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Peter Etter war über 25 Jahre erfolgreich als Kriminalkommissar in Basel tätig. Ein schwerer Schicksalsschlag änderte sein Leben für immer, bis zu dem Tag, als ihn sein junger Nachfolger um einen Rat bittet: Ein 13-jähriges Mädchen ist spurlos verschwunden und die Polizei steht vor Rätseln. Widerwillig macht sich der mittlerweile dem Alkohol verfallene Ruheständler an die Arbeit, für die er sich weit mehr Freiheiten einräumen lässt, als ihm als Kommissar zustanden. Aber die Rückkehr in seinen alten Job ist auch mit Schwierigkeiten behaftet, denn er verfügt über kein eigenes Fahrzeug mehr und muss mit Bus und Bahn zu Tatorten und Verhören eilen. Und dann ist da noch das Alkoholproblem ...
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Renato Salvi
Imprint
Verrat Renato Salvi
Published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2016 Renato Salviwww.renatosalvi.net
Lektorat: Erik Kinting | www.buchlektorat.net Covergestaltung: Erik Kinting E-Book Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de
Samstagabend. Anstrengende Wochen mit wenig Schlaf lagen hinter Peter Etter. Dieser Raubmord an einer Taxifahrerin beschäftigte ihn schon länger als üblich. Weder ihm noch seinem Team war es bislang gelungen, den entscheidenden Hinweis zu finden, der den Täter dingfest machen würde. Als Hauptkommissar der Basler Polizei vermied er es, Fehler zu machen. Zu groß war die Angst, zu versagen. In den letzten 25 Jahren als Ermittler, löste er die meisten Fälle mit Links. Auf seinen Spürsinn und seine Geistesblitze konnte er sich stets verlassen. Doch war diese Glückssträhne nun vielleicht am Ende. Sackgasse!
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten. Berge von Papier mit Informationen, die er und seine Mitarbeiter in monatelanger Kleinarbeit zusammengetragen hatten. Fakten, die die Schlinge um den Täter immer enger zogen. An einer großen Pinnwand klebten unzählige Zettel mit kleinen Notizen. Etter überflog sie im Eiltempo. Seine müden Augen brannten und er kniff sie immer wieder zusammen, um klar sehen zu können. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, die vielen Hinweise, die wie Puzzleteile an der Wand klebten, in der richtigen Reihenfolge zusammenzuführen. Wenn es ihm gelänge, würde wieder ein Täter seine gerechte Strafe erhalten.
Die Zeit war knapp. Etter biss nervös auf seiner Unterlippe herum und las seine aktuellen Notizen leise vor sich hin: »Eintritt des Todes: 20:45 Uhr. Telefonanruf via Handy: 20:52 Uhr. Betreten des Tankstellenshops: 21:10 Uhr. Samstagabend, Musicalbesuch: 20:15 Uhr.«
Musicalbesuch! – Etter spürte, wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Zehn Uhr. Scheiße!«
Hastig griff er nach seiner Jacke, die über der Rücklehne seines Bürostuhls hing. Er tastete seine Hosentaschen nach dem Autoschlüssel ab – Gott sei Dank, gefunden – und eilte aus seinem Büro, ohne den Computer auszuschalten oder das Licht zu löschen.
An der Tür, die zu den Fahrstühlen führte, stand in großen, mahnenden Lettern: Lösch das Licht, wenn du gehst!
Ohne diesen Aufruf zu befolgen zischte Etter böse: »Ich geh ja nicht, ich renne!«
Er selbst hatte diesen Zettel an die Tür gehängt, denn er hasste es, wenn Strom verschwendet wurde. Heute war es ihm aber egal, denn es gab Wichtigeres. Er hatte tatsächlich den gemeinsamen Abend mit seiner Frau Helen und seiner Tochter Katrin vergessen.
