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Bonbonpapier am Stacheldraht Als Matt aufwacht, liegt er im Lazarett. Schädel-Hirn-Trauma nach einem Granatenangriff, sagen die Ärzte. Er selbst kann sich nicht erinnern. Er kann nur mit Mühe seine Beine bewegen, das Sprechen fällt ihm schwer, die einfachsten Wörter fallen ihm nicht mehr ein. Nur ein Bild hat er immer wieder vor Augen: Ali – der irakische Junge, mit dem er sich angefreundet hat –, wie er von den Füßen gerissen wird, erst mit einem Ausdruck von Glück, dann von Entsetzen im Gesicht. Was ist geschehen? Ein Buch über den Krieg im Irak, erschütternd und spannend wie ein Krimi.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2011
P. McCormick
Versehrt
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst
Fischer e-books
Können Sie das fühlen, Soldat?«
Matt Duffy erwachte, weil es in seinem Fuß kribbelte. Er hob den Kopf und erblickte einen Mann in einem grünen OP-Kittel, der am Fußende seines Bettes stand. Das Gefühl in seinem Fuß hing scheinbar irgendwie mit diesem Mann zusammen.
Matt schloss die Augen und ließ seinen Kopf wieder auf das Kissen fallen, woraufhin er ein entsetzliches Hämmern hinter seiner Stirn verspürte.
Das Kribbeln in seinem Fuß verstärkte sich, wurde unangenehm, wie eine Reihe von Nadeln, die ihm ins Fleisch gebohrt wurden. Matt klappte die Augen wieder auf, schaute an dem Mann in dem grünen Kittel vorbei und erkannte, dass er sich in einem langen, schmalen Raum befand, in dem zwei Reihen von Metallbetten standen. Ihm gegenüber saß ein Soldat in einem grauen T-Shirt auf einer Bettkante. Der Soldat, ein junger Kerl mit einem Milchgesicht, roten Haaren und Sommersprossen, starrte auf etwas in seinem Schoß. Matt kniff die Augen zusammen. Da erkannte er, dass der Junge nicht irgendetwas in der Hand hielt, wie er zuerst gedacht hatte. Er betrachtete seinen rechten Arm, genauer gesagt den straffen, fleischfarbenen Verband, der einen Stumpf bedeckte, wo seine Hand hätte sein sollen.
Wieder ein Stechen in seinem Fuß, diesmal noch heftiger. »Soldat Duffy«, sagte der Mann am Ende des Bettes. Der Mann hatte dunkle, mandelförmige Augen und trug eine OP-Mütze mit Hawaii-Muster. Ganz offensichtlich piekste er mit etwas Spitzem in Mats Fußsohle. »Können Sie das fühlen?«
Eine Stimme, belegt und träge, sagte etwas, das wie »Uuaaah« klang. Matt erkannte, dass es seine eigene war.
Noch ein Stechen. Diesmal in seinem Bein. »Und das?«
Matt nickte.
»Können Sie mit den Zehen wackeln?«
Matt schaute nach unten zum Fußende des Bettes. Die Füße, die unter der grünen Armeedecke hervorschauten, waren bleich und wirkten zart, ganz und gar nicht wie seine eigenen. Er biss sich auf die Lippen und konzentrierte sich. Die Zehen bewegten sich.
»Gut.« Der Mann kam zur Bettseite. »Jetzt die Finger.«
Seine Finger zeigten sich ebenfalls kooperativ, während Matt ihnen wie aus weiter Ferne zuschaute.
»Die Beine?«
Dazu brauchte er all seine Kraft, aber er war in der Lage, sie – eins nach dem anderen – wenige Zentimeter von der Matratze abzuheben.
Der Mann beugte sich über Matt und legte seine Hände rechts und links an Matts Nacken. Von Angesicht zu Angesicht sah Matt, dass er noch jung war und dass er eine Narbe auf der Stirn hatte, vermutlich von den Windpocken. War er ein Arzt? Oder irgendein Sanitäter?
Er drehte Matts Kopf ganz leicht und behutsam, und ein scharfer, heißer Schmerz schoss ihm durch den Nacken – ein Schmerz, der so heftig war, dass Matt die Tränen in die Augen traten.
