Versuchung - Florian Harms - E-Book

Versuchung E-Book

Florian Harms

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Beschreibung

Auf der Jagd nach dem perfekten Geschmack Dieser sinnliche und hochspannende Thriller entführt Sie auf eine abenteuerliche Reise in den Orient. Die exquisiten Speisen der arabischen Welt und der Wettlauf um das Wissen auf dem Feld der Biotechnologie – aus diesen Zutaten spinnt Florian Harms eine fesselnde Geschichte voller schillernder Figuren. Privatermittler Calanda wird zu seinem bisher größten und mysteriösesten Fall gerufen. Für einen Schweizer Lebensmittelkonzern soll er August Lieblig ausfindig machen. Dieser ist auf der Suche nach seinem verschollenen Vater irgendwo über der Wüste Nordafrikas abgestürzt. Wohin ist Lieblig verschwunden – und was weiß er über den neuen Geschmack, den das Schweizer Unternehmen gefunden zu haben glaubt und der eine außerordentlich starke Wirkung auf die menschlichen Sinne haben soll? Noch stärker als zum Bespiel die Aromen von Zimt und Granatapfel, von Lamm, Aprikosen und gerösteten Mandeln, die aus einem irdenen Topf duften? Sinnlich, spannend, rasant – das Romandebüt des Topjournalisten Florian Harms Florian Harms, ehemaliger Chefredakteur von SPIEGEL Online und seit 2017 Chefredakteur der Berliner Redaktion von t-online.de, ist selbst ausgewiesener Kenner Nordafrikas und des Nahen Ostens. In seinem Roman lässt er die Magie des Orients auf eine Welt der Wissenschaft treffen: - Eine packende Kriminalgeschichte mit rasantem Erzähltempo - Ein Thriller über Biotechnologie, die die Grenzen des Möglichen ausreizt - Eine sinnliche Erkundungstour voller kulinarischer Köstlichkeiten - Eine abenteuerliche Jagd um die halbe Welt »Das größte Geheimnis der Welt. Wer es kennt, beherrscht die Menschen – und die Liebe.« Lassen Sie sich von der faszinierenden Welt des Morgenlandes mit all seinen Genüssen und Versuchungen in ihren Bann ziehen!  

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Seitenzahl: 625

Veröffentlichungsjahr: 2019

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FLORIAN HARMS

VERSUCHUNG

KRIMINALROMAN

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Der auf S. 283/284 zitierte Hymnus an Amun aus dem Grab des Pairi aus der altägyptischen Amarna-Zeit stammt von http://www.faszination-aegypten.de. Das auf S. 177 wiedergegebene Zitat zum »Ölbaum« stammt aus: Meyers großes Taschenlexikon, Mannheim 1999.

1. Auflage

© 2019 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Antje Steinhäuser, München

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Big Noodle Titling

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Lutz Jäkel, Berlin

ISBN 978-3-7109-0057-0

eISBN 978-3-7109-5080-3

Inhalt

Prolog

Himmel

Erde

Hamburg

Al-Dschadida

Zürich

Marrakesch

Im Turm

Waldrems

Fès

Westwärts Richtung Stuttgart

Mittelmeer

Im Turm

Berlin

Tunis

Hamburg

Im Turm

Tripolis

Straßburg

Tobruk

Freiburg

Im Turm

Damaskus

Im Turm

Aleppo

Himmel

PROLOG

Schatten huschen über das Gemäuer, Rußfunken der Fackeln irrlichtern durch das unterirdische Gewölbe. Unter Kerzenleuchtern glänzen die Speisen auf der Tafel. Orangen-Minz-Püree steht neben Taubenpastilla auf Marzipan, Meeraal mit Koriander neben Artischocken und Trauben. Grillfleisch verströmt Aromen von Zimt und Granatapfel, aus einem irdenen Topf duften Lamm, Aprikosen und geröstete Mandeln. Die Blicke der neununddreißig Männer und Frauen richten sich auf den Meister, als er sein Kristallglas erhebt und spricht: »Gefährten, Freunde, Bewahrer des Wohlklangs, dies sey unsre Stund’. Erhebet euch unt teilet den Tranck des Lebens mit mir. Schmecket die Sonn’, die Liebe, die ewiglich Erfüllung, als da sey für Seel’, Leib unt Geist. Nichts ist wie dies.«

Die Frauen und Männer stehen um den Tisch, auf ihren weißen Gewändern tanzen die Schatten des Feuers. »Nichts ist wie dies«, murmeln sie und führen ihre Gläser an die Lippen. Der Odem Gottes rinnt durch ihre Kehlen, so schmecken sie das Paradies, erstrahlen ihre Gemüter in reinstem Glück. »Nichts ist wie dies.«

»Schmecket unt teilet«, spricht der Meister. »Wahret das Wissen unt tut Gutes all Menschen unt der Welt.«

»So wollen wir tun«, murmeln die Frauen und Männer, doch nicht all ihre Herzen sind rein.

HIMMEL

1

Siebzehn Minuten bevor das erste Triebwerk ausfiel, bestellte er bei der Stewardess noch einen Rotwein. Den dritten. Den ersten hatte er sich gleich nach dem Start in Hamburg bringen lassen, den zweiten in zehntausend Metern Höhe über Andalusien. Glänzende Lippen, ein Strahlen. Wie schaffen die das, jedem Passagier das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein? Vermutlich üben sie es in Seminaren. Müsste man mal dabei sein. Er lächelte auch, lehnte sich in den Sitz zurück, nippte am Plastikbecher, ließ den Schluck über die Zunge in den Rachen plätschern und genoss den zuverlässig anschwellenden Rausch. Am Abend vor der Abreise hatte er einen amerikanischen Film gesehen, ein Spruch daraus fiel ihm ein: Der nächste Drink ist tödlich. Er dachte an das Lächeln der Stewardess, ihre Wangenknochen, ihren Hals, ihre Schultern, die Rundungen ihrer Brüste unter dem blauen Stoff, ihre Beine hinter dem feinen Netz der Nylonstrumpfhose. Die Sonne vor dem Fenster. Die Wolken. Dann fiel ihm der Himmel auf den Kopf.

Er musste eingenickt sein, schreckte auf. Überall war Bewegung, jemand schrie. Was? Ein Metallkoffer traf ihn an der Schläfe und knallte in seinen Schoß. Benommen versuchte er, ihn unter den Sitz zu schieben, doch es gelang ihm nicht. In seinem Kopf wirbelten Bilderfetzen umeinander, schummrig wurde ihm. Er fasste sich an die Stirn, da war es warm und klebrig, er blutete, das stand fest. Alles andere: wirr. Mit einem Mal wurde er nach links gegen das Bordfenster gezerrt, von einer Kraft, die um vieles stärker war als sein Reflex, schockstarr zu verharren. Sein fetter Sitznachbar rutschte herüber, presste seine zahlreichen Kilos gegen seine rechte Schulter, zwängte ihn ein. Was? Er wollte sprechen, dann rufen, brachte keinen Laut hervor. Die rasende Abfolge der Eindrücke raubte ihm den Atem. Aus seinem Magen quoll ein modriges Gefühl der Angst. Als der Sog nach links ein wenig nachließ, schaffte er es, seinen Nachbarn zurück in den Sitz zu drücken. Er wunderte sich nicht einmal, dass der nicht reagierte, nahm nur wahr, was ihn selbst betraf. Er war ganz bei sich. Ein Gedanke durchzuckte ihn, noch ein Satz aus dem Film: Der nächste Moment ist entscheidend.

Die Füße gegen den Kabinenboden gestemmt, umklammerte er mit den Händen die Sitzlehnen, richtete sich einige Zentimeter auf, versuchte zu erkennen, was vor sich ging. Das ruckartige Schlingern wurde von einer sehr schnellen Abwärtsbewegung abgelöst, zu schnell. Seltsam, das Rütteln der Sitze und seines Körpers, während er erstarrte. Andere nicht: Vorne kauerten einige Leute im Gang, hielten sich links und rechts an den Sitzen fest, während sie quiekten wie aufgeschreckte Mäuse. Dann kam die Stewardess mit der Feinstrumpfhose vorbeigeflogen, allerdings ohne Lächeln. Sie schlug irgendwo im vorderen Kabinenteil gegen die Bordwand, vielleicht auch gegen einen oder mehrere Passagiere. Er schaute nicht hin, sondern drehte den Kopf nach links und blickte aus dem Fenster. Eindeutig abwärts. Ein Himmelssturz. War es so auch ihm ergangen? Er würde es erfahren, die Reise hatte begonnen.

Er wurde ganz ruhig, spürte, wie sich in seinem Bauch Wärme ausbreitete, und presste den Kopf an den Vordersitz. Ein Bild kam ihm in den Sinn, flimmerte vor seinen Augen auf: Der Garten seiner Großeltern an einem heißen Sommertag, er als Kind, wie er, nur mit einer Badehose bekleidet, versuchte, einen roten Ball mit weißen Punkten aus dem Brennnesselgestrüpp herauszuangeln; wie er auf den moosglitschigen Steinen ausrutschte und seitwärts in die Nesseln fiel; der Moment, bevor die brennenden Blätter seine Haut berührten, dann der Aufprall zwischen den borstigen dunkelgrünen Stängeln auf feuchter Erde. Ein kurzer Moment, der ihm die Luft nahm. Der Schmerz, der wie eine Flamme über seinen Körper rasende Schmerz, an den Schultern und den Hüften zuerst, dann am Rücken, den Oberschenkeln und Knien, den Unterarmen und Knöcheln, schließlich am Hals und ganz zuletzt an den Händen. Das Brennen, von dem er glaubte, dass es niemals aufhören würde. Er konnte den Schmerz wieder spüren, nur flammte er diesmal von unten seinen Körper hinauf, schon erreichte er seine Oberschenkel, züngelte hinauf zum Rücken. Würde der Schmerz jemals enden? Ein Blitz durchzuckte seine Augen, dann wurde sein Blick klarer: rote Erde, die sich rasend näherte. Er verlor das Bewusstsein.

