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Beschreibung

Begriffe wie Vielfachkrise, multiple Krise, Polykrise tragen dem Umstand Rechnung, dass sich Krisen nicht mehr nur auf einzelne Bereiche beschränken. Soziale, ökonomische, politische, ökologische und geopolitische Krisen – »all diese Phänomene laufen zusammen und verschärfen sich gegenseitig« und betreffen dadurch die »gesamte gesellschaftliche Ordnung« (Nancy Fraser). Die in diesem Buch versammelten Beiträge untersuchen einzelne Krisenphänomene mit Blick auf ihre nationale und internationale Bedeutung sowie ihren Beitrag zu dem, was sich mit Gramsci als »organische Krise« bezeichnen lässt.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Helmut Kellershohn | Wolfgang Kastrup (Hg.)

Vielfachkrise

Kapitalistische Krisendynamiken und geopolitische Umbrüche

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Die Edition DISS wird im Auftrag des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung herausgegeben von Gabriele Cleve, Margarete Jäger, Wolfgang Kastrup, Helmut Kellershohn, Anna-Maria Meyer, Benno Nothardt, Jobst Paul und Regina Wamper.

Helmut Kellershohn, Wolfgang Kastrup (Hg.):

Vielfachkrise

Edition DISS, Bd. 53

1. Auflage, Oktober 2024

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024

ISBN 978-3-95405-213-4

© UNRAST Verlag, Münster 2024

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der Übersetzung sowie der Nutzung des Werkes für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Wolfgang Kastrup / Helmut KellershohnZur Einführung

Tino HeimDie Klimakrise als Knotenpunkt multipler sozialökologischer Antagonismen

CapulcuDie materielle Seite künstlicher Intelligenz – ökologische und geostrategische Implikationen der Chipproduktion

Janina PuderGlobalisierung, Überausbeutung, Migration und die ökologische Krise

Christa WichterichKrisen der (Re-)Produktion und Global Care Chains

Wolfgang KastrupDie Eskalation des Weltordnungskriegs in der Ukraine geht weiter

Uwe HoeringChina als Katalysator einer neuen internationalen Ordnung

Jobst PaulKrieg und Ethik im Nahen Osten: Asa Kashers Militärische Ethik

Helmut KellershohnWege zur multipolaren Weltordnung: Das Europakonzept der AfD im Widerstreit der Positionen

Peter HöhmannDie Wahl der AfD in Hessen als Reaktion auf Folgen der Modernisierung

Robert TonksNach dem Brexit: Der schleichende Rechtsruck in der Gesellschaft Großbritanniens

Sebastian FriedrichGegen die Arbeit? Die Krise der Reproduktion der Lohnarbeit im Fordismus am Beispiel des Gammler-Diskurses

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

Wolfgang Kastrup / Helmut Kellershohn

Zur Einführung

Seit mittlerweile 36 Jahren veranstaltet das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung alljährlich ein Kolloquium. Die Beiträge des letztjährigen Kolloquiums liegen diesem Sammelband zugrunde, bereichert um einige weitere Beiträge, die hinzugekommen sind. Wir möchten in der Einleitung einige Bemerkungen zum Krisenbegriff vorwegschicken. Zusammenfassungen der in diesem Band publizierten Artikel schließen sich an.

1. Die erste Bemerkung erinnert an das Kommunistische Manifest, in dem Marx und Engels die permanente Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem zentralen Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Entwicklung – im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformationen – erklären. »Die ewige Unsicherheit und Bewegung« als Kennzeichen der »Bourgeoisieepoche« resultiere aus dem Zwang zur »fortwährende[n] Umwälzung der Produktion«, der »Produktionsinstrumente« wie der Produktionsverhältnisse, und gehe einher mit der steten Auflösung tradierter (»eingerostete[r]«) sozialer Verhältnisse und überkommener, »altehrwürdige[r] Vorstellungen und Anschauungen«. Und unter Vorwegnahme von Max Webers These von der Entzauberung der Welt heißt es: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht.« (Marx/Engels 1971 [1848], 465) Krisen sind in diesem Umwälzungsprozess die markanten Knotenpunkte oder, so Frigga Haug, das »Lebenselixier«, der »treibende Motor« der Entwicklung (Haug 2010, 2122), einerseits zerstörerisch wirkend, andererseits neue Formen der kapitalistischen Entwicklung hervorbringend.

