Versöhnung - Uwe Schulz - E-Book

Versöhnung E-Book

Uwe Schulz

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Beschreibung

Eine grandiose Sammlung von Kurzgeschichten: 'Versöhnung' spürt den entscheidenden Momenten des Lebens nach. Den Momenten, in denen Menschen nicht mehr weiterwissen. In denen die Wirklichkeit sie vor radikale Entscheidungen stellt.

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Uwe Schulz Versöhnung

Uwe Schulz

Versöhnung

Geschichten aus dem ganzen Leben

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag: Singkham / Shutterstock.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-754-8 ISBN (MOBI) 978-3-03848-755-5

www.fontis-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Story Nr. 1: Ein guter Tag

Story Nr. 2: Vater

Story Nr. 3: Mick

Story Nr. 4: Amazing Grace

Story Nr. 5: Die Schafe von Sineu

Story Nr. 6: Bergmanns Riss

Story Nr. 7: Gottes Elefant

Story Nr. 8: Ben

Story Nr. 9: Das Ende

Story Nr. 10: Ein Leib

Story Nr. 11: Der Flüsterer

Story Nr. 12: BVB

Anmerkungen des Autors

Story Nr. 1

Ein guter Tag

Michael Schmidt ist ein unscheinbarer Mann.

Aus seiner Mietwohnung in der zweiten Etage eines Gründerzeit-Hauses im Norden der Stadt dringt niemals auch nur das leiseste Geräusch hinaus auf den Flur oder in eine der benachbarten Wohnungen.

Wenn er in mittelgrauen New Balance-Sneakers und umgekrempelten blauen Röhrenjeans auf die Straße tritt, fällt er nicht weiter auf. Er ist eine der gepflegteren Erscheinungen im Viertel; nie verlässt er das Haus, ohne sich zuvor akkurat nass rasiert und das üppige braune Haar seitlich gescheitelt zu haben.

Die düsteren Kerle links vor der Tür investieren offenkundig auch viel in ihre äußere Erscheinung. Rund um die Uhr lungern sie vor dem Spielsalon im Erdgeschoss herum, um zu rauchen oder zu palavern,

… mit ihren unsäglichen schwarzen Dreitagebärten und glänzendem Undercut,

denkt Schmidt,

bald bin ich der einzige Deutsche hier in der Ecke,

als er an diesem trüben, milden Mittwochnachmittag im Oktober die spröde Holztür wieder kraftvoll hinter sich zuzieht, weil sie wie immer auf der Sisalmatte hängen geblieben ist.

Dreimal hat er in diesem Jahr schon versucht, eine neue Wohnung zu bekommen. In der Oststadt. Dreimal hat das Jobcenter abgelehnt. Zu teuer.

Die Angemessenheit ergibt sich aus der Anzahl der Personen in der Bedarfsgemeinschaft, der Größe der Wohnung sowie des Mietpreises je Quadratmeter und der Art der Heizung,

stand im Bescheid.

Bürokraten-Blabla.

Und das, wo ich 23 Jahre lang eingezahlt habe.

Er tut auch heute so, als ignorierte er die kleine Gruppe junger Männer, die gleich links neben dem Hauseingang an den foliierten Scheiben mit dem knallgelben Casino-Schriftzug lehnen und auf ihre Smartphones starren. Vermeidet jeden Blickkontakt, achtet aber auf alle Bewegungen am Rand seines Gesichtsfeldes.

Diese Typen hier: Schule abgebrochen. Arbeitslos.

Kriegen das gleiche Geld wie ein Deutscher.

Für nichts.

Er huscht vorbei, zügig, wie einer, der Pläne hat.

Aber nicht zu schnell.

Nicht, dass sie glauben, ich hätte Angst.

Michael Schmidt hat Pläne. Konkrete, dringende, wichtige Pläne.

Schon seit Wochen. Und jetzt stehen sie vor der Vollendung.

Den meisten dieser Typen wäre er gewachsen mit seinen knapp eins neunzig, die er mit Hanteltraining dreimal pro Woche auf muskulöse 98 Kilo aufgepumpt hat.

Die meisten vor dem Haus – im ganzen Viertel – sehen für ihn aus wie Araber und Türken.

Albaner vielleicht auch dabei, auf jeden Fall Bulgaren.

Die Linie 35 fährt mit schnarrendem Dieselmotor vorbei, wie immer tagsüber um zwanzig vor. Knapp zehn Minuten hat er noch bis zum Treffpunkt am Park. Dann noch mal zehn bis zum Versteck der Illegalen.

Gestern wieder zwei Neger vorm Supermarkt.

Die für Tausende von Euro einen Schlepper bezahlt haben, damit er sie hierherschafft. Ins gemachte Nest.

Michael Schmidt hält nichts von ordinären Ausdrücken, würde nie «Bimbo» sagen. Aber er versteht, warum Leute die Neger so nennen.

Weil sie wütend sind. Weil sie es satthaben, von Gutmenschen und ihrer linken Propaganda ständig als Nazis defamiert –

er ist sich ohne die Autokorrekturfunktion an seinem Laptop wieder nicht sicher, ob das Wort so heißt –

«weil sie es satthaben, kleingemacht zu werden».

So hat er es letzte Nacht erst auf der Meinungsseite der Nordnews hinterlassen unter einem seiner Lieblings-Nicknames: [email protected]. Sein Kommentar zu einer Reportage aus einem Berliner Problemviertel.