ERDE

2

Yallah, yallah, Dschamila! Komm endlich her, oder friss von mir aus bis ans Ende deines Lebens Hammelscheiße! Gott verfluche dich und der Heilige gleich doppelt, du lahmes Ding! Komm hier herüber, beeil dich! Vorsicht vor dem Metall, das glüht noch! Gib acht, dass du nicht … Obacht! Pass doch auf, wo du hintrittst, verdammt, Dschamila! Der Herr strafe dich für deinen fetten Hintern, Herrvergibmir. Komm hier entlang, ja, hier, gib acht! Gut so, Täubchen, ja, jetzt hast du’s. Nun duck dich unter den Flügel und komm hier herüber, ja, so ist’s gut, Vorsicht! Hier! So ist’s recht, so ist’s recht. Nimm die Beine, ich nehme den Kopf. So ist’s gut, jaaa! Und jetzt langsam anheb… Laaang… Vorsicht! Pass doch auf, du Gans! Langsam, ja, so ist’s richtig. Heb behutsam an, siehst du, so wie ich es mache, ja, so ist’s recht, Täubchen. Gott sei mit ihm, der arme Kerl. Schau auf deine Füße, du darfst nicht fallen, Gottverdammtdschamila, schau auf deine Füße! Und jetzt los, es ist höchste Zeit. Fort von hier, es ist zu heiß.

HAMBURG

3

Calanda konnte sich nicht daran erinnern, wann es das letzte Mal so lange am Stück geregnet hatte. Es goss seit Tagen. Der norddeutsche Marschboden war derart aufgeweicht, dass er keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen konnte. Auf den Feldern rund um die raumfressende Stadt hatten sich unzählige Teiche gebildet. Das Landvieh war nach der Winterpause noch nicht wieder auf die Weiden gelassen worden. Schwarz-weiße Kühe und die paar Schafe, die nicht dem Strukturwandel zum Opfer gefallen waren, stampften in ihren Ställen gegen die Gatter, weil sie spürten, dass draußen die Temperatur stieg. Doch die Bauern konnten nichts tun, als kritische Blicke zum Himmel zu werfen und zu hoffen, dass Gott, die Natur oder wer auch immer ein Einsehen haben möge und den herabstürzenden Wassermassen Einhalt gebiete.

In der Stadt stand das Kanalisationssystem kurz vor dem Zusammenbruch. Auf dem Rathausmarkt quollen die Gullis über und ergossen ihre Brühe auf das Pflaster, wo sie sich zu übel riechenden Bächen sammelte. Der Pegel der Unterelbe war um einen halben Meter gestiegen. Wenn die Flut kam, reichte der Wasserstand in den Hafenbecken vor St. Pauli nah an die Marke von drei Meter fünfzig über Normalnull. Wenn es noch zwei Tage ununterbrochen so weiterregnen würde, konnten die großen chinesischen Frachtschiffe mit ihren mehr als neuntausend Standardcontainern nicht mehr in den Hafen gelassen werden. Sie müssten nach Rotterdam oder Wilhelmshaven umgeleitet werden, ein Drama für die Hansestadt. Große Katastrophen waren hier selten geworden, und so erregte man sich schon über die kleinen Launen der Natur. Auf dem Flugfeld in Fuhlsbüttel sorgte eine Saugstaffel mit schwerem Gerät dafür, dass der Flugverkehr aufrechterhalten werden konnte, und die meisten Hamburger, ob in Barmbek, Eimsbüttel oder Altona, sprachen seit Tagen über das Wetter. Das war hier tatsächlich ungewöhnlich.

Auch Calanda fand, dass es nun genug geregnet hätte. Seit er in diese Stadt gekommen war, hatte ihn das Klima überrascht. Hamburg war auf Dauer betrachtet viel trockener, als man im Rest der Republik annahm. Auch hatte sich die freundliche Unbekümmertheit der eingeborenen und aus aller Welt zugezogenen Einwohner wohltuend auf sein Gesamtbefinden ausgewirkt. Hier war man gern nett zueinander. Wo er herkam, zwischen hohen Gipfeln und tiefen Tälern, war er anderes gewohnt gewesen. Dort war man seit je abhängig von der heiligen Verschwiegenheit. Hier war man abhängig von der Welt. Genau der richtige Ort für einen wie ihn, und so hatte es ihn nicht geschmerzt, sondern war ihm als eine täglich von Neuem willkommene Herausforderung erschienen, die schwyzerdütsche Färbung seiner Sprachmelodie abzulegen, was ihm bereits fast vollständig gelungen war.

Das hier war seine Stadt, mochte es regnen, so lange es wollte. Das hier war ein Aktionsfeld, in dem er sich unbemerkt bewegen konnte, das hier war sein Milieu. Seine herausragende Fähigkeit bestand darin, Dinge wahrzunehmen, wie sie waren. Und den Dingen dann im Sinne seiner Auftraggeber einen anderen Lauf zu geben. Einen wie Calanda gab es nicht oft. In diesem Land, in dem er nun seit sieben Jahren Gastrecht genoss, gab es vielleicht noch ein, zwei ähnlich fähige Ermittler wie ihn, dessen war er sich sicher. Europaweit, zu dieser Überzeugung war er durch jahrelanges, beständiges Knüpfen von Kontakten gekommen, konnten ihm elf, vielleicht zwölf andere das Wasser reichen. In seinem speziellen Metier aber war er einzigartig. Calanda war ein Sucher. Seine Stärke war es, Objekte zu finden, seien es Gegenstände oder Menschen. Methodisch machte er da keinen Unterschied. Als sein Taxi vor die Abflughalle des Hamburger Flughafens rollte, regnete es noch immer.

AL-DSCHADIDA

4

Der Morgen war erhaben. Zart dufteten die ersten Orangenblüten, das Gras stand hoch. Als die Kühle sich davonschlich, dräute der neue Tag. Das Gestern war versunken im Schlund der Erinnerung, wirklich war nur das Jetzt. Morgensonne, Arbeit, Fischfabrik. Schnell hin, der Chef wartet schon und die anderen auch. Männer, Freunde, Knechte wie ich. Macht sie zu Hause alles richtig? Hab ihr fünfmal gesagt, dass sie den Verwundeten zu jeder vollen Stunde wecken soll, muss ihm Tee einflößen, macht sie’s richtig? Gott vergib mir, kann sie das? Ist noch jung, die Hochzeit im vergangenen Frühsommer. Blühender Jasmin. Sogar in Mutters Haar, die alte Frau. Berge von Couscous, Meeraal, Dschamila damals so verlockend, ihre Schenkel unter dem gespannten Stoff. Er muss jede Stunde ein Glas heißen Tee trinken, hab ihr`s fünfmal gesagt. Fische. Ob ich’s den anderen berichten soll? Werden dann sicher alles wissen wollen: Wo hast ihn gefunden? Erzähl doch, wie ist’s passiert? Bist zur Polizei gegangen? Waren da noch mehr Verwundete? Und das Wrack glühte noch? Flunkerst du nicht? Erzähl doch, Ibrahim, erzähl! Lieber nicht. Mein Gott, die Sirene ist schon verstummt, höchste Zeit! Fahrrad in den Schuppen rein, den der französische Vizedirektor hat bauen lassen mit dem Geld der Europäer, weil ein Fahrradschuppen wichtig ist für die Arbeiter, hat er gesagt, der Vizedirektor mit seinen bartlosen Wangen, wegen der Ordnung, denn wer Ordnung hält, kann mehr Fische verkaufen. Fische in Dosen, wer will so etwas essen? Die Europäer wollen sie essen, bauen uns hier sogar einen viel zu großen Fahrradschuppen aus weiß lackiertem Metall, damit sie zu Hause unsere Sardinen essen können, die Europäer. Also rasch in den Kittel, dann ans Fließband, heute sind die guten Fische an der Reihe. Gute Fische in goldene Dosen für die Europäer, schlechte Fische in rote Dosen für die Afrikaner. Natürlich bin ich nicht zu den Polizisten gegangen. Wer kann denen schon trauen? Geldgierige Halunken. Nein, der Verwundete gehört uns. Ob Dschamila alles richtig macht mit ihm?

5

Sie weckte ihn das nächste Mal um neun, tränkte ein Tuch in Kräuterwasser, netzte seine heiße Stirn. Eine kühlende Hand auf seiner Schläfe. Er schlug die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht. Was? Es war so ruhig um ihn, keine Bewegung. »Trink«, sagte sie und drückte ihm den Becher an die Lippen. »Trink!« Er trank. Mild rannen ihm die Schlieren warmen Tees durch die Kehle. Lächelte sie? Er suchte nach Halt, nach Erinnerung. War da eine hübsche Frau gewesen, Wolken? Hände, eine Insel? Er versuchte, ebenfalls zu lächeln. Das Feuer. Sie kühlte seine Schläfe, drückte ihn zurück in die Kissen, lächelte. Sprach sie französisch? Hatte sie »Trink« gesagt? Wer war sie und wo war er? Er schlief wieder ein, träumte wild, schwitzte gotterbärmlich.

6

Sie weckte ihn wieder um zwölf. Das feuchte Tuch, die kühle Hand. Er spürte sein Gesicht brennen, fühlte sich aber kräftig genug, sie anzusprechen: »Wo bin ich?«

»In Al-Dschadida.«

»Wo ist das?«

»Am Meer. Nicht allzu weit von der roten Stadt.«

»Der roten Stadt?« Denken bereitete ihm Schmerzen, Sprechen weniger.

»Marrakesch.«

»Marra…? Marokko?«

»Ja, natürlich.«

Er schloss die Augen. Marrakesch. Der Vater. Der Flug von Hamburg auf seinen Spuren. Der Absturz, das Feuer, das Licht. Sein brennendes Gesicht.

