Victors Schützling - Alexander Köhl - E-Book

Victors Schützling E-Book

Alexander Köhl

0,0

Beschreibung

Kriminalhauptkommissar Hans Adelmeier gehört nicht zu den "knallharten Bullen". Er setzt auf exakte Spurensicherung und kombinatorisches Geschick: Fähigkeiten, die er auch benötigt, wenn er abends zur Entspannung puzzelt, am liebsten Dürer-Motive. Aber nicht nur privat liebt er Alleingänge. Das stößt bei seinem Team nicht immer auf Gegenliebe. Zur Verbesserung des Arbeitsklimas lädt er seine Mitarbeiter zum Grillen in seinen Garten ein. Doch die vergnügliche Runde wird schon bald gestört. Ein Arzt aus dem Städtischen Klinikum liegt tot in seiner Wohnung. Alles deutet auf Selbstmord hin. Aber Adelmeier lässt sich nicht täuschen. "Victors Schützling" erschien im November 2004 als Taschenbuch im Prolibris Verlag in Kassel und bereits nach sechs Monaten in zweiter Auflage.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 308

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Alexander Köhl

Victors Schützling

Kriminalroman

Buch

Kriminalhauptkommissar Hans Adelmeier gehört nicht zu den „knallharten Bullen“. Er setzt auf exakte Spurensicherung und kombinatorisches Geschick: Fähigkeiten, die er auch benötigt, wenn er abends zur Entspannung puzzelt, am liebsten Dürer-Motive. Aber nicht nur privat liebt er Alleingänge. Das stößt bei seinem Team nicht immer auf Gegenliebe. Zur Verbesserung des Arbeitsklimas lädt er seine Mitarbeiter zum Grillen in seinen Garten ein. Doch die vergnügliche Runde wird schon bald gestört. Ein Arzt aus dem Städtischen Klinikum liegt tot in seiner Wohnung. Alles deutet auf Selbstmord hin. Aber Adelmeier lässt sich nicht täuschen.

„Victors Schützling“ erschien im November 2004 als Taschenbuch im Prolibris Verlag in Kassel und bereits nach sechs Monaten in zweiter Auflage.

„mörderisch gut“ Stefan Reis, Main-Echo über die Taschenbuchausgabe.

Autor

Der 1965 in Aschaffenburg geborene Schriftsteller war nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre viele Jahre Unternehmer. Heute ist er als freier Autor tätig und lebt mit seiner Frau in der Nähe seines Geburtsortes. Seine beiden Romane um Kommissar Adelmeier erschienen 2004 („Victors Schützling“) und 2005 („Schatten im Garten Eden“) im Prolibris Verlag. Im Mittelpunkt der jüngsten Reihe steht Kommissar Basler. Nach „Wundmale” (2009) erschien im September 2010 „Opfertier“ im Rowohlt-Taschenbuch Verlag. Neben Romanen veröffentlicht der Autor auch Krimikurzgeschichten.

Mehr zum Autor unter

Die Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Geschehnissen oder lebenden wie toten Personen ist rein zufällig.

Impressum

Victors Schützling

Alexander Köhl

Copyright 2011 Alexander Köhl

Coverdesign: niemannundschwarz

Coverphoto: © Yulia Popkova

Prolog

Die Veränderungen der letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, in seinem Haus, natürlich, aber auch in ihm. Viele waren schon beim ersten Hinsehen für jedermann ersichtlich, etwa der Behindertenaufzug, dem große Teile des alten holzgetäfelten Treppenhauses hatten weichen müssen. Der gläsern-stählerne Kasten, der tagtäglich seine Tochter in die Galerie des ersten Stockes gehoben hatte, drängte sich unnachgiebig in den Mittelpunkt und begrüßte den Besucher beinahe schon, bevor es der Hausherr tun konnte. Auch er selbst hatte sich verändert. Eine Lethargie hatte von ihm Besitz ergriffen, langsam schleichend und wie Metastasen jeden Winkel erkundend, hatte sie sich in ihm ausgebreitet, unaufgefordert jede Etage seines Bewusstseins bezogen.

Anfangs, als seine Tochter nach all den langen Jahren wieder zu ihm gezogen war, hatte es ihm Freude bereitet, die Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende freundlich zu gestalten. Er war mit ihr zu Jacques gefahren, hatte meterweise beigen Vorhangstoff aus Rohseide gekauft, den schnöseligen Kauz von Innenarchitekten mit seinem albernen gewichsten Bart bestellt. Bärte hatte er noch nie ausstehen können. Aber er wollte alles tun, damit sich seine bereits angeschlagene Tochter bei ihm wohl fühlte. Diese wieselflinke Witzfigur hatte die schwarze Hornbrille auf ihrem Nasenrücken zurechtgerückt und eifrig begonnen, an allen Ecken und Enden des Hauses Maß zu nehmen. Am liebsten hätte er ihn gleich sanft zur Tür hinaus bugsiert, doch ihm war nicht der begeisterte Glanz in ihren Augen entgangen. Sie waren zum Greifen nah – all die Dinge, die sie ihr ganzes Leben nur aus Erzählungen gekannt hatte.

Damals hatte sie zwar schon einen Stock zu Hilfe nehmen müssen, doch an einen Rollstuhl war lange noch nicht zu denken. Er erinnerte sich gerne an die glückliche Anfangszeit. Sie hatten viele Ausflüge unternommen, waren manchmal stundenlang am Rhein entlanggefahren. Und in die Oper nach Köln waren sie gegangen. Sie hatten sogar die Opernfestspiele in Verona besucht, mit einer Flasche Chianti classico auf den Steinstufen der Arena gesessen, aus blinden abgegriffenen Gläsern getrunken und Verdis Aida gelauscht. Alles war neu und aufregend für sie gewesen, das hatte geholfen, ihr körperliches Leid so gut es ging zu verdrängen. Doch dann waren ihre Beschwerden immer stärker geworden, die Knochen immer poröser. Wie lange noch würden sie ihr Körpergewicht tragen können? Und dann waren auch noch die Nieren erkrankt, lebensbedrohlich.

