Versprich, dass ich es behalten darf - Ludgera Vogt - E-Book

Versprich, dass ich es behalten darf E-Book

Ludgera Vogt

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Beschreibung

Luca hat ihre Schwester nie kennengelernt. Sie glaubt auch nicht, dass Hanne noch lebt. Dennoch vergeht kein Tag, an dem sie sich nicht fragt, was damals geschehen ist. Auf eigene Faust stellt sie Nachforschungen an - und stößt auf eine unglaubliche Geschichte ... VERSPRICH, DASS ICH ES BEHALTEN DARF ist ein Roman, der das Schicksal zweier Familien auf tragische Weise miteinander verknüpft.

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ludgera Vogt, Jahrgang 1958, ist gebürtige Paderbornerin. Wie der ostwestfälische Menschenschlag – bekanntermaßen trocken und freiweg – so ihr Schreibstil.

Nebenberuflich beginnt sie das Schreiben 2009 mit einer kleinen Kinderbuchreihe. Die Sophie-Bände zieren noch immer ihren Schreibtisch. Doch mittlerweile ist sie im Krimi-Genre angekommen. Nach Libori-Lüge (Emons Verlag, 2017) stellt sie mit

VERSPRICH, DASS ICH ES BEHALTEN DARF

ihr zweites Werk vor. Ein Roman, der das Schicksal zweier Familien auf tragische Weise miteinander verknüpft.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

Für meine Schwestern, in Liebe

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Heute

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Damals

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Heute

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Mehr von

Prolog

Eins

Prolog

Ein Luftzug huscht über seinen Nacken. Irritiert wischt er den Schaum von den Lidern.

«Ach, du bist es. Hast du etwas vergessen?» Er sinkt ins Schaumbad zurück. «Wir müssen vorsichtig sein. Das darfst du nie vergessen. Oder sollen wir noch mal ...?» Er grinst und streicht über ihre nackte Wade.

«Heute nicht mehr. Ich sollte mir nur schnell die Haare in Ordnung bringen. Die Bruckner hat beim letzten Mal schon gefragt, wo ich mich herumgetrieben habe.» Sie lässt Wasser aus dem Kran über die Finger laufen und verteilt es in ihrem Pony.

«Die Bruckner, die verwelkte alte Schnapsdrossel.» Er zieht eine Tube aus der Halterung und spritzt einen Kringel Shampoo auf die Handfläche. «Die ist nur neidisch. Ich wette, sie hat noch nie einen nackten Mann gesehen.»

Sie tastet mit zittrigen Fingern nach dem Föhn. Wild wirbeln ihre Haare auf.

Er fragt sich, wie sie unbemerkt in seine Wohnung zurückgelangt ist. Er hatte die Tür fest verschlossen. Mit einer dunklen Vorahnung hebt er den Kopf. Der Föhn schwebt über ihm.

Er hat keine Chance. Sie lässt den Haartrockner ins Wasser fallen, bevor er aus der halbliegenden Position hochschnellen kann. Hart schlagen seine Knochen gegen die Wannenkeramik. Wasser schwappt über den Rand. Sein Herz, das vor einer halben Stunde mit kräftigen, wolllüstigen Schlägen das Blut durch den Körper pumpte, versagt ihm den Dienst.

Sie tritt einen Schritt zurück, will während seines Todeskampfs nicht nass werden. Als es still ist, streift sie mit dem Fußrücken den Schaum von der Wade und verlässt die Wohnung.

Heute

Kapitel 1

«Wenn ich das Programm noch zehn Minuten länger schauen muss, werde ich zum Amokläufer. Möchtest du das verantworten?»

Ich schrecke auf. «Entschuldige, natürlich nicht.» Träge taste ich unter der Decke nach der Fernbedienung und reiche sie Daniel, meinem Mitbewohner. Sein Blick sagt mir, dass dies nicht die erste Aufforderung nach der Fernsteuerung war. Irgendwo im Hinterkopf höre ich noch seine Stimme. Sollen wir uns den Mist wirklich antun? Ich kann dir das Ende voraussagen. Mithilfe irgendwelcher suspekten Finanzquellen wird er das Märchenschloss retten und die Prinzessinnen werden ihm die Bude einrennen – allesamt vollbusig und blond. Und wenn sie nicht gestorben sind, nerven sie noch heute.

Ich versuche, wieder ins Filmgeschehen zu kommen, aber die Gesichter auf dem Bildschirm sind mir fremd. «Ich war mit den Gedanken woanders.»

«Was du nicht sagst.» Daniel nimmt die Fernsteuerung und schaltet den Fernseher aus.

Ich zwinkere erstaunt. «Hattest du nicht gesagt, dass dich der Vorbericht über den Boxkampf interessiert?»

«Stimmt, das habe ich. Aber mehr noch als der Boxkampf interessiert mich der Kampf, den du gerade ausfechtest. Was ist los mit dir? Ich weiß, dass du im Moment keine Bäume ausreißen kannst. Aber deine geistige Abwesenheit erinnert mich stark an meine Oma nach ihrem zweiten Schlaganfall. Muss ich mir Sorgen machen?»

«So ein kleiner Wurm ist anstrengend. Das ist alles. Kein Grund zur Besorgnis.» Ich gähne demonstrativ und massiere meinen schmerzenden Nacken.

«Ja, ein vier Wochen alter Säugling ist anstrengend. Da stimme ich vollkommen mit dir überein. Nachts tigerst du mit der Kleinen umher. Und tagsüber wirbelst du durch das Haus, als hätten wir uns für Schöner Wohnen beworben. Dieser Wechsel zwischen Putzwut und komatösen Phasen ist beängstigend.»

«Jetzt übertreibst du aber. Komatöse Phasen …, tsss. Komatös war gestern dein Zustand, als du Mias Pampers wechseln musstest. Aber wenn es dich beruhigt, werde ich in Zukunft kürzer treten.» Ich hoffe, dass sich Daniel mit meinem halbherzigen Versprechen zufrieden gibt. Aber mittlerweile kenne ich ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht zur Tagesordnung übergehen wird, ohne dem wahren Übel auf den Grund gegangen zu sein. In der Beziehung hat er was von Colombo – nur ohne Silberblick und Zigarre.

