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"Verzeih mir …" Verzweifelt steht Helen vor Alexander, mit dem brennenden Wunsch im Herzen, das Unrecht an dem Mann, den sie liebt, wieder gut zu machen. Wird er ihre Entschuldigung annehmen, sie zärtlich am Kaminfeuer küssen - oder sie kühl fortschicken?
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Seitenzahl: 192
IMPRESSUM
Versöhnung am Kamin erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 1987 by Penny Jordan Originaltitel: „Payment in Love“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 802 - 1988 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 04/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733777883
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Auf dem dunklen Teppich im Wohnzimmer lagen mehrere zurechtgesägte Kiefernholzstücke und eine Rolle rotes Band herum, das die Katze abgewickelt hatte. Im Kamin loderte ein lustiges Feuer, das an diesem trüben Winternachmittag eine behagliche Stimmung verbreitete. Helen nahm all diese Einzelheiten unbewusst in sich auf, als sie das Zimmer betrat, denn sie war danach erzogen worden, alles genau zu beobachten und die Eindrücke zu speichern, um sie bei Bedarf für ihre Arbeit zu verwenden. Heute allerdings war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.
Gerade hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert, doch das Gespräch hatte sie keineswegs beruhigt. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr Vater vor zwei Tagen mit einem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden war.
Niemand hatte geahnt, dass es ihm so schlecht ging. Gordon Burns war ein schlanker Mann in den Fünfzigern und schien noch über die gleiche Energie wie ein junger Mann zu verfügen.
Sogar jetzt, nachdem sein dichtes dunkles Haar grau geworden war, konnte Helen die Tatsache, dass er älter wurde, nur schwer akzeptieren. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Lippe. Sie beide hatten sich immer sehr nahegestanden.
Viele von Helens Altersgenossinnen wunderten sich, dass sie für ihre Eltern arbeitete und dazu noch freiwillig in deren Haus lebte. Wahrscheinlich war das mit dreiundzwanzig Jahren ziemlich ungewöhnlich, aber sie hatte nie die Sehnsucht nach der sogenannten Freiheit verspürt.
Das Telefon klingelte, und Helen nahm mit klopfendem Herzen den Hörer ab. Wahrscheinlich war es wieder ihre Mutter, denn sie hatten ausgemacht, dass sie anrufen würde, sobald es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus gab. Bis jetzt war der Zustand ihres Vaters stabil gewesen, aber die Ärzte hatten von einer notwendigen Operation gesprochen, durch die ein weiterer Herzinfarkt in Zukunft verhindert werden sollte.
Helen wusste, dass eine solche Herzoperation nicht von der Krankenkasse finanziert wurde.
Sie war eine große schlanke Frau, hatte kastanienbraunes Haar und ähnelte mehr ihrem Vater als ihrer kleinen blonden Mutter. Nur in ihrem Temperament glich sie keinem von beiden. Ihr Vater hatte sie oft aufgezogen, wenn sie ihren Stolz und ihre Empfindungen nicht beherrschen konnte. Jetzt, als Erwachsene, hatte sie zwar immer noch nicht gelernt, ihre Gefühle zu kontrollieren, aber sie konnte sie wenigstens akzeptieren.
Ängstlich meldete sich Helen, aber es war nur Mrs Anstey, die Stütze der kleinen Gemeinde und ungekrönte Königin der örtlichen Frauenvereinigung.
„Helen, es tut mir leid, dass ich dich in einer so schweren Zeit mit meinen Angelegenheiten behelligen muss, aber was machen die Dekorationen?“
Vor vielen Jahren hatte Helens Vater als Abteilungsleiter in einem der führenden Kaufhäuser Londons gearbeitet. Damals war er auf die Idee gekommen, eine eigene Firma zu gründen, die auch kleineren Geschäften Schaufensterdekorationen und den dazugehörigen Service anbot, den sich sonst nur die großen Kaufhausketten leisten konnten.