Es war an einem Montagmorgen, als sie schließlich bei der Orthopädie Neubert, einen elektrischen Rollstuhl für sie besorgt hatten. Zu Hause, in der Diele hatte bereits der gläserne Kasten gewartet, bedrohlich wie ein Fremdkörper. Er vergaß nie ihren feuchten Blick, als sie zum ersten Mal mit einem synthetischen Summen auf den Aufzug zugerollt und in ihm verschwunden war.

Er hatte häufig versucht, ihr kleine Freuden zu bereiten. Frische Schnittblumen vom Wochenmarkt, Pralinen von Leysieffer und Dekostoffe aus Indien. Man könne doch auch noch mit einem Rollstuhl die Oper besuchen. Doch all diese Dinge hatten sie nicht mehr erreicht. Sie hatte seine Aufmerksamkeiten mit einem artigen Lächeln quittiert und sich sofort wieder in ihren Kokon zurückgezogen. Immer, wenn er mit einem Geschenk vor ihr gestanden hatte, war er sich plötzlich lächerlich vorgekommen. Als ob ein Geschenk ihre Probleme hätte beseitigen oder auch nur lindern können. All die schönen Dinge, die sie mit viel Freude zusammengetragen hatten, standen nur noch unbeachtet herum.

Allmählich hatte er die Lust verloren, sich um den Garten zu kümmern oder die Frühstückstafel mit dem feinen Christofle Silber zu decken. Selbst die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen, störten ihn. Seit Pauline sie im Stich gelassen hatte und nicht mehr zweimal wöchentlich kam, stapelte sich das Geschirr tagelang in der Spüle. Der Zigarettenqualm hinterließ einen graugelblichen Schatten auf der Rohseide. Und manchmal stolperte er bis in den späten Nachmittag unrasiert und immer noch in seinem karierten Bademantel durch das Haus. Es waren die Tage, an denen sie sich überhaupt nicht blicken ließ. Sie hatten ein Zeichen verabredet. Es war ein rotes Halstuch. Wenn dieses morgens außen an ihrem Türknauf hing, sollte er sie in Ruhe lassen, bis sie es wieder entfernt hatte.

Wie an den anderen Abenden auch saß er noch spät in dem alten Arbeitszimmer seines Vaters und versuchte sich auf Passagen des Neuen Testaments zu konzentrieren. Er las einige Absätze an und merkte nach fünf oder sechs Sätzen, dass er deren Sinn nicht verstanden hatte, begann die Passage von neuem, immer wieder und wieder. Er saß in dem alten ledernen Ohrensessel und hatte, wie auch sein Vater früher, nur die Schreibtischlampe mit dem grünen Porzellanschirm an. Im Halbdunkel des Raumes konnte er rundherum die verglasten Bücherschränke aus rötlichem Kirschholz sehen. In den Glasscheiben spiegelten sich mehrere tausend Bücher. Jedes Mal, wenn er eine Tür öffnete, schlug ihm dieser unverwechselbare dumpfe Geruch alten Papiers entgegen. Die meisten der Bücher waren gebunden und nur selten fanden sich Paperbacks darunter. Enzyklopädien und ganze Bände waren meist in teures Leder gefasst. Lange Zeit hatte dieser Raum für ihn etwas Geheimnisvolles gehabt.

Sein Vater hatte damals hier, an seinem Schreibtisch gesessen, als er ihm als gerade Zwanzigjähriger feierlich verkündet hatte, dass Hedwig schwanger sei und er mit ihr fortgehen würde. Ob er sich über die Tragweite seiner Entscheidung bewusst sei, hatte ihn sein Vater bedacht gefragt. Die Tragweite seiner Entscheidung, mehr nicht. Kein Versuch ihn umzustimmen oder aufzuhalten. So hatte er sein Elternhaus verlassen, voller Elan und unschuldig gespannt auf sein neues Leben. Zwei Monate später, er hatte kurz vorher als Elektriker angefangen, hatte die Trauung stattgefunden. Nur im kleinen Kreis, ein paar Freunde, die Schwester und Hedwigs Eltern. Und ihre ungeborene Tochter! In ihren fantasiereichsten Träumen hatten sie sich nicht ausgemalt, dass sie einmal solch eine Karriere machen würde.

Als er aufstehen wollte, um sich einen Highland Malt einzuschenken, bemerkte er, dass seine Finger eingeschlafen waren. Er griff in die Höhe und spürte das ameisenartige Kribbeln in den Fingerspitzen. Während er zur Wiederbelebung einige leere Greifbewegungen in der Luft vollführte, blieb sein Blick auf der Schweinslederablage des Schreibtisches haften. Diese lästigen Hautschuppen, wahrscheinlich waren sie wie winzige Schneeflocken von seinen trockenen Unterarmen gerieselt.

Seit neun Tagen lebte er nun schon allein zu Hause und wusste, dass es auch so bleiben würde. Sie würde nicht mehr hierher zurückkehren. Er saß Abend für Abend an seinem Schreibtisch, versuchte sich auf die Offenbarung des Johannes zu konzentrieren und wartete auf den Anruf. Irgendwann würde er kommen. Der Arzt hatte ihn zur Seite genommen. Er hätte nichts sagen müssen, er wusste es schon, als er seinen stillen Blick sah. Er musste in dieser Nacht damit rechnen. Dann war er an ihr Bett zurückgekehrt, war bis 4.00 Uhr morgens geblieben und nichts war geschehen. Es war schon wie ein kleines Wunder, dass sie auch die zweite Nacht überlebt hatte. Er hatte fast den ganzen Tag an ihrem Bett gesessen. Um ihr unnötige Schmerzen zu ersparen, hatte man ihr anfangs Morphium gespritzt und sie, als die Schmerzen immer heftiger wurden, an eine automatische Pumpe angeschlossen.

