhebliche Qualitäts- und Effizienzreserven im Gesundheitswesen heben. Das gilt in der Wissenschaft seit Jahren als unstrittig. Die Umsetzung dieser Erkenntnis in die Praxis schreitet gleichwohl nur sehr langsam voran, wie in Teil I des vorliegenden Buchs aufgezeigt wird.
Kaum ein Bereich ist so stark von Anbieterinteressen geprägt wie die Gesundheitswirtschaft. Während in anderen Branchen die Kundenbedürfnisse Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Geschäftsprozesse sind, endet der Service im Gesundheitswesen vielfach an der Türschwelle von Krankenhaus, Praxis, Reha- oder Pflegeeinrichtung. Das ist weniger dem einzelnen Arzt oder der einzelnen Einrichtung vorzuwerfen, sondern vielmehr Ergebnis von Pfadabhängigkeiten, die sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt haben. Einmal hochgezogen, sind die Mauern zwischen den Sektoren nur schwer zu durchbrechen. Die Rahmenbedingungen, denen die Akteure unterliegen, wirken geradezu wie „Kontra-Anreize“ für mehr Integration, Koordination und Vernetzung:
Geringer Handlungsdruck für die Akteure
Die rechtliche und finanzielle Situation ist insbesondere für die ärztlichen Leistungserbringer nach wie vor komfortabel. Für viele, die im Status quo ihr gutes Auskommen haben, besteht kein Anreiz, sich zu verändern und den Mehraufwand in Kauf zu nehmen, den neue Versorgungsformen häufig mit sich bringen. Daraus resultiert auch die Frage, wie die Bedingungen gestaltet sein müssen, damit vernetzte Versorgung für Ärzte attraktiver wird. Ansonsten wird sie immer eine Nische für Idealisten bleiben.
Hohe Komplexität der Vergütungssysteme
Dass die einzelnen Sektoren jeweils eigenen, hochkomplexen Vergütungslogiken unterliegen, trägt zur Stabilisierung der Sektorengrenzen bei. Konsequente Formen der sektorenübergreifenden und multiprofessionellen Zusammenarbeit stoßen spätestens bei Vergütungsfragen an ihre Grenzen. Bestes Beispiel dafür ist die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV), bei der rund vier Jahre nach Novellierung des § 116b SGB V noch heute viele Fragen offen sind, nicht zuletzt hinsichtlich des Bereinigungsverfahrens.
Hohes Maß an Intransparenz
Aufseiten der Patienten herrscht ein hohes Maß an Intransparenz bezüglich Leistungsspektrum und -qualität. Hier wäre es auch Aufgabe der Leistungserbringer, eine weniger paternalistische Haltung einzunehmen, die Eigenverantwortung der Patienten zu stärken und sie stärker in medizinische Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Überregulierung des Marktes
In einem offenen Markt würde ein freier Wettbewerb herrschen und in der Folge auch die Kunden- bzw. Patientenorientierung zunehmen. In der Realität ist das System jedoch extrem reguliert und der Zugang für neue Marktteilnehmer systematisch abgeriegelt. Das führt nicht nur dazu, dass die ausgeprägte Anbieterorientierung bestehen bleibt, sondern wirkt sich auch generell bremsend auf die Innovationskraft des Systems aus.
Vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen kann es nicht erstaunen, dass das System träge ist und Veränderungen, die aus Versorgungssicht dringend nötig wären, nicht stattfinden. Wir müssen uns also fragen, welche Optionen uns offenstehen, um das System im Sinne einer besseren Vernetzung und mehr Patientenorientierung zu modernisieren.
Ordnungspolitisch betrachtet wäre echter Wettbewerb das Mittel der Wahl, um Anreize für mehr Dynamik im System zu setzen. Das würde auch die Nutzung von Preismechanismen einschließen, auf die wir im deutschen Gesundheitswesen – anders als im internationalen Umfeld – bisher vollständig verzichtet haben. Doch so richtig der marktwirtschaftliche Ansatz in anderen Branchen ist, so sehr darf bezweifelt werden, dass die Gesellschaft bereit ist, die vielfältigen Konsequenzen echten Wettbewerbs im Gesundheitswesen zu tragen.
Folgerichtig hat der Gesetzgeber deshalb auf eine Second-Best-Lösung zurückgegriffen: Der Innovationsfonds soll neue, vernetzte Versorgungsformen fördern, die das Potenzial haben, in die Regelversorgung übernommen zu werden. Ob die Konstruktion des Innovationsfonds dazu geeignet ist, einen nennenswerten Innovationsschub auszulösen, wird in Teil I des vorliegenden Buchs ebenfalls kritisch diskutiert. Versteht man den Innovationsfonds als lernendes System, können die unterschiedlichen Perspektiven darauf einen wertvollen Beitrag leisten, um Fehlentwicklungen vorzubeugen und rechtzeitig nachzusteuern.
Das Spannungsfeld, in dem sich Kunden und Anbieter respektive Patienten und Leistungserbringer begegnen, beleuchten die Beiträge in Teil II. War man selbst einmal Patient oder versetzt man sich in dessen Lage, wird schnell deutlich: Der Großteil der Konflikte, die im Gesundheitswesen ausgetragen werden, hat für den Patienten nur marginale Relevanz. Was ihn interessiert, sind der ganzheitliche Blick auf seine gesundheitliche Situation und durchgängige Versorgungsketten über alle Sektoren und Institutionen hinweg.
Immerhin gibt es auch Licht am Horizont, wie die Beiträge in Teil III zeigen. Die Best-Practice-Beispiele verdeutlichen, dass auf vielen unterschiedlichen Ebenen gute Ansätze vorhanden sind und ein langer Atem letztendlich doch einen Unterschied machen kann – und zwar gleichermaßen für Patienten, Leistungserbringer und Effizienz! Nicht zuletzt weisen einige der Texte in diesem Teil auch über die engen Grenzen des Gesundheitswesens hinaus. Vernetzung wird hier nicht nur als Überwindung von Sektoren- und berufsständischen Grenzen verstanden, sondern im Sinne eines Zusammendenkens von Healthcare und Social Care. Diese Sichtweise wird in Zukunft noch erheblich an Bedeutung gewinnen. Zudem werden weitere Dimensionen wie Klimawandel, Migration und Bildung in den Diskurs über eine zukunftssichere Gesundheitsversorgung einfließen.
Ich freue mich, dass die Diskussion rund um neue Versorgungsformen aktuell wieder mehr Auftrieb bekommen hat. Die Frage, die uns dabei immer leiten sollte, lautet: Wie schaffen wir es, den Patientinnen und Patienten die bestmögliche Versorgung anzubieten? Im Mittelpunkt steht demnach stets die Qualität der Versorgung – die Effizienz folgt daraus automatisch, denn eine Wahrheit hat sich meiner Erfahrung nach bisher noch immer bestätigt: Es gibt nichts Teureres als schlechte Versorgung und nichts Günstigeres als gute Versorgung.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre und die nötige Inspiration, in Ihrem beruflichen Umfeld einen Beitrag für vernetzte Versorgung zu leisten.