«Du bist aber nicht nur erschöpft, Luca», fährt er prompt fort. «Dann nämlich würdest du hier liegen und schnarchen.» Ich ziehe verschämt die Decke über den Kopf. Eine schnarchende Frau vor dem Fernseher ist sicher nicht der Traum eines Mannes, auch wenn wir kein Paar sind und uns eine Verzweiflungstat in einen gemeinsamen Haushalt geführt hat.

Als ich schweige, greift er nach meiner Hand und zupft am kleinen Finger. «Was ist also los?»

«Ach, es ist albern», wehre ich mit erzwungen unbekümmerter Miene ab.

«Und warum lachst du dann nicht, wenn es albern ist? Oder kicherst zumindest?»

Daniel hätte Staatsanwalt werden sollen und zwar einer von der Sorte, der mit nervender Penetranz auf seinen Fragen herumreitet bis sich der Angeklagte für Dinge schuldig bekennt, die er gar nicht begangen hat. Ich seufze. Ob er meinen Zustand verstehen würde? Wahrscheinlich nicht, ich bin ja selbst irritiert von dem plötzlichen Gefühlschaos in mir. «Das ist schwer zu erklären. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass ich Mutter geworden bin.»

«Dann sollte ich genau der richtige Ansprechpartner sein.

Schließlich habe ich deine Wehwehchen während der Schwangerschaft auch therapiert.» Daniel deutet mit beiden Daumen auf seine Brust.

«Du hast sie stoisch ertragen», berichtige ich ihn. «Unter Therapie verstehe ich etwas anderes. Eine wohltuende Fußmassage, zum Beispiel.»

«Ach so. Und wer war dabei, als in der Pizzeria deine Fruchtblase platzte? Just in dem Moment, als meine Pizza Diabolo serviert wurde? Wer war da an vorderster Front?»

Wir lächeln uns an. Es ist der gleiche magische Moment wie vor knapp vier Wochen, als ich erschöpft im Kreißsaal lag, meine kleine Mia im Arm. Daniel hatte mich im halsbrecherischen Tempo zur Landesfrauenklinik gefahren und anschließend vier Stunden lang das Pflegepersonal verrückt gemacht. Als er endlich zu mir gelassen wurde, war er augenscheinlich erschöpfter als ich.

«Was also bedrückt dich?», holt er mich in die Gegenwart zurück. «Du hast allen Grund, glücklich zu sein. Du hast ein gesundes Kind zur Welt gebracht, das süßeste Baby auf der Welt. Und du hast den coolsten Untermieter, zumindest von Paderborn.»

«Du weißt aber schon, dass du Daniel Rothehus heißt und nicht Daniel Craig?» Ich lache amüsiert.

«Nicht ablenken.» Daniel wackelt mit dem Zeigefinger.

«Dies ist gerade das erste echte Lachen, das ich seit Tagen an dir sehe. Wo ist die Frau geblieben, die sich über Kleinigkeiten scheckig lacht und den ganzen Tag putzige Kinderlieder vor sich hin summt, einschließlich übermotiviert beherzter Tierstimmen? Was ist aus Old McDonald‘s Farm geworden? Halten die Tiere Winterschlaf? Ich kenne dich im Moment nicht wieder, Luca.»

Ich werde ernst. Stumm starren wir auf die schwarze Mattscheibe, als würde das Programm jeden Moment starten und uns Aufschluss darüber geben, wo diese Frau geblieben ist.

«Weißt du, was morgen für ein Tag ist?», frage ich leise. Der Ansatz war falsch. Denn ohne ihn anzusehen, weiß ich, dass er erschrocken über einen ihm entfallenen Geburtstag grübelt. «Ich meine, weißt du, wie alt Mia morgen wird?», verbessere ich mich.

Verblüfft zuckt sein Kopf zurück. «Vier Wochen», antwortet er und sein Tonfall an sich ist schon Frage genug. «Wird neuerdings in monatlichen Abständen Geburtstag gefeiert?»

«Nein. Es ist nur … Ich muss immer daran denken, was damals meiner kleinen Schwester im Alter von vier Wochen passiert ist. Sie war so winzig und hilflos.»

«Gewiss, das war furchtbar, Luca. Aber es gibt absolut keinen Grund, sich deshalb um die Kleine zu sorgen. Sie ist besser behütet als der Thronfolger Englands.»

«Das meine ich nicht. Ich weiß, dass Mia in Sicherheit ist. Aber musste ich erst selbst Mutter werden, um endlich um meine Schwester trauern zu können? Und vor allem, um nachempfinden zu können, wie sehr meine Mutter damals gelitten hat», ich drehe mich zu ihm um, «und es noch immer tut? Wie kann es sein, dass ich diese Tragödie mein Leben lang verdrängte? Nicht nur das, ich tat alles, um es meinen Eltern möglichst schwer zu machen. Ich war ein fürchterliches Scheusal. Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Je intensiver ich es tue, umso mehr schäme ich mich.» Bekümmert ziehe ich die Decke bis zum Kinn.

Daniel kann mir nicht folgen. Ich sehe es in seinen Augen. Aber wie soll er auch? Er hat die Luca von damals nie kennengelernt. Die kindliche Luca, die tagtäglich mit der Trauer der Eltern konfrontiert war. Und später der Teenager Luca, der sich durch die übermäßige Vorsicht der Erwachsenen eingeschränkt fühlte und zu einer aufmüpfigen Jugendlichen heranwuchs.

Daniel kennt mich nur als die Frau, die eine unschöne Scheidung hinter sich hat und die er an jenem Tag kennenlernte, an dem sie neben den Scheidungspapieren einen Mutterpass ausgehändigt bekam.