Mittlerweile war der Blutkreislauf in seinen Fingern wieder in vollem Gange und er erhob sich aus dem Ledersessel, um sich den Whisky aus der Glaskaraffe zu holen. Wenn er nicht bei ihr im Krankenhaus war, dann blieb er zu Hause. Er wollte erreichbar sein, wenn sie ihn anriefen und nicht irgendwo an der Kasse eines Supermarktes oder am Schalter seiner Hausbank. Bei jedem Klingeln erstarrte er und es dauerte immer einige Sekunden, bis er stark genug war, den Hörer abzunehmen und sich zu melden. Aber es waren stets andere Anrufer. Menschen, die von seinen Sorgen nichts wussten: der Schornsteinfeger, der einen Termin vereinbaren wollte, oder der Optiker, um ihm mitzuteilen, dass die bestellten Kontaktlinsen abholbereit waren. Je länger der Anruf ausblieb, desto unwirklicher wurde es, dass er einmal kommen würde. Sein Erstaunen, dass sie nicht starb, wich von Tag zu Tag einem befremdenden Gefühl des Stolzes. Sie war eben eine Kämpfernatur. Von ihm konnte sie ihn nicht haben, diesen eisernen Willen, der Krankheit zu trotzen.

Erst wenn alle Kraft sie verlassen hätte, würde sie aufgeben. Krampfhaft versuchte er, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Er wusste, dann war es an der Zeit, das Bestattungsinstitut anzurufen und das Begräbnis zu arrangieren. Sarg, Leichenhemd und Blumen auszuwählen. Er erinnerte sich sogar, dass es so üblich sei, die Verwandtschaft zu Kaffee und Kuchen einzuladen. Sah Cremetorten und Gebäckstücke auf dunklen, nüchternen Tischen. Und trotzdem beschäftigten ihn noch andere Bilder. Quicklebendige und aufwühlende Fantasien, die mit der Zeit immer mehr an Gestalt annahmen.

Er trank den letzten Schluck, der sehr erdig schmeckte, und verzog angewidert das Gesicht. Dann blieb er noch einen Augenblick sitzen und starrte in den grünen Schein, bevor er endlich das Licht löschte und in sein Schlafzimmer schlurfte. Es war 2.11 Uhr auf der roten Digitalanzeige und das Telefon läutete immer noch nicht.

1.

Die Katze streifte schon wieder einsam im Hausflur herum. Carola Weinberg war die sandfarbige Siamkatze, die auf den Namen Nelly hörte, bereits am Vorabend aufgefallen. Als die junge Studentin vom Zigarettenholen zurückgekommen war, hatte Nelly einsam vor der geschlossenen Tür ihres Nachbarn gesessen.

Heute brütete sie bereits seit dem frühen Morgen über Kleists „Zerbrochenem Krug“ und fragte sich, was an diesem Lustspiel denn so lustig sei. Aber wenn sie ihr Referat bis Montag fertig haben wollte, musste sie konzentrierter arbeiten. Vor allen Dingen durfte sie nicht dauernd horchen, ob wieder das leise jämmerliche Miauen durch die Tür drang. Vor einer Stunde hatte sie der armen Katzenseele ein Schälchen gebracht und wieder bei ihrem Nachbarn geschellt. Das flache Rasseln der Klingel hatte noch einige Augenblicke nachgehallt und einen winzigen Moment lang hatte sie geglaubt, aus der Wohnung Motorengeräusche der Formel 1-Übertragung zu hören. Doch als sie ihr Ohr auf den glatten Lack gepresst hatte, hatte sie sofort ihren Irrtum bemerkt. Das Geräusch kam von nebenan, aus der Wohnung des unheimlichen Nachtschaffners mit dem Silberblick.

Sie plante schon seit längerem, nach einer anderen Wohnung Ausschau zu halten. Der Wohnblock war damals nur eine Notlösung gewesen: schmuddelig aber günstig. Es musste ja nicht gleich der Godelsberg oder das Pompejanumviertel sein. Aber allmählich war es ihr peinlich, wenn Kommilitonen sie besuchten und anderen Bewohnern auf dem Flur begegneten: Uschi, der Pächterin von Uschis Pilsbrünnchen,der jungen Punkerin oder den vielen anderen namenlosen Gesichtern, die im ewigen Halbdunkel durch die Gänge schlichen. Sie hatte schon immer gerätselt, welche Umstände den stillen Arzt und auch Frau Lamprecht, die ältere Dame von gegenüber, an diesen düsteren Ort verschlagen hatten.

Am frühen Nachmittag saß Nelly immer noch am selben Fleck und miaute. Carola läutete erneut und diesmal heftiger. Sie hoffte inständig, aber vergeblich, dass die Tür endlich geöffnet wurde. Es würde ihr nicht erspart bleiben, den Hausmeister um Mithilfe zu bitten.

Minuten später zögerte sie noch einen Augenblick vor der Tür von Rudi Fischler, bevor sie klingelte. Sein kraftvolles „Wer da?“ hörte sich durch das Holz wie Verdun an. Er glotzte überrascht durch seine dicken geschliffenen Brillengläser und wischte sich langsam die Hände an seiner Trainingsjacke ab.

„Das gibt `s doch nicht! Die Frau Studentin. Das nenn ich aber `ne tolle Überraschung! Hereinspaziert, nur keine falsche Scheu!“

„Ich möchte wirklich nicht stören ...“

„Stören?“ Fischler strahlte, als hätte sie mit den fünf kleinen Wörtchen den Witz des Jahrhunderts gerissen.

„Es ist nur wegen des Arztes aus dem ersten Stock.“ Es war nicht leicht, dem angetrunkenen Hausmeister die Dringlichkeit ihrer Bitte zu vermitteln. Mit gespielter Naivität überhörte sie doppeldeutige Einladungen und übersah anzügliche Blicke. Schließlich gelang es ihr doch, den Hausmeister in einem anstrengenden Balanceakt ohne eigene Zugeständnisse in ihr Schlepptau zu bekommen.

Die Wohnung war größer als Carolas, hatte aber einen ähnlichen Schnitt. Von der Wohnungstür führte ein schlauchartiger Flur nach rechts. Die Tür des Wohnzimmers stand sperrangelweit auf. Sogleich bemerkte sie die stickige Luft. Es roch, als wäre lange Zeit nicht gelüftet worden. Und die wenigen Sonnenstrahlen fielen durch die schmutzigen Scheiben der kleinen Balkontür. Draußen auf dem Balkon konnte man noch einen kleinen vertrockneten Tannenbaum vom letzten Winter sehen.