VOLKER AMELUNG
Professur für internationale Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover; Vorstandsvorsitzender, Bundesverband Managed Care e. V. (BMC)
JOHANNE PUNDT
Die Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Die Altersstruktur verschiebt sich deutlich zugunsten der Älteren und gleichzeitig nimmt in zahlreichen Regionen die Bevölkerungszahl ab. Etliche Infrastrukturangebote existieren nicht mehr wie noch vor ein paar Jahren oder wurden massiv verringert. Hinzu kommt die zunehmende Leistungsvielfalt im Sozial- und Gesundheitswesen: Die in dieser Vielfalt fehlende Verzahnung der Schnittstellen beeinträchtigt insbesondere eine effektive Koordinierung der Versorgungs- und Betreuungsprozesse über die verschiedenen Leistungsbereiche hinweg. Aufgrund der unzureichenden Informationsflüsse steht die effektive Verzahnung der Sektoren im Zusammenhang mit einer Stärkung der Patientenorientierung und Qualitätsverbesserung schon seit Jahrzehnten auf der gesundheitspolitischen Agenda (vgl. z. B. Gutachten des SVR: SVR, 2001; 2003; 2007; 2009; 2012; 2014 sowie Bormann et al., 2013; HBS, 2013; Köster-Steinebach, 2016). Eine Abstimmung von ambulanter und stationärer Versorgung findet also i. d. R. nicht statt und verschärft die genannten Versorgungsprobleme auf dem Rücken der Patienten. Aufgrund der „historisch gewachsenen Abschottung der Versorgungsbereiche“ war und ist Integration bis heute kein „vorrangiges Ziel“ der beteiligten Akteure, wie Rosenbrock und Gerlinger (2014, S. 393 ff.) pointiert feststellen. Denn
„sowohl Leistungserbringer als auch Kostenträger (…) orientieren sich stark an ihren finanziellen Eigeninteressen. Die Verbreitung von Wettbewerbsmechanismen in der GKV (…) und der dadurch erhöhte ökonomische Handlungsdruck haben dieses Verhalten weiter verstärkt“ (Rosenbrock/Gerlinger, 2014, S. 409).
Diese Entwicklung wird auch durch die Herausgeber des Krankenhaus-Reports (vgl. Klauber et al., 2016) bestätigt. Die ineffiziente Konkurrenz, die darauf basiert, dass der Anreiz für die Leistungserbringung nur dort gegeben ist, wo sie am höchsten vergütet wird, wird im Krankenhaus-Report als Folge mit schwerwiegenden Wirkungen auf die Versorgung angemahnt. Neben Mehrfachabrechnungen werden auch „Behandlungsfehler, unkoordinierte (Mehrfach)Diagnostik und Therapie (…), unangemessene Mengenausweitungen, nicht bedarfsgerechte Konzentration der Angebote auf wirtschaftlich attraktive Leistungen“ als Auswirkungen der Sektorentrennung unterstrichen (AOK Bundesverband, 2016).
Fest steht damit, dass trotz diverser gesetzgeberischer und auch folgerichtiger Versorgungsmaßnahmen die tradierten sektoralen Strukturen nicht mehr adäquat ausgerichtet sind (vgl. auch Wambach/Lindenthal, 2015). Zudem veranlassen die unveränderten Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowie die daraus resultierenden Versorgungsbrüche die Autoren des Krankenhaus-Reports dazu, von einem „klaren Steuerungsdefizit“ und einem „hohen Grad an Intransparenz“ (Klauber et al., 2016, S. XVI) zu sprechen. Dass dringende Notwendigkeit besteht, neue Ansätze und Lösungen in Richtung sektorenübergreifender, interdisziplinärer und multiprofessioneller Versorgung zu etablieren, ist im Grunde offensichtlich und in zahlreichen Publikationen nachzulesen (vgl. z. B. Hellmann/ Eble, 2009; Reimers, 2013; Cassel/Jacobs, 2015; Straub, 2016).
Erste Schritte zur Überwindung der Fragmentierung im ambulanten und stationären Bereich, die sich der Behandlungskontinuität ansatzweise angenommen haben, gibt es bereits (vgl. Schreyögg et al., 2013; GAPSY, o. J.; Knappschaft, o. J.). Aber auch hier wird im Hinblick auf die Schnittstellenprobleme oft „mit Einzelmaßnahmen reagiert“, die keinem „übergeordneten Konzept“ im Sinne aller Beteiligten folgen (Klauber et al., 2016, S. 5). Zu vielen dieser Steuerungselemente liegen immer noch keine oder nur unzureichende Ergebnisse vor. Entweder wurden diese Maßnahmen nicht evaluiert oder aber die Evaluationen erfüllen nicht die notwendigen wissenschaftlichen Kriterien. Aus diesen Gründen hat nach wie vor folgender Status quo der Integrierten Gesundheitsversorgung (IV) Relevanz:
„However, in many high income countries integration of services is hampered by the fragmented supply of health and social services as a result of specialisation, differentiation, segmentation and decentralisation. Fragmentation results in suboptimal care, higher cost due to duplication and poor quality of care.“ (Valentijn et al., 2013, S. 2)
Vergegenwärtigt man sich die Maßnahmen und den Rechtsrahmen der letzten zwei Jahrzehnte wird deutlich, dass zwar schon Weichen gestellt und lohnenswerte vernetzte Versorgungsschritte in die Wege geleitet wurden, aber dennoch strukturelle und steuerungsbezogene Veränderungen vonnöten sind (vgl. Schreyögg et al., 2013, S. 112 f.):
1997: Zweites Neuordnungsgesetz der GKV (2. GKV-NOG)
Ziel war es, die medizinische Versorgung auf Grundlage von sogenannten Modellvorhaben (§ 63 SGB V) und spezifischen Strukturverträgen (§ 73a SGB V) weiterzuentwickeln, sodass eine intensivere Vernetzung von niedergelassenen Ärzten und stationären Einrichtungen erstmals gefördert wurde. Zusätzlich sollten Handlungsmöglichkeiten in der ambulanten Versorgung (durch § 140a–d SGB V für integrierte Verträge) für Ärzte und Krankenhäuser entstehen, die eine leistungsübergreifende Versorgung gewährleisten sollten.
Dieses gelang danach zunächst über zahlreiche „pragmatische Verträge“, die wirtschaftliche Vorteile auf beiden Seiten (Krankenkassen und Leistungserbringer) erzielten (Beispiel: Endoprothetik oder ambulantes Operieren, vgl. Härter/ Koch-Gromus, 2015).
2002: Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)
Ziel war die Schaffung einer Rechtsgrundlage für strukturierte Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programme/DMP), um im Kern eine möglichst flächendeckende Versorgung von chronisch kranken Versicherten der GKV zu erreichen. Ebenfalls waren mit dem GSG sowohl ein strukturierter als auch sektorenübergreifender Behandlungsablauf sowie eine verbesserte Patientenkooperation beabsichtigt, um den Patienten eine leitlinienbasierte und optimal vernetzte Behandlung zu ermöglichen. Zunächst starteten wenige Diagnosen, 2006 folgten weitere DMPs (vgl. Härter/Koch-Gromus, 2015).
2003: GKV-Modernisierungsgesetz (GMG)
Ziel bei der Einführung des GMG war es, Selektivverträge zur hausarztzentrierten und Integrierten Versorgung nach §§ 73b und 140a ff. SGB V zu etablieren, sodass die inhaltliche Definition der Sektorenintegration bestehen bleibt, aber um die interdisziplinär-fachübergreifende Versorgungsmöglichkeit innerhalb eines Sektors erweitert wird. Vor der Einführung des Gesetzes war über die kollektivvertragliche Steuerung ausschließlich eine Top-down-Orientierung gegeben mit verhältnismäßig wenig Spielraum für wettbewerbliche Entwicklungen sowie Wege der Patientenorientierung. Dieses schon lange vorherrschende Phänomen wurde mehrfach mit Über-, Unter- und Fehlversorgung (vgl. SVR, 2001) und insbesondere von gesundheitsökonomischer Seite angemahnt (vgl. Cassel et al., 2006).