»Das tut weh.« Der Mann wirkte erfreut. »Gut. Schmerz ist gut. Besser als die Alternative.«
Er schrieb etwas auf ein Klemmbrett. »Vermutlich SHT«, sagte er, mehr zu sich selbst. Dann schaute er zu Matt. »Schädel-Hirn-Trauma.« Er runzelte die Stirn und kritzelte eilig noch mehr auf das Blatt. »Wir lassen ein paar Tests machen, was die Wiedererlangung der Sprache und die kognitiven Fähigkeiten betrifft.«
Panik schwappte über Matt, während er versuchte zu begreifen. Kognitive Fähigkeiten? Was bedeutete das? Er wollte sprechen, aber der Arzt, oder was immer er war, befand sich schon auf dem Weg hinaus aus dem Zimmer. Matt wollte fragen, was mit ihm geschehen war. Wollte nach den Kameraden in seiner Einheit fragen. Und wollte ihn um Wasser bitten. Wasser. Bitte. Bitte.
Aber eine übermächtige Müdigkeit legte sich auf ihn. Er bemühte sich, ihrer Herr zu werden. Er blinzelte einmal, dann noch einmal. Dann schloss er die Augen und gab auf.
Die Geräusche im Raum – das Summen der Stimmen, das stetige Piepsen der Maschine neben ihm, das schrille Klingeln eines Telefons – all das verblasste zu einem dumpfen Dröhnen, und einen Moment lang, kurz bevor er das Bewusstsein verlor, sah Matt einen kleinen irakischen Jungen am Ende einer Gasse stehen.
Die Gasse war voller Schutt und Geröll. In der Mitte lag ein Auto auf dem Wagendach; an einem Stück Stacheldraht flatterte ein Bonbonpapier; ein streunender Hund schnüffelte in einem Abfallhaufen. Aus weiter Ferne durchstieß der schrille, heulende Gesang des Muezzin die Luft und rief die Gläubigen zum Gebet. Plötzlich war da ein völlig geräuschloser Lichtblitz, und der Junge wurde von den Füßen gerissen. Er lächelte, lächelte und paddelte langsam mit seinen Armen, wie ein Schwimmer. Dann schien er zu schweben, hoch hinauf in den strahlend blauen Bilderbuchhimmel, bis Matt nur noch die Sohlen seiner Schuhe sehen konnte, die hoch über der brennenden Stadt dahinzogen.
Im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Bürger einer dankbaren Nation …«
Matt öffnete die Augen und sah einen Offizier neben seinem Bett stehen, einen Oberstleutnant mit einem dunkel gebräunten Gesicht und einem perfekten Bürstenhaarschnitt. Der Mann hatte ein Kästchen in der Hand, die Art von Kästchen, in der man ein Schmuckstück aufbewahrte, ein wertvolles Collier vielleicht. Dann klappte er den Deckel auf, nahm einen Gegenstand aus dem Kästchen und legte ihn Matt auf die Brust.
Er schwieg einen Moment und suchte in Matts Augen nach einem Zeichen des Begreifens. Wieder legte sich diese schwere Müdigkeit über Matt, aber er kämpfte darum, die Augen offen zu halten. Er fühlte die Hände des Mannes an seinem Oberkörper. Er fummelte an der Bettdecke herum.
»… verleihe ich Ihnen das Purple Heart«, hörte er den Mann sagen, »für Verwundung im Dienst.«
Das Purple Heart. Matt hatte gehört, dass selbst die stärksten, tapfersten und abgebrühtesten Kerle der Armee oft in Tränen ausbrachen, wenn dieser Orden an ihre Brust geheftet wurde. Aber Matt wollte keinen Orden. Er wollte nur wissen, was mit ihm nicht stimmte. Er merkte, wie sein Mund auf- und zuklappte, wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber kein Ton kam heraus.
»Ihre Mission besteht nun darin, gesund zu werden, mein Sohn«, sagte der Mann.
Matt wollte nicken, wollte sagen: »Ja, Sir«, aber nichts passierte.
»Werden Sie gesund, und gehen Sie wieder da raus.«
Erneut übermannte ihn die Erschöpfung, drückte ihn unter die Oberfläche seines Bewusstseins, und er fiel wieder in einen umnebelten Schlaf, wie in weiche Watte gewickelt, wobei er noch die Schritte des Mannes hörte, die im Weggehen auf dem Marmorfußboden widerhallten.