Schon lange hatte sich seine Familie auf diesen Musicalbesuch gefreut. Selten fanden sie Zeit, etwas Gemeinsames zu unternehmen. Helen sagte oft, dass er den Beruf mehr liebe als seine Familie. Da tat sie ihm unrecht. Etter hätte gerne mehr Zeit mit ihr und Katrin verbrach, aber die Arbeit brauchte ihn – und er brauchte die Arbeit. Er war von ihr besessen.
Helen verstand das nicht. »Irgendwann begehe ich ein Verbrechen, damit du dich auch mal um mich kümmerst«, sagte sie im Zorn. Darum hatte Etter die Musicalkarten besorgt. König der Löwen. Ein beliebtes Musical als Gastspiel in Basel. Katrin wünschte sich schon lange, die Bühnenversion des Disneyfilms zu sehen. Ein gemeinsamer Kulturgenuss würde die allgemeine Stimmung heben, dachte Etter.
Seine Tochter freute sich sehr auf diesen Abend. Mit 13 Jahren hatte sie ihren Vater nötiger, als dieser sich vorstellen konnte. Dieser Musicalbesuch war mehr als nur Unterhaltung – er war für die Familie ein bedeutender Moment.
Bei seinem Wagen angekommen, kramte Etter sein Handy aus der Tasche und wählte. Das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, stieg er ein und raste Richtung Kleinbasel los.
»Helen, nimm ab«, flehte er, ohne dabei auf irgendwelche Geschwindigkeitsbegrenzungen Rücksicht zu nehmen.
Helen ging nicht ran, aber ihre Mailbox meldete sich.
Etter nahm sich zusammen, um die Wut, die er auf sich selber hatte, nicht hörbar zu machen. »Hallo Schatz, ich bin’s. Es tut mir leid, ich habe die Zeit total vergessen. Aber ich komme euch abholen. Bitte wartet vor dem Theater auf mich und danach gehen wir noch etwas trinken, okay?«
Wütend warf er sein Handy auf den Beifahrersitz und trat das Gaspedal durch. Mit 80 Stundenkilometern jagte er über die Mittlere Brücke in die Falknerstraße. So was würde nur ein Krimineller auf der Flucht vor der Polizei tun – oder Etter.
Etter bog mit quietschenden Reifen in die Erlenstraße ein und stellte sein Auto gegenüber dem Theatereingang ab. Er stieg hastig aus. Weder Helen noch Katrin waren zu sehen. Im Foyer standen nur noch wenige Gäste herum, die entweder dabei waren ihre Mäntel anzuziehen oder noch zusammenstanden und etwas tranken. Ein Mitarbeiter war gerade damit beschäftigt, Programmhefte zu stapeln. Offensichtliche Vorbereitungsarbeiten für die nächste Vorstellung.
»Läuft das Stück noch?«, fragte Etter den Mann. Er hoffte, dass dieser sagen würde: Ja, wir hatten Verspätung und haben eben erst angefangen.
»Ja, es läuft noch …«, sagte dieser tatsächlich und Etter fiel ein Stein vom Herzen.
»… bis nächste Woche. Täglich um 20:15 Uhr. Es gibt noch ein paar Plätze, aber die Kasse ist erst wieder morgen geöffnet.«
»Was soll das heißen?« Etter musste sich beherrschen.
»Feierabend«, sagt der Mann ruhig und widmete sich wieder den Programmheften.
Das tat weh. Die Wut und die Schuldgefühle. Wieso musste er die, die er liebte, immer enttäuschen?
Als er Helen vor ein paar Wochen den geplanten Musicalbesuch angekündigt hatte, bemerkte er ihr Misstrauen. Sie glaubte nicht daran, dass die Familie Etter es wirklich schaffen würde, gemeinsam einen Abend zu verbringen. Etter wollte es Helen beweisen. Triumphierend wäre er mit seinen beiden Frauen in das Musicaltheater geschritten, als König der Familie den König der Löwen genießen. Sie hätten gemeinsam gelacht und geklatscht und wären dann nach Hause gefahren.