2004: neu formulierter § 140a–d SGB V
Auf Basis des GMG wurde der § 140a–d vom Grundsatz der Beitragssatzstabilität befreit. Das Ziel lag darin, 1 % der Gesamtvergütung im GKV-System als Anschubfinanzierung für die Integrierte Versorgung bis 2008 zur Verfügung zu stellen, sodass ein erfolgreicher Zeitabschnitt der engeren Verzahnung innerhalb der gesundheitlichen Versorgung beginnen konnte (vgl. Grothaus, 2009).
Der hierdurch ausgelöste Aufschwung hat sich mit Auslaufen der Förderung aber nicht fortgesetzt. Die weiteren Modifizierungen zeigen, dass Krankenkassen danach Verträge mit berechtigten Leistungserbringern oder deren Gemeinschaften schließen können, wie z. B. Krankenhausträger, Pflegeeinrichtungen und Praxiskliniken (vgl. § 140a Abs. 3 SGB V). Um die Vertragsprozesse transparenter zu gestalten, wurde bei der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) eine Regierungsstelle eingerichtet. Dort erhielten Leistungserbringer (Vertragsärzte und Krankenhäuser) Einzel- und Sammelauskünfte zu abgeschlossenen Verträgen und den daraus resultierenden Abzugsbeträgen. Die Integrationsverträge sind klassische Vertreter der Einzelverträge, sodass sich die Kräfte eines Markts entfalteten, der sich an Nachfrage und Angebot orientiert (vgl. Grothaus, 2009). Diesen Möglichkeiten bzw. Erleichterungen, Konzepte zur IV zu etablieren, standen aber auch Hindernisse entgegen, die sich teilweise auf Institutionen bezogen, wie es sich z. B. in der weiterhin dominierenden Regelung der sektoral organisierten Versorgung im Hinblick auf Abrechnung oder Wirtschaftlichkeitsprüfung äußert. Hindernisse begründeten sich auch auf Konkurrenzen wie z. B. im Wettbewerbsrecht.
2007: GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)
Ziel bei der Einführung des GKV-WSG war die Einbindung der Pflegeversicherung, der pharmazeutischen Industrie und der Medizinproduktehersteller, die als weitere IV-Vertragspartner zugelassen werden sollten. Außerdem wurde das SGB V um „Hausarztzentrierte Versorgung“ (HzV) in § 73b erweitert. Letztere Ergänzung sollte z. B. mit fachärztlichen Selektivverträgen nach § 73c und weiteren Versorgungsformen zu einer übergreifenden Gesamtversorgung beitragen, um einen umfassenden, populationsorientierten Ansatz im Gegensatz zum traditionellen anbieter- und sektorenbezogenen Weg zu festigen (vgl. Härter/Koch-Gromus, 2015). Berücksichtigt man auch Rückschläge in Richtung IV, so können die restriktiveren Vorgaben der Aufsichtsbehörden erwähnt werden, die weitere Umsetzungen innovativer Versorgungsprojekte beeinträchtigten. Dies führte dazu, dass die Krankenkassen daraufhin zurückhaltender in Bezug auf die Finanzierung neuer IV-Modelle handelten (vgl. Härter/Koch-Gromus, 2015). Auch der SVR zieht dazu Bilanz und schlussfolgert:
„Da die integrierten Versorgungsformen zur Regelversorgung gehören, sieht das Gesetz bei den entsprechenden Projekten – im Unterschied zu den Modellvorhaben nach §§ 63–65 und den strukturierten Behandlungsprogrammen nach § 137f–g – keine obligatorische Evaluation der Programme bzw. Netze vor. Wo dies freiwillig geschieht, deuten selbst die publizierten Ergebnisse nicht auf den angestrebten Durchbruch zu einer effizienteren oder effektiveren Patientenversorgung hin. Es existiert an den Schnittstellen der verschiedenen Leistungssektoren weiterhin ein beachtliches, nicht ausgeschöpftes Rationalisierungspotential (…)“ (SVR, 2012, Abschnitt 39).
Als weitere Maßnahmen im GKV-WSG sollen folgende aufgeführt werden:
Telemedizinische Versorgungskonzepte
konnten durch die GKV gehäuft über IV-Verträge ermöglicht werden. Das Ziel lag darin, über telekommunikative Anwendungen die räumliche oder zeitliche Distanz zwischen Arzt und Patient oder zwischen den Leistungserbringern direkt zu überbrücken, da hoher Bedarf an innovativen Lösungen vorlag (z. B. über das Monitoring klinischer Parameter oder der Medikationsadhärenz bei chronisch kranken Patienten, über die Unterstützung der Akutversorgung durch regionale Schlaganfallnetzwerke sowie über die Vermeidung von Therapiebrüchen bei Sektorenübergängen, z. B. nach stationärer Entlassung) (vgl. DGTelemed, 2007)
Durch
Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung
(SAPV) sollten Versicherte der GKV, die eine unheilbare und lebensverkürzende Erkrankung haben, ein rechtlich verankerter Anspruch auf zusätzliche Versorgungsunterstützung gewährt werden. Dieser muss ärztlich verordnet und durch die Komplexität der Behandlungssituation begründet sein (vgl. Härter/Koch-Gromus, 2015).
2012: Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der GKV (GKV-VStG)
Mit der Einführung des GKV-VStG wurde das Ziel verfolgt, mit umfassenden Schritten eine zukunftsweisende, flächendeckende Versorgung zu sichern. Dazu zählten z. B. die Möglichkeit einer Anerkennung sowie Förderung von Arztnetzen oder eines sektorenverbindenden Versorgungsbereichs– die ambulante spezialfachärztliche Versorgung nach § 116b SGB V (BT-Drs., 2011). Mit diesem Gesetz wurden verbindliche Versorgungsziele und Qualitätsanforderungen verfasst, die z. B. von professionellen Praxisnetzen erfüllt werden müssen.
2015: GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG)
Das Ziel des GKV-VSG bestand darin, durch einen erneuten Anlauf zur Stärkung innovativer Versorgungsmodelle beizutragen, um durch spezifische Maßnahmen eine bedarfsgerechte, flächendeckende und gut erreichbare medizinische Versorgung auf hohem Niveau zu erreichen (vgl. BT-Drs., 2015, S. 1). Dazu zählen u. a. die Flexibilisierung und Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Tätigkeit in der vertragsärztlichen Versorgung z. B. durch die Förderung der Versorgungsorientierung der Vergütungsregelungen, die angemessene Vergütung der Leistungen der Hochschulambulanzen gem. § 117 SGB V, die Verringerung der Wartezeiten auf Facharzttermine sowie größerer Gestaltungsspielraum der Krankenkassen insbesondere beim Abschluss von Verträgen im Wettbewerb (vgl. BT-Drs., 2015, S. 1 f.).
Die Bundesregierung hat das GKV-VSG auch mit der Überschrift „Innovationsförderung“ (IGES, 2015) versehen und meint das Instrument eines Innovationsfonds, der über den Gesundheitsfonds und die gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird. Der Bundesgesundheitsminister betont: „Mit dem Innovationsfonds sollen gezielt Projekte gefördert werden, die neue Wege in der Versorgung beschreiten“ und die über die bisherige Regelversorgung der GKV hinausgehen (Pressemitteilung des BMG vom 17.12.2014).
„Beim Gemeinsamen Bundesausschuss wird ein Innovationsfonds zur Förderung innovativer sektorenübergreifender Versorgungsformen und für die Versorgungsforschung geschaffen, für den in den Jahren 2016 bis 2019 jährlich jeweils 300 Millionen Euro von den Krankenkassen und aus dem Gesundheitsfonds zur Verfügung zu stellen sind“ (BT-Drs., 2015, S. 3).