Gordon Burns überraschte der Erfolg seines kleinen Unternehmens, und schon nach zwei Jahren trat seine Frau mit in das Geschäft ein, und auch Helen war in das Team aufgenommen worden, sowie sie ihre Ausbildung an der Kunstschule beendet hatte.
Helen liebte die Arbeit. Es erfüllte sie jedes Mal mit Befriedigung, mit wenig Aufwand wahre Wunderwerke zu zaubern, die zudem so aussahen, als hätten sie viel Geld gekostet.
Während der letzten Jahre hatte ihr Vater mehrere Angebote von größeren Firmen bekommen, die sein Unternehmen aufkaufen wollten, aber er hatte jedes Mal abgelehnt. Er wollte sein Geschäft klein und überschaubar halten und war mit dem Erfolg, den er hatte, zufrieden.
Wenn man ihrem Vater überhaupt einen Fehler vorwerfen konnte, dann nur seine Weichherzigkeit und Großzügigkeit.
Die Weihnachtsfeier im Altersheim war das beste Beispiel dafür.
Als Maureen Anstey ihn gefragt hatte, ob er die Kirche für das Fest dekorieren könne, hatte er sich sofort mit Begeisterung in die Arbeit gestürzt, aber Helen wusste aus Erfahrung, dass er die Zeit und den Aufwand nie in Rechnung stellen würde.
Sie hatten immer ihr Auskommen gehabt, und es war ihnen gut gegangen. Doch hatten ihre Eltern nie einen Penny zurücklegen können und waren deshalb nicht in der Lage, eine kostspielige Operation zu bezahlen, wie sie der Herzspezialist vorgeschlagen hatte.
Nachdem Helen Maureen Anstey versichert hatte, dass die Dekorationen rechtzeitig fertig würden, ging sie ins Wohnzimmer zurück. Dieser Raum war ihr der liebste in dem kleinen ehemaligen Pfarrhaus, das ihr Vater gekauft hatte, als sie nach Durminster gezogen waren. Alle Zimmer im Erdgeschoss waren mit einem Kamin ausgestattet, aber das Wohnzimmer mit den alten gemütlichen Möbeln hatte eine ganz besondere Atmosphäre. Und das war auch der Raum, in dem sich die Familie am Abend versammelte.
Die Katze miaute vorwurfsvoll und erinnerte Helen daran, dass es Zeit zum Teetrinken war. Außerdem wartete Meg auf ihren täglichen Spaziergang mit ihr.
Die alte Colliehündin wedelte mit dem Schwanz, als Helen in die Küche kam. Helen hatte Meg zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Bei der Erinnerung an diesen Geburtstag lief ihr ein Schauer über den Rücken. Den Gedanken daran hätte sie am liebsten verdrängt. So als wäre es gestern gewesen, stand ihr jener Morgen noch vor Augen: Ihre Eltern hatten sie erwartungsvoll angesehen, während sie ihr den kleinen Welpen in die Arme legten. Es hätte für Helen die glücklichste Erinnerung sein können, wenn ihre Mutter nicht etwas gesagt hätte, das ihre ganze Freude mit einem Schlag zunichtemachte.
Denn gerade, als sie dem Hündchen über das Köpfchen streicheln wollte, erklärte ihre Mutter: „Natürlich musst du Meg mit Alexander teilen, Helen.“
Sofort hatte Helen Meg in das Körbchen fallen lassen. Sogar heute, nach all den Jahren, konnte sie sich noch mit kindlich empörter Stimme sagen hören: „Dann will ich sie nicht! Ihr könnt sie ihm geben, wenn ich sie nicht allein besitzen darf!“ Natürlich war sie eifersüchtig gewesen. Und obwohl sie damals ein unreifes Kind war, hatte sie mit ihrer Handlung das Leben der Familie bis auf den heutigen Tag verändert.