Stattdessen saß er nun alleine im Auto und fuhr zu dem kleinen Reihenhaus in der Eisenbahngasse in Riehen, in dem sie seit ein paar Jahren wohnten. Er parkte sein Auto in der blauen Zone gegenüber. Das Licht im Wohnzimmer schimmerte durch die Vorhänge und eine kribblige Angst kroch plötzlich in ihm hoch. Der Mann, der üble Verbrecher zur Strecke brachte, der mit den brutalsten Killern zu tun hatte, fürchtet sich nun, das eigene Haus zu betreten.
Da musst du durch, sagte er sich, öffnet das Zauntor und ging, schwer ein- und ausatmend, zur Wohnungstür.
Helen und Katrin waren gerade erst nach Hause gekommen. Etter versuchte so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Vielleicht hatten die beiden ihn gar nicht vermisst?
»Hallo. Wie war’s im Theater?«
Helen blickte ihren unzuverlässigen Mann mit versteinerter Mine an. Ihr Gesicht widerspiegelte Wut, Enttäuschung und Trauer. Sie ging wortlos an Etter vorbei und verschwand in der Küche.
Katrin saß auf dem Sofa und wischte sich eilig einige Tränen aus dem Gesicht. »Hallo Papi.« Es war ihr unangenehm, dass er sie so sah, denn sie wusste ja, dass ihr Vater den Musicalbesuch nicht mit Absicht vergessen hatte.
»Hallo Schatz. Es tut mir leid … ich … es war … es tut mir ja so leid« Reden war noch nie Etters Stärke, also nahm er seine Tochter tröstend in die Arme. »Ich verspreche dir, sobald ich diesen Fall abgeschlossen habe, nehme ich mir eine Woche frei und dann unternehmen wir jeden Tag etwas Tolles, einverstanden?«
Katrin nickte und ein Lächeln huschte über ihr makelloses Gesicht. Ein lautes Klirren aus der Küche beendete das traute Beisammensein von Vater und Tochter.
»Morgen kannst du ausschlafen. Lass uns doch jetzt gleich irgendwo noch ein Eis essen gehen. Hast du Lust?«
Katrin hatte Lust und ein Strahlen machte sich in ihrem Gesicht breit.
»Lachen steht dir gut! Ich will dich nur noch lachen sehen!« Etter strich seiner Tochter übers Haar.
Er stand auf und nähert sich langsam der Küchentür. Mit seiner Tochter war er nun versöhnt, doch der schwierigere Teil stand ihm noch bevor.
Etter betrat leise die Küche, wo Helen gerade damit beschäftigt war, irgendwelche Scherben vom Boden zu wischen. Etter versuchte ihr zu helfen.
»Lass mich in Ruhe«, fauchte Helen und entsorgte die Glassplitter achtlos im Abfalleimer. »Ist es so schwer, nur einmal ein Versprechen zu halten? Nur einmal?«
»Ich habe die Zeit vergessen. Dieser Fall bringt mich an die Grenzen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich habe mir extra einen Notizzettel gemacht, aber ich habe ihn zu spät gesehen.
Etters Reue fand kein Gehör bei Helen. »Wenn du es nicht für mich tust«, sagte sie enttäuscht, »dann tue es bitte für Katrin. Sie hatte sich so auf heute Abend gefreut.«
Etter wusste nicht, was er sagen sollte. Es fiel ihm nichts ein, das plausibel klang. Eine Entschuldigung würde Helen sowieso nicht akzeptieren. »Ich habe Katrin versprochen, dass wir jetzt ein Eis essen gehen.«
»Um diese Zeit? Da hat doch alles geschlossen!«, fauchte Helen.
»Der Burger King in der Autobahnraststätte in Pratteln hat bis Mitternacht geöffnet.« Etter lächelte.
Helen lächelte nicht. Sie war von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. Es war nicht fair, dass er auf diese Art versuchte, Geschehenes ungeschehen zu machen. Aber sie spürte seine ehrlichen Bemühungen und willigte schließlich ein – Katrin zuliebe.
Etter atmete durch. Er war froh, das große Donnerwetter abgewendet zu haben.