Carola war überrascht. Die Wohnungseinrichtung entsprach überhaupt nicht dem Eindruck, den der Arzt auf sie gemacht hatte. Im Wohnzimmer stand in einer gemusterten Sitzgruppe aus den Siebzigern ein gekachelter Tisch mit hellblauen Windmühlenmotiven. An der Wand zur Balkontür hingen einige Zierteller aus dem Harz. Sie zeigten die historischen Gebäude Wernigerodes. Ihr Blick wanderte nach rechts in den engen und dunklen Gang. Ein Anrufbeantworter auf dem kleinen Tisch blinkte in einem hektischen Takt und zeigte eine Eins an. Sie standen noch unsicher im Flur, als Nelly auf sie zutrabte und vor ihnen stehen blieb. Während Fischler irgendetwas in den Flur hineinrief, an das sie sich später nicht mehr erinnern konnte, hob sie behutsam das unruhige Tier auf ihren Arm.

„Wahrscheinlich ist er tatsächlich nicht zu Hause und noch im Krankenhaus“, bemerkte sie nervös.

Fischler erwiderte nichts und schaltete die trübe Deckenbeleuchtung ein. Er tastete sich vorsichtig Schritt für Schritt durch den Flur und stieß mit der Spitze seines Pantoffels die Küchentür auf. Dort blieb er noch einige Sekunden stehen, bis er sie bat, einen Notarzt zu rufen.

2.

Kriminalhauptkommissar Hans Adelmeier kämpfte mit einer Grillzange in seiner Rechten gegen die verführerisch duftenden Bratwürste, die er tags zuvor bei der Metzgerei Brand besorgt hatte. Heißes Fett tropfte in regelmäßigen Abständen auf die glühende Kohle. Dabei gab es jedes Mal ein scharfes Zischen und die emporzüngelnden Flammen drohten, die Würste zu verbrennen. In einigen Metern Entfernung saßen seine Kollegen an seinem Gartentisch und prosteten ihm fröhlich zu.

Als er die Würste von der zentralen Gefahrenzone aus an den Rand geschoben hatte, fiel sein Blick auf den maroden Holzzaun. Er musste dringend renoviert werden, wie so einiges andere auch. Seine Mutter hatte ihm das Haus, in dem er bereits seine Kindheit verbracht hatte, kurz nach dem Tod ihres Mannes überschrieben. Er blickte prüfend auf die Sandsteinfassade und dann – als läge eine Parallele zwischen dem Haus und ihm – wanderte sein Blick an seinem Körper herunter. Er lachte leise in sich hinein. Sein Äußeres war in bedenklicherem Zustand. Einige Pfunde weniger und etwas mehr Bräune könnten ihm nicht schaden. Ihm war nicht entgangen, dass Regina, seine Dezernatskollegin, vorhin schmunzelnd seine schneeweißen Beine betrachtet hatte.

Nach dem erneuten Wenden der Würste wanderte sein Blick zur Straße hin. Wo blieb nur seine Tochter Sandra? Er streckte seinen Kopf in Richtung des Gartentors und lauschte vergeblich auf den Klang des altersschwachen Mazdamotors. Sie hatte ihm sogar fest versprochen, schon bei den Vorbereitungen behilflich zu sein. Doch Adelmeier hatte an diesem Morgen allein in der Küche gesessen. Drei Pfund hart kochende Salatkartoffeln, einige nicht einmal so groß wie Tischtennisbälle. Anfangs hatte er akribisch jede noch so kleine Kartoffel geschält. Dann hatte er die kleineren einfach in die braune Biotonne geworfen.

Sandra war den ganzen Morgen nicht aufgetaucht. Schließlich hatte er an ihre Zimmertür geklopft. Als keine Antwort gekommen war, war er eingetreten. Das Bett hatte verlassen vor ihm gelegen. Erst nach einer halben Minute hatte er sich zögernd hinuntergebeugt und wie ein Polizeihund am Laken geschnüffelt. Er hatte keinerlei Vorstellung, wie das Bett seiner Tochter riechen müsste, wenn sie darin geschlafen hätte, aber wie auf einen geheimen Befehl hin hatte er es trotzdem getan. Dann hatte ihn ein Gefühl der Scham überfallen. Kaum auszudenken, wäre Sandra gerade dann zur Tür hereingekommen, als er sich über ihr Bett gebeugt hatte. Den Kopf vornübergebeugt und den Hintern wie eine Ente in die Höhe. Andererseits hatte er als Vater nur das getan, was seiner Meinung nach notwendig war. Schließlich wohnte Sandra erst seit knapp fünf Monaten wieder bei ihm.

Adelmeier wollte die Würste gerade ein letztes Mal wenden, da winkte sein italienischer Kollege mit einer ausschweifenden Geste und rief ihm etwas zu, das er nicht verstand. Alle lachten. Auch die beiden Kollegen vom Rauschgift, die er noch zu seiner kleinen Party eingeladen hatte. Und dann wiederholte Marcello es noch einmal etwas lauter.

„Hans, sind die Würste noch so weiß wie deine Beine? Wir sterben vor Hunger!“

Adelmeier stolperte über die Bemerkung seines neuen Kollegen. Trotz aller Sympathie, die er für den Italiener hegte, empfand er sie eine Spur zu keck. Schließlich war Marcello neu im Dezernat und Adelmeier war immer noch sein Vorgesetzter.

„Ich kann dir auch den Fernseher anschalten, wenn es dir zu lange dauert!“, rief er zurück.

„Oh, Formel 1!“, Marcello erhob sich aus seinem Gartenstuhl und bewegte sich auf ihn zu. „Jetzt müssten sie gerade beim Warm-up sein!“, lachte er, ohne das Bissige an Adelmeiers Unterton zu bemerken. „Das Rennen habe ich schon fast vergessen. Aber wo bleibt denn deine hübsche Tochter?“, zwinkerte er ihm scherzhaft zu.