Helen war sieben Jahre alt gewesen, als ihre Eltern den Plan fassten, einen Pflegesohn aufzunehmen. Helen hatte sich von Anfang an dagegen gesträubt. Vielleicht hätte sie sich an den Gedanken gewöhnen können, wenn sie nicht eines Tages zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater gewesen wäre. Damals hatte sie erfahren, dass ihre Mutter niemals ganz über den Tod ihres ersten Kindes, eines Sohnes, hinweggekommen war, den sie bei einer Fehlgeburt verloren hatte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Helen nicht gewusst, dass sie einen älteren Bruder gehabt hätte. Bis dahin hatte sie geglaubt, die uneingeschränkte Liebe ihrer Eltern zu besitzen, und nun plötzlich zweifelte sie daran.
Der Gedanke, ihre Eltern mit einem anderen Kind teilen zu müssen, versetzte ihr einen Stich. Während noch das Für und Wider dieses Plans erörtert wurde, wuchs in Helen die Eifersucht auf den Eindringling. Offenbar war ein Junge für ihre Eltern wichtiger als sie. Noch bevor eine Sozialarbeiterin Alexander ins Haus brachte, hasste Helen ihn schon von ganzem Herzen.
Heute wusste sie, dass diese Ablehnung ihren Vater in seiner Entschlossenheit, einen Bruder für sie ins Haus zu nehmen, nur bestärkt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass niemand sie in ihren Gefühlen verstand. Sie hatte nur Angst gehabt, dass dieser fremde Junge sie aus dem Herzen ihrer Eltern verdrängen könnte.
Natürlich hatten ihre Eltern nichts von diesen Ängsten geahnt. Beide waren auch als Einzelkinder groß geworden und wussten sehr wohl um die Problematik eines Kindes, das nicht gewohnt war zu teilen.
Als Alexander schließlich in die Familie kam, begegnete Helen ihm abweisend. Und diese Haltung war ihr nicht schwergefallen. Er war nicht nur stärker und größer als sie, sondern auch sechs Jahre älter. Zum anderen schien er auch klüger als sie zu sein und konnte sich mit ihren Eltern auf einer Ebene unterhalten, die ihr verschlossen war.
Heute wusste sie natürlich, dass Alexander sich damals ähnlich unsicher gefühlt haben musste. Er hatte sie aus Angst ignoriert, nicht weil er sie bei ihren Eltern ausstechen wollte. Ja, heute wusste sie mehr über diese Dinge, aber jetzt war es zu spät.
Helen zog den Dufflecoat an. Draußen wehte ein kalter Wind, und es roch nach Schnee.
Meg kläffte aufgeregt, als Helen die Tür öffnete. Im hinteren Teil des Gartens gab es eine kleine Pforte, durch die man auf einen kleinen Pfad gelangte, der zu den Feldern führte. Es war ein sonniger Tag gewesen, die Luft war kristallklar.
Aus dem nahen Wäldchen hörte Helen das Keckern eines Fuchses.
Meg spitzte die Ohren und suchte die Fährte. Der Abend war wie geschaffen für einen langen Spaziergang. Helen wusste, dass ihre Eltern sich oft Gedanken über ihr einsames Leben machten. Ihre Mutter schlug ihr immer wieder vor, an den verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen in der Gemeinde teilzunehmen, aber Helen hatte meistens abgelehnt. Bisher hatte sie sich noch nicht ein einziges Mal verliebt. Nie hatte sie den Wunsch verspürt, eine Beziehung mit einem jungen Mann einzugehen, denn sie kannte sich zu gut und wusste, dass eine flüchtige Begegnung nichts für sie war. Sie kannte die Intensität und Tiefe ihrer Gefühle und die damit verbundenen Schmerzen. Darum zog sie sich lieber zurück wie ein gebranntes Kind.
Die stabile und liebevolle Beziehung zu ihren Eltern hatte sie verwöhnt. Sie konnte die sorglose Art, mit der sich ihre Altersgenossinnen in die Ehe stürzten, nicht verstehen und bezweifelte, dass sie je einen Mann finden würde, der bereit war, sich vorbehaltlos an sie zu binden. Denn nur nach einer solchen Beziehung sehnte sie sich.