Kurze Zeit später stiegen Etter, Helen und Katrin ins Auto. Sie mussten noch gute 20 Minuten fahren, bis sie die Raststätte erreichten. Etter wählte den Weg via Friedhof Hörnli, über die Grenzacherstraße zur Autobahnauffahrt beim Tinguely-Museum. Von da würde es nicht mehr lange dauern bis zu ihrem Ziel.
Es war Samstagabend und sehr viele Fahrzeuge benutzen um diese Zeit die Autobahn. Wagen an Wagen reihten sich hintereinander in den Fahrspuren ein. Die grellen Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge wirken wie eine hell leuchtende Perlenkette, sie brannten in Etters müden und schmerzenden Augen.
Katrin saß auf der Rückbank und zählte die vorbeirauschenden Autos auf der Gegenfahrbahn. Helen saß auf dem Beifahrersitz und sagte die ganze Zeit kein Wort. Sie war noch nicht sicher, ob nicht gleich ein wichtiger Anruf kommen würde. Eine Dringlichkeit, die Etter unmöglich verschieben könnte. In Gedanken sah sie sich schon mit Katrin alleine dasitzen und Eis essen.
Etter starrte ohne zu blinzeln auf die Fahrbahn. Er war unkonzentriert und konnte sich kaum wachhalten. Die Anstrengungen der letzten Wochen machten ihm mehr zu schaffen, als er zuzugeben bereit war. Hätte er die Augen schließen können, er wäre auf der Stelle eingeschlafen. Hätte Helen einen Führerschein besessen, müsste sie nun fahren – aber sie hatte keinen.
Vorhin, zu Hause, da wäre er am liebsten gleich schlafen gegangen. Aber als er Katrin weinen sah, musste er sich etwas einfallen lassen. Katrins Tränen war er machtlos ausgeliefert. Helen konnte er enttäuschen, immer wieder. Als sie ihn vor 20 Jahren geheiratet hatte, da arbeitete er bereits bei der Basler Polizei. Helen wusste also, auf was sie sich mit Etter eingelassen hatte. Und wenn er schon kein guter Ehemann war, wollte er immerhin ein guter Vater sein. Dieser Restaurantbesuch war mehr als nur ein kleiner Ausflug.
Etter biss sich auf die Lippen. Schmerzen würden ihn wachhalten. Es war nicht mehr weit. Da vorne noch den Schweizerhalle-Tunnel passieren und dann wären sie schon fast da. Etters Augenlider wurden immer schwerer. Er musste jetzt an etwas denken, das ihn wachhalten würde. Er dachte an seinen Fall. In Gedanken suchte er angestrengt nach dem noch fehlenden Hinweis. Bei den Recherchen hatte er eine Kleinigkeit übersehen, da war er sich sicher. Wenn er das letzte Puzzleteil finden würde, wäre er wieder einmal am Ziel angekommen und ein weiterer Täter wäre überführt. Er sah die Szenerie schon vor sich: Die Polizei begleitete einen Mann in Handschellen aus einem Haus und brachte ihn zu einem Streifenwagen. In Etters Fantasie stand er bereits vor versammelter Presse und gab Auskunft über die Geschehnisse. Die Reporter bedrängten ihn. Viele Fragen. Die Fotoapparate klickten und ein Feuerwerk von Blitzen blendeten Etters Augen.
»Peter! Achtung!«
Helen und Katrin kreischten. Etter war am Steuer eingeschlafen, nur ein oder zwei Sekunden, aber das hatte genügt, um von der Spur abzukommen. Am Ende des Tunnels geriet das Auto aus der Spur. Etter riss am Steuer, doch er bekam den Wagen nicht wieder unter Kontrolle. Das Fahrzeug prallte von der Leitplanke ab und überquerte die ganze Fahrbahn. In Panik trat Etter statt auf die Bremse aufs Gaspedal und der Wagen beschleunigte. Unkontrolliert raste Etter in die Leitplanke gegenüber und der Wagen wurde wieder zurück in die Mitte der Fahrspur geschleudert, sie überschlugen sich. Etter kniff die Augen zusammen und schützte seinen Kopf mit beiden Händen. Auf dem Dach liegend rutsche das Auto noch ein paar Meter weiter. Autos hupten, Bremsen kreischten, Glas splitterte. Endlich war das Wrack zum Stehen gekommen. Stimmengewirr. Dann Dunkelheit. Stille.