«Sie ignorieren regelmäßig den von Jungmännern aus den Bandelieus bis zur massiven BRANDSCHATZUNGSWELLE und MORD exekutierten ISLAMISCHEN und links-verharmlosten ANTISEMITISMUS, um ihn dann genauso regelmäßig irgendwelchen ‹RECHTEN› in die Schuhe zu schieben»,

hat er geschrieben.

Den Text hat er wieder per Copy & Paste von der Blickpunkt D-Seite übertragen. Häcksler33 hat das erst am Vortag gepostet, einer seiner Lieblingsschreiber, seit der im Sommer «Bruder im Geist!» unter einen von Schmidts Facebook-Kommentaren geschrieben hat.

Er verbringt manchmal Nächte damit, das Internet nach Meldungen zu durchsuchen, die ihn «anmachen», wie er es nennt. Am besten die frischen Inhalte großer Medien, die es in den Suchmaschinen ganz nach oben auf die Newsseiten schaffen oder in Radio und Fernsehen in die Nachrichten oder auf die Titel der Zeitungen.

Manche Meldungen sind perfekt, weil er sie nur eins zu eins zu übernehmen braucht, um dann drüberzuschreiben:

«Noch Fragen?»

Oder: «Kommentar überflüssig».

August 2014 war so ein Volltreffer:

New York (dpa) – Antisemitismus aus dem linken politischen Lager ist nach Ansicht des Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Petr Papousek, gefährlicher als der von rechts. «Aber das eigentliche Problem ist, dass in Europa immer mehr muslimische Einwanderer leben, und ein Teil von ihnen verachtet Juden», sagte er.

Eine der besten Quellen auf Michael Schmidts Laptop, wo er die wertvollsten in Ordnern mit klaren Schlagwörtern archiviert, gleich auf dem Desktop:

«Salafismus», «Lügenpresse», «Linke», «Schlepper» …

Die entscheidenden Daten aber hat er nicht digitalisiert.

Die liegen nach guter alter Manier in der mittleren Schreibtischschublade; kariertes DIN-A4-Papier, per Hand beschrieben, zum Schutz vor Hackern und Schnüfflern. Eine Liste ohne Titel. Darauf Namen, Post- und Mail-Adressen und Telefonnummern. Nicht alphabetisch oder nach Funktion sortiert, sondern in der Reihenfolge, wie sie im Laufe der Jahre angefallen sind: Ratsmitglieder, Übergangswohnheime, Moscheevereine, Journalisten, Antifa.

«Sie werden sich eines Tages alle verantworten müssen für dieses System»,

hat Siggi gesagt, als sie die Sammlung angelegt haben.

Einmal im Monat setzen sie sich zusammen und ergänzen die Liste.

Sechs doppelseitig beschriebene Blätter sind es inzwischen mit an die hundert wertvollen Informationen. Der Eintrag auf Seite 9:

Theilmeier, Ulf (P).

Das P steht für Pfaffe.

Er geht zügig wie immer.

Die Digitaluhr über der Wolf-Apotheke zeigt 16:41.

Ulf Theilmeier ist ein Mann, der auffällt, schon wegen seiner schlaksigen Erscheinung, die an den meisten Tagen des Jahres unten in Gesundheitssandalen und graue Arztsocken mündet, oben – zwei Meter und vier Zentimeter entfernt – seit mehr als achtzehn Jahren schon in einen lichten Kranz von gelockten, grau melierten Haaren.

Neun Jahre davon hat er bis jetzt als Pfarrer im Bezirk Nordstadt erlebt. Und die ersten fast vier dieser Jahre wiederum hat er gebraucht, um sich auf die Mentalität seiner damals neuen Gemeinde einzustellen, die ihn mehrheitlich nicht mit «Herr Pfarrer» anspricht oder mit «Herr Theilmeier»; die meisten sagen nur noch «Der Lange», «Langer» oder sogar «Ulle».

Auch daran hat er sich gewöhnt.

Diese Stadt ist einfach verrückt nach Spitznamen,

denkt Ulf Theilmeier, als er sich auf sein E-Bike schwingt vor dem Gemeindezentrum aus den 1980ern, dessen Pultdach bald eine neue Traufe braucht.

Schmelle, Lewi, Tucho.

Oni, der Organist, Schmacke, seine Sekretärin, die eigentlich Schmidt-Ackermann heißt.

Letzte Woche hat ihn die etwas tüdelige Frau Hansen nach der Beerdigung sogar begrüßt mit «Hallo, Herr Ulle».

Auf der anderen Straßenseite sieht er eine vertraute rundliche Silhouette unter den kränkelnden Platanen. Kaya junior, der mit seinen knapp dreißig Jahren wieder einmal breitbeinig und etwas nach links gebeugt wie ein greiser Gutsherr vorm eigenen Gemüseladen steht und die Lage auf der Steinstraße sondiert.

Bald werde ich mir ein paar türkische Begriffe mehr draufschaffen, mehr als «Merhaba» und «nasilsin» und «güle güle»,

denkt der Lange.

Dann reicht's vielleicht mal für eine komplette Bestellung – wie bei Svenjas Lieblingsitaliener – prego, grazie, buona giornata.