Adelmeier entging der Scherz in seinen Worten, mit seiner Frage hatte er durchaus Recht. Verdammt, wo blieb sie nur? Und woher wusste er, dass sie hübsch war? Sandra war tatsächlich eine attraktive junge Frau. Er bemerkte jedes Mal die verstohlenen Blicke der jungen Männer, wenn er mit ihr durch die Stadt ging. Marcello musste das Foto in seinem Büro gesehen haben. Adelmeier hatte es aufgenommen, als sie im April zu Hause mit einem Lippenpiercing aufgetaucht war. Sofort hatte er an seine geschiedene Frau denken müssen. Sie wäre bestimmt entsetzt über den Körperschmuck und würde ihm Vorwürfe machen, dass er seine Vaterpflichten verletze. Vera pflegte einen Hang zur Dramatik. Das Piercing ihrer Tochter hätte für sie eindeutigen Signalcharakter und dementsprechend würde sie reagieren. Hysterisch wie eine Hyäne, die Brandgeruch wahrnahm. Und allein die Vorstellung von Veras Reaktion freute Hans Adelmeier, als er an jenem Montag den Fotoapparat aus der Schublade der Kommode gefischt und ein Erinnerungsfoto aufgenommen hatte, um es ihr später als Kopie nach Dänemark zu schicken.

„Wann kommt sie denn?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Die Würste verbrennen. Eine ist dir schon in die Glut gefallen.“ Marcello nahm einen Teller vom Stapel und reichte ihn zum Grill.

„Sie müsste jeden Moment eintreffen, wenn der Flohmarkt zu Ende ist“, antwortete er mechanisch.

Als hätte seine Tochter die Antwort ihres Vaters gehört, ertönte aus der Ferne das unstete Brummen des Mazdamotors. Sekunden später trat Sandra in einem knappen Blümchenkleid durch das Gartentor. Ihre blonden Haare waren frech zu einem Pferdeschwanz gebunden und einige dünne Strähnen hingen ihr wild in die Stirn. Ihre Sonnenbrille steckte leger am rechten Träger ihres Kleides und die offenen Latschen klatschten bei jedem Schritt applaudierend auf ihre nackten Fußsohlen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Adelmeier durch den Grilldunst auf seine sich schnell nähernde Tochter. Und als sie ganz nah, ganz dicht vor ihm stand, erkannte er auch den Sinn der drei Buchstaben auf ihrem Batik-T-Shirt, das sie unter dem Blümchenkleid mit dem tiefen Ausschnitt trug. L, S und D in schreiendem Gelb. Die Buchstaben leuchteten wie eine Neonreklame auf ihrer Brust und er befürchtete, dass sie die Blicke seiner Kollegen an sich zogen wie ein Elektromagnet einen Sack voller Nägel. Regungslos hielt Adelmeier eine Wurst in der Grillzange und schaute seine Tochter hilflos an. Am liebsten hätte er ihr seine Grillschürze übergeworfen.

„Meine Tochter Sandra“, rief er laut und gekünstelt. Doch dann sagte er nichts mehr. Es war still und einige Sekunden hörte man nur das Knistern der Kohle und das Zischen des Fettes. Es war, als hätte er eine Bühne betreten, um einen Künstler vorzustellen und als wäre ihm außer der Begrüßungsformel nichts mehr eingefallen.

Es war seine Tochter, die das Schweigen brach: „Hallo Papa, alles okay mit der Wurst?“

Adelmeier legte die krosse Wurst auf dem Teller ab, den Marcello immer noch hielt.

„Na, was Nettes auf dem Flohmarkt gefunden?“

„Flohmarkt?“, erwiderte sie auf Marcellos Frage. „Flohmarkt ist doch samstags nicht sonntags.“

Adelmeier insistierte.“ Aber sagtest du nicht, dass du zum Flohmarkt wolltest?“ Er hoffte, dass sie nochmals in ihr Zimmer ging und das dämliche T-Shirt wechselte, bevor sie sich unter seine Gäste mischte.

„Auf den Flohmarkt? Ich sagte überhaupt nichts. Oma hat angerufen, während du noch schliefst. Sie klang ein wenig enttäuscht, dass du dieses Wochenende keine Zeit hast. Und da bin ich eben hingefahren. Wir haben bis jetzt auf ihrem Balkon gesessen und ein bisschen geklönt.“

Minuten später saßen sie alle an dem großen Tisch. Regina unterhielt sich mit den Kollegen über die unsinnigen Diensteinsatzpläne der letzten Wochen und Marcello versuchte, Sandra die Faszination der Italiener für Ferrari zu erklären. Adelmeier öffnete ein Glas Senf und blickte auf die Wiese. Es rührte ihn und machte ihn auch ein wenig stolz, dass seine Tochter zu ihrer Oma gegangen war. Normalerweise besuchte er seine Mutter immer sonntags. Wie schön, dass seine Tochter diese Aufgabe heute stillschweigend für ihn übernommen hatte. Auch das T-Shirt, für das er sich anfangs geschämt hatte, störte ihn nicht mehr. Das waren Nebensächlichkeiten. Sollten seine Kollegen doch denken, was sie wollten.

Seine Mutter bewohnte bereits seit dem Tod ihres Mannes ein Zweizimmer-Appartement am Dalberg. Er versuchte schon lange, sie dazu zu bewegen, ihre Wohnung aufzugeben und in ein Seniorenstift zu ziehen. Seit zwei Jahren überkam seine Mutter ab und an eine Art Altersschwindel. Sie war schon beim Erledigen ihrer Besorgungen mitten in der Fußgängerzone zusammengebrochen. Glücklicherweise war bis zum heutigen Tag außer ein paar Abschürfungen, Blutergüssen und einer zerbrochenen Brille nichts Nennenswertes passiert. Er wusste aber, dass das nicht so bleiben musste.

Adelmeier dachte mit Entsetzen an die steile Treppe des restaurierten Fachwerkhauses. Nicht auszudenken, wenn sie dort einmal stürzte. Aber jedes Mal, wenn er sie darauf ansprach, erntete er nur Missmut und Unverständnis. Was sie in einem Seniorenheim solle unter all den alten Leuten, die ihre Suppe verschütteten und wirres Zeug redeten? Er versuchte vergeblich, dagegen zu argumentieren. Er schwärmte ihr von den netten Ausflügen vor, von dem Komfort, nicht mehr kochen zu müssen und reihte wie ein Staubsaugervertreter einen Vorteil an den anderen. Zeih du doch dort ein, wenn es dir so gut gefällt, hatte sie ihm pikiert vorgeschlagen. Es sei ihr Altersstarrsinn, hielt er ihr entgegen.