Etter stand lange am Grab. Er kam jeden Tag auf den Friedhof Hörnli. Manchmal brachte er Blumen mit, aber meistens kam er mit leeren Händen. Wie versteinert stand er vor dem Grabstein und blickte fassungslos auf den kleinen Erdhügel. Er konnte ihren Tod einfach nicht begreifen. Soviel hätte er mit ihr noch erleben wollen und soviel hatte er versäumt.
Den Unfallbericht hatte Etter tausendmal gelesen. Fest gebrannt in seinem Hirn schwebte dessen Wortlaut wie ein Schwert über seinem Haupt: Das Fahrzeug ist aus noch ungeklärten Gründen von der Fahrspur abgekommen. Ungebremst touchierte es sowohl die linken wie die rechten Leitplanken. Zeugen sagten aus, dass keine Bremslichter zu erkennen waren, was darauf schließen lässt, dass der Fahrer womöglich bewusstlos war oder aus anderen Gründen nicht reagieren konnte. Das Auto überschlug sich. Dabei wurde ein Kind aus dem Fahrzeug auf die Fahrbahn geschleudert, wo es von nachfolgenden Fahrzeugen überfahren wurde. Es starb noch an der Unfallstelle. Fahrer und Beifahrerin wurden bewusstlos im Fahrzeug geborgen. Der Fahrer kam mit ein paar Prellungen und Fleischwunden davon. Die Beifahrerin wurde mit Verdacht auf eine schwere Rückenverletzung mit der REGA nach Nottwil geflogen.
Nachdem Helen im Spital aufgewacht war, wollte sie die Scheidung. Etter wehrte sich nicht dagegen, denn er konnte seine Frau nur zu gut verstehen. Er hätte auch nicht mit sich weiterleben wollen, an ihrer Stelle. Die Last der Schuld lag schwer auf seinen Schultern.
Seit einem Jahr hatte er nicht mehr gearbeitet. Er hätte auch nicht arbeiten können. Seine Lebenslust war am Tag des Unfalls erloschen, wie die Flamme einer Kerze, die man an einem stürmischen Tag schutzlos dem Wind aussetzt. Als er später begriff, dass er seine Tochter, seine Frau und seine Arbeit verloren hatte, wollte er sich das Leben nehmen. Er schluckte Unmengen von Tabletten. Darüber goss er fast einen Liter Schnaps und legte sich ins Bett. Im Tablettenrausch stand er aber auf, verließ die Wohnung und trat hinaus auf die Straße. Dort brach er zusammen. Passanten riefen die Ambulanz und Etter wurde gerettet. Danach wurde alles noch schlimmer. Seine Todessehnsucht beherrschte ihn und er war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Wochenlang ging er nicht aus dem Haus. Er verkroch sich in seinen Schuldgefühlen und hauste in seinen vier Wänden wie ein Tier. Die Nachbarn waren es, die dann die Polizei informierten. Etter kam in psychiatrische Behandlung. Er hasste Psychologen. Für ihn waren das Menschen, die ihre eigenen Probleme verdrängten, indem sie sich auf die Probleme anderer stürzten. Psychologen konnte es nur gut gehen, wenn es anderen schlecht ging, war Etters Meinung. Etter mochte mit niemandem über seine schrecklichen Erlebnisse reden. Er wollte nicht verarbeiten – er wollte leiden. Er war schuld am Tod seiner Tochter und er wollte sich dafür bestrafen, für alles was er seinen Lieben angetan hatte. Trost fand er nur im Rausch – und Etter brauchte viel Trost. Anfangs waren es nur kleine Mengen Alkohol. Sein Körper forderte dann aber mehr und Etter war der Sucht machtlos ausgeliefert. Der Alkohol brachte ihn immer weiter von einem halbwegs normalen Leben weg.