Und dann lade ich Herrn Kaya noch mal ein zum Nachbarschaftsfrühstück, diesmal auf Türkisch, vielleicht zum Zuckerfest.

«Die Leute tragen hier das Herz auf der Zunge»,

pflegt Ulf Theilmeier inzwischen das zu beschreiben, was ihm und seiner Frau Svenja anfangs schroff und abweisend, ja unbarmherzig erschienen ist. Ein Kulturschock nach ihren ersten gemeinsamen Jahren in einer gemütlichen Gemeinde am Rand des Bergischen, wo alle friedlich und vertraut miteinander alt geworden waren.

«Das Herz auf der Zunge»,

so hat es ihm am Tag seiner Probepredigt schon der Vorsitzende des Presbyteriums angekündigt. Derselbe Mann – Taxiunternehmer von Beruf –, der ihm in der ersten Presbyteriumssitzung nach der Wahl gesagt hat:

«Kommen Sie uns nicht mit Jesulein-Geschichten und Alles wird gut!.

Die Leute hier müssen mit ihrem harten Alltag klarkommen.

Die brauchen ein Navi mit klaren Ansagen und Power für die Woche!»

Anders als der Kollege in der Innenstadt hat es Ulf Theilmeier nicht mit anspruchsvollen Aristokraten zu tun, die Konzertreihen und ein Architekturhistorisches Symposium planen, sondern mit Leuten, die ackern müssen, um über die Runden zu kommen. Pragmatiker. Macher. Viele nur mit Minijob plus Hartz IV, manche mit Wechselschichten und massig Überstunden.

«Malocher», wie sie hier immer noch sagen, obwohl die letzten Hütten schon längst zugemacht haben. Ganze Fabriken und Kokereien, die, einst hier demontiert, heute wiederaufgebaut in China stehen. Die einzige überlebende Brauerei steht jetzt irgendwo draußen in einem Gewerbepark und nicht mehr mitten in der Stadt.

Seine Gemeinde besteht überwiegend aus Menschen, die sich das Leben Tag für Tag erarbeiten. Sie haben ihn gereizt an dieser Stelle. Und sie reizen ihn heute wohl mehr als jemals zuvor in den letzten neun Jahren. Heute, an diesem trüben Oktobernachmittag, an dem er sofort aufs Rad gestiegen ist, als der Anruf aus der Wohnung ihn erreicht hat:

Er hat noch die etwas zu laute Altstimme von Frau Westphal im Ohr, als er auf den Radweg einfädelt:

«Ich glaube, sie haben uns gefunden.»

Sie war nervös,

vergegenwärtigt er sich den Klang ihres Anrufs,

aber irgendwie auch kämpferisch.

Er winkt Herrn Kaya quer über die Straße zu, kurz, tut so, als machte es ihm nichts aus, dass der Gemüsegutsherr nur ganz leicht das Kinn zum Gruß hebt, und stellt den Elektromotor auf Maximum.

Eine gute Viertelstunde wird er brauchen. Ein Wettlauf mit den anderen. Zwei Männer hat Frau Westphal vom Küchenfenster aus gesehen auf der anderen Straßenseite.

«Zwei Jungs, ganz normal angezogen»,

hat sie am Telefon gesagt.

«Aber die habe ich vorher noch nie hier gesehen. Zweimal haben sie dagestanden und zu uns hochgesehen: heute Mittag einmal und jetzt gerade wieder.»

Der giftgrüne VW hat sie aufmerksam gemacht.

«Ich glaube, ein Polo.»

Der Pfarrer blickt auf seine Armbanduhr, die zwischen dem Ärmel seiner moosgrünen Fleecejacke und seiner blassen Hand freiliegt.

Zwei sind da. Es werden mehr kommen.

Wer weiß, was sie vorhaben …

Siebzehn Minuten vor fünf.

Michael Schmidt trägt das Shirt unter der schwarzen Baumwolljacke, das Ecki und Björn ihm zum Geburtstag geschenkt haben.

Oder war es zum 1. Mai?

T-Shirt, hellblau, mit dem knallgrünen Schriftzug Defend Lampedusa und einem prachtvollen weißen Hai, der sein Maul aufreißt.

«Kleiner Scherz»,

hat Ecki ihm gesagt. Danach hat Michael Schmidt sich einmal die komplette Propaganda-Kollektion angesehen auf antisem.it.

Er lächelt vor sich hin beim Blick auf die eigene Spiegelung im Schaufenster des riesigen Kiosk Saado neben der U-Bahn-Station, als er zwischen den Zähnen des halb geöffneten Reißverschlusses die Zähne des Hais sieht.

Es ist so weit,

denkt Michael Schmidt.

Zeit, Zeichen zu setzen. In meiner Heimatstadt.

Die rechte Hand bleibt in der Jackentasche. Das hölzerne Handstück des Schraubendrehers ist warm von seinem festen Griff. Er hat das Waffengesetz lange studiert, Paragraph 42a: «Verbot des Führens von Anscheinswaffen und bestimmten tragbaren Gegenständen»; mit einem 75-Millimeter-Schlitzschraubendreher ist er auf der sicheren Seite.

«Bin unterwegs zu einer Baustelle»,

würde er sagen, falls sie ihn kontrollierten.

Elektriker wollte er wirklich einmal werden. Heute würde er mit dem Meister vielleicht klarkommen. Aber damals – mit neunzehn? Er hat hingeschmissen, genau zwölf Wochen vor der Prüfung.