Und deshalb war es besser, sich gar nicht erst zu verlieben.
Zwar hatte sie sich gelegentlich mit Jungen verabredet – Jungen, die sie von der Schule kannte und die inzwischen zu Männern herangewachsen waren – oder mit Männern, mit denen sie arbeitete, aber bis jetzt hatte ihr niemand viel bedeutet.
Das Eis auf dem gefrorenen Pfad knackte unter ihren Schritten. Meg verfolgte eine neue Fährte und steckte ihre Schnauze in einen leeren Kaninchenbau. Helen und Meg kannten den Weg gut, aber sie entdeckten trotzdem jedes Mal etwas Neues. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und Helen betrachtete entzückt die dunklen Zweige, auf die das Mondlicht silberne Reflexe malte.
Das Wetteramt hatte Schnee für Weihnachten vorausgesagt. Die Dorfkinder werden begeistert sein, hatte Maureen Anstey sachlich bemerkt. Weniger willkommen würde der Schnee den Menschen sein, die jeden Tag nach Bristol oder Bath zur Arbeit fahren mussten.
Der Kohlenschuppen war gefüllt, und das Holz, das ihr Vater erst vor zwei Wochen gehackt hatte, lag ordentlich gestapelt für ein wärmendes Kaminfeuer bereit. Helen konnte sich noch gut daran erinnern, wie erstaunt Alexander damals gewesen war, als er die tief verschneite Landschaft zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte in London gelebt. Dort blieb der Schnee niemals länger als einige Stunden liegen. Sekundenlang hatte Helen sich ihm überlegen gefühlt, aber wie immer hatte er es verstanden, die Situation schnell zu seinen Gunsten umzukehren. Sie fror plötzlich und rief Meg.
Natürlich wusste Helen genau, weshalb sie in Gedanken immer wieder zu Alexander zurückkehrte. Seit der Herzspezialist ihnen eröffnet hatte, dass ihr Vater operiert werden müsste, wusste sie, dass nur Alexander ihnen helfen konnte.
Die Geschäfte ihres Vaters waren in letzter Zeit nicht sehr gut gegangen. Viele kleine Läden hatten keine Möglichkeit mehr gesehen, mit den großen zu konkurrieren, und hatten aufgegeben. Unternehmensgruppen wie „Bennett Enterprise“ schluckten die kleinen Firmen. Wer hätte je gedacht, dass der kleine verwahrloste Alexander Bennett, den ihre Eltern als Pflegesohn zu sich genommen hatten, einmal ein so erfolgreicher Geschäftsmann werden würde?
Er war heute vielfacher Millionär, und wenn man dem Klatsch in der Regenbogenpresse glauben konnte, führte er auch ein dementsprechendes Leben. Da Helen ihn gut kannte, glaubte sie, was sie in der Presse las.
Er hatte immer nur das Beste gerade gut genug für sich gefunden. Sie brauchte nur an die vielen Models zu denken, die er mit nach Hause gebracht hatte, um sie ihren Eltern vorzuführen. Glamouröse Luxusgeschöpfe, in deren Gegenwart sie sich ungelenk und hässlich gefühlt hatte. Alexander hatte ihr Unbehagen bemerkt und seinen Triumph genossen.
So war es immer zwischen ihnen gewesen. Vom ersten Augenblick an hatten sie sich als Feinde betrachtet. Damals konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie ihn eines Tages besiegen würde. Sie schauderte, als sie an den hohen Preis für diesen Sieg dachte und den alten Schmerz spürte, den sie tief in ihrem Herzen verschlossen hatte. Ihre Eltern hatten Alexander seit jenem entsetzlichen Abend an ihrem siebzehnten Geburtstag nie mehr erwähnt. Sie hatten ihr nie Vorwürfe gemacht, aber Helen wusste, was sie fühlten. Sie hatten ihr zwar die gleiche Liebe entgegengebracht, aber ihr dadurch auch gleichzeitig einen Spiegel vorgehalten, in dem sie ihre Selbstsucht und unbegründete Eifersucht erkannte. Der Therapeut, der sie während ihres Aufenthalts im Krankenhaus behandelte, hatte ihr auf diesem Weg geholfen. Sie zitterte bei der Erinnerung an den dummen Teenager, der sie damals gewesen war, an ihre Rache, die sie genommen hatte, ohne an die Folgen für alle Beteiligten zu denken.