Etter klappte seinen Mantelkragen hoch. Große Schneeflocken fielen vom Himmel. Wie weiße Federn schwebten sie über den menschenleeren Friedhof. Er atmete tief ein und verließ das Grab von Katrin. Sein Nachhauseweg führte ihn an vielen Restaurants vorbei. Apotheken, wie er sie nannte. Dort bekam er seine Medizin, soviel er wollte.
Heute wollte er aber nicht. Er wehrte sich gegen den Drang, das Glas anzusetzen und den Inhalt in sich hineinzustürzen. Es geschah oft nach den Friedhofsbesuchen. Er hasste sich für alles was er war: Alkoholiker, Vater, Ehemann, Polizist und Kindermörder. Hass stieg in ihm hoch, in einer Art, wie er ihn vor dem Unfall nicht gekannt hatte. Als er noch als Kommissar arbeitete, versuchte er sich oft in die Gedanken der Täter hineinzufühlen. Nie hatte er begriffen, wie viel Hass ein Mensch empfinden musste, um töten zu können. Nun, ein Jahr nach dem Unfall, wusste er es. Etter hasste sich so, wie er einen Mörder hassen würde, der ihm das Liebste genommen hatte. Warum musste ihm das passieren? Ihm, der jahrzehntelang für das Gute gekämpft hatte. Tränen der Wut und der Trauer lösten sich ab. Nur der Tod würde Vergebung bringen. Der Tod war Etters Erlösung. Und da er es nicht schaffte, sich auf einen Schlag von der Welt zu verabschieden, versuchte er es eben in Raten. Der Alkohol würde seine Arbeit schon machen. Auf den Alkohol war Verlass.
Nach dem Unfall musste er das kleine Reihenhaus in Riehen verkaufen, in dem er, Helen und Katrin gelebt hatten. Zu viele Erinnerungen waren damit verbunden und als jobloser Alkoholiker waren seine Geldreserven schnell aufgebraucht. In einem renovationsbedürftigen Mietshaus in der Kleinhüningerstraße, nahe des Brückenkopfs – dem Treffpunkt Kleinhüningens – fand er eine neue Bleibe; eine schlichte Zweizimmerwohnung.
Völlig durchfroren und nass vom Schnee, betrat er den Hauseingang. Seine Wohnung befand sich im ersten Stock. Er schüttelte sich die Schneeschicht vom Leib und öffnete den Mantel. Zum Glück waren es nur ein paar Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Die Beine schmerzten und sein Herz raste. Nach einem Jahr hatte der Alkohol bereits ein Wrack aus ihm gemacht. Sicherlich würde es nicht mehr lange dauern und in seinen Adern würde nur noch Alkohol fließen. Sein Herz würde dann aufhören zu schlagen und endlich würde Ruhe einkehren.
Etters Wohnung war einfach eingerichtet. Der schmale Gang lechzte nach frischer Farbe und der Teppich war durchgetreten und roch nach nassem Hund. Links neben der Eingangstür befand sich die Küche. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals darin gekocht hatte. Er betrat sie nur, wenn er zum Kühlschrank wollte – darin lagerte seine Medizin; keine Lebensmittel, nur Bier- und Schnapsflaschen. Rechts von der Wohnungstür war das fensterlose Badezimmer. Die Kacheln an den Wänden waren verkalkt und Schimmel bildete sich in den Fugen. Im Schlafzimmer stand nur ein Bett, sonst gar nichts; Etter hatte keinen Schrank und keine Kommode. Kleidungsstücke hatte er nur noch wenige, er achtete sowieso nicht mehr auf sein Äußeres. Eine Hose, ein Hemd und ein paar Schuhe genügten. An der Decke baumelte eine Glühbirne, deren Fassung lieblos mit den Stromkabeln verbunden war. Im Wohnzimmer standen ein karger Holztisch, ein Stuhl und auf einer leeren Bierkiste thronte ein kleiner Fernseher. Etter besaß nur noch das Nötigste. Er wollte denen, die nach seinem Ableben die Wohnung ausräumen mussten, nicht viel Arbeit machen.