7

Das nächste Mal erwachte er von einem Duft, der ihm in die Nase stieg. Das Gesicht war nicht da, keine Hand und kein Tee. Dafür der Duft. Wohlige Tiefe mit einer leichten säuerlichen Note.

»Wer bist du?«, fragte er in die duftende Leere.

Sie trat an sein Lager. »Na, du bist wieder aufgewacht. Geht es besser? Der Scheich hat gesagt, du hast keine Knochenbrüche. Nur Prellungen. Ein Wunder, sagt der Scheich« Sie richtete seine Decke.

»Wer bist du?«

»Dschamila.« Wieder das Lächeln.

»Dschamila wie weiter?«

»Meine Familie sind die Aulad Lakrik. Trink noch etwas Tee.«

»Was ist passiert?«

»Du bist vom Himmel gefallen, zusammen mit einem Haufen brennenden Metalls. Der Scheich sagt, es ist ein Wunder, dass du lebst, Gott ist groß.«

»Das Flugzeug?«

Sie hatte sich schon wieder abgewandt und ging in die andere Ecke des Raumes. Er drehte den Kopf und sah hinüber. Das also war Dschamila aus der Familie der Soundso in irgendeinem Kaff nicht weit von Marrakesch. Offenbar ein gutes Kaff. Sie beugte sich über einen Topf, so viel konnte er erkennen. Der Duft kam von dort. Dann warf sie etwas in den Topf, und plötzlich erhob sich im ganzen Raum ein herber Geruch, der majestätisch den vorherigen Duft überbot.

»Koriander!«, rief sie aus der Ecke und erwiderte sein Lächeln. »Ich habe ihn aus dem Garten geholt. Gleich ist die Suppe fertig.«

Er rappelte sich in den Kissen auf, als sie mit einer dampfenden Schale zu ihm kam.

»Iss!«

Vorsichtig tauchte er den Löffel in die rote Suppe, in der sich grüne Korianderschnitzchen und hellgelbe Kichererbsen wie kleine Bojen drehten. Direkt unter der Oberfläche schien sie zwei Millimeter durchsichtig zu sein, um dann rasch abzusteigen in glitzerndes Dunkelgelb, strahlendes Orange und schließlich ein tiefes, vertrauenerweckendes Rot. Sie war warm, sie war geschmeidig, sie war köstlich. Ihr Lächeln. Als er die Schale bis auf den Grund ausgelöffelt hatte, verlangte er mehr. Dschamila nickte und brachte eine zweite Portion.

»Wie heißt das?«

»Das«, lächelte sie mit einem Anflug von Stolz, »ist eine Harira. Es heißt, sie flöße den Schwachen Kraft ein und verleihe den Zweifelnden Mut.«

»Sie schmeckt herrlich, so weich.«

»Sie ist wie die Seide, von ihr hat sie den Namen.«

»Du bist sehr freundlich, Dschamila. Bist du allein?«

Sie lachte. »Wo denkst du hin? Mein Mann Ibrahim arbeitet in der Fabrik, er wird am Abend zurückkommen. Er hat dich gefunden.«

»Er hat mich gerettet?«

»Wir beide haben dich gerettet.«

Wieder hörte er den Stolz in ihrer Stimme.

»Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.«

»Du kannst uns später danken, iss jetzt.«

8

Die Beete mussten bestellt werden, Reih an Reih die Kräuter; Minze, Petersilie und natürlich viel, viel Koriander. Daneben die Kartoffeln und Zwiebeln. Er half, wo er konnte, steckte hier Setzlinge, grub dort ein Loch, rupfte Unkraut, ließ eine Handvoll roter Erde zwischen den Fingern zu Boden rieseln und blinzelte in die Frühsommersonne. Ibrahim zeigte ihm, was er tun sollte, und er gehorchte. Die Dankbarkeit des Gastes, der um seine Schuldigkeit weiß und ebenso um seine vollkommene Unfähigkeit, die riesige Schuld jemals begleichen zu können. Groß in der Absicht, ungelenk im Vollzug. Die andere Umgebung, die fremde Kultur, das erschütterte Ich. Er gehorchte. Hier noch ein Strauch Minze. Nicht zu vergessen der Koriander! Keine Harira ohne Koriander, lautete das eherne kulinarische Gesetz dieses Landes. Es erschien ihm nun, da er neun Tage lang hintereinander ausschließlich Harira gelöffelt hatte, so selbstverständlich wie Dschamilas Lächeln und Ibrahims schweigsame Gutmütigkeit, die sich nur dann in Lebhaftigkeit entlud, wenn er in eine unvorhergesehene Situation geriet. Den Heilungsprozess seiner Blessuren schien die Harira auf wundersame Weise beschleunigt zu haben.

Er war der Gast, er tat, was er konnte, um sich der Gnade würdig zu erweisen, die ihm zuteilgeworden war. Hier noch ein Strauch Koriander und dort noch einer und noch einer dahinten. Ko-ri-an-der. Ibrahim hatte ihm auch den arabischen Namen genannt: Kusbara. Ein schönes Wort. Nur Dschamilas Lächeln war schöner.

Was sollte sein nächster Schritt sein? Vom Himmel gefallen, hatte Dschamila gesagt, dass stimmte. Vom Himmel direkt in ihr Lächeln, überlegte er, tadelte sich sofort für die Rührseligkeit dieses Gedankens und ließ sich doch von ihm verführen. Die Scham naht gern in Schönheit gewandet, hinterlässt aber meist nicht viel mehr als Fragen. Mut dagegen speist sich aus Lob und Liebe und erhebt selbst das kleinste Licht. Was ist besser? Oder: Was ist ehrlicher? Hochmut ist die Spannfeder der schnellen Zunge, heißt es, doch wer keinen Schatz sucht, wird nicht einmal einen Kiesel finden. Meist, das kommt hinzu, hat der Weg längst begonnen, bevor man erkennt, dass man bereits unumkehrbar auf ihm vorangeschritten ist, Stecken und Stab sind längst abgegriffen, und der Blick zurück erschöpft sich in einem erleichterten und zugleich wehmütigen Moment der Seltenheit. Wer nicht sucht, der wird gefunden … und so weiter. Er kannte den Rest aus seinen Büchern. Was er nicht kannte, war sein nächster Schritt. Vater war der einzige Ansatzpunkt.

Auch sein Flugzeug war abgestürzt, das hatten zumindest die deutschen Medien berichtet. Konnte es so etwas geben? War auch er in ein Lächeln gefallen? Gar ohne sich dafür schämen zu müssen? Noch ein Strauch Koriander. Wo ist er? Wo bist du? Ich spüre dich, aber kann dich nicht erahnen. Deine Hand leitet mich auf sicherem Pfad, aber wo bist du? Hier war nur Koriander, soweit er das aus der Hocke sehen konnte. Und Minze zwischen Petersilie, roter Erde, etwas Unkraut, fetten schwarzen Regenwürmern und dann wieder Koriander. Grün, grün, grün. Er ertappte sich dabei, wie er sich nach einem Lächeln sehnte. Vom Himmel auf direktem Weg zu ihr. Ibrahim trat zu ihm: »Du darfst den Koriander nicht zu tief setzen, er liebt das Licht«, sagte er ohne jeden Vorwurf in der Stimme.

»Ah. Ist gut.«

Er schob einige Erdkrumen in das Setzlingsloch, das er gerade gegraben hatte.

»Ich möchte dich etwas fragen, Ibrahim.« Er richtete sich auf, vorsichtig, um das schmerzende Bein zu schonen. »Du hast gesagt, du hättest mich aus dem Flugzeugwrack gezogen. Es klingt ungewöhnlich, aber ungefähr einen Monat vor meinem Unfall muss irgendwo nicht weit von hier schon einmal ein Flugzeug abgestürzt sein, ich habe es aus dem Fernsehen erfahren.« Er rieb sich das Knie. »Weißt du davon?«

Ibrahim ließ seinen Blick über das Feld schweifen, räusperte sich und sah ihm direkt in die Augen. »Ja, du hast recht. Vor einiger Zeit ist ein anderes Flugzeug vom Himmel gefallen, nicht allzu weit von hier. Es ist am Kamm des Hohen Atlas zerschellt. Es lag noch Schnee dort oben zu dieser Zeit. Gott muss böse auf euch Europäer sein.« Er rümpfte die Nase.

»Zerschellt?«

»Ja, der Fels hat es angezogen«, sagt der Scheich. »Es ist nicht gut, wenn man seine Heimat verlässt.«

»Weißt du, ob es Überlebende gab?« Er spürte, dass seine Stimme flatterte, und ging wieder in die Hocke. Das Stehen bereitete ihm noch Mühe. Das deutsche Fernsehen hatte berichtet, dass alle Passagiere überlebt hätten. Unglaublich, aber wahr. Verwundet einige, aber alle am Leben. Hundertvierzig deutsche Urlauber und Geschäftsleute, darunter er. Die Zeitungen hatten es auf der ersten Seite gebracht, »Das Wunder von Casablanca« hatten sie getitelt und »Glück im Unglück in Marokko«. Aber als die Sender später aus den Krankenhäusern, aus der Botschaft, und noch später, als die Überlebenden zurück nach Deutschland geflogen wurden, vom Flughafen in Frankfurt berichtet hatten, da war er nicht im Bild gewesen. Auch nachdem er bereits sechsmal im Auswärtigen Amt angerufen und mit zwei Reportern telefoniert hatte, die aus den Krankenhäusern in Casablanca berichtet hatten, wusste er noch immer nicht, wo er war. Ja, sein Name hatte auf der Passagierliste gestanden, ja, ein anderer Passagier hatte neben ihm gesessen und sich vor dem Absturz sogar noch mit ihm unterhalten, aber danach ward er nicht mehr gesehen. Nicht an der Absturzstelle und nicht im Krankenhaus.

Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als selbst nach ihm zu suchen. Jeder Hinweis zählte. Ob Ibrahim etwas wusste? Im Koriander hockend, blickte er in das gutmütige Gesicht des Marokkaners über ihm.