Ich sehe mich im Café Ostermann sitzen, als wäre es gestern gewesen. In der einen Hand den Bescheid vom Scheidungsanwalt, in der anderen den Mutterpass von meinem Frauenarzt. Die Scheidungspapiere waren nicht unerwartet gekommen. Schließlich hatte ich selbst die Scheidung eingereicht – schweren Herzens. Konstantin war meine große Liebe gewesen. Aber leider war ich nicht seine, oder zumindest nicht seine einzige. Fünf Jahre hatte ich die Eskapaden meines liebestollen Gatten ertragen und ihm immer und immer wieder verziehen. Jeder anderen Frau hätte ich einen Vogel gezeigt und sie gefragt, wie man sich so vorführen lassen kann. Mir selbst gegenüber war ich großmütig gewesen, frei nach dem Motto: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Als Konstantin eine Schwesternschülerin aus seiner OP-Abteilung geschwängert hat, habe ich die Reißleine gezogen und die Scheidung eingereicht. Er ist daraufhin in die Entwicklungshilfe nach Afrika gegangen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat, als wir beim Abschied ein letztes Mal im Bett gelandet sind. Heute sehe ich es als eine Art Abschiedsgeschenk an – meine kleine Mia. Sie ist mein Sonnenschein. Konstantin weiß nichts von ihr. Soll er im Kongo glücklich werden. Soweit ich informiert bin, dürfen die Männer dort neben einer Hauptfrau gleich mehrere Nebenfrauen halten. Und das ganz ohne Notoperationen, Massenunfällen und anderen vorgeschobenen Alibis. Keine nörgelt an ihm herum, keine zweifelt seine Ausflüchte an. Alle lächeln ihm zu und lecken ihm die Füße. Die ideale Lebensform für ihn – wenn er sich dabei nichts einfängt.

Elf Wochen nachdem er abgereist war, hatte ich einen Termin bei meinem Gynäkologen. Es war höchste Zeit; die Spirale hätte schon längst erneuert werden müssen. Ich hatte überlegt, ob ich überhaupt noch eine brauche. Das Thema Männer war für mich gelaufen. In meiner Enttäuschung über die gescheiterte Ehe wähnte ich meine Zukunft ohne männliche Begleitung ruhiger und zufriedener. Noch während mein Gynäkologe mich untersuchte und wir über eine weitere Empfängnisverhütung diskutierten, sagte er: «Frau Baumann, da hat sich etwas getan. Wir müssen die Entscheidung über eine neue Spirale auf ein deutlich späteres Datum verschieben. Jetzt gratuliere ich Ihnen erst mal.»

Ich prustete los und unterstellte ihm, ein echter Scherzbold zu sein. Er lächelte milde und tippte auf einen winzigen pulsierenden Punkt auf dem Bildschirm.

Ich kann mich kaum erinnern, wie ich mich angezogen und die Praxis verlassen habe. Eine Angestellte machte mich auf meine falsch zugeknöpfte Bluse aufmerksam und eine andere führte mich – in der Annahme, vor dem Ausgang zu stehen – sanft von einer verschlossenen Toilettentür weg. Die erste richtige Erinnerung setzte ein, als ich im Café saß, eine Tasse Kaffee vor mir, obwohl ich mir sicher war, einen Cognac bestellt zu haben. Aber wahrscheinlich hatte damals mein Verstand über das Gefühlschaos in mir gesiegt. Eine Automatik, die elf Wochen zuvor kläglich versagt hatte.

Am Tisch gegenüber saß Daniel. Er sprach wütend in sein Handy und blätterte dabei in der Tageszeitung. Sein Aussehen kam mir bekannt vor. Er ähnelte dem Typen auf einem Werbeplakat. Ein durchtrainierter Mann mit nacktem Oberkörper, dem nach einer sportlichen Höchstleistung – ich tippte auf Triathlon oder die Bezwingung eines Achttausenders – nach einer Flasche Sportaktiv dürstet. Während er trinkt, rinnen Schweißperlen über seine feuchtglänzende Brust. Ein Bild von einem Mann.

Es hätte mich damals nicht gewundert, wenn draußen auf dem Marienplatz gerade ein Set für ihn aufgebaut worden wäre. Vielleicht für Aufnahmen im Sportmodebereich. Er hätte in jeder Art von Bekleidung eine gute Figur gemacht, von Blümchenunterwäsche bis hin zu Wintermänteln mit Pelzbesatz – ganz im Gegensatz zu mir. Solange ich mich zurückerinnern kann, kämpfe ich mit Figurproblemen. Nicht, dass ich übermäßig dick bin, aber wie viele Frauen hadere auch ich mit den Proportionen. Im Moment kann ich mich keinesfalls über zu kleine Brüste beschweren. Ich schätze, ich befinde mich eine knappe Körbchengröße unter Daniels vollbusigen Prinzessinnen. Mit den Schwangerschaftsstreifen am Bauch habe ich mich abgefunden; dagegen kann ich nicht mehr ancremen. Sie stören mich auch nicht mehr sonderlich, da ich mich sowieso für ein Leben ohne Mann entschieden habe. Einzig meinen Po hätte ich gerne eine Konfektionsgröße kleiner. An guten Tagen rede ich mir ein, mit Jennifer Lopez gleichziehen zu können. Neben meinem Laptop liegt eine CD, deren Titel meine Problemzonen auf den Punkt bringt: Bauch, Beine, Po. Aber solange ich es nicht einmal schaffe, die CD aus ihrer Cellophanfolie zu wickeln, werden figurtechnisch die schlechten Tage überwiegen.

Jedenfalls war Daniel, wie sich später herausstellte, kein männliches Mannequin, für das draußen ein Set aufgebaut wurde. Er war frisch zugezogener Neupaderborner und kämpfte gerade mit seinen eigenen Problemen. Dabei agierte er allerdings deutlich emotionaler als ich in meiner Schockstarre. Er warf sein Handy auf den Tisch und faltete die Zeitung geräuschvoll darüber zusammen. Unsere Blicke trafen sich.

«In diesem gottverdammten Kaff ist es einfach nicht möglich, eine Wohnung zu finden», nörgelte er.