Etter entledigte sich seiner nassen Kleidung und warf sie achtlos in eine Ecke des Schlafzimmers. In Unterhemd und Unterhose holte er sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Mit beiden Händen umklammerte er die Flasche; er zitterte. Ob ihn die Kälte oder sein Drang nach Alkohol zittern ließen, konnte er nicht sagen. Er würde es wissen, sobald er die Flasche geleert hatte. Er suchte hastig die Küchenablage nach dem Flaschenöffner ab, öffnete die Flasche ungeduldig und trank sie, noch in der Küche stehend, in einem Zug aus. Es war wie eine liebevolle Umarmung eines guten Freundes.
Etter stellte die leere Flasche auf die Küchenablage. Er hatte Mühe noch einen freien Platz darauf zu finden. Die Spüle, alle freien Flächen und ein Teil des Bodens waren mit leeren Flaschen vollgestellt.
Er öffnete erneut den Kühlschrank und sorgte für Nachschub. Drei Bier würden vorerst genügen, dachte er, und ging damit ins Wohnzimmer, wo er sich auf den wackligen Stuhl setzte. Die zweite Flasche öffnete er noch im Gehen und, als wäre er dem Verdursten nahe, schüttete er das Bier in sich hinein.
Er schaltete den Fernseher ein und entfernte den Kronkorken der dritten Flasche. Hin und wieder schaute er fern, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Nachrichten interessierten ihn nicht sonderlich, Meldungen von Mord und Totschlag ließen ihn seit dem Unfall kalt.
Er hasste seinen Beruf. Er war schuld, dass er nie Zeit für seine Familie gehabt hatte. Während er seine Tage und Nächte mit den kranken Gedanken der Täter verbrachte, saßen zu Hause eine liebe Frau und eine noch liebere Tochter, die ihn gebraucht hätten. Wenn er, ein Jahr nach dem Unfall, an seine Tochter dachte, musste er sich anstrengen, um sich an gemeinsam Erlebtes überhaupt noch erinnern zu können. Oft war er nicht mit Katrin zusammen gewesen. Als sie noch ein Baby war, hat Helen sie für sich in Anspruch genommen. Das war Etter recht gewesen. So konnte er sich ohne Schuldgefühle seiner Arbeit widmen. Als Katrin älter wurde, war er schon so von der Arbeit besessen, dass ihm sein familiäres Defizit gar nicht aufgefallen war.
Nach seinem Selbstmordversuch riet man Etter, das Gespräch mit Helen zu suchen, um die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten zu können. Helen verweigerte jedoch jegliches Gespräch; die Scheidung war durch und sie hatte mit Etter abgeschlossen. Er wusste nicht, wie sie das Erlebte verkraftete, aber Etter aus dem Gedächtnis zu löschen war scheinbar ein Teil davon.
Seine Polizeikollegen standen Etter nach dem Unfall bei. Viele nahmen an Katrins Beerdigung teil. Etter erhielt Kondolenzkarten mit gut gemeintem Trost und einige hatten immer mal wieder angerufen, um sich bei ihm nach seinem Zustand zu erkundigen. Nach ein paar Wochen wurden die Anrufe aber immer weniger und sein Handy blieb schließlich stumm. Der Einzige, der sich immer wieder bei Etter gemeldet hatte, war Thomas Sutter, Etters früherer Assistent. Er musste nach Etters Ausscheiden dessen Arbeit übernehmen. Thomas Sutter wollte nie Leiter der Mordkommission werden und ließ sich dazu nur widerwillig überreden. Für Sutter war es nur eine Übergangslösung, bis Etter seine Arbeit wieder hätte aufnehmen können. Für Sutter sah es inzwischen so aus, dass das wohl noch lange dauern würde, aber er verlor die Hoffnung nicht, dass sein Chef irgendwann zurückkehren würde. Etter selbst glaubte nicht an Märchen und solange er trank, war an ein normales Arbeiten nicht zu denken.