Ja, ich war bescheuert. Aber ich habe mich berappelt. Ich bin klargekommen. 23 Jahre lang. Habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Eine Handvoll Jobs schwarz nebenher. Wer macht das nicht? Warum soll ich diesen Staat unnötig mästen?

Er geht den vertrauten Weg, die Straße runter Richtung Park, wo die anderen drei auf ihn warten. Ecki, Björn und der Neue, dessen Namen er sich nicht merken kann.

Der Junge kommt eindeutig aus der Szene;

das behagt Michael Schmidt nicht, dem muskulösen Mann mit der schwarzen Baumwolljacke und dem nahezu faltenfreien Gesicht eines Asketen.

Er hat den direkten Kontakt bislang immer vermieden zu den drei großen Kameradschaften in der Stadt, selbst zu SA-Sacha, wie sie den alten Haudegen nennen, an dem seit zwanzig Jahren kein Weg vorbeizuführen scheint, wenn es um Heimatschutz geht.

Michael Schmidt ist das alles zu laut oder einfach zu bemüht. Ihr Kodex und ihre Codes. Obwohl er sie alle kennt: die 18 für Adolf Hitler, 168:1 für Timothy McVeighs Bombenanschlag auf das Verwaltungsgebäude in Oklahoma. Michael Schmidt hat es gegoogelt:

Ein einzelner Mann killt 168 Menschen mit 2,4 Tonnen Mineraldünger und mehreren Hundert Litern Nitromethan. Wahnsinn! Aber nachvollziehbar.

«Der hat es durchgezogen»,

hat er in einem seiner zahllosen Beiträge auf Facebook geschrieben, als sie in den Medien die Festnahme der Home Defenders in Alabama so groß und breit gefeiert haben und überall Chroniken rechter Gewalt in den USA erschienen sind.

«Vielleicht brauchen dieses Land und diese Stadt auch mal ein deutlicheres Signal, um zu erwachen!»,

hat er gepostet.

Er liebt diese Andeutungen:

Deutschland erwache!

oder: Macht euch frei!,

oder: Volkszorn.

Begriffe, für die ihm keiner was kann, die aber jeder richtig versteht.

Das ist sein Stil.

Acht Ausrufezeichen hat er zuletzt hinter das «erwachen» gesetzt auf der Facebook-Seite der DAZ. Und ein einziges Fragezeichen.

Ein Riesenspaß, in den folgenden Tagen die Reaktionen darauf zu lesen.

Viele Gleichgesinnte, die sich mit dem Multikulti-Gesocks in der Wolle hatten.

An solchen Tagen fühlt er sich besser als nach dreimal dreißig Sit-ups.

Er hat kurz überlegt, doch den Adler fängt Fisch-Anstecker an den Jackenkragen zu heften, um gleich den Pfaffen zu provozieren, falls der auftauchen sollte;

den germanischen Adler, der den Christen-Fisch besiegt, den ICHTHYS.

Hat es dann aber doch gelassen. Er will sich noch Reserven lassen.

Nicht so stumpf vorgehen wie die Jungs aus den Kameradschaften,

das hat er sich fest vorgenommen.

Und bloß nicht in den Knast, in dem es wimmelt von Eseltreibern.

Die Russen im Viertel sind ihm auch zuwider. Neunzehn-, Zwanzigjährige mit pickligen Gesichtern unter raspelkurzen Haaren und lauernden Blicken. Sie stehen in Grüppchen an den Abgängen zur U-Bahn, kippen Wodka oder was auch immer für hartes Zeug aus kleinen Fläschchen, die in die Jackentasche passen, und taxieren jeden, der vorbeigeht.

Verkommen, zahnlos und laut.

Wem gehört eigentlich die Straße in diesem Viertel?,

fragt er sich.

Vielleicht liegt es an jenem Abend vor fast 24 Jahren, als er allein aus dem «Kuckuck» zurückgegangen ist nach dem Absacker mit den Kollegen aus der Berufsschule.

Drei Ölaugen auf der Suche nach Stress.

Grundlos hat ihn damals ausgerechnet der Kleinste am Kragen gepackt kurz vor der Falkenstraße, ihn an die Wand gedrückt und ihm das Portemonnaie abgenommen. Seither macht er Kraftsport. Seither hat er immer etwas in der Jackentasche, das nützlich sein könnte.

Ulf Theilmeier bleibt auf dem Radweg, obwohl die Digitalanzeige im Tacho zwischen 27 und 32 km/h pendelt.

Nicht schlecht für einen Endvierziger,

hat er sich gestern noch gedacht bei 34 km/h in der Spitze.

Das E-Bike hat ihn fitter gemacht. Und ausgeglichener, wie Svenja meint. Er fährt vorbei am Haus Münsterstraße 36a, das er Gästen von auswärts manchmal beschreibt als «meine Gemeinde in der Nussschale»:

Im Parterre: Fritz; langzeitarbeitslos, geschieden, Ende fünfzig.

Mit dem Akzent eines Spätaussiedlers bis heute. Aber ständig bereit, bei Reparaturen zu helfen, wenn wieder jemand in der Nachbarschaft zu wenig Geld für zu große Defekte hat. Mit einer Frömmigkeit, die den Pfarrer immer wieder überrascht.