Tief in seinem Inneren wusste er, was sie von ihm erwartete. Doch er konnte nicht. Und es machte auch wenig Sinn, schließlich wäre sie in seinem Haus auch den ganzen Tag über allein und oft genug sogar abends und nachts, wenn er Dienst hatte. Aber es gab noch ein anderes Argument, das eher auf sein eigenes Wohl zielte, als auf das seiner Mutter. Zugegebenermaßen lag sein Liebesleben seit einigen Jahren brach, aber das konnte sich doch auch schnell ändern. Er wusste aber nur zu genau, dass es schwieriger werden würde, wenn sie bei ihm wohnte. Welche Frau wollte das schon? Einen Mann, Kriminalhauptkommissar mit 73-jähriger Mutter, eine Küche, ein Bad?

Seine Gäste bedienten sich gerade ein zweites Mal, als er wie durch Watte Marcellos Stimme vernahm.

„Hans, – im Haus – das Telefon klingelt.“

Minuten später war Adelmeier wieder im Garten. „Das Präsidium. Eine Leiche im Stadtteil Strietwald. Sieht wohl eher nach einem Suizid aus. Aber wir schauen uns das trotzdem einmal an.“

3.

Adelmeier hatte beschlossen, Regina mitzunehmen. Er warf einen schnellen Blick auf die Adresse, die er auf einer Papiertüte der Metzgerei Brand notiert hatte: „Es ist einer der Blocks in Strietwald. Da vorne, nach der Ampel müssen wir links rüber.“

Als das Kegelzentrum hinter ihnen lag, näherten sie sich zügig dem nordwestlichen Stadtteil Aschaffenburgs. Kleine Mehr- und Einfamilienhäuser flogen wie weiße Kleckse am Seitenfenster des Volvos vorbei. Nach einigen Minuten sahen sie die Wohnblocks vor sich, symmetrisch angeordnet wie ein Fischgrätenmuster.

Den Wagen stellten sie auf einem nahezu verlassenen Parkplatz direkt vor dem Block 4a ab. Ein leichter Wind kam auf. Eine Brise, die eventuell einen befreienden Sommerregen ankündigte. Beim Aussteigen empfing sie aus der Ferne das Geschrei herumtollender Kinder. Adelmeier machte Regina auf eine Gruppe Jugendlicher in grünen Bomberjacken aufmerksam. Sie lungerten rauchend am Spielplatz herum. Ein Mädchen – ungefähr in Sandras Alter – hielt einen wuchtigen Mastino an der Leine. Der Hund zog mit seinem bulligen Körper in Richtung eines Baums und Adelmeier beobachtete, wie sich die nietenbesetzte Lederleine bedrohlich straffte. Ein anderer gescheckter Kampfhund, Adelmeier glaubte in ihm einen Pitbullterrier zu erkennen, umkreiste schnüffelnd eine Schaukel. „Wenn das nur auf die Dauer gut geht“, brummte er mürrisch in sich hinein.

Sie passierten eine graue Hausfront. Adelmeier deutete auf die Reihe von Fünf-Quadratmeter-Balkonen. „Sieht so aus, als gehöre eine Satellitenschüssel hier zur Grundausstattung.“

Aus den offenen Balkontüren drang das hohe insektenartige Gesurre der Motoren. Regina und Adelmeier gingen auf den Hauseingang zu, an dem sie bereits ein Mann mit einer schäbigen Trainingsjacke erwartete. Das einfallende Sonnenlicht spielte mit seinen Brillengläsern und warf allerlei Reflexionen in die Luft. Als sie direkt vor ihm standen, stellte er sich ihnen als Hausmeister Fischler vor.

Sie betraten das graue Betongebäude aus den frühen Siebzigern durch eine gläserne Verbundtür. Ein Verbrechen an der Menschheit, philosophierte Adelmeier still in sich hinein. Er erwartete im Inneren eine ähnliche Tristesse, doch als sie die Eingangstür passierten, ähnelte der Flur eher dem eines Pop-Art-Museums. Die Graffiti waren von hervorragender Qualität. Das sah man sofort. Sie trugen alle denselben Schriftzug. Zacks, oder so ähnlich. Er erkannte zwei nachgesprayte Roy Lichtenstein Motive, die er früher schon einmal in einem Kunstband gesehen hatte. Die gesprühten Bilder ließen kaum einen freien Fleck auf der kalten Betonwand und flossen, wie wilde Ströme ineinander über.

Während sie dem Hausmeister weiter in den ersten Stock folgten, konnte Adelmeier deutlich die Fahne riechen, die er Stufe für Stufe hinter sich herzog.

„Hier herein“, schnaufte Fischler kurzatmig, als sie die Wohnung des Toten erreicht hatten.

Adelmeier konzentrierte sich, um sich einen ersten, ungefilterten Eindruck zu verschaffen. Das tat er immer, wenn er einen vermeintlichen Tatort betrat. Aus unzähligen Ermittlungen wusste er nur zu genau, wie wichtig es war, möglichst viele Einzelheiten aufzunehmen. Am liebsten würde er alles konservieren. Gerüche, Geräusche, die gesamte Stimmung wie mit einem trockenen Schwamm aufsaugen und in ein Gefäß hineinpressen. Nichts ärgerte ihn mehr, als wenn er sich zu einem späteren Ermittlungszeitpunkt nicht mehr an wichtige Einzelheiten erinnern konnte. Verzweifelt nach einer Kleinigkeit kramte, von der er wusste, dass er sie wahrgenommen hatte und spürte, dass dieses Wissen aber nur noch diffus in seinem Unterbewusstsein vorhanden war.

Adelmeier blieb an der Türschwelle stehen. Die Luft roch abgestanden, nach getragener Wäsche und leicht süßlich, als würden sich verderbliche Essensreste in der Wohnung befinden. Es schien lange nicht mehr gelüftet worden zu sein. Von der Tür aus wirkte die Wohnung ungepflegt. Er folgte einem leichten Geruch von abgestandenem Kaffee und erreichte den Eingang zur Küche. Ein Notarzt kniete vor seinem schwarzen Arztkoffer und verstaute darin routiniert einige Utensilien.