Im Kapital wird Marx dann den »Periodenwechsel des Industriellen Zyklus«, die »Reihenfolge von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krisen und Stagnation« (Marx 1969 [1867], 476) zum immanenten, sich durchhaltenden Struktur-Element der Organisation kapitalistischer Produktionsweise erheben und damit gegen die Gleichgewichtsmodelle der klassischen Politischen Ökonomie argumentieren. Auch wenn es »keine zusammenhängende Darstellung einer Krisentheorie« (Heinrich 2017, 342) bei Marx gibt: Als zentrales Krisenmoment arbeitet Marx heraus, »dass die kapitalistische Verwertung die Produktivkräfte schneller weiterentwickelt, als zahlende Nachfrage der Arbeiter konsumieren kann. […] Dazwischen liegt das rastlose Streben nach einer Ausdehnung der Märkte, die Suche nach neuen Absatzmärkten weltweit usw., die als Lösungsformen zugleich die nächste Krise vorbereiten«. (Haug 2010, 2124)

2. Es gibt kleine und große Krisen. Letztere unterscheiden sich in der Intensität, im Ausmaß, in ihren langzeitlichen Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft und in ihrer räumlichen Diffusion im Weltmaßstab. In großen »organischen« (Gramsci) Krisen kommt es zu tiefgreifenden Umbrüchen der Produktions- und Lebensweise, der Zusammenhang von Ökonomie und Politik selbst gerät in die Krise. Große, organische Krisen des Kapitalismus werden erst aufgehoben, »wenn sich eine neue kapitalistische Entwicklungsweise, neue nationalstaatliche und internationale wirtschaftspolitische Arrangements und eine neue internationale Machtordnung« (Decker 2022) herausentwickelt haben. So nach der ersten großen Krise des Kapitalismus in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die »Grundlagen für eine erste Welle der Globalisierung« (ebd.) geschaffen wurden und das Zeitalter des klassischen Imperialismus entstand, in dem die Rivalität der Großmächte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Die neuerliche Instabilität des Kapitalismus konnte erst durch die Entwicklungsweise des Fordismus überwunden werden. Der Fordismus verbreitete sich ausgehend von den USA und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Bretton-Woods-System und die keynesianische Wirtschafts- und Sozialpolitik verallgemeinert.

»Beides geriet dann in den 1970er Jahren angesichts von ausbleibenden Wachstumsraten bei gleichzeitiger Inflation in eine Krise. Sie wurde durch eine neue, schuldenbasierte Entwicklungsweise aufgelöst, die auf dem Ende der Gold-Bindung des Dollars, der Transnationalisierung der Produktion und der Internationalisierung der Finanzmärkte beruhte. Die Krise dieser neoliberalen, finanzdominierten Entwicklungsweise und der sie einrahmenden, westlich dominierten Weltordnung stellt die vierte große Krise des Kapitalismus dar.« (Ebd.)

In dieser vierten großen Krise befinden wir uns jetzt. Inwieweit sich mit den verschiedenen Varianten eines »Grünen Kapitalismus« ein neuer hegemonialer Entwicklungspfad herausbildet oder bereits herausgebildet hat, ist zurzeit noch in der Schwebe. Kritische Einwände, die überhaupt die Möglichkeit eines »Grünen Kapitalismus« infrage stellen, mehren sich.

3. Aktuelle Bezeichnungen für eine organische Krise sind multiple Krise, Polykrise oder Vielfachkrise. Für Nancy Fraser ist die Krise nicht auf Teilbereiche beschränkt, sondern betrifft die gesamte gesellschaftliche Ordnung. »Sie ist nicht nur eine ökonomische oder ökologische, nicht ›nur‹ eine Krise der Politik oder des Care-Bereichs, sondern all diese Phänomene laufen zusammen und verschärfen sich gegenseitig.« (Fraser 2022, 42) Alex Demirović (2018, 31) definiert Vielfachkrise als »komplexe Einheit von vielen autonomen (oder besser gesagt: relativ autonomen) Krisendynamiken wie Flucht- und Migrationsprozessen, Klimawandel oder Demokratiekrise.« Sie »verknüpften und verschärften sich 2007/08 mit einer großen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise«, die die Schattenseite der neoliberalen Globalisierung ins allgemeine Bewusstsein hob. Mittlerweile haben wir eine veritable Krise des westlich-liberalen Modells mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien sowie bonapartistischer Regime (Beck/Stützle 2018) einerseits, dem Zerfall ehemals tragender Groß- oder Volksparteien im Mitte-Rechts- (Biebricher 2023) und Mitte-Links-Spektrum des politischen Systems andererseits, den Bedeutungsverlust linker Alternativen nicht zu vergessen. Mit dem Ukrainekrieg, dem Aufstieg Chinas zur zweitwichtigsten Wirtschaftsmacht und der wachsenden Bedeutung des Globalen Südens ist zudem der Kampf um eine neue, multipolare statt unipolarer Weltordnung entbrannt. Die Rede von Blockkonfrontation, von Decoupling, Derisking oder Friend-shoring (wirtschaftlicher Austausch mit politischen Freunden) gehört aktuell zum Standardrepertoire politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Strategiedebatten im Westen. Überhaupt drängt mit der Rede von einer »Zeitenwende« das Militärische bzw. die Bereitschaft, militärische Lösungen in den Umbrüchen der internationalen Ordnung in Betracht zu ziehen, in die Planspiele der Eliten und die (ver-)öffentlich(t)e Meinung.