Mit der Einführung dieses Fonds wurde großes Potenzial erwartet, denn er fördert die Evaluation „neuer Versorgungsformen“ (§ 92a Abs.1 SGB V), sowie wissenschaftliche Versorgungsforschungsprojekte (vgl. § 92a Abs. 2 SGB V sowie GBA, 2016a). Bis zum Sommer 2016 konnten Antragsteller Projektanträge an den Innovationsfonds stellen, über deren Förderung im Herbst 2016 entschieden wurde. Insgesamt konnten somit 29 Projekte aus dem Bereich Innovative Versorgungsformen und 62 Projekte aus dem Bereich Versorgungsforschung zur Förderung ausgewählt werden (vgl. GBA, 2016b).
Insgesamt betrachtet haben damit neue Versorgungsformen in Deutschland unverkennbar an Bedeutung gewonnen. Dennoch dient nicht jede vernetzte Versorgungsinitiative tatsächlich einer „höheren Effektivität bzw. Kosteneffektivität, wie es vom Gesetzgeber eigentlich gefordert wird. Ein Teil der Versorgungsprogramme wird aus anderen Gründen auferlegt“, resümierten bereits Schreyögg et al. (2013, S. 125). Es sollten sich also diejenigen Formen der vernetzten Versorgung behaupten, die folglich positiv evaluiert wurden und die für die Patienten die umfangreichsten Vorteile „im Sinne einer qualitativ hochwertigen, dem Stand der Wissenschaft entsprechenden und dabei wirtschaftlichen Gesundheitsversorgung“ entsprechen (Schreyögg et al., 2013, S. 125). Hierzu sind umfassende und vor allem langfristig angelegte sowie methodisch hochwertige wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich.
Die zuletzt genannte gesetzliche Maßnahme – die Einführung des Innovationsfonds – ist ein passender und zukunftsträchtiger Anlass, die unterschiedlichen Versorgungsstrukturen noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, unter dem Begriff „vernetzte Versorgung“ zu bündeln und verschiedene Sichtweisen der Autoren in den Fokus zu rücken. Dabei werden sowohl auf der Basis der bestehenden Versorgungssituationen und der bisherigen Erfahrungen Bilanz gezogen, als auch Perspektiven für mögliche Weiterentwicklungen im Versorgungsprozess aufgezeigt. Um den skizzierten Entwicklungen und dem damit verbundenen Strukturwandel adäquat zu begegnen, soll der vorliegende Themenband eine umfassende inhaltliche Bandbreite aufzeigen und die verschiedenen Akteure in den unterschiedlichen wissenschaftlichen und praktischen Arbeitsfeldern ansprechen.
Bereits 2013 führen Valentijn et al. im International Journal of Integrated Care aus, dass zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgungskontinuität zwischen den unterschiedlichen Leistungserbringern acht verschiedene Komponenten der Integration Beachtung finden sollten:
horizontale Integration:
Strategien der interdisziplinär-fachübergreifenden Zusammenarbeit von Leistungserbringern innerhalb eines Sektors
vertikale Integration
: Strategien der sektorenübergreifenden Leistungserbringung
Systemintegration
: die Anpassung von Regeln und Richtlinien innerhalb eines Systems
organisatorische Integration
: das Ausmaß zur Koordinierung von Dienstleistungen zwischen verschiedenen Gesundheitseinrichtungen unter Berücksichtigung von Unternehmenskulturen, beruflichen Rollen und Zuständigkeiten sowie unterschiedlichen Ansätzen zur Leistungserbringung, bürokratischen Strukturen, Finanzierungs- und Regulierungsmechanismen
professionelle Integration
: die interdisziplinär-fachübergreifende Zusammenarbeit auf Basis von geteilten Zuständigkeiten, Aufgaben und Verantwortlichkeiten
klinische Integration
: die personenfokussierte Koordinierung unterschiedlicher Gesundheitsdienstleister
funktionale Integration:
die Koordinierung der patientenferneren und externen Bereiche wie Buchhaltung, Kosten- und Leistungsrechnung, Management sowie Informations- und Kommunikationssysteme
normative Integration:
die Entwicklung und Erhaltung eines gemeinsamen Bezugsrahmens, wozu Mission, Vision, Werte und Kultur zwischen Organisationen, Berufsgruppen und einzelnen Individuen zählen (vgl. Valentijn et al., 2013, S. 3 ff.)
Die Umsetzung der aufgeführten Leitprinzipien der IV ist auf der Grundlage unterschiedlicher Rahmenbedingungen nicht leicht, wenn man sowohl der Systemebene (Makrobezug), der fachlichen und organisatorischen Ebene (Mesobezug) sowie der Patienten- bzw. Mitarbeiterebene (Mikrobezug) hinsichtlich der Integration gerecht werden möchte. Dennoch wird in den vorliegenden Beiträgen z. T. an diese acht Integrationskomponenten angeknüpft.
Drei Kapitelblöcke strukturieren die insgesamt zwölf Beiträge, die in Form einer Einstimmung in das Thema von Volker Amelung und einer kritischen Nachlese von Ilona Köster-Steinebach eingerahmt werden.
I) Die aktuelle Ausgangssituation: drei Positionen
Den Auftakt bilden drei Beiträge zur aktuellen Ausgangssituation des Innovationsfonds. Dieter Cassel und Klaus Jacobs beginnen mit einer kritischen Betrachtung dieses „bürokratischen Monstrums“, indem sie mit dem kostspieligen Förderverfahren und der gesamten Innovationsbereitschaft und -fähigkeit ins Gericht gehen und nicht davon überzeugt sind, dass mit dieser Maßnahme tatsächlich im Sinne aller Akteure neue Versorgungsformen kreiert werden. Deshalb wünschen sie sich einen „mutigeren Gesetzgeber“. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen e. V. Stefan Spitzer konzentriert sich in seinem Beitrag ebenfalls auf die Herausforderungen des Innovationsfonds für die IV. Der Autor stellt die Entwicklungsprozesse dar, beschreibt positive Perspektiven und betont gleiche Wettbewerbschancen für Leistungserbringer und -träger. Der Kassenvertreter Herbert Rebscher nimmt im Zuge der solidarischen Wettbewerbsordnung in seinem Beitrag Bezug auf die IV im Hinblick auf die Probleme des selektivvertraglichen Wettbewerbs und nimmt den Standpunkt ein, dass in den komplexen Versorgungszusammenhängen schon viel erreicht wurde, aber erst unter bestimmten Nebenbedingungen ein weiterer „Suchprozess“ im Versorgungsgeschehen zu „optimalen Versorgungslösungen“ führen kann.
II) Probleme der Player, Kunden und Anbieter
Der zweite Themenblock nimmt die Probleme der Player, Kunden und Anbieter im Rahmen der vernetzten Versorgung ins Visier. Oliver und Oana Gröne lassen in ihrem Beitrag die veränderte Patientenrolle im heutigen Versorgunggeschehen Revue passieren und entwickeln daraus spezielle Argumentationen für eine verbesserte Patienteneinbindung (über ein Drei-Dimensionen-Modell und die Bereiche Ethik, Ergebnisqualität, organisationelles Lernen), um dann Wege zur Messbarkeit von Patientenbeteiligung darzustellen. Michael Philippi konzentriert sich zunächst auf die Frage, warum wir überhaupt ein ineffizientes Wettbewerbsgeschehen mit den bekannten gravierenden Wirkungen für die gesundheitliche Versorgung vorfinden und betont die Hemmnisse und Einflüsse, die „Konkurrenzdenken und Zukunftsangst“ forcieren. Aber positive Beispiele der vernetzen Versorgung sind aus seiner Sicht durchaus erkennbar, die von ihm praxisbezogen und detailreich aufgeführt werden. Dennoch lautet sein Fazit: „Die mentalen oder objektiven Barrieren der vernetzten Versorgung in Deutschland sind hoch. Der Handlungsdruck oder die Anreize, diese Barrieren zu überwinden, sind nicht hoch genug.“
III) Lösungsansätze der Praxis: Konzepte, Erfolge, Probleme
Mit sieben Beiträgen im dritten Themenblock möchten die Autoren und Autorinnen Konzepte, Erfolge und Probleme von Lösungsansätzen der Praxis der vernetzten Versorgung darlegen.