«Jesus und ich, wir sind beide Handwerker»,

hat Fritz mal gesagt.

«Aber seine Sachen halten länger.»

Im dritten Stock: Martina, die zu viel raucht, aber immer nur auf dem Balkon, seit sie als «Ersatzoma» einspringt für drei junge Familien in der Straße.

Jeden Tag wie aus dem Ei gepellt wie in ihren fast vierzig Jahren als Sekretärin im immer selben Heizölhandel. Gestern erst hat der Pfarrer sie getroffen vor dem kleinen Spielplatz: die dreijährige Mathilde aus der vierten Etage an der Hand, weil in dieser Woche die Kindertagesstätte geschlossen ist und Mama Birte arbeiten muss.

«So sieht Glück aus»,

hat er Mathildchen gesagt, damit aber Martina gemeint:

Das Glück sieht aus wie Mathilde an Martinas Hand, mit Windelpopo in aufgerubbelten hellblauen Wollstrumpfhosen und den letzten Resten gut durchgekauter Butterkekse zwischen Nase und Mund.

In der zweiten Etage: Serdar Akgün, der junge Familienvater mit dem kleinen Elektrohandel im Hinterhof.

Inzwischen kommt er mit seiner Frau und der kleinen Samira auch gelegentlich zum «Nachbarschaftsfrühstück» am Samstag.

Seit sein Lagerist ihn eingeladen hat: Danial.

Danial aus dem Iran …

Bei ihm beginnt die ganze Geschichte, die Ulf Theilmeier nun zum Haus der Westphals treibt.

So sieht unser Leben aus. Unser gemeinsames Leben,

denkt er jetzt wieder, als er sich der drittletzten Ampel vor dem Ziel nähert.

«Ihre Leute organisieren sich selbst»,

hat der Superintendent mal mit etwas vorwurfsvollem Unterton gesagt.

Auf sein Wortspiel als Antwort ist der Lange mit dem schwarz-gelben Fahrradhelm heute noch ein wenig stolz:

«Richtig. Ich habe hier die größte autonome Szene der Stadt.»

Meistens kommt Martina aus der Münsterstraße 36a mit allen drei Familien in den Gottesdienst, deren Kinder sie hütet.

«Mit meinen fünf Enkeln», wie sie sagt.

Und sie kommt alleine zu mir, wenn dabei die Gedanken und Gefühle durcheinandergeraten – oder in Martinas Worten:

«Wenn die Seele Schlagseite hat.»

Er haut alles rein in diese Begegnungen unter vier Augen.

Und in seine Predigten, alles, was ihm groß und wichtig erscheint.

Zu ihm kommen sogar manche, um zu beichten.

Fritz war auch schon mal da nach einem heftigen Streit mit seiner Ex.

Und Ulf Theilmeier geht selbst regelmäßig zu seinem ältesten Kumpel in diesem Bezirk, Dirk, um sich auszuquatschen. Manchmal auch, um sich zu offenbaren: Dirk kann super zuhören und die treffenden Fragen stellen.

Zum Beispiel nach dem heftigen Ärger mit dem Vorsitzenden des Presbyteriums im Frühjahr die Frage:

«Kann es sein, dass dich am Taxi-Conrad genau das nervt, was du an dir selbst nicht magst?»

Dirk, der Fotograf, der Christus liebt wie einen Bruder und einen Blick hat fürs Wesentliche. So einer wie er ist Ulf Theilmeier seit dem Studium in Marburg nicht mehr begegnet.

Der Pfarrer nimmt den Weg durch die Einbahnstraße an der Bio-Bäckerei; der ist länger, aber mit dem Rad schneller. Spürt, wie der Druck in ihm wächst, wenige Minuten bevor er bei den Westphals ankommt.

Zeit für die Kurbel-Kontemplation. Die Dankesrunde zuerst.

Er betet still:

Danke für die kleine Singerunde gerade.

Für –

der Begriff erscheint ihm technokratisch –

demenziell Erkrankte und ihre – meine Güte, noch technokratischer: pflegenden Angehörigen.

Am Ende hat der halbe Saal mitgesungen:

«Großer Gott, wir loben dich!»

Nächster Kurbelschwung, nächster Dank:

Die Hausaufgabenhilfe …

Die Jungs, die ihr eigenes Hip-Hop-Theaterstück aufführen wollen …

Und für heute Abend wieder: Danke für Herrn Lohmann, den alten Brummbär, der mit der Leiterin der Palliativstation der Johannisklinik um die Ecke kommt. Und sogar zwei seiner Azubis mitbringt, damit sie was übers Sterben lernen … Klasse!

Sein Ringfinger schmerzt, weil er den Korkgriff am Lenker zu fest drückt.

Er sieht das Schild, weiße Schrift auf dunkelblauem Grund: Arndtstraße.

Zu den Westphals geht es rechtsrum.

Noch zwei Blocks. Er denkt daran, wie er zum ersten Mal diesen Weg genommen hat zum Haus Nummer 121. Im Grunde wegen Svenja.

Meine verrückte Frau,

denkt er.

«Liebestäterin» nennt er sie. Svenja war es.

Sie hat das hier alles angestoßen; sie hat die Navids mit den Westphals in Kontakt gebracht.