»Dort war es anders als in deinem Fall. Alle Menschen in dem Flugzeug wurden gerettet. Gottes Wille ist unergründlich. Er wirft euch vom Himmel, nur um euch dann zerschunden aus einem Haufen Metall krabbeln zu lassen.«

»Ihr habt mich gerettet.«

»Auch das war Gottes Wille.«

»Ja, war es wohl.« Er beugte sich wieder über den Koriander. Da war er, August Lieblig, nun in einem staubigen Nest am Fuße des Hohen Atlas in Marokko, in dem nachts die kastrierten Esel klagten und tagsüber eine Berberin namens Dschamila ihm ein Lächeln nach dem anderen schenkte. Da hockte er mit verbundener Stirn, schmerzendem Bein und aufgeschrammten Armen zwischen den leuchtend grünen Kräutern unter der nordafrikanischen Frühjahrssonne, um seinen Lebensrettern dabei zu helfen, noch mehr Koriandersetzlinge in den roten Boden zu stopfen, als dort ohnehin schon wucherten. Sein dunkelblondes Haar hatte bereits begonnen, aus dem Schnitt zu wachsen, auch einen stattlichen Bart schien er mittlerweile angesetzt zu haben, das konnte er nur ertasten, in Ibrahims und Dschamilas Hütte gab es keinen Spiegel. Wenn er sich auf seine volle Körpergröße von ein Meter neunzig aufrichtete, flatterte die blaue Dschallabija, die Ibrahim ihm überlassen hatte, an seinem Körper im Wind. Ein Davongekommener. Wenn er die Augen schloss, hörte er noch immer das Kreischen der anderen Passagiere. Spürte den unerbittlichen Sog abwärts, den Schlag des Metalls gegen seine Schläfe. Das Leben war so unergründlich wie die Schemen der Gebirgszüge am Horizont. Ihm waren schlagartig die Gewissheiten geraubt worden, es blieben nur Fragen. Würde er wieder gesund? War er schuldig, weil er überlebt hatte, während andere sterben mussten? Und die wichtigste: Wo war Vater? Er würde ihn suchen müssen. Wenn tatsächlich alle Passagiere des anderen Fluges überlebt hatten, dann war auch er davongekommen. Aber warum hatte er sich dann nicht gemeldet? Kein Lebenszeichen geschickt? Er würde ihn suchen müssen. Aber wo war eine Spur, der es sich nachzugehen lohnte? Woran sollte er sich halten?

»Setz ihn nicht zu tief!«, rief Ibrahim, während er im Haus verschwand. Koriander.

Es dämmerte, als Ibrahim wieder herauskam. »Ich gehe in die Stadt, um Freunde zu treffen, wir wollen gemeinsam essen und Haschisch rauchen. Kommst du mit?«

»Wer soll sich dann um den restlichen Koriander kümmern?«

Ibrahim lächelte. »Der wartet gerne bis morgen; ist ein geduldiges Kraut.«

»Das merkt man ihm aber nicht an. Schau, einige Pflänzchen lassen schon die Blätter hängen.« Er ertappte sich bei der plötzlichen Vermutung, dass Ibrahim genauso wenig Ahnung von Koriander hatte wie er selbst. Außerdem stellte er verwundert fest, dass er begann, sich für die grüne Kräuterflut verantwortlich zu fühlen, ein Gefühl, das ihm auf dem Feld der Botanik gänzlich neu war. Deshalb überraschte er sich mit seiner Antwort selbst: »Geh du zu deinen Freunden und sei unbesorgt: Wenn du wiederkommst, werden alle Setzlinge im Boden sein. Nicht zu tief natürlich.«

»Wie du willst. Aber es kann morgen werden, bis ich zurückkehre.«

»Sei unbesorgt.«

Ibrahim schwang sich auf sein Fahrrad und verschwand bald hinter einer Kuppe des Korianderfeldes. Mein Gott, war dieses Feld lang. Wenn er sein Versprechen wahr machen wollte, würde er noch mindestens drei Stunden arbeiten müssen. Mit schmerzenden Gliedern durch die rote Erde kriechen. Wer sollte denn bitte schön all die Berge von Koriander essen? Das war doch Wahnsinn. Sicher, er schmeckte hervorragend. Dieses Kraut hier hatte nichts mit den nach Seife schmeckenden Blättchen in den Wan-Tan-Suppen asiatischer Imbissbuden zu tun, das war offensichtlich. Er würde sich beeilen müssen, um all die Setzlinge ihrem erdigen Bestimmungsort zuzuführen, und ja, er würde sie natürlich nicht zu tief hineindrücken.

Plötzlich stand Dschamila in der Haustür, sah zu ihm herüber, wie er in seinem blauen Gewand auf den Knien im Koriander herumrutschte, strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte. Er erstarrte. Lächelte dann ebenfalls. Sah ihr Kopfnicken, dann die Andeutung in Richtung des Hauses. Sie drehte sich um und ging wieder hinein. Mindestens dreißig Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Blitze aus Erregung waren darunter und Fetzen von Verwirrung. Auch die Scham kam wieder, klopfte leise an und wünschte zu bleiben. Doch dann, von tief unten, dort, wo außer ihr nur noch die Angst haust, drängte die Waghalsigkeit empor und begann sich breitzumachen. Das durfte nicht sein. Er kannte den Ehebruch als eine der schlimmsten Sünden, ja für strenggläubige Muslime verdiente er sogar den Tod. War Dschamila strenggläubig? War es Ibrahim? War er selbst streng oder gar gläubig? Er wollte nicht verletzen, so viel stand fest, wollte nicht spalten, sondern verständigen, abgesehen davon, dass er verdammt noch mal die Pflicht und nicht zuletzt aus purem Überlebenswillen den Drang hatte, sich seinen Rettern gegenüber demütig und dankbar zu zeigen; vielleicht hier und da sogar ein wenig unterwürfig, auf keinen Fall aber durfte er den Frevel begehen, gleich die erstbeste Gelegenheit zu nutzen, um Gefühle zu verletzen, mitten hinein in eine der schlimmsten Sünden zu springen und einen neuerlichen Beweis zu liefern für die kaltschnäuzige Ehrlosigkeit der Europäer, hartstiefeligen Kolonialisten, gottlosen, überlegenen Rohlingen, die nur Wüste und Asche hinterlassen, wo immer sie hintreten; selbst wenn man ihnen freundlich gegenübertritt, haben sie immer nur den eigenen Vorteil im Auge, den sie sogleich bei der erstbesten Gelegenheit ausnutzen, und sei es, dass sie über Leichen gehen. Oder über Frauenkörper. Er wollte nicht spalten. Er wollte gehen, aus diesem Dorf, aus ihrem Lächeln und aus ihrem Leben. Sie sollte ihn in guter, vielleicht liebevoller oder sogar eine Zeit lang in verliebter Erinnerung behalten. Aber sie sollte ihn nicht haben, er sollte sie nicht haben. Sie sollten es nicht sein, die das Tabu aufs Neue brachen und die Kluft noch tiefer trieben. Er schaute in den Himmel, sah die ersten Sterne, die hier so viel heller und verlockender schienen als zu Hause, wo er jeden Stein und jedes Gesetz kannte. Dann ging er zu ihr hinein.

ZÜRICH

9

Auch in Zürich regnete es, allerdings hatten die Tropfen hier eine andere Konsistenz, eine Spur leichter und weniger nass, fand Calanda. Am Flughafen nahm er ein Taxi und ließ sich direkt zum Hotel Eden au Lac gegenüber dem Utoquai-Seebad fahren. In seinem Zimmer stellte er mit Genugtuung fest, dass es einen herrlichen Blick auf den See und die aus dem Dunst ragenden, noch von Schneekuppen bedeckten Gipfel der Glarner Alpen bot. Er zog sich um, schloss seine Pässe im Zimmersafe ein und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Er verließ das Hotel durch die messingschimmernde Drehtür, ging einige Schritte bis zu dem Zeitungskiosk gegenüber, wo er die Tagesausgabe der Neuen Zürcher Zeitung kaufte, und winkte ein Taxi heran.

Zurückgelehnt in den Ledersitz des Wagens überflog er die Überschriften. Die Israelis hatten Arafat nun endgültig in dessen Amtssitz in Ramallah eingeschlossen und das bereits durch schweren Beschuss beschädigte Gebäude mit Panzern und Bulldozern umstellt. In Brasilien schwamm Präsident Lula auf einer Welle der Sympathie und entschloss sich, seine anvisierten Wirtschaftsreformen auf die lange Bank zu schieben. Der Ölpreis stieg konstant, der Kommentator prophezeite, dass er in spätestens zwei Jahren die Marke von fünfzig Dollar pro Barrel sprengen werde. Es sei wahrscheinlich, dass Anleger aus Nordamerika und Japan dann gegen Rohstoffe und Industriewerte spekulieren und stattdessen vermehrt Bankanleihen erwerben würden. Dies, so der Kommentator, sei aus Schweizer Sicht zu begrüßen. Im Feuilleton griff ein Autor das aktuelle Geschehen im Nahen Osten auf und analysierte den – wie er es nannte – »Krieg der Bilder« zwischen Israelis und Palästinensern. Für Calandas Geschmack verstieg er sich dabei zu weit in eine metaphysische Deutung, weshalb er den Artikel nicht zu Ende las. Da der Sport ebenfalls keine Erkenntnisse zu bieten hatte, sah er die letzten Minuten der Fahrt aus dem Fenster. Um kurz vor vier Uhr bremste der Taxifahrer vor dem Portal des Konzerns.

Obwohl Calanda pünktlich auf die Minute erschien, warteten die Herren schon. Sie waren zu dritt und baten ihn in ein kleines Besprechungszimmer im fünfzehnten Stock. Holzwände und eine große Fensterfront. Sie ließen sich am Kopfende des lang gezogenen Tisches nieder, der für den Raum viel zu groß war. Die drei Herren stellten es so an, dass sie auf der einen Seite zu sitzen kamen und Calanda allein auf der anderen. Eine Mitarbeiterin reichte Kaffee, dann kam Dr. Hagenbucher, der unter den dreien den höchsten Rang in der Hierarchie des Unternehmens bekleidete, sofort auf das Thema zu sprechen.