Selbst heute verfolgten sie die Ereignisse jener Nacht noch immer. Damals hatte sie nur den einen Wunsch gehabt, Alexander ein für alle Mal zu besiegen und ihm die Rückkehr nach seinem erfolgreich absolvierten Examen in Oxford zu verderben. Ihre Eltern sollten zwischen ihnen beiden wählen.
Und sie hatte gesiegt. Aber um welchen Preis?
Nie würde sie die Angst und den Vorwurf in ihres Vaters Blick vergessen, als sie im Krankenhaus aufwachte.
Man hatte ihr den Magen ausgepumpt. Und als sie erschöpft und noch halb benommen die Augen aufschlug, war ihre erste Frage gewesen: „Wo ist Alexander?“
Ihre Eltern hatten ihr aus Mitleid und Liebe verschwiegen, dass er fortgegangen war.
Helen hatte geglaubt, dass Alexander mit Absicht ihren Geburtstag für seine Heimkehr aus Oxford gewählt hatte, weil er ihr den Tag stehlen wollte. Ihre Eltern hatten ein Geburtstagsessen im ersten Hotel des Ortes vorbereitet, aber Helen weigerte sich, sich umzuziehen, und blieb beleidigt in ihrem Zimmer. Sie rechnete fest damit, dass ihr Vater erscheinen und sie überreden würde, doch mitzukommen.
Doch statt ihres Vaters war Alexander zu ihr gekommen. Er sah älter und reifer aus als bei seinem letzten Besuch vor einem Jahr. Während seines letzten Jahres in Oxford hatte er in den Ferien gearbeitet, sodass sie ihn lange nicht gesehen hatte. Helen hatte gehofft, er sei für immer aus ihrem Leben verschwunden, obwohl er regelmäßig einmal die Woche schrieb und telefonierte.
Er hatte sie wie ein bockiges, verwöhntes Kind behandelt. „Du erwartest von jedem, dass er nach deiner Pfeife tanzt“, hatte er gesagt, und sie hatte in seiner Kritik ein Körnchen Wahrheit entdeckt. Das schmerzte, und deshalb hasste sie ihn umso mehr. „Wenn du auch nur etwas für deine Eltern empfindest, ziehst du dich jetzt sofort um und gehst mit uns“, fügte er dann hinzu. „Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst, Helen. Hör auf, die Menschen, die dich lieben, zu erpressen, damit du erreichst, was du haben willst. Wir beide werden immer so weit wie Nord- und Südpol voneinander entfernt sein, aber um deiner Eltern willen sollten wir wenigstens versuchen, miteinander auszukommen.“
Damals hatte sie sich geweigert, nach unten zu gehen, und schließlich waren ihre Eltern mit Alexander ohne sie ausgegangen.
Beinahe wahnsinnig vor Wut und Eifersucht war sie zu dem Medikamentenschränkchen gegangen und hatte eine volle Packung Schlaftabletten herausgenommen.
Helen hatte nicht wirklich sterben wollen, sondern nur den dringenden Wunsch gehabt, die Menschen zu bestrafen, die sie weniger – viel weniger – als Alexander liebten.
Wenn Alexander ihre Eltern nicht überredet hätte, schon nach dem ersten Gang nach Hause zurückzukehren, würde sie heute wahrscheinlich nicht mehr leben.
Sie hatte bereits das Bewusstsein verloren, als ihre Eltern ihren kindischen Abschiedsbrief fanden. Sie war sofort ins Krankenhaus gebracht worden.