Im Fernsehen kamen die üblichen Talkshows: betrogene Ehefrauen, die in aller Öffentlichkeit über ihre Männer herzogen, Jugendliche die erzählten, dass sie noch immer nachts ins Bett pinkelten und Greise die schworen, dass sie im hohen Alter noch mehr Sex hätten, als alle Straßenköter der Stadt zusammen. Etter zappte sich durchs Programm. Er machte bei Tele Basel eine Pause, um erneut eine Bierflasche zu öffnen. Die Nachrichtensendung begann.
»… Vermisst wird seit gestern Abend die dreizehnjährige Simone Habicht. Das Mädchen war mit einem blauen Fahrrad unterwegs. Sie war auf dem Weg zur Klavierstunde, wo sie aber nie ankam. Simone Habicht trug bei ihrem Verschwinden eine rote Daunenjacke, eine schwarze Manchesterhose, Winterstiefel und einen blauen Rucksack. Das Mädchen ist einen Meter sechzig groß, schlank und hat braune schulterlange Haare. Wer sachdienliche Hinweise zum Verschwinden von Simone Habicht machen kann, meldet sich bitte beim nächsten Polizeiposten.«
Etter vergaß zu trinken. Er starrte die ganze Zeit auf den Fernseher, wo man das Foto der Vermissten zeigte. Er konnte es kaum glauben: sie war Katrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre Augen wirkten so fröhlich, als ob sie sagen wollten: Uns gehört die Welt.
Etter drückte den roten Knopf der Fernbedienung. Er wollte das Mädchen nicht mehr sehen. Er stellte die noch volle Flasche achtlos auf den Tisch und stand auf. Sein Kopf schmerzte und ihm wurde heiß und kalt. Er ging ins Badezimmer und stützte sich mit beiden Händen am Rand des Waschbeckens ab, drehte den Wasserhahn auf und warf sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Er betrachtete sich im Spiegel.
»13 Jahre alt, wie Katrin damals.«
Etter spürte wieder diesen Schmerz. Eine Schlinge, die sich um seinen Brustkorb schlang und langsam zuzog. Er atmete tief und schwer. Mit beiden Händen kämmte er seine nassen Haare ins Genick und ging wieder ins Wohnzimmer. Er griff sich die Flasche Bier und trank sie in einem Zug leer. Die Schlinge um seine Brust lockerte sich nicht.
Hastig holte er sich die Klamotten, die noch in der Ecke des Schlafzimmers lagen. Sie waren immer noch klitschnass, aber das interessierte ihn nicht. Er wollte nur noch raus hier und das Bild des Mädchens aus dem Kopf spülen. Er zog sich an und verließ die Wohnung.
Im Restaurant Schiff, unweit seiner Behausung, erhielt er die Dosis Medizin, die seine Schmerzen lindern konnten. Er saß alleine an einem Tisch, mit dem Rücken zum Raum, sodass er nicht von anderen Gästen in deren Gespräche verwickelt werden konnte. Wortlos schüttete er ein Glas nach dem anderen in sich hinein. Heute dauerte es länger als sonst. Die Schmerzen ließen sich nicht so leicht vertreiben.
Weit nach Mitternacht bezahlte er und trat auf die schneebedeckte Straße. Zum Glück befand sich seine Wohnung in der Nähe, denn er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, so besoffen war er.
Mit letzter Kraft stieg er die Treppen zu seiner Wohnung hinauf und ließ sich angezogen ins Bett fallen. Auf dem Bauch liegend lallte er noch etwas, das wie Katrin klang. Etter krallte seine Finger in die Matratze, als müsste er sich an ihr festklammern, und begann zu schluchzen. Zuerst nur leise, steigerte er sich schnell in einen Weinkrampf hinein. Er schlug mit beiden Fäusten auf die Matratze ein und schrie seine ganze Wut und Ohnmacht ins Kopfkissen.
Langsam beruhigte er sich, wurde still und schlief erschöpft ein.