Ich nahm ihm das Kaff nicht übel. Es war seinem Unmut über die Wohnungsknappheit geschuldet. Er würde zu gegebener Zeit schon merken, in welchem Kleinod er gelandet war. Ich weiß nicht, ob er zu mir gesprochen oder seiner Wut in einem Selbstgespräch freien Lauf gelassen hatte. «Wenn das Ihre einzige Sorge ist», sagte ich und hatte eigentlich auch mehr zu mir gesprochen.

Er sah erstaunt auf. «Wie meinen Sie das? Finden Sie es lustig, kein Dach über dem Kopf zu haben?»

«Es gibt Schlimmeres.»

Seine Augen huschten über die Umschläge in meinen Händen. «Links eine Vorladung vor Gericht wegen Unfallflucht und rechts am Arbeitsplatz rausgeflogen?», schlug er vor.

Ich verneinte. «Komplett daneben.»

«Links beim Examen durchgefallen und rechts der Entzug des Führerscheins wegen Alkohol am Steuer.»

Ich schnalzte tadelnd mit der Zunge. «Auch nicht. Einen Versuch haben Sie noch. Wenn Sie dann richtig liegen …»

«… haben Sie eine Wohnung für mich?»

Ich hob die Umschläge an, als müsste ich ihr Gewicht prüfen. So etwas Verrücktes würde er nicht erraten. «Okay.»

Nachdenklich beugte er sich vor und faltete die Hände wie zum Gebet. Er ließ sich Zeit, sah mir zwischendurch in die Augen, als könne er dort lesen, welches Geheimnis sich in den Umschlägen verbarg. «Sie sind schwanger», sagte er plötzlich mit einer solchen Gewissheit, dass ich zurückzuckte und mit offenem Mund nickte.

Er lächelte siegessicher, als wäre Umschlag Nummer Zwei jetzt ein Kinderspiel. Wieder ließ er sich Zeit. «Ihrem Verhalten nach zu urteilen würde ich sagen, Sie wissen nicht, wer der Vater ist.» Er überlegte mit einem zugekniffenen Auge. «Aber das würde in keinem offiziellen Schreiben stehen. Hm, Ihre Eltern könnten Sie enterbt haben, weil der Kindsvater ein Hallodri ist.»

Langsam wurde mir mulmig. Er kam verdammt nah. Meine Eltern hatten mich zwar nicht enterbt, aber der Hallodri saß bereits im Kongo. Ich ließ ihn weiter mutmaßen. Seine nächste Überlegung brachte mich zu der Überzeugung, dass es tatsächlich Schlimmeres als mein derzeitiges Schicksal gab. «Ihre Schwiegermutter will bei Ihnen einziehen.» Er hob abwehrend die Hände. «Auch nicht. Die stünde wahrscheinlich gleich mit Sack und Pack vor der Tür und würde es erst nicht schriftlich ankündigen. Ich nehme es zurück.»

Er war jetzt doch auf dem falschen Dampfer, biss sich an der Schwangerschaft fest. Ich kam erleichtert wieder vor. «Der nächste Schuss sollte sitzen», drohte ich grinsend.

Er setzte sein Glas an den Mund – ich bin mir sicher, dass es Sportaktiv war – und trank es aus, ohne mich aus den Augen zu lassen. «Sie haben Ihr gesamtes Erspartes bei dubiosen Aktiengeschäften verloren.»

«Himmel! Sie verstehen es, Untergangsszenarien zu kreieren. Zum Glück auch falsch!»

Er ließ sich in gespielter Enttäuschung zurücksinken. «Schade. Immerhin habe ich es geschafft, Ihnen ein kleines Lächeln abzutrotzen.» Er winkte nach der Kellnerin und verlangte die Rechnung.

Es stimmte. Ich saß da mit meinen zwei Umschlägen und grinste vor mich hin.

Als er bezahlt hatte, trat er an meinen Tisch. «Ein Kind kann keine wirklich schlechte Nachricht sein, oder?» Er reichte mir die Hand. «Ich wünsche Ihnen viel Glück, egal, was das andere Schreiben beinhaltet.»

«Danke. Ihnen viel Erfolg bei der Wohnungssuche.»

Er nickte resigniert und wandte sich zum Gehen.

Ich trank meinen Kaffee und bezahlte ebenfalls. Im Parkhaus der Libori-Galerie irrte ich an den parkenden Autos entlang. Nachdem ich zweimal in der Runde gelaufen war, fiel mir ein, dass ich wegen der nervigen Parkplatzsuche den Bus in die Innenstadt genommen hatte.

Das Gespräch im Café hatte mich noch konfuser gemacht, als ich schon war. Ich griff mir an die Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Verdammt, Luca, jetzt reiß dich zusammen. Wie immer, wenn ich mich sortieren muss, zählte ich im Kopf langsam von zehn runter. Die Taktik hatte sich in den meisten Fällen bewährt. Nur als Konstantin mir die Folge seines Fehltritts beichtete, hatte sie versagt. Bei Vier klatschte die Terrine mit heißer Rinderkraftbrühe gegen seine Stirn. Aber ich fand meine Reaktion auf sein Geständnis, eine Krankenschwesternschülerin geschwängert zu haben – während einer kurzen Verschnaufpause zwischen einem Kaiserschnitt und einer Uterusresektion – durchaus angemessen.

An der Bushaltestelle sah ich meinen Sportaktiv-Trinker wieder. Er studierte die Fahrpläne, fuhr mit dem Zeigefinger über die Spalten der Abfahrtszeiten und sah auf die Uhr.

Ich zählte noch einmal von zehn runter. «Linie 68 müssen Sie nehmen.»

Er schreckte auf. «Was?»

«Linie 68 fährt in zwei Minuten zur Schönen Aussicht», erklärte ich.

«Und was soll ich da, an der Schönen Aussicht?»

«Ich denke, Sie suchen eine Bleibe.»

Er drehte sich herum. «Also haben Sie sich doch im Aktienhandel verspekuliert?»