Michael Schmidt hat sich die JPEG-Datei ausgedruckt und in seinen kleinen düsteren Flur gehängt als Wanddekoration: ein Bild, das aussieht wie ein Steckbrief im Wilden Westen; angekokeltes, vergilbtes Papier mit der Überschrift:

«Wanted!»

Darunter nur:

«Wo versteckt die ev. Kirche illegale Asylanten in der Stadt?»,

und ein Foto, das vier Frauen von hinten zeigt, drei mit Kopftuch, alle bepackt mit dicken weißen Tüten und Bündeln.

Im Portal der Partei der Aufruf:

«Macht euch auf zu den Gebäuden der evangelischen Kirche, fragt dort nach, hört euch in euren Bekanntenkreisen um, und schaut ein wenig genauer hin.»

Und zwei Tage später in der Zeitung die Interviews mit dem Pfaffen und seinem Chef:

«Wir setzen nicht die staatliche Ordnung außer Kraft»,

behauptet allen Ernstes dieser Volksverdummer Theilmeier.

Und: «Das Kirchenasyl soll eine Denkpause für alle Beteiligten sein.»

Dazu das Gesülze des Oberbürgermeisters in der DAZ:

«Die Gemeinde hat von Anfang an fair agiert.

Wir sind vor Beginn des Kirchenasyls über den Schutz durch die Kirche informiert worden.»

An diesem Tag hat Michael Schmidt entschieden, dass es reicht.

Hat es erst mit Kommentaren auf der Internetseite versucht, sogar mit einem Leserbrief an die Redaktion:

«Sicherheit, Recht und Ordnung sind für anständige Menschen eben keine Fremdwörter. Diese deutschen Gutmenschen sollen sich ruhig um die armen Flüchtlinge kümmern, aber dann doch bei denen zu Hause und nicht auf unsere Kosten. Raus mit denen!»,

und dann gespürt, dass er diesmal mehr tun muss.

Sechs Tage lang hat er gearbeitet wie ein Detektiv. Den Pfaffen abgepasst, ihn kreuz und quer durchs Quartier verfolgt, ihn manchmal verloren und wieder aufgespürt. Manchmal klitschnass geschwitzt,

weil dieser Dummschwätzer mit einem Elektrofahrrad unterwegs ist

und Michael Schmidt nur eines mit Dreigang-Nabenschaltung hat.

Er hat sich schließlich mit Ecki und Björn abgestimmt, damit sie zwei verdächtige Objekte im Auge behalten.

Und dann, am siebten Tag: Bingo!

Auf der Klingelplatte nur deutsche Namen. Oben rechts: Westphal.

Aber am Erkerfenster eindeutig ein Kanake mit Kind auf dem Arm.

Heute werden sie den Druck zu spüren bekommen.

Weil sie es anders nicht begreifen.

Sie sind direkt losgegangen nach der kurzen Begrüßung im Park.

Jetzt stapfen Ecki und Björn wortlos hinter ihm her.

Der Neue ganz hinten, die beiden Schrubberstiele mit dem eingerollten Transparent in der rechten Hand.

Ein junger Bursche mit Plauze, die über dem Bund der Cargohose hängt.

Michael Schmidt traut diesem Typen nicht so recht.

Zu nervös. Zu fett. So einer macht schnell Dummheiten.

Er lässt sich zu dem Neuen zurückfallen, als sie nur noch zwei Blocks von der Arndtstraße entfernt sind, mustert ihn, während sie nebeneinander an den schmalen Vorgärten des Hansaviertels vorübergehen, spricht ihn unvermittelt von der Seite an:

«Hör zu – Marcel. So heißt du doch, oder?»

Der Bursche stiert stumpf zurück und nickt.

«Wir machen da keinen Krawall. Wir sind Patrioten und verteidigen unser Land. Diese Stadt. Das Recht. Die Ordnung. Verstehst du?»

«Klar», sagt der Bursche mit einer viel zu hellen Stimme.

«Wir sind der Ersatz für eine kapitulierende staatliche Ordnung»,

doziert Michael Schmidt weiter,

«die den deutschen Bürger nicht mehr schützt …»,

Marcel nickt weiter. Er kennt die Parole bereits und ergänzt:

«… vor dem Asylanten-Pack.»

Der Neue fängt an, Michael Schmidt zu gefallen.

«Hast wirklich du das gestern gepostet?»,

fragt er mit einem viel vertraulicheren Ton, als wären sie Freunde,

«dass du mal mit 'ner AK-47 durch die Nordstadt laufen willst?»

«Klar», sagt Marcel.

«Diese Asis kotzen mich an. Die sollen alle wieder in ihre Heimat: Türken, Syrer, das ganze Pack.»

Sie biegen in die Arndtstraße ein. Die Sonne steht so tief, dass sich das Grau des Himmels im Osten schon eindunkelt.

«Wir verstehen uns»,

sagt Michael Schmidt. Er überlegt kurz, dem Burschen auf die Schulter zu klopfen, lässt dann aber die Rechte lieber in der Jackentasche.

Arndtstraße 121. Die Ausländerbehörde kennt die Adresse.

Und eine kleine Gruppe von Eingeweihten.

Frau Westphal, ihr Mann, die 17-jährige Tochter Annika.

Der Superintendent.

Ulf Theilmeier und seine Frau Svenja.

Noch ungefähr sechzig Meter hat der Pfarrer zu fahren.

Vier vor fünf.