Ein Beispiel für innovative Netzwerke sind Gesundheitsregionen. So zieht Josef Hilbert mit seinem Autorenteam eine Zwischenbilanz der Entwicklungen des Netzwerks Deutsche Gesundheitsregionen (NDGR), indem die Autoren im Rahmen der allgemeinen Gesundheitswirtschaft den Fokus auf Wirtschafts-, Struktur-, Technologie- und Arbeitsmarktfragen legen. Sie stellen den Nutzen der engen Zusammenarbeit mit Anwendern aus dem regionalen Versorgungsbereich wie Krankenhäuser, Reha- und Spezialkliniken, Altenpflegeheime, niedergelassene Ärzte sowie ambulante Dienste für die vernetzte Zusammenarbeit heraus. Im Rahmen eines Wettbewerbs des BMBF wurden 2010 und 2011 einige „Gesundheitsregionen der Zukunft“ ausgewählt und gefördert. Trotz z. T. gelungener regionaler Clusterarbeit und hohem sektorübergreifenden Engagement in einzelnen Projekten werden kritische Einschätzungen der Umsetzung bestehender Netzwerkstrukturen und ihrer Akteure formuliert. Diese richten sich einerseits auf politische und verwaltungsbezogene Verantwortlichkeiten, nehmen mangelnde Wissens- und Kommunikationskompetenzen in den Netzen mit auf und bezeichnen andererseits sogar die erbrachten Innovationen als „erfolgreiche Rohrkrepierer“.
Im Gegensatz dazu kann das Autorenteam um Helmut Hildebrandt das Leuchtturmprojekt der schon seit über zehn Jahren positiv entwickelten „Gesundheitswelt Kinzigtal“ präsentieren, das einen optimalen vernetzten Versorgungsweg zwischen Kostenträgern, Leistungserbringern und Versicherten bzw. Patienten gefunden hat. Die beschriebenen Prozesse der sehr gut laufenden Versorgungsprogramme und gelungenen Beispiele einer elektronischen wie praktisch-medizinischen Vernetzung, einer Entfaltung personalisierter Gesundheitsberatung und einer Unterstützung von Selbstmanagement, kann nach Meinung der Autoren auch ohne Weiteres auf andere Regionen übertragen werden. Die rechtlichen Gegebenheiten dafür sind nach §§ 140a ff. vorhanden – es fehlen lediglich zur Umsetzung die passenden couragiert Handelnden auf Leistungserbringer- und Kostenträgerseite.
Helge Schumacher und Alexandra Meyer folgen mit ihrem Beitrag über Potenziale von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die nun schon seit vielen Jahren einen lohnenswerten Weg zur Forcierung der sektorenübergreifenden Kooperationen darstellen. Nach wie vor bieten MVZ auf der einen Seite nicht nur den dortigen angestellten Ärzten etliche Chancen, sondern sind auch für die Patienten von Vorteil, um Redundanzen von Diagnosen und Therapien zu vermeiden, wenn die zunehmende Entwicklung von chronischen Erkrankungen und Multimorbidität in den Blick genommen wird. Auf der anderen Seite kann mit dieser Versorgungsart sogar in ländlichen Regionen der Erhalt der ambulanten Versorgung aufrechterhalten werden, bzw. die Entscheidung der Anbindung an eine Klinik zum Schnittstellenabbau beitragen. Die Autoren identifizieren aber auch kritische Erfolgskomponenten von MVZ, die sie überwiegend unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten subsummieren.
Auch Praxisnetze sollen helfen, die starren Grenzen zwischen den Sektoren zu überwinden und die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern, wie das Autorenteam um Bernhard Gibis erläutert. 54 Praxisnetze sind inzwischen bundesweit (wenn auch nicht in allen KV-Regionen) sozialrechtlich anerkannt. Damit wird deutlich, dass Verbundbildung und Kooperationsförderung auch als eine steuernde Komponente zur verbesserten Versorgung eingesetzt werden können. Sehr anschaulich zielt der Beitrag darauf ab, welcher Mehrwert hinter der Netzversorgung durch eine Neuorientierungsphase im Zuge der gesetzlichen Entwicklung steckt, welche Vielzahl von Versorgungszielen es zu erreichen gilt und welche Netzwerkstrategien zum Erfolg führen, um einer Diskussion um die Sicherstellung der Versorgung – ggf. sogar in Richtung Etablierung fachbereichs- bzw. versorgungsspezifischer Praxisnetze – standzuhalten.
Um bei den Inhalten der ambulanten Versorgung zu bleiben, konzentriert sich Gunter Laux in seinem Beitrag auf die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV). Das ist ein zukunftsweisender Weg den Patienten mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen und die Erfordernisse eines ärztlichen Koordinators, nämlich den Hausarzt, als primärärztlichen Akteur im Versorgungsprozess zu stärken. Der Autor stellt Evaluationsergebnisse der HzV aus Baden-Württemberg vor und bezieht sich auf einen Vertrag zwischen der AOK Baden-Württemberg und der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft (HÄVG) sowie dem MEDI-Verbund. Evaluationen sind in diesem Kontext relevant, um die Versichertenschritte im Hinblick auf Kontakte zu Haus- und Fachärzten, zu Über- und Einweisungen sowie zu Themen der Arzneimittelversorgung zu überprüfen und letztendlich die Behandlungskomplexität im Auge zu behalten. Der Autor kommt trotz einiger methodischer und fehlender inhaltlicher Einschränkungen (keine sozioökonomischen Parameter zur Verfügung) beim Routinedatensatz zu dem Schluss, dass „durch die HZV nicht nur eine qualitativ bessere Versorgung erfolgt, sondern zusätzlich gesundheitsökonomische Vorteile bewirkt werden“.
Ein weiterer Lösungsweg der sektorübergreifenden Versorgung bietet das eher schwindende und aus gesundheitsökonomischer Perspektive vernachlässigte Belegarztwesen, dem sich Ursula Hahn widmet. Sie benennt eindeutige Vor- und Nachteile dieser Versorgungsalternative aus Patienten-, Ärzte- sowie Kliniksicht und zeigt auf, wie das Belegsystem genau funktioniert, wie beispielhafte Vergütungsstrukturen aussehen und wie das Leistungsspektrum zu erhöhen wäre. Ihre Reformvorschläge gegen eine fehlende politisch-institutionelle Einbettung der Versorgungsform runden den Beitrag ab.
Um darzulegen wie eine Neuorientierung im vernetzten Versorgungssystem prinzipiell gelingen kann, wird zum Schluss ein Ansatz aus der Kinder- und Jugendhilfe diskutiert, den Stefan Bestmann „vom Fall zum Feld“ nennt und der ganz bewusst gewählt wurde, da er außerhalb der typischen Behandlungsprozesse des Gesundheitswesens liegt. Dabei spielt aus Sicht des Autors eine passende Organisationslogik mit Steuerungs- und Finanzierungssystematiken sowie handlungsmethodischen Vorgehensweisen eine wesentliche Rolle, damit das breite Spektrum an Abläufen von Vernetzungs- und Koordinationsprozessen im Setting der Sozialen Arbeit Erfolg haben kann. In diesem Kontext wird uns Lesern wieder einmal die Perspektive vor Augen geführt, wie wichtig der Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin und damit konsequenterweise weg von den Eigeninteressen und Interdependenzen ist, hin zur Partizipation und Adressaten- bzw. -Patientengerechtigkeit zu agieren.