«Nein, das hätte in meiner Sammlung selbstverschuldeter Katastrophen noch gefehlt. Aber Sie haben mit Ihrer fünfundsiebzigprozentigen Trefferquote einen Bonus verdient. Ich kann Ihnen keine richtige Wohnung anbieten. Mein Haus ist nicht für zwei Parteien konzipiert. Aber wenn Ihnen ein Zimmer mit Bad reicht, können Sie vorerst bei mir einziehen. Die Küche müssen wir uns teilen.»

Ich hatte einen Fremden in mein Haus gelassen, von dem ich nichts wusste, außer, dass er einen positiven Schwangerschaftstest nicht als schlechte Nachricht empfand. Ich wusste noch nicht einmal, ob er in der Lage sein würde, die Miete zu zahlen, welchen Beruf er ausübte oder ob er nach einiger Zeit seine fünfköpfige Familie nachholen würde, einschließlich Meerschweinchenkäfig.

Diese Entscheidung würde bei meinen Arbeitskollegen als komplette Wahnsinnstat durchgehen. Sie hielten mich schon immer für ziemlich durchgeknallt. Josy würde mir unter düsteren Prophezeiungen einen gewaltsamen Tod voraussagen. Seit sie ihre Liebe zu bluttriefenden Psychothrillern entdeckt hatte, erspähte sie ständig Hinweise auf potentielle Killer. Angeblich war es die Augenstellung, neuerdings sogar die Frisur oder der Haaransatz. Bernd würde mir heimlich die Visitenkarte seines Bruders – ein Psychiater – zustecken. Das hatte er übrigens auch schon bei meiner Hochzeit mit Konstantin getan. Vielleicht hätte ich damals einen Termin ausmachen sollen. Und meine Chefin würde, wie so oft, die Hände über den Kopf zusammenschlagen und «Kindchen, Kindchen, was denken Sie sich nur immer?», ausrufen. «Wer weiß, wen oder was der Kerl Ihnen ins Haus schleppt!»

Gute Frage. Was hatte ich mir dabei gedacht? Ich hatte vorschnell gehandelt. Ich hätte bei einer höheren Zahl mit dem Runterzählen beginnen sollen, einer deutlich höheren.

«Sie können sich das Zimmer erst mal ansehen. Vielleicht gefällt es Ihnen gar nicht», schlug ich vor, in der Hoffnung, beim kleinsten Missfallen, das er äußern würde, einen Rückzieher machen zu können.

Wir saßen nebeneinander im Bus. Er sah auf meine Finger, die ich nervös ineinander verknetete bis sie knackten. «Sicher. Es sollte schon passen», beruhigte er mich. «Darf ich fragen, wie Sie heißen?»

Das war eine Frage, die ich erst seit dem Erwachsenenalter mit einer gewissen Gelassenheit beantworten konnte. Zu viele dumme Sprüche hatte ich mir in der Kindheit und Jugend zu meinem Namen anhören müssen. Auch heute schwang noch immer eine Portion Trotz mit, wenn ich ihn aussprach, so, als wappne ich mich gegen die Beleidigungen, die unweigerlich kommen würden.

«Ludowika», sagte ich und sah ihn herausfordernd an.

«Ludowika», wiederholte er bedächtig, als könnte er über einen Zungenbrecher stolpern. Wenn er jetzt was Falsches gesagt hätte, er hätte sich das Zimmer abschminken können. «Das hört sich an, als ob Ihre Eltern fest mit einem Jungen gerechnet hätten und den Namen nicht aufgeben wollten. Ludowika … Das ist für ein Kind sicher eine Herausforderung, aber irgendwie individuell – finde ich gut.»

Mit der Herausforderung hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber immerhin, eine solche Wertschätzung hatte ich noch nicht gehört. Die häufigsten, zumeist männlichen Kommentare ersetzten das W durch ein F und gingen dann in die Richtung Oh, eine giftige Variante des Luders, begleitet von brüllenden Schenkelklopfern. Diesen wahnsinnig lustigen Abwandlungen war meistens ein hoher Alkoholkonsum vorausgegangen war; zu Libori oder auf dem Schützenfest. Aber es ist dennoch kein Freifahrtschein für hohle Witze – und schon gar nicht auf meine Kosten.

«Sie liegen richtig. Ich bin tatsächlich nach meinem Großvater Ludwig väterlicherseits benannt worden», erklärte ich nicht ohne Stolz. «Wenn Sie es einmal eilig haben sollten, dürfen Sie aber gerne Luca zu mir sagen.»

Er reichte mir zum zweiten Mal an diesem Tag die Hand. «Daniel.»

Wir hatten die Schöne Aussicht erreicht und stiegen aus. Bis zu meinem Haus waren es nur wenige Meter. Ich deutete auf den terracottafarbenen Bungalow. «Das Zimmer ganz links wäre Ihr Domizil.»

Daniel pfiff leise durch die Zähne. «Von außen schon mal nicht schlecht. Ich bin beeindruckt. Es ist nicht weit zur Uni, oder?»

«Ein Katzensprung. Studieren Sie etwa noch?» Das hätte mich gewundert. Für mich war er noch immer ein Hochleistungssportler, der die Hälfte des Jahres zu Wettkämpfen unterwegs war, Trophäen sammelte und nur zum Wäschewaschen nach Hause kam.

«Nein, ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Gahlmann.»

«Professor Gahlmann? Muss ich den kennen?»

«Sportwissenschaften», erklärte er und streifte kurz meine Figur, als würde ich alles, was im Entferntesten mit Sport zu tun haben könnte, für eine Geschlechtskrankheit halten. Das bildest du dir ein, höre ich meine Freundin Steffi sagen. Du mit deinen Komplexen. Ich wäre froh, wenn ich deine Figur hätte. Er hat dich bewundernd angeschaut. Schon klar, Steffi. «Dann lassen Sie uns mal drinnen nachschauen, ob es passt. Das Zimmer ist nicht besonders groß. Für sportliche Aktivitäten könnte es eng werden.»