Als Matt erwachte, fiel sein Blick auf einen bleichen Lichtstrahl, der durch das Fenster drang. Abenddämmerung, vermutete er. Das Licht war zu schwach für Morgenlicht. Abenddämmerung. Ohne Zweifel.
Ein paar Reihen weiter stand ein Armeekaplan in stillem Gebet über einer Gestalt auf einem Bett. Matt wollte ihn ansprechen, aber die Töne, die aus seinem Mund drangen, waren schleppend und dumpf. Richtige Worte brachte er nicht zustande. Der Kaplan schlug das Kreuzzeichen über der liegenden Gestalt und kam dann zu Matt.
Der Mann hatte wässrig blaue Augen, um die sich ein Geflecht aus Falten zog, das bis zu seinen Schläfen reichte. Er trug eine Baseballkappe der Oakland Athletics, einen Kampfanzug mit einem Kreuz darauf und einen lilafarbenen Schal über dem Nacken. Der Schal hatte einen ganz bestimmten Namen. Matt kannte ihn aus seiner Zeit als Messdiener. Aber er konnte sich nicht darauf besinnen.
Der Priester nahm das Wasserglas, das auf dem Tisch neben Matts Bett stand, und hob es hoch wie den Kelch beim Abendmahl. Matt nickte schwach, und der Priester steckte ihm den Strohhalm in den Mund. Das Wasser schmeckte muffig und schal; vermutlich stand es schon sehr lange auf dem Tisch. Aber es fühlte sich herrlich an, als es durch Matts Kehle rann.
Er nahm ein paar Schlucke und ließ dann den Kopf wieder auf das Kissen fallen. »Vater«, sagte er mit krächzender Stimme, »was ist los mit mir?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Frage beantworten kann, mein Sohn«, sagte der Priester. »Schauen wir mal auf Ihrem Krankenblatt nach.«
Er ging zum Fußende des Bettes und nahm ein Klemmbrett zur Hand, das augenscheinlich dort gehangen hatte. »Hier steht, dass Sie achtzehn Jahre alt sind. Katholik. Blutgruppe 0 positiv.« Schweigend überflog der Priester das Blatt. »Sie wurden vor sechs Stunden hergebracht. Mussten mit ein paar Stichen genäht werden. Ein paar geprellte Rippen.« Er schwieg kurz. »SHT. Schädel-Hirn-Trauma.«
Matt versuchte, Ruhe zu bewahren. »Was ist das?«
»In einfachen Worten? Ihr Gehirn hat einen Schlag bekommen.«
»Ich habe keinen …« Das Wort lag ihm auf der Zunge, aber es fiel ihm einfach nicht ein.
»Hirnschaden?«
Matt nickte.
»Nun, mein Sohn, ich bin kein Arzt, aber ich glaube, Sie werden wieder gesund.«
»Wieso? Woher wollen Sie das wissen?«
Der Priester seufzte. »Wenn Ihre Verletzung ernst wäre, würde man Sie nach Deutschland ausfliegen. In diesem Krieg schicken sie jeden zurück ins Gefecht, sobald er wieder laufen und ein Gewehr abfeuern kann. Offenbar hält man Sie für befähigt, über kurz oder lang wieder kämpfen zu können.«
Matt atmete auf. Wenn er erst wieder bei seinen Kameraden wäre, würde alles in Ordnung kommen.
Der Priester – der laut Namensschild auf seiner Brusttasche Vater Brennan hieß – klappte sein Gebetbuch auf und fing an, etwas zu rezitieren. Seine Stimme war ganz leise, und seine Lippen bewegten sich kaum. Nachdem er geendet hatte, machte er das Zeichen des Kreuzes und berührte dann mit dem Saum des lilafarbenen Schals Matts Stirn.
In Matts Hals bildete sich ein Kloß. Was war bloß los mit ihm? Seit wann war er so eine Heulsuse? Er biss sich auf die Innenseite seiner Wangen, um die Tränen zurückzuhalten.