Er kneift die Augen zusammen, um die geparkten Autos vor sich genau zu betrachten.

Kein giftgrüner VW. Kein Polo. Vielleicht doch falscher Alarm.

In ihm blitzen die Bilder auf vom Tag, an dem er Familie Navid hierherbegleitet hat. Im Kombi der Westphals.

Und die Bilder der ersten Begegnung.

Wie sie da auf einmal vor mir standen.

Wie die Heilige Familie.

Vater Caspian, Mutter Daniela, das Kind – es war ein Name mit Duft …:

Er kramt im Namensgedächtnis.

Richtig, Jasmin.

Es war kurz nach dem Gottesdienst.

Danial hatte sie hergebracht, der Lagerist aus dem kleinen Elektrohandel in der Münsterstraße.

«Mein Bruder»,

hatte Danial gesagt und auf Caspian gezeigt.

Und dann die komplizierte Geschichte.

Wie ein LKW Caspian und seine Familie die letzte Etappe von Senji zur türkischen Grenze gebracht hat. Der Weg zur Küste, die Fahrt nach Italien.

Der Schlepper, dem sie das letzte Geld gegeben haben für die Passage nach Schweden.

Die Ablehnung der Asylanträge.

Der Beschluss, die Familie «zurückzuführen» in den Iran.

Die zweite Flucht, zum Bruder, zu Danial, der hier in der Stadt seinen Asylantrag durchbekommen hat und jetzt in einem möblierten Appartement wohnt gleich über Kaya juniors Gemüseladen.

Der Ablehnungsbescheid. Die Panik.

All das hat ihm Danial an diesem Sonntagvormittag erzählt in seinem gebrochenen Deutsch, das sich nur langsam verbessert hat in den letzten anderthalb Jahren.

Ulf Theilmeier erinnert sich an die Narbe auf dem rechten Handrücken von Caspian Navid, die ihm gleich beim ersten Handschlag aufgefallen ist.

Ein rötlicher runder Wulst; wie ein Stigma.

«Sie haben Zigarett ausgedruckt»,

hört er Danial mit seinem starken Akzent sagen,

«in Rascht – in Gefängnis.»

Haus Nummer 121 liegt zur Linken. Der Pfarrer bremst sein Rad ab, um zu wenden, schaut hoch zum Erkerfenster, ob er wie beim letzten Besuch vielleicht wieder Daniela sieht mit ihrem schwarzen Haar, vollendet geschwungenen Lippen und der kleinen Jasmin auf dem Arm. Knapp drei Jahre alt, die Kleine, mit Windelpopo und weißen aufgerubbelten Wollstrumpfhosen. Aber am Fenster steht niemand.

Er muss anhalten, stellt einen Fuß auf den Boden, um ein weißes Auto aus der Gegenrichtung vorbeifahren zu lassen – und dann sieht er sie:

Auf dem Bürgersteig gegenüber kommen sie heran, noch vier Alleebäume vom Haus entfernt.

Zwei, drei, vier Männer.

Einer mit einem langen hellen Etwas in der Hand.

Das sind sie. Frau Westphal hat recht.

Ulf Theilmeier merkt, dass er auf einmal viel zu oft schluckt. Sein Hals ist trocken, aber nicht von der schnellen Fahrt.

Herr,

raunt es in seinem Kopf,

du bist dran. Ich tu mein Bestes.

«Da ist der Pfaffe!»,

sagt Michael Schmidt zu den drei anderen.

Er klingt wie ein Fremdenführer, der seine Gruppe ans Ziel gebracht hat.

Ecki, Björn und der Neue verlangsamen ihre Schritte, halten neben ihrem Anführer.

«Warten wir noch auf die anderen?», fragt Björn.

Der Anführer schaut auf die Uhr:

«Gleich fünf. Sie müssten jeden Moment hier sein.»

Blickt die Straße hinunter, dem weißen Auto nach, das gerade an ihnen vorbeigefahren ist, und beschließt:

«Wir warten hier.»

Ulf Theilmeier hat lange mit dem Superintendenten verhandelt.

Hat zusammen mit Svenja die gesamte Geschichte der Navids recherchiert.

Wie sich die jungen Eheleute vom islamischen Glauben abgewendet haben in Rascht.

Wie Caspian Kontakt aufgenommen hat zu Regimekritikern.

Dass der Pastor aus der Gemeinde der Navids zum Tod durch den Strang verurteilt wurde wegen Abfalls vom islamischen Glauben.

Sie haben sich durchs iranische Recht gewühlt, Artikel 13 der Verfassung, der Religionsfreiheit vorsieht. Und dann entschieden, was auch die Zeitung zitiert hat aus ihrem gemeinsamen Interview:

«Alle Rechtsmittel sind ausgeschöpft. Es ist ein besonderer Härtefall. Die Ausländerbehörde ist informiert. Jetzt hat die Familie Zeit, um ihre Argumente besser vorzutragen, die Stadt hat mehr Zeit zum Nachdenken, und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat Zeit für eine rechtliche Neubewertung.»

Wenige Tage später war das «Wanted»-Bild der Rechten im Umlauf.

Ulf Theilmeier parkt sein Rad vor dem kniehohen Staketenzaun, der den Vorgarten begrenzt.

Er öffnet den Verschluss seines Helms.

Dann den Klettverschluss seines Hosenschutzes knapp über dem rechten Knöchel.