In ihrem Abschiedsbrief hatte sie viele törichte, bittere Worte gefunden. Sie hatte ihre Eltern beschuldigt, sie hätten sich immer gewünscht, sie wäre ein Junge, und Alexander hatte sie vorgeworfen, dass er versucht habe, ihr die Liebe der Eltern zu stehlen. Da sie sich weder erwünscht noch geliebt fühle, hätte sie beschlossen, aus dem Leben zu scheiden.
Während der Therapie, die sie nach dem Krankenhausaufenthalt durchlief, lernte sie, dass sie nicht Alexander so sehr gehasst hatte, sondern die Bedrohung, die er für sie darstellte. Nur sie allein war für ihre Gefühle verantwortlich.
Zuerst war sie wütend geworden, aber später, als sie die Wahrheit erkannte, hatte sie ihre unüberlegte, kindische Drohung bitter bereut. Da war es jedoch zu spät. Alexander war fort. Er hatte nur einen kurzen Brief hinterlassen, in dem er schrieb, dass es unter den gegebenen Umständen besser sei, wenn er für immer fortgehen würde. Nie würde er vergessen, was ihre Eltern für ihn getan hatten.
Alexanders Fortgang wurde nie mit einem Wort erwähnt, aber Helen spürte, wie sehr ihre Eltern ihn vermissten. Er war immer eine Stütze für ihr Mutter gewesen, und auch ihr Vater hatte ihn oft in finanziellen Angelegenheiten um Rat gefragt. Wenn nur …
Aber das Leben war kein Märchen. Sie konnte nicht einfach die Augen schließen, sich etwas wünschen und darauf warten, dass der Wunsch in Erfüllung ging.
Doch es gab noch eine andere Lösung. Immer wieder hatte sie versucht, einen anderen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Seit ihr Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war, wusste sie, dass nur Alexander bereit sein würde zu helfen. Sie musste zu ihm fahren und ihn um ihrer Eltern willen um Hilfe bitten.
Helen hatte einen längeren Spaziergang gemacht, als sie eigentlich beabsichtigt. Als sie nach Hause zurückkehrte, läutete das Telefon. Es war ihre Mutter.
„Es ist alles soweit in Ordnung, Helen. Bis jetzt hat sich das Befinden deines Vaters nicht verändert, aber Mr Frazer hat noch einmal bestätigt, dass er eine Operation für unbedingt erforderlich hält. Er schlägt einen besonders qualifizierten Chirurgen vor, der sich im Augenblick allerdings in New York aufhält. Ende der Woche kommt er zurück. Ich habe Mr Frazer gesagt, dass wir die Operation nicht privat bezahlen können, weil dein Vater seine Krankenversicherung gekündigt hat!“
Helen umklammerte den Telefonhörer wie einen Strohhalm. Wenn nur die Geschäfte im letzten Jahr etwas besser gegangen wären! Ob ihre Mutter überhaupt von der Hypothek wusste, die Vater auf das Haus aufgenommen hatte, um Kapital in die Firma stecken zu können? Die Bank hatte schon auf Rückzahlung gedrängt …
Helen schauderte. Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt bekommen, als er gerade die lange Liste seiner Schulden durchgegangen war. Sie hatte die Papiere später auf seinem Schreibtisch entdeckt.
„Ich bleibe über Nacht im Krankenhaus. Die Schwestern haben mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt, solange es deinem Vater schlecht geht. Wie kommst du zurecht?“
Es sah ihrer Mutter ähnlich, dass sie trotz ihrer Sorgen auch noch daran dachte, wie es ihr, Helen, ging. Wie hatte sie nur jemals glauben können, dass ihre Eltern sie nicht liebten? Sicher hätten sie gern einen Sohn gehabt. Sie hatten Alexander geliebt, aber das hatte ihre Liebe für sie nicht vermindert. Ihre eigene törichte Eifersucht hatte sie verblendet.