Der Priester betrachtete ihn mit einem Blick, aus dem bedingungsloses Verständnis sprach. »Sei still, Sohn«, sagte er. »Sei still. Und erkenne.«
Matt hatte einen Standardspruch erwartet, etwas wie Der Herr ist mein Hirte. »Woher stammt das, Sir?«, fragte er.
Der Priester lächelte, nahm seine Baseballkappe und zeigte sie Matt. Unter dem Rand des Schirms stand mit Kugelschreiber geschrieben: Seid still. Und erkennt.
Matt verstand gar nichts.
»Das ist eine Abkürzung für ›Seid still und erkennt, dass ich in euch bin und für euch sorge‹.« Vater Brennan betrachtete die Worte auf der Baseballkappe. »Barry Zito. Oakland Athletics. Gewinner des Cy Young Award2002.«
Matt nickte.
»Das ist sein Mantra«, erklärte Vater Brennan und zerknüllte die Kappe in seiner Hand. »Er hat es auf die Unterseite des Schirms geschrieben, als er mal eine Krise hatte. Und wenn er danach aufs Feld ging, musste er nur hochschauen und die Worte lesen. Und dann konnte er alles andere ausblenden. Das hat ihm Auftrieb gegeben.«
Matt erinnerte sich; glaubte sich zu erinnern.
»Hier im Irak zweifelt man manchmal an Gott, bei all dem, was man tagtäglich zu sehen bekommt«, sagte Vater Brennan. Er setzte sich die Kappe wieder auf den Kopf und ging zum nächsten Bett. »Aber Baseball ist ewig.«
Eine Weile versuchte Matt vom Bett aus, seine Umgebung zu erkunden. Nur wenige der anderen Betten waren belegt, und die Patienten in ihnen schienen zu schlafen oder zu lesen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Aufkleber des Alabama Football-Teams Crimson Tide. Roll on, Tide, stand darauf. Matt fragte sich, wie es dem Soldat ergangen war, der den Aufkleber dort angebracht hatte. War er zu Hause, auf Genesungsurlaub? Oder wieder bei seiner Einheit? Oder tot? Neben dem Aufkleber hing ein aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Bild von Jessica Simpson in knappen Shorts und mit einem Strohhut. Jemand hatte ihr eine Sprechblase an den Mund gemalt, in der stand: Die Army ist super!
Matt musste an die ausgebombte Grundschule denken, in der seine Einheit ihr Hauptquartier hatte und wo er über seinen Schlafplatz ein Bild von Jennifer Lopez geklebt hatte. Justin hatte JLo ebenfalls eine Sprechblase an den Mund gemalt, mit den Worten Matt Duffy ist charismatisch. Charismatisch war eins der Worte aus Justins Ein-Wort-pro-Tag-Kalender, den ihm seine Mutter geschickt hatte. Die Jungs hänselten ihn ständig wegen seines Vorhabens, seinen Wortschatz zu erweitern, aber Justin nahm die Sache todernst. »Nur weil ich so unglaublich gut aussehe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht auch unglaublich klug sein kann«, sagte er. An den unteren Rand des Bildes hatte Wolf, ein anderer seiner Kameraden, einen weiteren Spruch gekritzelt, der aus JLos Mund kam: Matt Duffy ist mein Baby-Lover.
»Ich würde gerne Ihre Werte messen, wenn es recht ist.« Eine junge farbige Frau in einem OP-Kittel war aus dem Nichts aufgetaucht. Ihre Haut war so dunkel, dass sie wie bläulicher Samt schimmerte, und ihre Haare waren auf dem Kopf zu zwei kleinen Rattenschwänzen zusammengebunden. Sie hatte große, dunkelbraune Augen und volle Lippen. Ihre Zähne standen ein wenig vor, nicht so stark wie bei einem Kaninchen, sondern – wie Matt aus einem unbestimmten Grund fand – irgendwie sexy.
Sie legte ihre kühle Hand auf Matts Handgelenk.
»Wo bin ich?«, fragte er.
»Station zwölf, Bett siebenunddreißig«, sagte sie ohne aufzublicken.
»Nein, ich meine: Sind wir in Bagdad?«, fragte er. »Es ist so ruhig hier.« Keine Bombeneinschläge und kein MG-Feuer.