«Sie schätzen mich falsch ein. Außer ein paar Joggingrunden in der Woche und etwas Handballtraining bin ich ein ziemlich fauler Hund geworden.» Er klopfte auf seinen Waschbrettbauch, als wüchsen dort bereits ersten Anzeichen eines ausschweifenden Lebens. Ich hob die Augenbraue. Von mir würde er kein Ich bitte Sie, da gibt’s doch nichts zu mäkeln hören. Babette, unsere Praktikantin in der Apotheke, nervt auch ständig mit Kritik an ihrer Figur. Dabei könnte sie – wäre sie ein Stückchen kleiner – die Klamotten meiner alten Barbie tragen.

Meine gertenschlanke Nachbarin zur Linken trat vor die Tür und erschnupperte die Wetterlage. Den Bikini-Minizipfel hätte sie sich sparen können – ein Hauch von Nichts. Auf hochhackigen Sandaletten stakelte sie zur Sonnenliege und drehte uns ihr Hinterteil zu, als sie das Handtuch auf der Liege glatt strich.

Wenn mir jemand am Tag mächtig die Laune verderben kann, dann ist sie es. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dass Konstantin auch mit ihr etwas hatte. Einen solchen Anblick hätte er nie und nimmer verstreichen lassen, ohne einen Notfall daraus zu basteln. Dies, und die Tatsache, dass sie mir ständig vor Augen führt, wie ein perfekt geformter Frauenkörper aussehen kann, wenn man sich unter Kontrolle hat, bringt mich jedes Mal zur Weißglut. Egal zu welcher Jahreszeit, ob im flauschigem Rollkragenpullover und hautengen Jeans oder wie jetzt in einem dreieckigen Häkeltopflappen, ich fühle mich von ihr provoziert.

Normalerweise nickt sie mir nur hochmütig zu, wenn wir uns begegnen. An jenem Tag war plötzlich alles anders. Ich war in männlicher Begleitung, in attraktiver männlicher Begleitung. Da ging man auch schon mal auf die Sonnenliege, wenn sich der Himmel mit Gewitterwolken zuzog und ein böiger Wind immer wieder das Handtuch wegfegte. «Hallo, Ludowika!», zwitscherte sie und entblößte beim Winken ihre Brust.

«Hallo», brummte ich zurück und suchte verzweifelt nach meinem Haustürschlüssel.

«Wo steckt eigentlich dein Mann? Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.»

Typisch, gerade jetzt nach meinem Mann zu fragen. Dabei war sie gewiss eins der ersten Betthasen gewesen, von denen er sich ausgiebig verabschiedet hatte. Endlich hatte ich meinen Schlüssel gefunden. «Ihm sind die Frauen in Mitteleuropa zu langweilig geworden!», rief ich zurück. «Er schaut sich jetzt in Afrika um. Sie sollen dort gelenkiger sein.» Ich drückte die Tür auf und schob Daniel grob in den Hausflur.

«Was war das denn?», fragte er und ging vorsichtshalber auf Abstand zu mir.

«Eine Bedingung stelle ich Ihnen, wenn Sie das Zimmer haben wollen», presste ich hervor.

«Und die wäre?»

«Sie lassen die Finger von der Frau.» Ich zuckte mit dem Kopf in ihre Richtung. «Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Aber wenn ich mitkriege, dass Sie mit der Schnepfe was anfangen, fliegen Sie hochkantig raus.»

«Mit dem Strohhalm dort drüben? Ich bitte Sie.» Er tat beleidigt und folgte mir den Flur hinunter. «Dürfte ich auch eine Bitte äußern?» Er schnupperte und warf einen kritischen Blick in die Küche.

«Ja?»

«Ich kenne Ihre Kochgewohnheiten nicht. Wenn Sie vorhaben sollten, Linsensuppe zu kochen, sagen Sie mir bitte vorher Bescheid. Ich bekomme allein vom Geruch einen unstillbaren Brechreiz.»

«Wenn Sie mit der dort drüben was anfangen, werde ich Linsensuppe kochen und Sie in der Küche einsperren.»

Er sah lächelnd auf mich herab. «Ich bin ja nicht lebensmüde.»

Kaum zu glauben, dass es erst gute zehn Monate her ist. Wir haben uns an unsere Abmachungen gehalten. Nachdem wir uns den Zweck einer reinen Vernunftgemeinschaft zugesichert hatten, waren die emotionalen Fronten abgesteckt.

Heute denke ich manchmal, ich hätte mich nicht so singlebetont geben sollen. Zum einen war er gewiss an keiner Frau interessiert, deren Umfang stündlich expandierte, und zum anderen stellte ein Adonis wie er ganz andere Ansprüche an ein weibliches Wesen. Ansprüche, die ich auch mit persönlichem Fitnesstrainer für Bauch-Beine-Po nicht hätte erfüllen können. Ich unterdrücke den Versuch, mich für ihn in sexueller Hinsicht interessant zu machen. Denn der Korb, den ich mir einfangen würde, hätte keine guten Auswirkungen auf unsere traute Zweisamkeit. Ich rede mir ein, dass er ein fantasieloser Langweiler im Bett ist, oder Mundgeruch hat, Nagelpilz im fortgeschrittenen Stadium. Am besten alles. Aber es hilft nicht. Ich hoffe, dass ich mich irgendwann damit abfinden werde.