Was haben die Jungs nur vor?

Er richtet sich auf, streicht zum wiederholten Mal den Gurt seiner Umhängetasche auf der Schulter glatt, blickt dann gezielt dorthin, wo die vier Männer stehen geblieben sind. Am dritten Baum.

Vielleicht ist jetzt der beste Zeitpunkt, die Polizei zu rufen,

denkt der Pfarrer.

Allerdings ist ja noch gar nichts passiert.

Er wendet sich wieder seinem Rad zu, öffnet das Faltschloss, zieht die Glieder durch die Speichen des Hinterrads und um den Akkukasten am Sattelrohr herum. Zwingt sich, ruhiger zu atmen, jetzt, da die Belastung seiner Fahrt quer durch die Stadt einer neuen, viel härteren weicht.

Was ist jetzt dran?

«Beten und das Gerechte tun unter den Menschen»,

hat Bonhoeffer gesagt.

Michael Schmidt schaut die Straße hinauf und hinab.

Keine Spur von den anderen.

Dabei wäre jetzt der ideale Moment.

Jetzt, wo der Pfaffe direkt vor uns steht.

Ich will sehen, wie er nervös wird.

Wie er sich ins Hemd macht.

«Marcel, roll das Transparent aus»,

sagt er ruhig.

Der Neue reicht Björn wortlos einen Schrubberstiel und rollt mit dem anderen die Plastikfolie aus, indem er drei Schritte rückwärtsgeht.

Ulf Theilmeier kann die weiße Schrift auf rotem Grund deutlich lesen, die sich zwischen den beiden jungen Männern entrollt:

In diesem Haus hilft die Kirche den Asylerpressern.

Er spricht den Satz stumm vor sich hin.

Sein Magen zuckt, wie er es bei Ärger immer tut.

Leises Klingeln im Ohr; ein Zeichen, dass er wieder einmal die Zähne zu fest zusammenbeißt.

Und dann umschwirren ihn auf einen Schlag Dutzende Gedanken;

Bruchstücke aus so vielen Lesungen der letzten Jahrzehnte.

Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul. Psalm 58.

Soviel an euch liegt, haltet Frieden mit jedermann. Römer 12.

Du Ränkeschmied, du planst Verderben. Psalm 52.

Halt ihm auch die andere Wange hin. Lukas 6.

Tu deinen Mund auf für die Stummen. Sprüche 31.

Er unterbricht sich selbst beim Denken:

Was denn nur?

Die vier Männer stehen stumm auf dem Bürgersteig.

Seit sie das Transparent entrollt haben, erkennt der Pfarrer keine Regung mehr an ihnen. Er ist ebenfalls eingefroren, verharrt so neben seinem Rad, wie er seit dem Klicken des Schlosses zu stehen gekommen ist. Seinen Helm hat er unter den Gummiriemen am Gepäckträger geklemmt.

Was soll ich tun?

Michael Schmidt spannt seine Wadenmuskeln an, verlagert das Gewicht seines Körpers zunächst Richtung Fersen, dann wieder auf die Fußballen. Er walkt das Handstück des Schraubendrehers in seiner rechten Jackentasche, lässt dabei den Blick von der Straße zu seiner Linken langsam nach rechts wandern. Über die Baumstämme gegenüber, etwas höher in die unteren Äste des Baumes vor ihm und dann wie zufällig nach schräg rechts zum Erkerfenster. Niemand steht dahinter. Er sieht im Augenwinkel, dass der Pfaffe seinem Blick gefolgt ist.

Er weiß nicht, was er machen soll. Er hat Angst.

Denkt der Anführer. Er gibt sich Mühe, sein Grinsen breiter zu machen, als es normalerweise wäre, wendet den Kopf zu Björn und sagt:

«Mach ein Foto von ihm.»

Björn zückt sein Smartphone.

«Halt: Mach ein Video!»

Björn drückt mehrfach auf den kleinen Bildschirm, hält dann das Telefon auf Schulterhöhe vor sich hin.

Ulf Theilmeier ist irritiert:

Was soll das mit dem Handy?,

fragt er sich.

Dann beginnt mit dem leichten Wind eine Kühle seinen Rücken zu umspielen. Er schüttelt sich unmerklich, blickt auf den Mann mit dem Handy, dann auf den rechts daneben in schwarzer Jacke, mit üppigem braunen Haar, sauber gescheitelt. Kneift etwas die Augen zusammen hinter seiner rahmenlosen Brille, um die Züge zu studieren. Erkennt ein Paar besonders heller Augen, dem die außen leicht herabhängenden Lider einen traurigen Ausdruck verleihen, und dass das linke Ohr etwas mehr absteht als das rechte.

Wie auf dem Foto, das er im Kleinen Café in Händen gehalten hat.

Und weiß, dass er diesen Mann kennt, bevor er ihn erkennt.

Michael Schmidt versucht, jede Regung aus seinem Gesicht zu vertreiben.

Wieso starrt er uns so an?,

fragt er sich,

der starrt mich an,

und hört Ecki neben sich raunen:

«Was glotzt der so?»

Marcel räuspert sich.

Björn brüllt die Straße runter:

«Ey, was gibt's da zu glotzen?!»

Und dann straffen die vier sich wie auf ein unsichtbares Zeichen hin.

Denn der Pfarrer setzt sich auf einmal in Bewegung.