»Ja«, sagte sie. »Willkommen in der Grünen Zone.«
Die berühmte Grüne Zone. Jenes ummauerte Gebiet im Zentrum von Bagdad, wo früher Saddam Hussein gelebt hatte. Jetzt residierten dort die Mitglieder der Übergangsregierung. Die Lamettaträger.
Matt und seine Einheit waren in Sadr-Stadt Patrouille gefahren, einem Hexenkessel am Rand der Grünen Zone. Aber sie alle waren fasziniert von dem, was auf der anderen Seite der Mauer lag. Justin meinte, die Typen von der Übergangsregierung bekämen Hamburger und hätten Duschen mit heißem Wasser. »Die können sich sogar in Saddams Kino Filme anschauen«, hatte er eines Morgens gesagt, als sie die Latrinen gereinigt hatten. »Amerika am Tigris«, hatte Justin es genannt.
Die Schwester legte Matt eine Blutdruckmanschette an und begann, die kleine schwarze Pumpe zu betätigen. »Das hier war früher ein Privatkrankenhaus für Saddams Freunde.«
Matt sah sich um. Die Wände und der Boden bestanden aus grauweißen Marmorplatten. Genau in der Mitte des Raums prangte auf dem Boden das Symbol des Islam: der Halbmond mit Stern. Und überall fanden sich kleine weiße Schilder mit den geschwungenen, rätselhaften Schriftzeichen der arabischen Sprache; darunter hatte jemand mit dickem Filzstift die englischen Bedeutungen geschrieben.
Hinter der Schwester hing ein Feuerlöscher an der Wand. Matt betrachtete das kleine Plastikschild daneben, auf dem – neben einer einfachen Zeichnung zur Bedienung des Geräts – etwas in Arabisch geschrieben stand. Über dem Schild war mit einem Klebstreifen ein weiteres befestigt worden, auf das jemand Feuerlöscher geschrieben hatte.
Aber die Pfleger – oder vielleicht auch die Patienten – hatten sich alle Mühe gegeben, den Ort so heimelig wie möglich zu gestalten. Auf dem Schreibtisch der diensthabenden Krankenschwester stand ein Bündel kleiner amerikanischer Flaggen, an der Tür der Herrentoilette hing ein Rambo-Poster, und eine Wand war mit Aufklebern übersät. Es ist Gottes Pflicht, Saddam zu vergeben. Unsere Pflicht ist es, die beiden zusammenzubringen, stand auf einem. Ich bin stolz, ein Ungläubiger zu sein, auf einem anderen. Und ganz unten klebte ein Spruch über George W.: Habt ihr nicht auch mal Lust, auf den Bush zu klopfen?
»Wissen Sie, was mit den anderen in meiner Einheit ist?«, fragte Matt.
Wenn sie ihn hörte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie hatte die Manschette wieder von seinem Arm abgenommen und stand still da, als ob sie auf etwas lauschte. Dann hörte es auch Matt: das unverkennbare Wummp, Wummp von Propellern, das sich näherte.
»Rettungshubschrauber«, sagte sie. Und genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder.
Später – Matt wusste nicht genau, wie viel später – kehrte der Mann in dem grünen OP-Kittel an sein Bett zurück. Diesmal trug er eine Kappe mit dem Muster der amerikanischen Flagge. Und diesmal hatte Matt die Gelegenheit, sein Namensschild zu lesen. Dr. J. Kwong. Also doch ein Arzt.
»Nun, Soldat Duffy. Sie sind jetzt vierundzwanzig Stunden bei uns«, sagte er und betrachtete Matts Krankenblatt. »Wie fühlen Sie sich?«
»Sir, was ist dieses Schädel-Hirn-Dings, das ich habe?«, fragte Matt.
»SHT?« Der Arzt schaute auf. »Die häufigste Verletzung im Irak. Es ist so ähnlich wie eine Gehirnerschütterung, nur schlimmer.«
Matt wartete darauf, dass er weitersprechen würde.