Ich hoffe sehr, dass das Buch die Diskussionen des Themas bereichern wird und wünsche mir, dass ihm weitere folgen. Nur so kann eine Fortsetzung der Debatte um eine verbesserte, vernetzte Gesundheitsversorgung im Sinne der Patienten gelingen. Zukünftig wäre es zudem erstrebenswert, den Themenkomplex der Pflegeversorgung nicht unberücksichtigt zu lassen, denn ‚immerhin‘ sind über die erste Welle des Innovationsfonds vier Projekte genehmigt worden, die sich dem Thema Pflege widmen. In den vorliegenden Beiträgen wurde der Pflegebereich leider nicht explizit einbezogen.
Mein besonderer Dank gilt den beteiligten Autoren und Autorinnen für ihre konstruktive und unkomplizierte Kooperation. Ein Herausgeberwerk dieser Art ist immer auf die Mithilfe der Autoren angewiesen, was sehr professionell verlaufen und damit gut gelungen ist. Dennoch muss betont werden, dass jeder Autor in dieser Publikation seine eigene Position zum Thema wiedergibt. Ebenso danke ich meinem Kollegen Peter Michell-Auli, der bei der Konzeption wertvolle Ideen eingebracht und mich auch sonst unterstützt hat.
Mein Dank richtet sich zudem an den Verlag APOLLON University Press und den Lektorinnen Corinna Dreyer und Franziska Riedel, die das Buch aus Lektoratssicht konsequent und geduldig begleitet, wertvolle Anregungen gegeben haben und denen ein weiter Anteil der technischen Erstellung oblag, den sie insgesamt überzeugend umgesetzt haben.
JOHANNE PUNDT
APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen
Literatur
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DIETER CASSEL; KLAUS JACOBS
Mitte Oktober 2016 hat der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) über die Mittelverteilung der in diesem Jahr im Innovationsfonds erstmals zur Verfügung stehenden 225 Mio. Euro für Projekte zu neuen Versorgungsformen entschieden und Anfang Dezember darüber informiert (vgl. Hecken, 2016). Unter den eingereichten 120 Projekten der ersten Förderwelle mit einem Antragsvolumen von 868 Mio. Euro wurden 29 Vorhaben – teilweise mit gekürztem Volumen – ausgewählt. Das Volumen der Anträge zu der ebenfalls schon 2016 ausgeschriebenen zweiten Förderwelle beläuft sich auf weitere 485 Mio. Euro; hierüber wird 2017 entschieden. Obwohl die mehrfache „Überzeichnung“ der verfügbaren Fördermittel und deren vollständige Verausgabung im ersten Förderjahr nicht als Erfolgsmaßstab des Innovationsfonds gelten können und dürfen, wird bei der Präsentation dieser „Erfolgsmeldungen“ bisweilen geradezu der Eindruck erweckt, als sei damit bereits ein substanzieller Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfolgt. Dies ist der Anlass, um noch einmal gründlicher auf die ordnungspolitische Problematik dieses Förderkonzepts und seiner möglichen Ergebnisse einzugehen.1
2016 hat die GKV ein denkwürdiges Jubiläum gefeiert: die Einführung der freien Wahl der Krankenkassen vor 20 Jahren. Mit dieser Reform im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes hatte der Gesetzgeber seinerzeit die Weichenstellung in Richtung auf eine wettbewerbliche Orientierung der GKV vollzogen. Allerdings zeigt sich im Rückblick auf die vergangenen zwei Dekaden, dass sich manche der daran geknüpften Hoffnungen oder gar Erwartungen als Illusion erwiesen haben: Immerhin bestand die Chance, dass sich der Kassenwettbewerb Schritt für Schritt zu einem wirksamen Steuerungsinstrument zur Verbesserung von Qualität, Wirtschaftlichkeit und Präferenzorientierung der Gesundheitsversorgung entwickeln würde.
Während sich etwa die Niederlande bei ihrer letzten „großen“ Gesundheitsreform 2006 explizit am gesundheitsökonomischen Konzept des „Managed Competition“ orientiert haben (vgl. Enthoven, 1993; 2008; siehe dazu auch Kap. 1.4.2), ist der Ausbau der „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ der GKV bis heute ein Torso geblieben. Sie wurde zwar einerseits folgerichtig und konsequent in Bezug auf die Wettbewerbsbedingungen auf dem Versicherungsmarkt ausgestaltet – etwa durch die 2009 erfolgte direkte Morbiditätsorientierung des Risikostrukturausgleichs (RSA) –, andererseits aber auf dem Leistungsmarkt nur zögerlich, widersprüchlich und letztlich orientierungslos hinsichtlich der Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung weiterentwickelt.
So ist es dazu gekommen, dass in den versorgungsorientierten Gesetzen der Großen Koalition unter Gesundheitsminister Hermann Gröhe immer noch spezifische Versorgungsprobleme adressiert werden, von denen man eigentlich annehmen sollte, dass sie in einem Gesundheitssystem, das sich selbst gern zu den besten der Welt zählt, längst gelöst sein sollten. Und dies tunlichst nicht nach einheitlichen administrativen Vorgaben des Gesetzgebers oder des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) als dem untergesetzlichen Normgeber der GKV-Selbstverwaltung, sondern durch flexible Vertragsvereinbarungen zwischen den Akteuren vor Ort, die den jeweils spezifischen nachfrageseitigen Bedürfnislagen und angebotsseitigen Gestaltungsmöglichkeiten am besten Rechnung tragen können. Gemeint sind damit beispielsweise die neuen Vorschriften im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) zum Krankenhausentlassmanagement (§ 39 1a)2 oder im Hospiz- und Palliativgesetz zur verbesserten Gesundheitsversorgung von vollstationär versorgten Pflegebedürftigen (§ 119b). In beiden Fällen geht es um klassische Versorgungsprobleme an den Schnittstellen unterschiedlicher Versorgungssektoren (ambulant/stationär) oder Versorgungssysteme (Gesundheits-/Pflegeversorgung): Sie betreffen angesichts von jährlich gut 19 Mio. Krankenhausfällen und mehr als 750 Tsd. Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen jeweils eine Vielzahl von Patienten, ohne dass sich offenbar bis heute probate Versorgungsmodelle etabliert hätten, die auf die ganzheitlichen Versorgungsbedürfnisse aller Betroffenen ausgerichtet wären.
Obwohl einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten vorliegen – verwiesen sei allein auf die zahlreichen Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR-G)3 –, ist davon im Versorgungsalltag hinsichtlich einer Reduktion der teilweise beträchtlichen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsdefizite an den Schnittstellen der Versorgungssektoren wenig zu merken.
Dabei gab es während der vergangenen 20 Jahre durchaus Zeiten, in denen ernsthafte Versuche unternommen wurden, der innovationsfeindlichen „Systemträgheit“ (Hermann/Graf, 2015, S. 38) durch forcierten Vertragswettbewerb entgegenzuwirken und die Idee des versorgungsorientierten Wettbewerbs umzusetzen. Gesetzgeberischer Höhepunkt dieser Phase war das 2004 in Kraft getretene GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), in dem u. a. die Integrierte Versorgung (IV; §§ 140a ff.) vorangebracht wurde. Dies geschah nicht zuletzt durch die zunächst pragmatisch auf drei Jahre angelegte und später noch einmal um zwei weitere Jahre verlängerte „1-Prozent-Pauschalbereinigung“ der ambulanten und stationären Kollektivvergütungen zur Vermeidung von Doppelfinanzierungen, die seinerzeit als „Anschubfinanzierung“ für Integrationsverträge bezeichnet wurde, sowie die Selektivvertragsoptionen der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV; § 73b), der besonderen ambulanten Versorgung (§ 73c) und der ambulanten Versorgung im Krankenhaus (§ 116b).