»Wir nehmen an, lieber Herr Calanda, dass Sie wissen, wieso wir sie hergebeten haben. Sie haben die Depesche erhalten?«

»Ja, habe ich gelesen. Allerdings enthielt sie nicht viele Informationen.«

Hagenbucher lächelte. »Das hat, wie Sie sich sicher denken können, natürlich seinen guten Grund. Wir müssen in dieser Angelegenheit sehr behutsam sein. Wären Sie so freundlich, einmal zusammenzufassen, was Sie bisher wissen?«

Calanda kannte diese Art der Gesprächsführung, er hatte sie bereits dutzendfach erlebt. Anfangs hatte sie ihn oft empört und einen tief in seinem Charakter verwurzelten Widerwillen hervorgerufen. Doch längst beherrschte er die reibungsloseste Methode, derartige Gespräche zielführend auf den Punkt zu bringen: Man fügte sich zumindest nach außen hin den rhetorischen Vorgaben des Gegenübers und spielte scheinbar willig mit, während man im Gedächtnis jeden Schachzug des anderen protokollierte.

»Ja, natürlich«, sagte er deshalb, wobei er ein betont teilnahmsloses Gesicht aufsetzte. »Sie haben etwas gefunden, das einen großen Wert für Sie – also für Ihren Konzern – darstellt. Bei diesem Etwas handelt es sich weder um einen Gegenstand im herkömmlichen Sinn noch um einen Menschen oder ein Tier. Leider haben Sie im Zusammenhang mit dieser Sache, die Sie gefunden haben, etwas anderes verloren, und Sie möchten meine Dienste in Anspruch nehmen, um dieses zweite Etwas wiederzufinden. Sie verlangen äußerste Diskretion und werden mir weitere Einzelheiten anvertrauen, wenn ich so freundlich bin, Ihrer Einladung zu einem Treffen an Ihrem Unternehmenssitz in Zürich zu folgen«, schloss Calanda. Hagenbucher lächelte, doch spielte mehr Eis als Wärme in seinen Zügen. Dieser Calanda war ein aufgeweckter Kerl, in diesem Punkt traf die Beschreibung der Mittelsmänner zu. Das machte es einfach, mit ihm zu kommunizieren. Gleichzeitig verlangte es umso größere Vorsicht.

»Sehr richtig, sehr richtig«, sagte Hagenbucher. »Und da Sie nun zu unserer großen Freude der Einladung gefolgt sind und hier vor uns sitzen, möchten wir Sie fragen: Wären Sie grundsätzlich bereit, für unser Haus zu arbeiten?«

»Selbstverständlich.«

»Sehr schön, sehr schön. Lassen Sie mich Ihnen nochmals vergewissern, wie groß unsere Freude darüber ist, dass wir uns kennenlernen.« Hagenbucher lächelte wieder, keine Spur wärmer als beim vorigen Mal.

Jetzt ergriff einer der beiden anderen Herren das Wort, der sich zu Beginn des Gesprächs als Beat Oehrli vorgestellt hatte. Er sprach ruhig, klar und ohne den gefühligen Unterton, der Hagenbuchers Stimme so unangenehm machte.

»Herr Calanda«, sagte Oehrli, »wie Sie bereits korrekt angemerkt haben, erfordert diese Angelegenheit vollkommene Diskretion. Das bedeutet: mehr sogar als äußerste Diskretion. Das ist der Grund, weshalb wir Sie beauftragen möchten. Sicher, Sie haben als Privatermittler in kenntnisreichen Kreisen einen exzellenten Ruf. Sicher, die Überprüfung durch unsere Sicherheitsabteilung hat keinerlei Beanstandung ergeben. Doch das war für uns nicht ausschlaggebend, Sie hierher einzuladen.« Er machte eine kleine Pause. »Nein, uns ist wichtiger, dass Sie ein Landsmann sind, wenn Sie verstehen.«

»Verstehe«, sagte Calanda.

»Wir möchten Ihnen hundertprozentig vertrauen können, und wir bitten Sie, auch uns hundertprozentig zu vertrauen.«

»Verstehe«, sagte Calanda noch einmal.

»Gut. Sie würden also für uns arbeiten?«

»Wie ich bereits gesagt habe: Grundsätzlich ja. Um eine feste Zusage geben zu können, muss ich jedoch mehr Details des Auftrags kennen.«

»Natürlich, natürlich«, schaltete sich Hagenbucher wieder ein. »Geben Sie Herrn Calanda die Details, um die er bittet«, forderte er Oehrli auf, der neben ihm saß. Dieser räusperte sich, wechselte einen kurzen Blick mit dem dritten Herrn, der bisher keinen Ton gesagt hatte, dann stand er auf, öffnete einen in die Holzwand eingelassenen Wandschrank, hinter dem sich ein Safe verbarg. Er stellte sich so davor, dass sein Rücken die Sicht auf das Display verbarg, tippte eine Nummer ein, öffnete die schwere Stahltür langsam und nahm vorsichtig einen Metallkasten heraus. Er hielt ihn wie ein Priester das Eucharistiegeschirr vor seiner Brust, trat langsam wieder an den Tisch und stellte den Kasten behutsam darauf ab.

Nachdem er erneut einen Blick mit dem dritten Herrn gewechselt hatte, setzte er sich wieder. Dabei schien er darauf achtzugeben, mit den Knien nicht gegen das nächststehende Tischbein zu stoßen, um jede Erschütterung zu vermeiden. Calanda schätzte die Länge des Kastens, der nun etwa einen halben Meter entfernt vor ihm auf dem Tisch stand, auf etwa zwanzig Zentimeter. Oehrli wechselte nochmals einen Blick, diesmal mit beiden seiner Kollegen, dann öffnete er vorsichtig den Deckel des Kastens. Mit Fingerspitzen hob er ein wattiertes Mulltuch empor und legte es neben den Kasten auf die Tischplatte. Calanda beugte sich kaum merklich einige Zentimeter vor, um besser sehen zu können. In dem Kasten lag unter einer dicken Glasplatte ein gewöhnlicher Holzstock. Eher ein Holzstöckchen. Calanda konnte auf den ersten Blick nichts Besonderes an ihm erkennen. Es sah aus wie eines jener Stöckchen, die man kleinen Hunden zuwirft, um sie zu Gehorsam zu drillen oder sich selbst Abwechslung auf einem Spaziergang zu verschaffen. Oehrli schaute ihm direkt in die Augen.

»Herr Calanda, was sehen Sie?«

»Ein Stück Holz. Einen gewöhnlichen kleinen Holzstock.« Diesmal warfen sich alle drei Herren vielsagende Blicke zu, Hagenbucher lächelte sein Eislächeln. »Sehr richtig, lieber Herr Calanda, sehr richtig«, sagte er, »ein gewöhnliches Stück Holz. Danach sieht es aus. Niemand würde vermuten, dass sich etwas anderes hinter diesem Gegenstand verbirgt als Xylem- und Phloemzellen, Kambium, einige Kohlepartikel und vielleicht der eine oder andere Moosrückstand – kurz: ein gewöhnliches Stück Holz. Fahren Sie fort, Herr Oehrli«, forderte er seinen Kollegen auf. Dieser wandte sich wieder direkt an Calanda.

»Was würden Sie sagen, wenn ich behaupte, dass dieses Stück Holz nach vorsichtiger Schätzung an die dreihundert Milliarden Franken wert ist?« Er weidete sich an der Wirkung, die seine Worte im Gesicht des Besuchers auslösten, doch war ihm dies nur etwa zwei Sekunden lang vergönnt, dann hatte Calanda seine Mimik wieder fest im Griff.

Er sagte leise: »Dreihundert Milliarden Franken?«

Oehrli nickte, und auch Hagenbucher und der dritte Herr nickten, als er bestätigte: »Dreihundert Milliarden Franken. Nach vorsichtiger Schätzung. Wenn sich alle unsere Erwartungen erfüllen – natürlich gehen wir zunächst nicht davon aus, sondern kalkulieren zurückhaltend –, liegt der tatsächliche Wert eher drei- bis viermal so hoch.«

Calanda beobachtete die Gesichter der drei ihm gegenüber Sitzenden. Er konnte in keiner der Mienen auch nur eine Spur von Humor erkennen. Verschlagenheit, sicher, die sah er, auch Erfahrung, Skrupellosigkeit und Scharfsinn. Aber keinen Humor. Er entschied sich, Oehrli zu glauben, vorerst jedenfalls. »Erzählen Sie mir mehr über dieses Holz«, bat er.

»Gern«, sagte Oehrli, »wobei Sie verstehen werden, dass wir Ihnen nicht alle Einzelheiten offenbaren können. Unser bereits angesprochenes Diskretionsbedürfnis reicht so weit, dass es nicht einmal vor dem Kreis unserer engsten Mitarbeiter haltmacht. Das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, wissen, uns drei eingeschlossen, nur genau vierzehn Personen. Sie wären die fünfzehnte. Weitere Details, über die ich Ihnen heute keine Auskunft geben kann, kennen nur fünf dieser fünfzehn Personen. Sie werden verstehen, dass wir Sie nochmals darauf hinweisen müssen, dass wir absolute Diskretion verlangen.« Er machte eine kleine, aber entscheidende Pause, bevor er hinzufügte: »Im Übrigen wissen wir uns zu behelfen, wenn unsere äußerst hohen Diskretionsstandards verletzt werden.«

»Wollen Sie mir drohen?«, entgegnete Calanda schnell und hart.