»Wir behalten Sie ein paar Tage hier, machen ein paar Untersuchungen«, sagte er und kritzelte etwas auf das Krankenblatt. »SHT heilt normalerweise von ganz alleine aus – besonders bei leichten Fällen. Aber es kann auch schlimmer werden, dann meistens ein paar Tage nach dem Aufprall oder dem Einschlag oder was immer das Trauma verursacht hat.« Er hängte das Klemmbrett wieder ans Fußende des Bettes. »Wir behalten Sie im Auge, sorgen dafür, dass Sie wieder auf die Beine kommen, und überprüfen, woran Sie sich erinnern und woran nicht.«
Matt nickte, als würde er begreifen. Er konnte sich nicht daran erinnern, was ihm Dr. Kwong gestern gesagt hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich daran erinnerte, was er am Anfang ihres Gesprächs gesagt hatte.
Dr. Kwong leuchte mit einer kleinen Taschenlampe in Matts Augen und fragte ihn dann, was für ein Tag heute war.
Matt starrte ihn nur an.
»Wissen Sie, welchen Monat wir haben?«
Matt schwieg.
»In welcher Einheit sind Sie?«
»Hundertdritte.«
Dr. Kwong machte sich eine Notiz. »Also«, sagte er, »auf das Folgende müssen Sie sich einstellen: Schwindelgefühl, Gedächtnislücken …«
Er ratterte eine Liste von Symptomen herunter, während er gleichzeitig Matts Körperreaktionen untersuchte – er beugte seine Beine, klopfte mit einem kleinen Gummihämmerchen auf seine Knie und drückte und zog hier und da.
» … Erbrechen, Koordinationsprobleme, Stimmungsschwankungen, niedrige Frustrationstoleranz.« Er schwieg kurz. »Möglicherweise haben Sie … Erregungszustände.«
»Erregungszustände?«, wiederholte Matt. »Was meinen Sie damit?«
Dr. Kwong blickte kurz zur Seite. »Sie sind möglicherweise eine Zeitlang recht … emotional.«
Matt schaute ebenfalls weg und konzentrierte sich stattdessen auf eine blonde Krankenschwester, die auf der gegenüberliegenden Seite des Raums ein Bett bezog.
»Die einfachsten Worte und Begriffe können Ihnen Schwierigkeiten bereiten«, fuhr Kwong fort. »Und es wird ihnen schwerfallen, Neues zu lernen und zu behalten.«
»Sir«, sagte Matt. »Ich habe …« Er verstummte.
»Sie müssen mich nicht mit Sir anreden.«
»Danke, Sir«, sagte Matt. »Ich habe … Sie wissen schon. Wenn der Kopf weh tut. Und man Aspirin nimmt …«
»Sie haben Kopfschmerzen?«, fragte Dr. Kwong.
»Ja, Kopfschmerzen.«
Der Arzt nickte. »Genau das meine ich. Die Sprache macht Ihnen Probleme.« Er schaute von dem Klemmbrett auf, wo er wieder etwas notiert hatte. »Kennen Sie sich mit Hockey aus?«
War das etwas, was er wissen sollte?, fragte sich Matt. So ähnlich wie die Frage nach dem Tag und dem Monat?
»Eric Lindros. Sagt Ihnen das was?«, Dr. Kwong lächelte jetzt. »Er spielte für die Philadelphia Flyers.«
Matt versuchte, sich darüber klarzuwerden, was irgendein Hockeyspieler aus Philadelphia mit ihm zu tun hatte.
»Er hatte ungefähr fünfzig Gehirnerschütterungen«, sagte Dr. Kwong. »Und ein Schädel-Hirn-Trauma.«
»Oh«, sagte Matt.
»Ach ja«, fügte Dr. Kwong hinzu, »noch was: Er hat außerdem eine echt scharfe Frau.« Wieder kritzelte er etwas auf das Klemmbrett mit Matts Krankenakte. Dann klappte er die Akte zu.
»Es wird Sie später jemand von Oberstleutnant Fuchs’ Einheit aufsuchen«, sagte der Arzt. »Man wird Ihnen ein paar Fragen stellen. Einen Bericht über den Vorfall schreiben.« Er hängte die Akte wieder ans Fußende des Bettes. »Das ist Routine in einem solchen Fall.«
Matt konnte ihm nicht folgen. In einem solchen Fall?
Aber der Arzt war schon wieder weg. Sein Pieper hatte ihn zu einem anderen Patienten gerufen.
Matt schreckte aus dem Schlaf, als jemand seine Schulter berührte.