So viele vertragswettbewerbliche Freiräume hatte es nie zuvor gegeben – allerdings stand dieses „Wettbewerbsfenster“ auch nicht lange so weit offen, denn die rasch verbreitete Enttäuschung über die vermeintlich allzu zögerliche Inanspruchnahme der Selektivvertragsoptionen führte bereits im 2007 verabschiedeten GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) zu einer schrittweisen Rücknahme der wettbewerblichen Versorgungsgestaltung. Sie hält bis heute an, verbunden mit einer „Renaissance“ des Glaubens an die Steuerungsfähigkeit der gemeinsamen Selbstverwaltung, der spätestens schon seit der Jahrtausendwende als endgültig überwunden galt.
Unverändert stark war während dieser Zeit allein die gesundheitspolitische „Wettbewerbsrhetorik“: Mit ihr wurden noch in jedem Koalitionsvertrag mehr wettbewerbliche Freiräume versprochen, ehe man dann in der nachfolgenden Gesetzgebung den plan- und kollektivwirtschaftlichen Akteuren – insbesondere dem G-BA – noch mehr Kompetenzen und Aufgaben übertrug. Und dies erfolgte keineswegs allein im Hinblick auf notwendigerweise einheitliche Regelungen – wie z. B. zur Abgrenzung des solidarisch finanzierten GKV-Leistungskatalogs oder bestimmter Mindestqualitätsstandards –, sondern auch hinsichtlich von Aufgaben, die besser vertragswettbewerblich gelöst werden könnten und sollten.4
Die Tragik dieser „gesundheitspolitischen Springprozession“ ist, dass allenthalben der fälschliche Eindruck entstanden ist, die GKV sei inzwischen weitgehend durch Markt und Wettbewerb gesteuert und geprägt, sodass bestehende Versorgungsmängel und ihre unzureichende Beseitigung dem vermeintlichen Wettbewerb angelastet werden und nach angeblich besser geeigneten zentral-administrativen oder korporatistischen Steuerungsalternativen gesucht wird. Hierfür scheint der neu geschaffene Innovationsfonds zur qualitativen Verbesserung der Patientenversorgung geradezu ein „Paradebeispiel“ zu sein.
Mit dem GKV-VSG ist nun auch der vielfach geforderte und im Koalitionsvertrag vom November 2013 vereinbarte Innovationsfonds Realität geworden (§§ 92a und 92b). Zusammen mit einigen Maßnahmen in diesem Gesetz zur gezielten Förderung von Vertragswettbewerb – insbesondere einer einheitlichen Regelung für alle Selektivverträge5 unter der Bezeichnung „besondere Versorgung“ (§ 140a-neu) und der Begrenzung der präventiven Vertragsaufsicht bei Selektivverträgen (§ 71 (4) und (6) – neu) – bildet der Innovationsfonds ein Förderkonzept der Bundesregierung, mit dem vorrangig die sektorenübergreifende Versorgung in der GKV verbessert werden soll.
Statt dabei konsequent auf die funktionale Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für Selektivverträge und die daraufhin zu erwartende Intensivierung des Vertragswettbewerbs als Entdeckungsverfahren für neuartige Versorgungsformen zu setzen, hat der Gesetzgeber auch noch einen mit insgesamt bis zu 1,2 Mrd. Euro dotierten Fonds geschaffen (jeweils bis zu 300 Mio. Euro für die Jahre 2016 bis 2019, davon drei Viertel für neue Versorgungsformen und ein Viertel für Versorgungsforschung). Aus ihm können sich potenzielle Innovatoren auf dem Antragsweg risikolos, zinsfrei und nicht rückzahlbar finanzieren, falls sie neue Versorgungskonzepte als „Prozessinnovationen“ erforschen, entwickeln und erproben wollen und damit „(…) erkennbare Defizite der sektoralen Versorgung zu überwinden oder zu vermeiden suchen“ (Lauterbach/Spahn, 2014, S. 1 f.).
Dabei sollte klar sein, dass es angesichts der in den letzten Jahren von vielen Krankenkassen erzielten Überschüsse, der allgemein als zufriedenstellend empfundenen wirtschaftlichen Lage des Großteils der Versorger sowie eines anhaltenden historisch niedrigen Zinsniveaus zumindest im ambulanten Sektor primär nicht am Geldmangel liegt, wenn kassen- und versorgerseitige Investitionen in neuartige Versorgungsstrukturen und -prozesse ausbleiben. Dennoch wurde der Ruf nach finanzieller Förderung neuer Versorgungsformen immer stärker, vor allem nachdem die sogenannte „Anschubfinanzierung“ in der selektivvertraglichen Integrierten Versorgung 2004 bis 2008 ausgelaufen war. Der Gesetzgeber hatte es nämlich versäumt, diese aus pragmatischen Gründen eingeführte 1-Prozent-Pauschalbereinigung der ambulanten Gesamtvergütung bzw. der Krankenhausbudgets durch eine wirksame wettbewerbskompatible Bereinigungsvorschrift zu ersetzen, um Doppelhonorierungen selektivvertraglich vereinbarter Leistungen zu vermeiden.
Es verwundert deshalb nicht, wenn der aus Kreisen der Kassen und Versorger, aber auch aus der Versorgungsforschung vehement geforderte Innovationsfonds lebhaft begrüßt wurde und die ausgelobten Fördermittel Begehrlichkeiten geweckt haben. Dies ungeachtet der Tatsache, dass einige bereits im Vorfeld der Gesetzgebung vorgeschlagene Fondsmodelle aus ökonomischer Sicht meist heftig kritisiert und verworfen wurden (Greß, 2010; Jacobs, 2010; SVR-G, 2012, Tz. 395 ff.).6 Die teils euphorische Zustimmung zum Innovationsfonds seitens seiner Befürworter kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ordnungsökonomischen Bedenken fortbestehen und Misserfolge keineswegs ausgeschlossen sind.
Zur Administration der finanziellen Förderung von Innovationsprojekten hat die Gesundheitspolitik nunmehr eine gänzlich neue Förderbürokratie aufgebaut, die per se im Widerspruch zu einer auf Handlungsfreiheit und Ergebnisoffenheit setzenden Innovationskultur steht und von Versorgungsverantwortung in der Praxis weit entfernt ist (Rebscher, 2016). Ihr obliegt nicht nur eine Verteilung der Fondsmittel nach formellen Antragskriterien, sondern auch eine dezidierte inhaltliche Selektion der Förderprojekte, womit ganz offensichtlich eine politisch motivierte Investitions- und Innovationslenkung innerhalb der GKV beabsichtigt ist.
Und da die Entscheidungshoheit bei Gremien liegt, in denen die „gewachsene und bewährte“, weitgehend nach Versorgungssektoren gegliederte GKV-Selbstverwaltung das Sagen hat, stellt der Innovationsfonds im Gegensatz zur gesundheitspolitischen Wettbewerbsrhetorik einen Rückfall in die traditionelle korporatistische Regulierungsstruktur bzw. Governance der GKV dar. Zusammen mit der Fülle der teilweise unvollständigen, unbestimmten, strategieanfälligen und widersprüchlichen Detailregelungen (Jaeckel/Ulrich, 2015; IGES 2015, S. 25 ff.; Neugebauer, 2015) lässt dies für die gewünschte innovationsgetriebene Weiterentwicklung der Versorgung nichts Gutes erwarten.