„Dr. Kern“, stellte er sich vor. „Ich wurde vor einer knappen Stunde von der Rettungsleitstelle hierher beordert.“ Der Notarzt deutete auf den Toten, der ungelenk, wie eine schlecht platzierte Schaufensterpuppe auf einem einfachen Küchenstuhl saß. “Alles deutet auf Medikamentenvergiftung durch eine größere Menge an Schlaftabletten hin“, erklärte er ohne Aufforderung. „Schauen Sie! Die leeren Tablettenröhrchen liegen allesamt noch auf und unter dem Tisch. Der übliche Kram, den man so ohne Rezept in Apotheken bekommt.“

Regina und Adelmeier standen einen Moment vor dem Toten und betrachteten ihn. Der rechte Arm hing steif an dem Leichnam herunter, als ob er nicht zum Rest des Körpers gehörte und der Kopf mit dem vollen Haar ruhte friedlich in der linken Armbeuge. Adelmeier beugte sich zu dem Oberkörper herunter, der nur von der Tischplatte am Abrutschen gehindert wurde. Der offen stehende Mund war eigenartig zu einem schrumpeligen Oval geformt. Und es schien, als ob der Tote mit seinen ausgetrockneten Lippen noch sprechen wollte. Mit etwas Mühe konnte Adelmeier in den Mundwinkeln das glasige Weiß der getrockneten Speichelreste erkennen. Die Augen waren friedlich wie im Schlaf geschlossen. Das pergamentartige Aussehen der Haut berührte Adelmeier immer wieder aufs Neue, wenn er eine Leiche sah. Ohne ihn anzufassen, spürte er regelrecht die Kälte, die der leblose Körper ausstrahlte.

Von dem Hausmeister wussten sie, dass der Tote im Städtischen Klinikum gearbeitet hatte. Er trug offensichtlich noch seine Arbeitskleidung: Weiße Hose, weiße Schuhe, weißes Hemd. An seiner rechten Brusttasche haftete ein silberfarbenes Namensschild mit schwarzen Druckbuchstaben: Dr. Weißenberger. Hatte er keine Lust gehabt, seine Kleidung zu wechseln, oder hatte er keine Gelegenheit mehr dazu?

Adelmeier lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Küche. Links neben dem Fenster entdeckte er eine Kaffeemaschine, mit einer noch bis zur Hälfte gefüllten Glaskanne. Davor stand mitten auf dem Küchentisch direkt in Greifnähe des Toten ein Radiorecorder. Adelmeier erkannte das Modell. Ein alter ITT Schaub Lorenz mit einem eingebauten Mikrophon. Das gleiche Modell, das auch Sandra besessen hatte, um ihre Kinderkassetten zu hören. Da der Recorder an dieser Stelle deplatziert wirkte und kein Brief und nichts Geschriebenes auf dem Tisch lag, tippte Adelmeier auf eine Abschiedsbotschaft auf Band.

„Wie weit sind Sie mit Ihren Untersuchungen?“

„Im Grunde habe ich nur den Tod festgestellt und den Schein ausgefüllt. Todesursache ungeklärt.“ Er machte eine kleine Pause, bevor er erklärend hinzufügte: „Verstehen Sie, um die Körpertemperatur messen zu können, hätte ich ihn umdrehen und entkleiden müssen.“ Dr. Kern wedelte nachdenklich mit dem Totenschein. „Das Gleiche gilt auch für die Totenflecken. An den Auflagestellen, an denen sie auftreten, ist er bekleidet. Ich wollte die Leiche unbedingt für Sie in unveränderter Position lassen. Die Totenstarre ist noch in allen Gelenken feststellbar. Das bedeutet, wie Sie wahrscheinlich wissen, dass er mindestens acht Stunden, aber noch nicht über zwei Tage lang tot sein muss.“ Als Dr. Kern Adelmeiers skeptischen Blick aufschnappte, fügte er hinzu: „Okay, aber bitte nageln Sie mich später nicht darauf fest: Aufgrund des allgemeinen Eindrucks der Leiche würde ich so auf um die achtzehn Stunden tippen.“

„Sonstige äußere Verletzungen?“

„Keine, wenn man von den Hämatomen an beiden Handgelenken absieht“, entgegnete der Notarzt und machte einen Schritt auf den Toten zu.

„Hämatome?“ Adelmeier folgte ihm neugierig.

„Hier.“ Dr. Kern deutete unter den Tisch auf die Innenseite des Handgelenkes. „Als hätte man ihn festgehalten oder festgebunden. Das Gleiche hat er auch am linken Gelenk.“

Adelmeier betrachtete den Toten von hinten. „Eigentümliche Sitzhaltung. Beinahe unnatürlich.“

„In der Tat passt die Körperhaltung des Leichnams nicht zu einer Selbsttötung. Der Oberkörper scheint durch die Erschlaffung der Muskulatur entweder relativ kurz nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit oder des Todes nach links gerutscht zu sein. Hätte der Körper – was ich für wahrscheinlich halte – die Bewegung fortgesetzt, müsste die Leiche jetzt auf dem Boden liegen. Die Tischplatte ist glatt und bietet kaum Reibungswiderstand.“ Er schaute Adelmeier prüfend an, um zu sehen, ob er verstand. „Das erklärt auch die seltsame Stellung von Ober- zu Unterkörper. Ich denke, da hat jemand nachgeholfen.“

„Und das bedeutet? Reden Sie ruhig weiter.“

„Also, die Sitzhaltung des Mannes muss kurz nach Eintritt des Todes noch einmal korrigiert worden sein. Darauf würde ich mein nächstes freies Wochenende setzen.“

Adelmeier ließ sich die Ausführungen des Notarztes durch den Kopf gehen. Er freute sich, einen dermaßen aufmerksamen und gewissenhaften Arzt in Aschaffenburg zu wissen. Viele Kollegen seiner Zunft hätten, aus Bequemlichkeit oder einfach nur aus Nachlässigkeit einen klaren Suizid festgestellt.

„Regina, fordere bitte mal die Technik an!“

„Wenn Sie keine Fragen mehr haben ...“, sagte der Notarzt und griff nach seinem Koffer. Adelmeier schüttelte den Kopf und begleitete Dr. Kern zum Ausgang.