»Aber lieber Herr Calanda, wo denken Sie hin? Nicht einmal im Traum kämen wir auf die Idee, so etwas auch nur zu denken! Wie können Sie so etwas annehmen?« Es war Hagenbucher, der sich wieder eingeschaltet hatte und Calanda mit seinen wasserklaren Augen ins Visier nahm. Calanda hätte, wenn sein berechnendes Naturell es ihm nicht versagt hätte, einiges darauf verwettet, dass Hagenbucher seit Jahrzehnten ausschließlich traumlose Nächte verbrachte.

Um das Gespräch nicht auf eine kritische Bahn abrutschen zu lassen, lenkte er ein: »Selbstverständlich ist Ihre Bitte um Diskretion bei einer Angelegenheit von so großer Tragweite verständlich« – Hagenbucher lächelte wieder, das war offensichtlich die Sprache, die er verstand – »und ich kann Ihnen versichern, dass ich meine eigenen hohen Ansprüche an Vertraulichkeit, die im Übrigen in der Branche bekannt sind …« – »Selbstverständlich! Selbstverständlich!«, warf Hagenbucher ein – »… durch die von Ihnen eingeforderte Diskretion zu perfektionieren bemüht sein werde.«

Die Herren schienen jetzt zufrieden. Oehrli ergriff wieder das Wort.

»Also, Herr Calanda, hören Sie bitte aufmerksam zu, wir werden das, was wir Ihnen jetzt sagen, nicht wiederholen. Eine einmalige Information muss reichen. Wenn Sie etwas nicht verstehen, unterbrechen Sie mich bitte sofort, d’accord?«

»D’accord.«

»Gut.« Oehrli räusperte und sammelte sich, wobei er den geöffneten Kasten vor ihm fixierte, dann blickte er Calanda wieder direkt in die Augen und hob an: »Vor drei Monaten ist dieses Objekt, das Sie hier vor sich sehen, in unsere Hände gelangt, auf welchem Weg, spielt jetzt keine Rolle. Aus bestimmten Gründen hatte ein führendes Mitglied unserer Forschungsabteilung Grund zu der Annahme, dass es sich bei diesem Gegenstand um mehr als ein, wie Sie es nannten, gewöhnliches Stück Holz handelt. Er unterzog das Objekt im Rahmen einer Testreihe von Zimtrinden in unserem Hochsicherheitslabor einer oberflächlichen Untersuchung, konnte aber nichts Ungewöhnliches daran feststellen. Folglich wandte er sich wieder anderen Aufgaben zu. Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Weil er keinerlei gefährdende Stoffe daran gefunden hatte, ließ der betreffende Mitarbeiter das Holzstück mit einem schriftlichen Hinweis auf das Untersuchungsergebnis offen auf seinem Labortisch liegen. Dies war ein großes Glück, wie wir heute wissen.«

Auch Oehrli zeigte nun, dass er lächeln konnte, und er hatte darin ganz offensichtlich mehr Talent als Hagenbucher.

»Ein anderer Mitarbeiter aus derselben Abteilung kam zufällig in Kontakt mit dem Objekt, als er auf dem Tisch seines Kollegen nach Unterlagen suchte. Nun, er bemerkte das Holzstück, wunderte sich darüber und nahm es in die Hand. Und dann, nachdem er es flüchtig angesehen hatte, folgte er einem uralten Instinkt eines jeden neugierigen Menschen und tat das Entscheidende. Herr Calanda, wegen dieser Instinkte bezahlen wir unseren Mitarbeitern das im weltweiten Vergleich höchste Salär, das man heute als Biochemiker erwarten kann. Sie werden nirgendwo besser verdienende Fachleute auf diesem Gebiet finden als hier bei uns. Dieser Mann tat genau das Richtige und bewies damit, dass er zur Elite seines Fachs gehört.«

Hagenbucher machte eine Kunstpause und sah Calanda bedeutungsvoll an. Erst dann fuhr er fort: »Der Mann hielt sich das Holzstück an die Nase und schnupperte daran.« Er machte eine weitere Pause, bevor er fragte: »Konnten Sie mir bis hierher folgen? Es ist wichtig für uns, dass sie alles genau verstehen.«

»Bisher war es nicht allzu schwer«, fand Calanda.

»Das womöglich nicht, aber dafür ist es entscheidend«, fuhr Oehrli fort. »Ich halte also fest: Alles beruhte auf einer mehr oder weniger zufälligen Entdeckung. Was dieser findige Mitarbeiter roch, ließ ihn für einen Augenblick alles vergessen, was er bis zu diesem Zeitpunkt an Fachwissen erworben hatte. Ich scheue mich, ein solches Wort in diesem Zusammenhang zu benutzen«, er warf einen kurzen Seitenblick auf Hagenbucher, »aber es ist wohl kaum falsch ausgedrückt, wenn ich Ihnen sage: Für einen Moment war er wie verzaubert. Sie werden zugeben, dass ein solcher Zustand unter gewöhnlichen Bedingungen für einen leitenden Angestellten unseres Unternehmens kaum angemessen ist, doch hierbei handelte es sich längst nicht mehr um gewöhnliche Bedingungen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der betreffende Mitarbeiter, nachdem er das Objekt ausgiebig beschnuppert hatte, zunächst vorsichtig, dann, um mit seinen Worten zu sprechen, ungenierter begann, daran zu lecken. Es ist wiederum seinen exzellenten charakterlichen und fachlichen Fähigkeiten zu verdanken, dass er sich zügeln konnte und von dem Holzstück abließ, bevor er es gänzlich abgeleckt hatte. Auch seine folgenden Schritte verdienen unsere tiefe Hochachtung: Er schloss das Objekt in einem Schrank ein und informierte unverzüglich die Unternehmensleitung. Mehrfach, so gestand er später, musste er sich in den folgenden vierzig Minuten, bis die gesamte Führungsriege zusammengerufen worden war, beherrschen, um nicht zurück an den Schrank zu gehen und weiter an dem Holzstück zu schnuppern und zu lecken. Für seine ungeheure Selbstbeherrschung verdient er unseren vollsten Respekt. Schließlich waren wir vollzählig in diesem Raum hier versammelt: Der Geschäftsführer und seine beiden Stellvertreter, die Sie hier vor sich sehen«, er deutete ein Lächeln an, »sowie die vier Leiter der allgemein biochemischen, lebensmittelchemischen, arzneimitteltechnischen und botanisch-radiologischen Abteilungen und der Vorsitzende des Aufsichtsrats.« Er machte eine Pause, räusperte sich und ließ seinen Blick einige Sekunden auf dem Objekt in dem Kasten ruhen, bevor er fortfuhr. »Das weitere Geschehen werde ich abkürzen, um Ihnen unnötige Details zu ersparen, die für das generelle Verständnis der Angelegenheit unwichtig sind. Doch bevor ich Sie aufkläre, möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Was, glauben Sie, hat es mit diesem außergewöhnlichen Gegenstand auf sich?«

Calanda zögerte nicht mit seiner Antwort, um zu demonstrieren, dass er keinesfalls vom Inhalt des Gehörten eingeschüchtert war: »Offenbar hat dieser Holzstock etwas an sich, dass außerordentlich anziehend wirkt.«

Oehrli hob die Augenbrauen. »Chapeau, Herr Calanda, Sie haben die Wirkung des Mysteriums voll erfasst und treffend zusammengefasst. Aber was, meinen Sie, könnte dieses Etwas sein, das so offensichtlich eine derart gewaltige Anziehungskraft besitzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich will es Ihnen sagen.« Oehrli machte eine Pause. »Ein Aroma.«

»Aha?«

Oehrli war offensichtlich enttäuscht, dass Calanda so wenig Begeisterung zeigte. »Sie scheinen nicht gerade erstaunt zu sein.«

»Sollte ich das?«

»Nun, immerhin könnte es Sie interessieren, um welches Aroma es sich handelt.«

»Um welches Aroma handelt es sich?«

»Wir wissen es nicht.« Oehrli neigte sich leicht nach vorn, auf seinen Wangen schimmerte einen Moment lang ein kaum wahrnehmbarer hellroter Schein. »Das, genau das, Herr Calanda, ist die Krux an der Sache.«

»Erzählen Sie mir mehr.«

»Gern. Kann ich davon ausgehen, dass Sie ein einigermaßen solides Basiswissen in Biochemie besitzen?«

»Kaum.«

Oehrli lächelte, diesmal ein wenig gequält. »Gut, dann werde ich etwas weiter ausholen.«

Das lateinische Wort »Aroma« habe ursprünglich nicht mehr als Wohlgeruch, auch Gewürz bedeutet, erklärte er. Heute jedoch bezeichne man nur die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln und Genussmitteln, die einen bestimmten sensorischen Eindruck vermitteln, als Aromen. Jedes Lebensmittel, das sich durch einen charakteristischen Geruch und Geschmack auszeichne, enthalte eine Vielzahl verschiedener Aromastoffe, die zusammengenommen das Gesamtaroma bilden. »Ich nenne Ihnen ein Beispiel«, sagte Oehrli. »Eine durchschnittliche Kaffeebohne enthält im gemahlenen Zustand über sechshundert einzelne Aromastoffe. Jeder dieser Stoffe riecht beziehungsweise schmeckt anders als die anderen. Aber erst, wenn genügend dieser unterschiedlichen Stoffe aufeinandertreffen, tritt die Wirkung ein. Die Mischung der Aromastoffe ist dafür verantwortlich, dass wir sofort an Kaffee denken, wenn wir das Gesamtaroma wahrnehmen. Trinken Sie gerne Kaffee, Herr Calanda? Soll ich noch eine Tasse bestellen?«

»Danke. Fahren Sie bitte fort.«

»Gut. Ich halte also fest: Die Mischung der Aromastoffe ist entscheidend. Nehmen Sie etwa den menschlichen Geschmack. Eine menschliche Zunge kann im Wesentlichen nur süß, salzig, bitter und sauer unterscheiden, alle differenzierteren Empfindungen beim Schmecken kommen nur durch den Geruchssinn zustande, und zwar sowohl in der Nase als auch im hinteren Rachenraum. Insgesamt kann ein gesunder junger Mensch rund viertausend Geschmacksnuancen wahrnehmen. Sechshundert davon stecken in einer gemahlenen Kaffeebohne, immerhin hundertfünfzig in einer einzigen Erdbeere. Ihre volle Wirkung entfalten sie jedoch erst durch Zerkleinerung, etwa das Kauen, und durch Wärme, etwa in der Mundhöhle. Ungefähr ab dem zwanzigsten Lebensjahr baut der Geschmackssinn ab, und ein achtzigjähriger Mensch schmeckt nur noch ein Fünftel dessen, was ein Säugling schmecken kann. Ist das nicht tragisch, Herr Calanda?«