Die großzügige Dotierung des Innovationsfonds birgt von vornherein die Gefahr der „angebotsinduzierten Nachfrage“ nach Fördermitteln, weil die Antragsteller ihre Projektkosten umso höher ansetzen dürften, je größer das Förderbudget und damit die Förderwahrscheinlichkeit erscheinen. Im Vergleich zum Innovationswettbewerb mit eigenfinanzierten Projekten verursacht der Innovationsfonds also nicht nur relativ hohe administrative „versunkene Kosten“ (Sunk Costs), sondern höchstwahrscheinlich auch eine beträchtliche Fehlallokation in Form von Mitnahme- und Sickereffekten durch „Rent-seeking-Aktivitäten“ (Ulrich et al., 2014, S. 15), die sich in aufgeblasenen Overheads der Patientenversorgung zulasten anderer Gesundheits- und Wirtschaftsbereiche niederschlagen.
Hinzu kommt, dass die gesetzlich vorgeschriebene Rückzahlung der in einem Haushaltsjahr nicht verausgabten Mittel und die zeitliche Begrenzung des Förderprogramms auf vier Jahre im Widerspruch zu markt- und wettbewerblichen Innovationsprozessen stehen, die ein infinites Kontinuum von Innovationen, Imitationen und daraus erneut erwachsenden Innovationen bilden und auf diese Weise die Entwicklung neuer Produkte und Verfahren vorantreiben. Angesichts dessen, dass das BMG zum Abschluss der Förderung eine wissenschaftliche Ergebnisauswertung zu veranlassen und dem Deutschen Bundestag darüber einen Zwischenbericht (2019) und Endbericht (2021) zu erstatten hat, kann man im Innovationsfonds eher ein einmaliges, zeitlich und inhaltlich begrenztes sowie technokratisch angelegtes „Großprojekt“ zur nationalen Bündelung von wissenschaftlichen und versorgungspraktischen Anstrengungen sehen (Bohm/Schräder, 2014, S. 41) als ein ordnungspolitisches Konzept zur Schaffung einer auf Dauer angelegten, dringend notwendigen Innovationskultur im deutschen Gesundheitswesen.7 Von daher muss man die strikte Befristung des Innovationsfonds allerdings befürworten, um diesen „ordnungsökonomischen Irrläufer“ (Jacobs, 2010) so früh wie möglich zu stoppen.
Mit Blick auf die ökonomischen Besonderheiten von Innovationsprozessen sind auch die strikte Abgrenzung zwischen den beiden Förderbereichen „neue Versorgungsformen“ und „Versorgungsforschung“, die engen Vorgaben bei den inhaltlichen Förderkriterien und die damit verbundene Mittelverwendung problematisch. Für „echte“ Versorgungsinnovationen ist ein beträchtliches Maß an Fähigkeiten, Zeit und Geld erforderlich, um aus einer abstrakten Idee eine praxistaugliche und für den Patienten nützliche Versorgungsform zu entwickeln, zu testen und in die Alltagsversorgung einzuführen. Hierzu bedarf es auf allen Stufen neuen Wissens, um Ursachen- und Wirkungszusammenhänge jeglicher Art zu verstehen und sie für praktikable Lösungen von Versorgungsproblemen zu nutzen.
Dieses Wissen erwirbt der Innovator üblicherweise durch projektspezifische („angewandte“) Forschung, die er selbst finanziert und deren Ergebnisse er exklusiv zu nutzen beansprucht.8 Er ist somit nicht nur Produzent des neuen Dienstleistungsprodukts, sondern zugleich sein Erforscher und Entwickler; denn „Versorgungsforschung hat im Grunde immer der zu leisten, der ein konkretes Versorgungskonzept kontrahiert, entwickelt und die Prozesse gestaltet“ (Rebscher, 2013, S. 8). Von daher kann die gleichfalls durch den Innovationsfonds geförderte Versorgungsforschung nicht losgelöst von der Förderung neuer Versorgungsformen gesehen werden: Sie wäre vielmehr in den Förderanträgen nach § 92a (1) zu veranschlagen, was auch für die Kosten der vom Innovator an Dritte vergebenen Forschungsaufträge zu gelten hätte. Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass der Innovator sein exklusives Nutzungsrecht verliert, sobald seine Versorgungsinnovation dauerhaft in die mit dem Begriff „Regelversorgung“ assoziierte Kollektivversorgung aufgenommen wird – ganz abgesehen von der grundsätzlichen Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, dezidiert sektorenübergreifende Versorgungsmodelle in grundsätzlich sektorenspezifisch arbeitende Kollektivvertragsregime zu implementieren.
Die darüber hinausgehende Versorgungsforschung, die generell auf einen „Erkenntnisgewinn zur Verbesserung der bestehenden Versorgung in der GKV“ (§ 92a (2) Satz 1) ausgerichtet sein soll, ist dagegen als versorgungsspezifische „Grundlagenforschung“ anzusehen: Sie zielt thematisch auf bessere Gesundheitsergebnisse bei einzelnen Patienten und in der gesamten Bevölkerung (Klemperer et al., 2015; Schrappe/Pfaff, 2016), hat ihre eigenen Forschungsstrategien und Methoden (Greiner et al., 2014), ressortiert in universitären und nichtuniversitären Forschungseinrichtungen und macht ihre Ergebnisse der Allgemeinheit als „öffentliches“ Gut frei zugänglich. Im Gegensatz zur angewandten Forschung – wie im Sinne der Konzeptentwicklung – ist deshalb gegen die öffentliche Förderung einer „weitergehenden“ Versorgungsforschung nichts einzuwenden. Dazu bedürfte es aber nicht eines gesonderten Innovationsfonds, der zudem sachwidrig aus Beitragsmitteln und nicht aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wird. Aber auch zur Wahrung der wissenschaftlichen Standards und Neutralität bei der Mittelvergabe wäre es sachgerechter gewesen, die Förderung der Versorgungsforschung z. B. bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) anzusiedeln, das ohnehin für 2015–2018 einen 50 Mio. Euro schweren „Aktionsplan Versorgungsforschung“ aufgelegt hatte.
Wenn schon die Innovationsförderung durch eine Fondslösung erfolgen soll, ist es ordnungsökonomisch fragwürdig, sie dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu übertragen. Der G-BA ist nämlich der untergesetzliche Normgeber der GKV und hat eine zentrale Bedeutung für die Steuerung der gesamten GKV-Versorgung. Von daher bietet er sich zwar als Träger des GKV-finanzierten Innovationsfonds an, ist aber eher als „Gralshüter“ der bisher nach Sektoren gegliederten Versorgungslandschaft zu sehen und nicht gerade als „Kreuzritter“ im Kampf um sektorenübergreifende Versorgungsmodelle. Das gilt zumindest für die Bänke der Leistungserbringer, die geradezu ein existenzielles Interesse am grundsätzlichen Fortbestand des sektoralen Zuschnitts der Versorgungslandschaft haben müssen, ohne den es sie in der heutigen Form nicht mehr gäbe. Wie wenig zielführend es ist, ganzheitliche Patienteninteressen jenseits von Sektoreninteressen ausgerechnet in die Hände der „institutionellen Bewahrer“ der sektoralen Abschottung der Versorgung zu legen, unterstreichen eindrucksvoll die bisherigen Erfahrungen mit der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV), die in den vergangenen fünf Jahren praktisch kaum in Gang gekommen ist (Fricke, 2016).