Eigentlich könnte ich ganz entspannt und zufrieden die Entwicklung meiner kleinen Maus genießen. Ich habe ein gesundes Baby, einen netten und hilfsbereiten Untermieter, keine Geldsorgen und muss mir auch keine Gedanken mehr um die Eskapaden meines Gatten machen. Es könnte so schön sein. Warum nur kreuzen jetzt, wo alles gut läuft, die Schatten der Vergangenheit auf und nagen an mir wie eine unheilbare Krankheit? Unterschwellig sind sie schon länger da. Sie blitzten bereits während der Schwangerschaft auf, aber seit zwei Wochen sind sie meine ständigen Begleiter. Wenn ich Mia anschaue, sehe ich meine Schwester – obwohl ich Hanne nie kennengelernt habe. Ich bin zwei Jahre nach ihr geboren. Drei Jahrzehnte konnte ich das Andenken an sie erfolgreich verdrängen. Ich musste tatsächlich selbst erst Mutter werden, um ein Gefühl für die Nöte und Ängste eines Elternpaares zu entwickeln, wenn es sein Kind verliert. Schlimmer noch. Die Ungewissheit über ein schreckliches Ende oder ein womöglich leidvolles Weiterleben eines kleinen, hilflosen Kindes ist unerträglich. Heute kann ich meine Mutter verstehen. Heute weiß ich, wie sie sich fühlt. Ich frage nicht mehr gereizt, warum sie nur am Fenster sitzt. Warum sie noch immer Jahr für Jahr am Tag des Verschwindens den damals ermittelnden Kommissar anruft. Und warum sie sich solange geweigert hat, aus dem Haus in Frankfurt auszuziehen. Sie hat die Hoffnung nie aufgegeben. Die Zuversicht, eines Tages aus dem Fenster zu schauen und ihre Tochter auf sich zukommen zu sehen, sie würde alles für die Erfüllung dieses Wunsches tun. Es tut weh, sie so am Fenster sitzen zu sehen. Tag für Tag, Stunde um Stunde.

«Weißt du eigentlich, nach welchem Kriterium meine Mutter einen Platz im Seniorenheim gesucht hat?», frage ich Daniel.

«Wenn du mich so fragst, wird sie kaum auf die Qualität des Essens geschaut haben, oder den Härtegrad der Matratzen.»

«Essen und Schlafen interessieren sie nicht sonderlich. Sie suchte solange, bis sie ein Zimmer fand, von dem aus sie die Straße und den Eingang des Hauses beobachten kann. Der Ausblick auf einen Park oder auf die Pader reizt sie nicht. Sie wartet auf ein Wunder. Und das würde die Straße heraufkommen. Ich bin froh, dass sie trotz ihrer Auswahlkriterien ein schönes Heim gefunden hat.»

«Warum ist sie eigentlich in einem Pflegeheim? Sie kann doch noch gar nicht so alt sein.»

«Sie ist nicht alt. Aber sie hat eine schlimme Arthrose. An manchen Tagen geht es ihr so schlecht, dass sie kaum aufstehen kann, geschweige denn sich selbst versorgen. Als Konstantin damals den Oberarztposten in Paderborn bekam, habe ich mit Engelszungen auf sie eingeredet, dass sie zu uns zieht. Ich hätte Platz gehabt und hätte mich auch um ihre Versorgung kümmern können. Aber sie wollte Frankfurt nicht verlassen. Sie wollte da sein, wenn Hanne nach Hause kommt. Den Gedanken, ihr Kind könnte heimkehren und vor fremden Leuten stehen, konnte sie nicht ertragen. Dass ein Mensch, der im Säuglingsalter geraubt wird, sich nicht an seine Eltern, geschweige denn an ein Haus erinnern kann, kommt ihr nicht in den Sinn. Ihr Kopfkino kennt nur diesen einen Film. Erst als ihre Arthrose so schlimm wurde, dass sie nicht mehr allein bleiben konnte, hat sie ihre Zelte in Frankfurt abgebrochen. Die neuen Hausbesitzer mussten ihr allerdings das Versprechen geben, die Augen aufzuhalten und sich zu melden, wenn plötzlich eine junge Frau vor der Tür steht. Wir haben zusammen sämtliche Seniorenheime in Paderborn abgeklappert, bis ihr ein Zimmer mit passendem Ausblick zusagte. Und nun sitzt sie dort, in der Husener Straße, und wartet.»

«Das alles ist schlimm, Luca. Aber du musst jetzt an deine Tochter denken. Es nutzt ihr nichts, wenn du wie ein Trauerkloß über der Wiege hängst und keinen Papp sagst.»

«Das tue ich gar nicht.»

«Oh doch. Seit drei Tagen sind alle Tiere im Haus verstummt.»

«Ach.» Ich schaue ihn ungläubig an.

«Um deiner Tochter Willen solltest du etwas gegen den Trübsinn unternehmen. Ganz davon abgesehen, dass auch ich die Luca mit dem perfekt imitierten Entenwatschelgang grandios finde.»

Er hatte mich beim Watschelgang beobachtet. Wie peinlich. «Der Trübsinn lässt sich nicht einfach so abschalten.» Ich schnippe mit den Fingern in der Luft. «Ich könnte dir den Watschelgang beibringen, dann kannst du mich vertreten, bis ich wieder in der Spur bin.»

Er gluckst amüsiert. «Ich glaube nicht, dass ich diese gebückte Drehung in den Hüften hinkriege. Das schaffen nur Frauen. Es wäre schön, wenn du den Bauernhof wieder zum Leben erweckst.»

«Ich werde mir Mühe geben. Vielleicht wird es besser, wenn erst morgen vorbei ist. Der Besuch bei meiner Mutter liegt mir im Magen.»

«Du besuchst sie doch jeden Tag.»

«Ja, aber wie gesagt, morgen wird Mia vier Wochen alt. Ich glaube nicht, dass meine Mutter diesen Termin vergessen wird. Und ich kriege die Sache auch nicht aus dem Kopf.»

Das Babyfon gibt erste knisternde Geräusche von sich. Mia wird wach. Nicht mehr lange, und es werden ohrenbetäubende Hungersignale aus dem Gerät schallen. Schlüsselreize, auf die meine Brust in Windeseile mit Milchfluss reagiert. Schnell stehe ich auf, denn so freundschaftlich unsere Beziehung auch ist, für diesen Anblick fühle ich mich mit Daniel nicht vertraut genug, egal, wie normal es ist. Meine Hebamme wurde nicht müde, uns im Vorbereitungskurs einen natürlichen Umgang mit der Geburt und dem Stillen zu vermitteln. Aber mich erreichte sie damit nicht vollständig. Für mich gibt es Grenzen, die ich auch bei aller Offenheit nicht überschreiten möchte. Und dazu gehören der Rückzug zum Stillen und eine Kleidung, der man nicht gleich ansieht, dass man Milch im Überfluss hat. In diesem Kurs gab es Mütter, die sich für die Niederkunft und Aufzucht ihrer Kinder besser in eine Steinzeithöhle hätten zurückziehen sollen. Solche Ansichten sind nichts für mich. Sollten sie doch die Augen verdrehen, wenn ich kundtat, mein Kind in einem ganz normalen Kreißsaal zur Welt bringen zu wollen.