»Wenn Sie das so sagen: sicher.«

»Das finde ich auch. Es ist alles andere als angenehm, wenn man den Geschmack des Lebens verliert. Allerdings ist der biologische Verfall nicht zwingend, durch regelmäßiges Training und stete Schulung kann der Geschmacksinn nicht nur ausgebildet und sensibilisiert, sondern zumindest eine Zeit lang auch vor dem Verfall bewahrt werden. Unsere Spezialisten verbringen tagtäglich eine knappe Stunde nur damit, ihren Geschmackssinn bei Laune zu halten, wenn ich es einmal so salopp ausdrücken darf. Doch dazu später mehr. Zunächst müssen Sie noch einige weitere trockene Details der Biochemie verkraften. Ich hoffe, ich langweile Sie nicht?«

»Ganz und gar nicht.«

»Gut, gut. Um ein Gesamtaroma diffus wahrzunehmen, bedarf es keiner großen Kunst, jeder Mensch und viele Tiere können das. Um allerdings einen einzelnen Aromastoff zu isolieren, bedarf es immensen Aufwands. Nur Probengemische, die sich bis zu einer Temperatur von fünfhundert Grad Celsius unzersetzt verdampfen lassen, können mit einem Gas-Chromatografen analysiert werden, alle anderen bedürfen weiterer komplizierter Messtechniken. Es war also gar nicht so leicht, Herr Calanda, zum Beispiel das genaue Aroma des Broccolis zu bestimmen. Aber«, er lächelte wieder, »dankenswerterweise haben die tüchtigen Mitarbeiter unseres Unternehmens diese Leistung neben vielen anderen verlässlich erbracht. Somit war es uns möglich, den Bauplan, wenn ich mal so sagen darf, dieses nützlichen Gewächses zu entziffern und gewinnbringend der Menschheit zur Verfügung zu stellen.«

»Was meinen Sie mit ›gewinnbringend‹?«, warf Calanda ein.

»Nun, jede genetische Entschlüsselung, auch die von Aromen, wird irgendwann zwangsläufig vor die Möglichkeit einer Patentierung gestellt.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie ein Patent auf den Geschmack von Broccoli haben?«

»So ungefähr, Herr Calanda, allerdings ist Ihre Ausdrucksweise stark vereinfacht. Natürlich kann jeder Mensch auf diesem schönen Planeten so viel Broccoli anbauen, verarbeiten, kochen und essen, wie es ihm beliebt.« Er machte wieder eine Pause. »Wenn dieser Mensch allerdings auf die sicherlich gar nicht so unkluge Idee kommen sollte, zum Beispiel eine Tütensuppe mit Broccoli-Aroma zu entwickeln oder ein Kaugummi mit Broccoli-Geschmack«, er lachte ein kurzes quiekendes Lachen, »wer weiß denn schon, wonach die Menschen morgen verlangen? In einem solchen Fall also, sollte er eintreten, nun, dann müsste sich dieser Mensch zunächst an unser Unternehmen wenden.«

Calanda begann zu verstehen. Der Auftrag, vor dessen Annahme er stand, begann langsam Konturen anzunehmen. Und er schien anders zu sein als alle anderen Geschäfte, mit denen er es bisher je zu tun gehabt hatte. Er wandte sich an Hagenbucher, um diesen wieder ins Gespräch zu bringen: »Wie viel müsste ich an Ihren Konzern bezahlen, wenn ich, zum Beispiel, europaweit eine solche Tütensuppe mit Broccoli-Aroma auf den Markt bringen wollte?«

Doch statt Hagenbucher antwortete wieder Oehrli. »Das, Herr Calanda, kommt ganz darauf an, wie wir uns einig würden. In diesem Geschäftsfeld sind viel mehr Vertragsmodelle möglich, als Sie vielleicht vermuten. Die Patentleistung kann natürlich in einer einmaligen Summe bestehen, doch meistens sind prozentuale Beteiligungen am Verkaufserlös, basierend auf einer Garantiesumme, für alle Beteiligten sinnvoller und werden deshalb viel häufiger praktiziert.«

Calanda unterbrach wieder. Dieser Punkt erschien ihm wichtig. »Angenommen, wir gehen also von einer prozentualen Beteiligung Ihres Unternehmens aus. Wie hoch könnte deren realer Wert veranschlagt werden, wenn die Tütensuppe, von der sie gesprochen haben, sich hervorragend verkauft?«

»Nun, natürlich müsste man zahlreiche weitere Faktoren einrechnen, denken Sie etwa an Entwicklungskosten, Vertrieb und Laufzeit des Vertrages«, wand sich Oehrli.

»Natürlich, natürlich. Aber um Klarheit über das zu bekommen, womit Sie mich vermutlich beauftragen wollen, brauche ich jetzt eine Zahl, unter der ich mir etwas vorstellen kann. Sie haben vorhin bereits eine Zahl genannt, die, offen gesagt, an die Grenzen meiner Vorstellungskraft reicht, wenn sie in Bargeld gemessen wird. Ich vermute jedoch, dass diese Zahl eng an den mysteriösen Holzstock gekoppelt ist und weniger an den Geschmack von Broccoli. Welche Zahl würde also zu unserer Tütensuppe passen?«

»Was denken Sie denn?«, spielte Oehrli den Ball zurück. Offensichtlich wollte er sich in diesem Punkt nicht offenbaren. Die andere Zahl war hypothetisch gewesen, sie gründete nicht auf Erfahrungen, sondern in einer zukünftigen Annahme. Deshalb war sie selbst mit den Augen eines vorsichtig kalkulierenden Wissenschaftlers betrachtet risikolos und bedenkenlos formbar. Anders schien es jedoch um die Tütensuppe zu stehen.

Calanda beschloss, sich nach Beendigung des Gesprächs in einem der Migros-Supermärkte das Suppensortiment genauer anzusehen. Überhaupt wuchs langsam, aber stetig in ihm die Ahnung, dass er das, was er tagtäglich aß, dass er all die Joghurtbecher, Saftpackungen, Konservendosen und Wurstverpackungen, die er bei seinen samstäglichen Einkaufstouren im Spar-Markt zu Hause in Hamburg dutzendweise aus den Regalen in seinen Einkaufswagen hob, künftig etwas genauer ansehen sollte. Aber er brauchte jetzt eine Zahl, um Klarheit zu bekommen. Also versuchte er es mit einem Köder: »Geht es bei solchen Geschäften eher um Millionen als um Tausende?«, fragte er Oehrli.

Dieser wiegte langsam den Kopf, bevor er antwortete: »Sie liegen nicht so falsch. Allerdings dürfen Sie gern etwas großzügiger sein.«

»Also mehrere Millionen?«

»Doch, doch.«

»Vielleicht, natürlich nur in manchen Fällen, sogar Hunderte von Millionen?«

»Natürlich nur in manchen Fällen!«, beeilte sich Oehrli zu versichern.

Doch diese Auskunft reichte Calanda schon. In seinem Kopf begannen sich die Konturen des Bildes aus dem Nebel zu lösen und wurden langsam schärfer. Dieser Fall schickte sich an, der größte zu werden, mit dem er es jemals zu tun gehabt hatte. Er würde sehr vorsichtig sein müssen, ganz besonders gegenüber seinen Auftraggebern. Doch damit kannte er sich aus. Er würde auf der Hut sein. »Fahren sie bitte fort«, forderte er Oehrli auf.

MARRAKESCH

10

Vor dem Eingang des Suqs erstreckte sich der Platz fünf Hektar groß als Trapez; Theater, Zirkus und Schlaraffenland in einem. Er fühlte den Puls des Lebens. Es war noch früh am Vormittag, als die Orangensaftverkäufer ihre Unterstände errichteten. Er trat näher, um ihnen bei ihrer Arbeit zuzusehen. Behände griffen sie die prallen Früchte aus ihren Auslagen, fanden dabei in Sekundenschnelle die saftigsten, schälten sie in Windeseile mit kleinen Messern, die schon Hunderte Male mit dem Wetzstein Bekanntschaft gemacht hatten. Dann zerstampften sie das Fruchtfleisch mit Holzklöppeln in großen Schüsseln und seihten den Saft in mächtige Messbecher ab. Er ließ sich ein Glas reichen, dazu eine Handvoll Eis, vom meterlangen Block gemeißelt. Nach der langen Fahrt erfrischte ihn der eiskalte Saft, während er weiter auf dem Platz umherstrich.

Nusshändler priesen Mandeln, Pistazien, Erd- und Cashewnüsse, Rosinen und getrocknete Früchte an. Noch vor den Touristen gesellten sich die Quacksalber hinzu und arrangierten auf umgestülpten Kisten ihre Heilmittelchen und Talismane gegen Verdauungsstörungen, Nierenleiden, unreine Haut, Potenzstörungen, schlechte Träume und keifende Ehefrauen. Nebendran drapierten Wunderheiler Hunderte löchriger Backenzähne vor sich, um ihre Fingerfertigkeit als selbst ernannte Zahnärzte zu demonstrieren.

Unwillkürlich kam August ein Bild in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in den Sinn: die ausgeschlagenen Goldzähne vergaster Juden in Auschwitz. Entgeistert über diese Assoziation räusperte er sich laut, um sein Unbehagen über seine Hirngespinste vernehmbar kundzutun, erhoffte sich derart Absolution, denn was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Was war nur in seinem Kopf los seit dem Absturz? Es gelang ihm zu seinem Verdruss nicht, sich vor seinen Gedanken zu drücken. Bilder kehren stets zu ihrer Quelle zurück. Wer meint, er sei frei im Schauen, wird sich bald im Gestrüpp seines Assoziationsgeflechts verheddern, in Jahren zu einem unlösbaren Knoten gewuchert. Bilder können vernichten.