»He, Kumpel.« Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber das Gesicht war nur ein verschwommener Schemen.
Matt riss die Augen auf und starrte. Als Erstes sah er die Brille – diese betont coole Sonnenbrille mit den dicken Gläsern – und dann ein schmales, eckiges Gesicht. Es war Justin. Er trug den Kampfanzug, die Standarduniform der Wüstensoldaten, aber irgendwie sah er klein aus, klein und schlaff, ohne seinen Helm und die M16 über der Schulter.
»Mann«, sagte Justin, »ich hatte schon gehofft, dass ich doch noch zu Carolines Telefonnummer komme.«
Caroline. Matt hatte ihr Bild in seinen Helm geklebt, worüber sich Justin ständig lustig machte. »Ich kapiere nicht, wie so ein dürrer kleiner Kerl wie du so eine scharfe Freundin kriegen konnte«, sagte er dann. Matt sammelte diese Informationshäppchen zusammen wie Perlen auf einer Schnur; er war sich nicht sicher, ob Justin gerade einen Scherz gemacht hatte. Suchend blickte er in das Gesicht seines Kameraden.
Aber Justin schaute weg, quer durch den Raum zu einem Punkt an der Wand. Er schüttelte den Kopf und wandte sich dann wieder langsam zu Matt. Sein Blick war fast zärtlich. Er nahm den Saum der Decke, die über Matts Körper lag, und schob ihn sanft unter das Kinn seines Freundes. Dann ging er zum Fußende des Bettes, hob vorsichtig Matts Beine an und schob die Decke darunter. Genau das Gleiche hatte Matts Mutter immer gemacht, als er noch klein war.
Es war merkwürdig, dass Justin ihn so bemutterte, fast peinlich – und schon wieder sammelten sich die Tränen in Matts Augen. Er versuchte, sie wegzublinzeln, aber eine einzelne Träne rutschte ihm über das Gesicht und tropfte in sein Ohr.
Justin tat so, als hätte er es nicht gesehen. Er setzte sich wieder hin, räusperte sich und fummelte dann an dem Klettband herum, mit dem er das Messer seines Vaters, das dieser in Vietnam bei sich gehabt hatte, am Bein befestigt hatte. »Gott sei Dank warst du früher schon so hässlich.«
»Bin ich … ?« Matts Hände fuhren zu seinem Gesicht. »Habe ich …?«
»Bleib locker, du Döskopp.« Justin ruckte mit dem Kinn in Richtung von Matts Gesicht. »Alles in Butter. Du hast ein blaues Auge, aber um die Wahrheit zu sagen, siehst du damit besser aus als vorher.«
Matt lächelte. Lächeln tat weh.
»Ach ja«, sagte Justin. »Und eine dicke Lippe.«
Eine Krankenschwester in einem grünen Kittel ging vorbei. Sie hatte einen blonden Pferdeschwanz und eine tolle Figur. Sie erinnerte Matt an das blonde Mädchen aus den Archie-Comics. Betty. Oder vielleicht doch Veronica? Justin folgte ihr mit den Augen, bis sie um die Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Dann machte er eine obszöne Geste und schob die Zunge in die Innenseite seiner Wange.
»Kongenial«, sagte er. »Diese Krankenschwester ist einfach kongenial.«
Matt grinste schwach. Kongenial. Das war vermutlich eins von Justins Ein-Wort-pro-Tag-Wörtern. Justin benutzte die Worte fast nie in ihrer ursprünglichen Bedeutung, aber das kümmerte ihn nicht. »Wenn du ein Wort zehnmal am Tag sagst«, meinte er immer, »dann gehört es dir.«
Justins Gesicht wurde ernst. »Ich dachte, du wärst erledigt, Mann«, sagte er. »Du bist einer Panzerfaust in die Quere gekommen. Erinnerst du dich?«
Einer Panzerfaust. Matt nickte. Aber er erinnerte sich nicht. Überhaupt nicht. »Ist …« Das Sprechen bereitete ihm Mühe. »Ist jemand anderes …« Er schluckte. »… verletzt worden?«
Justin blickte in seinen Schoß und rieb mit seiner Handfläche über seine Stoppelhaare. Das kurze, glatte blonde Haar erinnerte Matt an frisch gemähtes Heu. Nach einer Weile schaute er zu Matt.