Im Vorbeigehen entdeckte er im Wohnzimmer den Hausmeister, der dort seine eigene Inspektion vornahm. Fischler lehnte an einem Sideboard, als befände er sich bei einem guten Bekannten, und studierte mit großem Interesse einen Fotorahmen. Adelmeier fluchte innerlich. Er hatte es versäumt, den neugierigen Trunkenbold an der Eingangstür fortzuschicken. Seine Konzentration auf den ersten ungefilterten Eindruck hatte ihn das Simpelste vergessen lassen. Er ärgerte sich über den Anfängerfehler. Nachdem er den Hausmeister wütend aus der Tür bugsiert hatte, streifte er sich ein Paar Einweghandschuhe über und setzte fort, was Fischler bereits begonnen hatte.

Dass Weißenberger hier mit einer weiteren Person gewohnt hatte, hielt Adelmeier für unwahrscheinlich. Die Wohnung wirkte völlig wahllos möbliert. Es schien, als seien die Möbel einzig nach Kostenaspekten ausgesucht und nach den Gesetzen des Zufalls in der Wohnung verteilt worden. Im Wohnzimmer präsentierte sich neben einem Kurbeltisch, eine Truhe aus Rattan, in der Dr. Weißenberger offenbar seine schmutzige Wäsche lagerte. Der Ärmel eines weißen Hemdes hing nachlässig aus der Klappe. Adelmeiers Blick fiel auf die Ablage eines angerosteten Heizkörpers. Dort wartete die Stereoanlage, dass sie mit ihrem Umfeld unter einer dicken Staubschicht verschmolz. Zwischen den russischen Matrjoschka-Puppen, mit denen der Plexiglasdeckel des Plattenspielers zugestellt war, entdeckte Adelmeier eine alte Platte der Rockband Karat. Adelmeier nahm die Puppen in die Hand und wusste nicht, was er darin zu finden hoffte. Trotzdem war er ein wenig enttäuscht, als die Hohlräume mit Ausnahme einiger Krümel Salzstangen allesamt leer waren.

Das einzige Möbelstück, das sich von dem Rest der Einrichtung abhob, befand sich neben dem Sideboard. Es war ein antiker englischer Sekretär. Gespannt zog er eine der Schubladen in der Hoffnung auf, darin Briefe oder andere persönliche Unterlagen zu finden. Doch er fand nur das örtliche Telefonbuch, darunter die gelben Seiten. Die dritte Lade brachte dann einen Gegenstand zum Vorschein, der zumindest Anlass zu einem Fünkchen Hoffnung erlaubte. Adelmeier packte vorsichtig die schweinslederne Brieftasche an den Rändern und klappte sie auf. In den vorderen Kreditkartenfächern steckten einige Plastikkarten: eine EC-Karte der Dresdner Bank, der purpurne Clubausweis des Videolands, die Mitgliedskarte eines Fitnessstudios in der Hanauer Straße und der gelbe Ausweis des ADAC. Adelmeier drehte die Brieftasche auf den Kopf und schüttelte sie, bis aus dem hinteren Fach eine portugiesische Briefmarke, der Fahrzeugschein und der Personalausweis segelten. Er war gerade damit beschäftigt, die Daten des Ausweises zu überfliegen, als er Reginas Stimme aus dem Flur hörte.

„Auf dem Anrufbeantworter blinkt eine Eins und das Band im Radiorecorder haben wir auch noch nicht abgehört. Willst du damit warten, bis die Techniker kommen?“

„Nein! Um Himmels willen nicht in dem dann herrschenden Getöse! Er fährt übrigens einen Alfa“, rief er ihr zu und legte die Papiere wieder auf den Tisch.

Im Flur wartete bereits Regina mit einem Bleistift in der Hand vor dem blinkenden Anrufbeantworter. Und erst als Adelmeier in dem finsteren Gang dicht neben ihr stand, drückte sie die Spitze fest auf den Startknopf. Eine monotone Computerstimme bröckelte aus dem Kunststoffgehäuse und meldete, dass jemand einen Text aufgesprochen hatte. 19.32 Uhr. Erste neue Nachricht. Ein kurzes Knacken leitete dann über zu einer Frauenstimme. „Wahrscheinlich bist du unterwegs. Ich habe heute Nachtdienst. Falls du deinen Blouson vermisst, er hängt noch bei uns im Schrank.“

Eine Kollegin, die ihren Namen nicht nannte, schickte eine Botschaft ins Jenseits, dass Weißenberger seine Jacke vergessen hatte. Jenseits? War das Leben für Dr. Weißenberger um 19.32 Uhr bereits beendet, oder hatte er einfach keine Zeit oder Lust gehabt, das Band abzuhören?

„Gut, zumindest haben wir durch die Uhrzeit einen zeitlichen Anhaltspunkt. Setz dich doch bitte später mit dem Krankenhaus in Verbindung und bring in Erfahrung, wann er die Klinik verlassen hat. Weiter brauchen wir die Namen von Weißenbergers Angehörigen, ich hätte auch gern den der Anruferin.“

Adelmeier winkte Regina, ihm in die Küche zu folgen. „Auf dem Küchentisch lag ein Schlüsselbund. Wir müssen herausfinden, wie viele Schlüssel es zu der Wohnung gibt. Dabei kann uns die Hausverwaltung behilflich sein. Wenn später nicht alle Schlüssel auftauchen, wissen wir, wie ein eventueller Täter in die Wohnung gekommen sein könnte. Wir dürfen dabei aber nicht übersehen, dass auch einer noch in der Jacke im Krankenhaus stecken könnte.“

Er griff nach ihrem Bleistift und schob ihn durch den Ring des Schlüsselbundes. An dem Metallring hing ein roter Kunstlederanhänger von Alfa Romeo. „Kellerschlüssel, Autoschlüssel ...“, begann Adelmeier, dann drehte er zwei Winkhausschlüssel bis sie aneinander lagen und hielt sie gegen das Küchenfenster. „Die Bärte sind unterschiedlich. Ich glaube, dass zumindest einer zur Wohnung passt. Also, zu welchem Schloss gehört der andere? Dass er einen Schlüssel vom Krankenhaus hatte, halte ich eher für unwahrscheinlich.“