Im Aufstehen schlage ich die Strickjacke über die Brust. «Nach dem Stillen werde ich gleich schlafen gehen. Du kannst gern hier weiter fernsehen», biete ich ihm an. Ich spüre seinen Blick im Rücken.

«Gute Nacht, Daniel.»

«Gute Nacht, Luca. Schlaf gut.»

Während ich Mia stille, summe ich leise ein Lied. Es war mir nicht bewusst gewesen, dass meine Aussetzer so eklatant sind. Das muss aufhören. Ich muss mich zusammenreißen. Aber während ich Mia sacht über das Köpfchen mit dem ersten dünnen Flaum streiche, wandern meine Gedanken schon wieder in die Vergangenheit.

Kapitel 2

Seit ich denken kann, umgibt meine Familie eine melancholische Aura. Meine Eltern hatten ein Trauma erlitten: Sie haben ein Kind verloren. Die daraus entstandene Sorge um mich, ihre jüngere Tochter, beraubte mich aller Freiheiten. Als Kindergartenkind und junges Schulkind hatte ich es noch cool gefunden, eine ständige Begleitperson um mich zu haben. Ich wurde mit dem Auto gefahren, während sich die anderen Kinder mit schweren Schultaschen entweder zu Fuß auf den Heimweh machten oder in überfüllte Busse quetschen mussten.

Aber dieses behütete Leben machte auch einsam. Kaum eingeschult merkte ich, dass ich zum Außenseiter zu werden drohte. Die Gemeinschaft der anderen Kinder schloss mich aus. Das Königskind, das keinen Schritt unbewacht tun durfte, es passte nicht zu ihnen. Ständig hatte ich meine Mutter im Schlepptau. Spontane Einladungen von Freunden konnte ich nicht annehmen. Es musste immer erst alles durchorganisiert werden. Unser Haus glich einer Festung. Beim Herumtollen im Garten löste ich wenigstens zwei Mal pro Woche Alarm aus, weil alles verkabelt und gesichert war. Ich hasste diesen Zustand je älter ich wurde.

Hannes Verschwinden hatte meine Kindheit und Jugend zu sehr eingeschränkt, als dass ich unter ihrem Verlust sehr gelitten hätte. Außerdem war es für mich schwierig, einen Menschen zu lieben, von dem es nur ein Ultraschallbild gab und das Foto einer Sofortbildkamera, das ein schreiendes, rotgesichtiges Neugeborenes zeigte.

Es gab Tage, an denen ich meine Schwester verfluchte. Besonders schlimm war es in der Adventszeit. Während andere Familien ihre Fenster schmückten und Weihnachtslieder aus den Räumen hallten, legte sich eine bleierne Stille über unser Haus. Der Duft frisch gebackener Vanillekipferl, ich lernte ihn erst kennen, als meine Tante Francis dem Trauerspuk ein Ende setzte und mich zu sich holte. Bei ihr verbrachte ich zehn Jahre hintereinander Heilig Abend. Meine Mutter lehnte die Einladungen ab. Ich glaube, sie war froh, sich in diesen Tagen ganz ihrer Trauer hingeben zu können, ohne Rücksicht auf mich nehmen zu müssen.

Meine Kindheit drohte zu einem Desaster zu werden. Mein Vater war der Nachsichtigere, der Verständnisvollere. Ich dachte immer, er hätte das Trauma besser verarbeitet als meine Mutter. Leider war es ein Trugschluss – er bezahlte es gar mit seinem Leben.

Höhepunkt und Wende in meinem jugendlichen Dilemma war ein Samstag im Herbst. Meine Mutter hatte mir wieder einmal verboten, zu einer Party zu gehen. Erbost hatte ich ihr entgegengeschrien, dass ich mir wünschte, ebenfalls vom Erdboden zu verschwinden, so wie meine Schwester – ungeachtet dessen, dass Hanne als vier Wochen alter Säugling sicherlich nicht freiwillig aus unserem Leben geschieden war. Meine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Nach einem zehnwöchigen Klinikaufenthalt verbesserte sich unsere Mutter-Tochter-Beziehung. Unter psychologischer Anleitung lernte sie, ihre Ängste um mich unter Kontrolle zu halten und mir Freiräume zu lassen, sodass ich meine pubertär aufsässigen Phasen allmählich ablegte. Aber es war eine verdammt harte Zeit.

Heute schäme ich mich für mein bockiges Verhalten. Ich hatte ihnen das Leben unnötig schwer gemacht. Und nachempfinden, diesen vernichtenden Schmerz wirklich nachempfinden, kann ich erst jetzt, wo ich selbst ein hilfloses Würmchen im Arm halte. Rückgängig kann ich nichts machen, aber gäbe es eine winzige Aussicht auf ein gutes Ende, ich könnte viel wieder gutmachen.

***

Kurz bevor ich mit dem Kinderwagen um die Ecke des Seniorenheims biege, bleibe ich stehen und verharre einen Moment. Ich atme tief durch. Es ist jeden Morgen dasselbe Bild. Ich sehe meine Mutter am Fenster, die Gardine ein wenig zur Seite geschoben, ihr Blick sehnsüchtig auf die Straße gerichtet. Sie hebt die Hand und winkt mir zu. Ich winke zurück.

Sie freut sich, mich zu sehen. Und ich streite ihr die Liebe nicht ab, die sie bei meinem Anblick empfindet. Aber letztendlich bin nicht ich es, auf die sie wartet. Wenn ich nach einer Stunde weg bin, wird sie weiter aus dem Fenster schauen.