»Du erinnerst dich nicht?«
Matt schüttelte den Kopf. Selbst diese Bewegung trieb einen bohrenden Schmerz durch seinen Schädel.
»Es war gestern«, sagte Justin. »Erinnerst du dich an gestern?«
Matt versuchte es. Vergeblich.
»Ganz sicher?« Justin warf einen Blick über die Schulter, so wie er es immer tat, wenn er die Dächer nach Heckenschützen absuchte. »Überhaupt nichts?«
»Warum? Wurde noch jemand verletzt?«
Justin knetete seine Augenbraue zwischen Daumen und Zeigefinger. »Nur ein paar Hadschis.«
Feind war die offizielle Bezeichnung. Aufständische war auch in Ordnung. Aber alle nannten sie nur Hadschis. Und wenn man keinen Kotzbrocken zum Kommandeur hatte, kam man auch damit durch.
»Okay«, sagte Justin und beugte sich so dicht zu ihm, dass Matt seinen Schweiß und den Gestank nach verbranntem Kordit riechen konnte, der sich bei einem Gefecht in den Uniformen festsetzte. »Okay, Kumpel. Ich sag dir, was passiert ist.«
Justin rückte seine Brille zurecht. »Wir waren am südlichen Checkpoint.«
Matt nickte. An diesem Checkpoint waren sie schon die ganze Woche lang eingesetzt gewesen.
»Und dann brach ein Taxi durch die Barrikade …«, fuhr Justin fort.
»Daran erinnere ich mich«, sagte Matt. »Drei Typen in einem orange-weißen Taxi.«
»Genau. Wir also in den Humvee und hinter den Mistkerlen her.« Justin war aufgedreht, wie immer nach einem Kampfeinsatz. »Wir fahren in die Straße, wo dieser Kerl die illegalen Videos verscherbelt. Das war wie im Film, Kumpel: Wir sind auf zwei Rädern um die Ecken gebrettert!«
Matt nickte. Er erinnerte sich an den Video-Typen. Er hatte ihnen eine Raubkopie von Spider-Man 3 verkauft. Und er sah noch das Bild vor sich, wie das Taxi um die Ecke bog, von der Hauptstraße abfuhr und in eine Seitenstraße hinein. Aber den Rest der Einheit sah er nirgends. »Wo waren McNally und Wolf und die anderen?«
Justin verengte die Augen und senkte das Kinn auf die Brust. »Du weißt es nicht mehr?«, fragte er.
Matt schaute ihn bloß an.
»Wir wurden getrennt.«
»Oh«, sagte Matt.
»Wir beide stehen also in dieser Gasse«, erzählte Justin weiter. »Und die Mistkerle springen aus ihrem Wagen und verschwinden in einem Haus am Ende der Gasse. Wir also raus aus dem Humvee und zu Fuß weiter. Und kaum sind wir draußen, geraten wir unter Beschuss.«
Matt erinnerte sich an die Gasse. Sie sah genauso aus wie alle anderen Straßen in Bagdad – eine Mondlandschaft aus Schutt und Geröll, mit Stacheldraht überall auf dem Boden. Mitten auf der Straße lag ein Wagen auf dem Dach, wie ein Riesenkäfer. Und da war noch ein Hund, ein dürres Viech mit einem krummen Schwanz, das in einem Abfallhaufen schnüffelte – mitten in einem Feuergefecht.
»Wir gehen also in einem Haus auf der anderen Straßenseite in Deckung«, erklärte Justin.
Matt sah Justin vor sich, wie er mit gesenktem Kopf durch die Gasse rannte, aber an das Haus konnte er sich nicht erinnern.
»Wir verschanzen uns an einem Fenster im Obergeschoss, reißen den Vorhang runter und sehen am anderen Ende der Straße diesen Hadschi-Scheißer, der sich aus dem Fenster beugt und auf unseren Unterschlupf zielt«, sagte Justin. »Und ich nehme ihn ins Visier. BUM! Er segelt aus dem Fenster wie ein Eimer Briketts.«
»Wow«, sagte Matt, »aber wie …?«
»Und dann gehen wir wieder raus, wir sind auf der Straße, wollen gerade zum Humvee, und da – ZISCH