„Mir geht es gut. Ich arbeite an den Dekorationen für die Kirche. Morgen muss ich mir neues Material besorgen“, fügte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu. „Sorg dich deshalb nicht, wenn du mich nicht erreichst. Ich werde den größten Teil des Tages unterwegs sein.“
„Pass auf dich auf, Darling. Es ist Schnee angesagt. Fahr vorsichtig“, warnte ihre Mutter sie.
Helen hatte ein schlechtes Gewissen, als sie den Hörer auflegte. Sie hasste es zu lügen, aber sie brauchte Zeit, um ihren Plan auszuführen.
Helen schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Sie wachte lange vor der Morgendämmerung auf und lag im Bett und beobachtete, wie es draußen langsam heller wurde. Der Himmel färbte sich allmählich rosa. Das bedeutete Schnee. Die ganze Nacht über hatte sie heftig geträumt: Alexanders Ankunft in der Familie. Er war so viel größer, als sie erwartet hatte, und so schrecklich aggressiv. Während ihrer Therapie hatte sie gelernt, dass die Aggression das einzige Mittel zur Selbstverteidigung war, über das er verfügte, um seine Unsicherheit zu überspielen. Er war in einem der ärmsten Viertel Londons groß geworden, sein Vater hatte ihn verlassen, und seine Mutter war mit fünfundzwanzig Jahren an einer illegalen Abtreibung gestorben. Danach kümmerten sich seine Großeltern um ihn. Heute war Helen bewusst, dass er wahrscheinlich nie in seinem Leben Güte und Liebe erfahren hatte, bis ihre Eltern ihn aufgenommen hatten. Nach dem Tod seiner Mutter gaben seine Großeltern ihn in ein staatliches Pflegeheim. Bevor er zu ihren Eltern kam, hatte Alexander schon in den verschiedensten Heimen gelebt. Er galt als schwer erziehbar und dumm.
Weshalb nur hatten ihre Eltern gerade ihn als Pflegekind ausgesucht? Helen wusste es nicht. Über ihn zu reden war stets so, als würde sie verbotenes Gebiet betreten. Ihre Eltern vermissten ihn noch immer. Sofort, nachdem ihr Vater das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er nach Alexander gefragt. Nur aus Liebe zu ihr sprachen ihre Eltern sonst nie von ihm und taten, als existiere er nicht. Der Schmerz, ihren Eltern aus bloßer Eifersucht so viel Kummer bereitet zu haben, ließ nie ganz nach, aber es war zu spät.
Allerdings war es nicht zu spät, die Zukunft besser zu gestalten.
Alexander wusste, dass Helen ihn hasste, wie er ebenso wusste, dass ihre Eltern ihn wirklich liebten. Es stellte sich sehr bald heraus, dass er überdurchschnittlich begabt war. Ihr Vater hatte Spaß an seinem wachen Geist und ihn gefördert, wo er konnte. Als Alexander ein Stipendium für eine Privatschule gewann, war ihr Vater sehr stolz gewesen.
Helens letzte Erinnerung an Alexander war jener schicksalsschwere Abend an ihrem siebzehnten Geburtstag. Alexander war während seiner Studienzeit auf der Universität groß und kräftig geworden. Von einem Ferienjob im Ausland war er gerade tief gebräunt zurückgekommen und hatte sie, kaum angekommen, in ihrem Zimmer aufgesucht. Sie konnte sich noch ganz genau erinnern, wie sie am ganzen Körper gezittert hatte.
Doch es nützte nichts, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Jetzt war sie reif genug, um ihren Eltern für ihre Liebe und die Opfer, die sie ihr gebracht hatten, zu danken.
Helen warf einen Blick auf den Zettel, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett lag. Gestern hatte sie die Adresse der Hauptniederlassung der Firma „Bennett Enterprise“ herausgesucht.
Ihr Plan war bereits fertig, trotzdem verspürte Helen große Nervosität. Was würde geschehen, wenn Alexander es ablehnte, mit ihr zu sprechen? Was sollte sie tun, wenn er nicht da war?