Junge Burschen streunten umher und boten Zigaretten feil, zu einem Dirham das Stück. Die Münzen ließen sie in ihrer rechten Hand aneinanderklingen. Alles war in Bewegung, jedermann an diesem Ort schien genau zu wissen, was er tat, was er in Kürze zu tun beginnen würde oder was er irgendwann einmal zu tun gedachte, so sich eine Gelegenheit böte; aus den Gassen des Suqs und aus den gegenüberliegenden Straßen flossen immer neue Menschenströme, um den Platz zu überfluten. Er hatte schon früher hin und wieder von der Jemaa el-Fna gehört, aber sie immer für eine jener von jahrzehntelangem Tourismus geschändeten Kulturruinen gehalten, deren heutiger Zustand ihm schlimmer vorkam als der Gedanke, sie würden über Nacht plötzlich vom Erdboden verschluckt. Die Fontana di Trevi, Notre-Dame, die Akropolis. Dieser Ort war anders. Zwar schoben sich auch hier dickbäuchige Pfälzer in kurzen Hosen durchs Gewühl, laut von ihrer Herkunft kündend, zwar stampften auch hier Grüppchen identisch gekleideter und identisch staunender Normannen durch die Manege, doch die meisten Menschen waren Einheimische, deren Zahl mit abnehmender Hitze noch zunahm. Er mischte sich unter sie und ließ sich in ihrem Strom und seinen vielen Wirbeln treiben, die sich hier und dort um einen am Boden hockenden Schlangenbeschwörer oder einen Magier bildeten.

Im Laufe des Nachmittags verwandelte sich der Platz in einen Freiluftzirkus. Affenbändiger, Artisten und Feuerspucker überboten sich gegenseitig mit mehr oder weniger spektakulären Kunststücken. Sprangen gegen einen kleinen Obolus mit einem Salto rückwärts von den Schultern ihrer Kollegen oder ließen ein Äffchen dasselbe Kunststück vollführen. In den Ecken des Platzes scharten Geschichtenerzähler ihr vertrautes Publikum um sich und sprachen von Wahrem und Erdachtem. Bei den Einheimischen erfreuten sie sich noch größerer Beliebtheit als die Wahrsagerinnen, die in Händen und Karten lasen.

Die Luft war erfüllt vom Schellengeklapper und rhythmischen Trommeln weiß gewandeter Musiker und Tänzer, im Halbkreis standen sie beisammen, vom Knaben bis zum Greis, und tanzten nach den Anweisungen ihres Meisters. Übertönen konnten sie die anderen Geräusche des Platzes nicht: die Autohupen, die Trillerpfeifen der Verkehrspolizisten, das Gewirr aus Tausenden von Stimmen, die klatschenden Fausthiebe der Schauboxer und, ja, er hörte auch dies, das Zischeln der Kobras zu Füßen der Schlangenbeschwörer.

Ihm war, als habe er dergleichen schon einmal erlebt, an einem anderen Ort in einer anderen Zeit. Er entfloh dem allzu bemühten Werben einer Greisin um die Linien in seinen Handflächen und strebte auf eines der Cafés zu, die rund um den Platz mit Schatten lockten. Einer der wackligen Holzstühle wurde gerade frei, er besetzte ihn gerne und bestellte wie die anderen Gäste mit einem Fingerzeig Minzetee. Die Ruhe tat seinem Bein gut. Die Männer, die das Café bevölkerten, taten nichts anderes, als dem großen Schauspiel zuzusehen, das direkt vor ihnen auf dem Platz aufgeführt wurde. Bald ließ auch er sich trotz seiner Kopfschmerzen in den Strudel des Spektakels sinken, wurde ganz Auge.

Der Angestellte eines Lichtspielhauses schob einen Handkarren vor sich her durch die Menge, darauf montiert ein riesiges Filmplakat: »Heute Abend Premiere in Marrakesch!«, schrien die roten Lettern unter dem Antlitz eines indischen Filmsternchens. Ein Taxifahrer, der direkt vor dem Café zu einem Strafzettel verdonnert wurde, schmiss dem Polizisten wütend seinen Führerschein vor die Füße. Sofort bildete sich eine gaffende Menge, die den Chauffeur beschwichtigte und den übereifrigen Ordnungshüter schalt. Drum herum hüpften Kinder und feuerten die Kontrahenten an.

Er bestellte den nächsten Minzetee, dessen warme Würze tat ihm gut, milderte seine Schmerzen. Zu Tausenden wuselten die Geschöpfe nun über den Platz: Mopeds, Taxis, Pferdekutschen, Fahrräder, Eiswagen, Eselkarren und viele, viele Fußgänger. Mütter schimpften, Handys klingelten, Streithähne gestikulierten, Jugendliche flirteten, Straßenhändler feilschten, Taxifahrer fluchten, Polizisten pfiffen – ein gigantisches Schauspiel. Nach besonders gelungenen Aktionen klatschte der eine oder andere der Männer im Café Beifall.

Zweieinhalb Stunden später hatte er den vierten Minzetee geschlürft, die dargebotene Zigarette des Nachbarn geraucht und während dieser ganzen Zeit kein einziges Wort gesprochen. Weggespült vom Meer der abertausend Eindrücke, gab er sich den Wogen der Sinne hin, meilenweit dort draußen und zugleich ganz bei sich, da hatte er plötzlich ihr Lächeln vor Augen. Den hektischen Abschied, ihren drängenden Blick, die Wölbung ihrer Brüste unter dem verblichenen Hemd, zuletzt ihre Hand auf seinem Arm. Er dachte an die nächtliche Überlandfahrt auf der Ladefläche des Lastwagens nach dem übereilten Aufbruch, an das stundenlange Schaukeln und Ruckeln. An den zahnlosen, merkwürdigen Alten, neben ihm zwischen den Orangenkisten eingezwängt, der ihn unentwegt aus schwarzen, harten Augen anstarrte. Der hatte ihm seine Flucht angesehen, hatte die faltige Gesichtshaut zu einem bösen Grinsen verzogen, als wisse er um seine Sünde.

Mitten in der Nacht war es das einzige Vehikel gewesen, das er hatte finden können, und es fuhr in die rote Stadt. Also war er in die rote Stadt gefahren. Früh am Morgen hatte der Lastwagenfahrer seinen stöhnenden Koloss vor der Kutubia-Moschee abrupt gebremst. Der Alte war flink wie ein Bub als Erster von der Ladefläche gehüpft, hatte sein Säckchen geschultert und war im Morgendunst schon fast verschwunden, als er sich noch einmal umdrehte. Zwischen seinen eingefallenen Lippen nuschelte er diesen einen Satz hervor: »Die Fantasie vergibt alles.« Dann war er verschwunden. Vom Minarett rief der Muezzin zum Morgengebet, bald würde die Sonne aufgehen. Verwirrt drückte August dem Fahrer einige Euro-Münzen in die fordernde Hand und ging in Richtung des Suqs.

Sollte er nun endlich zu Hause anrufen und von seinem Unfall erzählen, aber wem: Vater? War verschollen. Mutter? Hatte er nie kennengelernt. Freunde? Hatte er keine. Na ja, Nina. Aber musste sie wirklich wissen, was ihm widerfahren war, änderte das etwas an seinem Schicksal? Nein. Also weiter, weiter.

Bevor er aber in das Gewirr der zu dieser frühen Stunde noch wie ausgestorben gähnenden Ladengässchen eintauchen konnte, wurde August von diesem Platz gebannt, der ihm so unwirklich und zugleich so lebensnah erschien wie kein anderer Ort auf der Welt. An seinen Rändern lagen Haufen aus Stoff, bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als Kapuzenmäntel, unter denen Schlafende kauerten. Einige frühe Spatzen inspizierten neugierig das Terrain, ein Grüppchen von Tagelöhnern eilte über den Platz. Nach und nach erwachten die Schläfer, streckten die Glieder, erhoben sich rasch und verschwanden im Dunkel der holzübergitterten Gassen. Er konnte sich nicht lösen von diesem Ort, beobachtete genau jedes neue Ereignis und jeden weiteren Passanten, deren Zahl nun rasch zunahm. Und nun saß er immer noch hier, um das Treiben zu bestaunen, jede kleinste Regung auf dem Platz zu würdigen und sich einlullen zu lassen in den keinesfalls mehr gleichmäßigen Ablauf von Raum und Zeit.

Der Abend dämmerte, und der zweite Akt des Schauspiels begann. Dutzende von weiß gekleideten Köchen fluteten aus den umliegenden Straßen und Gassen auf den Platz, schoben mobile Garküchen vor sich her, schürten routiniert die Feuer. Schon bald spann sich eine Kuppel aus Düften über der Szenerie, gespeist aus den Juwelen der marokkanischen Landküche: Couscous unter gegrilltem Gemüse, Lammfleisch mit geschmorten Zwiebeln, Hackfleischröllchen mit Koriander, Brot und dem scharfen Paprika-Dip Scharmula, pralle Merguez-Würstchen, gegrillter Fisch, Schnecken und ausgekochte Hammelköpfe warteten auf hungrige Münder. Aus den Grillschalen züngelten meterhohe Flammen empor, weiße Rauchschwaden stiegen in den Nachthimmel, durchbrochen nur vom grellen Licht der Glühlampen. Die rote marokkanische Nationalflagge zappelte hundertfach im Wind.

»Hier! Hier! Esst bei mir!«, rief ein Lockenkopf im weißen Kittel. »Willkommen! Willkommen! Ich habe die beste Hariiira!«, konterte ein beleibter Koch gegenüber und schwenkte zum Beweis einen großen Holzlöffel.