4. Auf einen weiteren Typus von Krise, aktuell wie perspektivisch von zentraler Bedeutung, macht Klaus Dörre aufmerksam, wenn er im Kontext der Corona-Pandemie von einer »ökonomisch-ökologischen Zangenkrise« spricht. Gemeint ist,

»dass das wichtigste Mittel zur Überwindung von Stagnation, Arbeitslosigkeit und Armut sowie zur Pazifizierung von Klassenkonflikten im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum, unter Status-quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, ressourcen- und energieintensiv sowie auf fossiler Grundlage) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Der Zangengriff von Ökonomie und Ökologie markiert eine Krise, die ungelöst hinter der Corona-Pandemie lauert.« (Dörre 2020, 169; Hervorheb. i. Orig.)

Dieses »dahinter« versteht Dörre als »epochale Krise« (2021, 47). Sie ist anders dimensioniert als besagte große und kleine Krisen des Kapitalismus, auch wenn sie davon nicht losgelöst betrachtet werden kann. Sie verweist auf einen grundsätzlichen »Bruch in der menschlichen Zivilisation« (ebd.), den die einen als Folgeerscheinung eines neuen Erdzeitalters, des Anthropozäns, die anderen als fundamentale Krise des »Kapitalozäns« beurteilen – ein Begriff, der u.a. von Elmar Altvater gerne gebraucht wurde (Altvater 2018). Dörre bevorzugt den ersten Begriff: Anthropozän heißt,

»dass die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der Reproduktion außermenschlicher Natur geworden ist. Anthropozän heißt, dass die Menschheit ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören kann. Sie hat es aber auch in der Hand, einen Gesellschafts-Natur-Metabolismus zu etablieren, der das instrumentelle Verhältnis zu Naturressourcen und nichtmenschlichen Lebewesen überwindet« (ebd.).

Und das ist sicherlich eine Aufgabe, die auch unabhängig von den je spezifischen Strukturen einer Gesellschaftsformation notwendiger Bestandteil einer nachhaltigen Gesellschaft-Natur-Beziehung sein müsste (vgl. dazu neuerdings Fraser 2023). Gerade eine sozialistische Gesellschaft müsste sich einer solchen Aufgabe einer sozial-ökologischen Transformation stellen. Die epochale Krise kann »dann als überwunden betrachtet werden, wenn es gelungen ist, einen Natur-Gesellschafts-Metabolismus zu etablieren, der die Reproduktionsfähigkeit der Netzwerke menschlichen und außermenschlichen Lebens sicherstellt. Misslingt dies, drohen große Teile des Planeten unbewohnbar zu werden« (Dörre 2021, 47).

5. Ein letzter Punkt. Bekanntlich haben Krise und Kritik sprachlich dieselbe griechische Wurzel. Das Verb krínein bedeutet scheiden/unterscheiden, auswählen, erklären. Krisen sind also Entscheidungssituationen, Wendepunkte (vgl. Haug 2010, 2121). Die Richtung, die eingeschlagen wird, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie Krisen gedeutet und diskursiv verarbeitet werden. Sie sind also mit Konflikten und Antagonismen verbunden, in denen sowohl der herrschende Block an der Macht als auch gegenhegemoniale Kräfte um die Deutungshoheit ringen. In der Bearbeitung des sozial-ökologischen Transformationskonflikts im Rahmen der Vielfachkrise bilden sich nach Hendrik Sander (2023) neben einem grün-kapitalistischen Hegemonieprojekt (in verschiedenen Variationen) weitere Hegemonieprojekte (rechts-reaktionär, fossilistisch-konservativ, emanzipatorisch) heraus, die politisch zwischen den jeweiligen Machtblöcken umkämpft sind. Das grün-kapitalistische gibt sich liberal, technologieaffin, wachstumsorientiert, z.T. offen für staatskapitalistische Interventionen, setzt auf Wandel und Modernität. Eine öko-kapitalistische Modernisierung mit dem Leitbild eines grünen Kapitalismus verursacht jedoch neue sozial-ökologische Kosten und verlagert sie auf andere Akteure und Räume etwa im Globalen Süden (vgl. Brand/Wissen 2024). Die ökologische Krise wird im nationalen wie globalen Maßstab so nicht erfolgreich gelöst werden können, wie viele Kritiker:innen monieren (vgl. u.a. Tino Heim 2024 und in diesem Buch). Herausgefordert wird das Projekt eines grünen Kapitalismus zudem »von der Konvergenz eines radikalisierten Konservatismus mit der radikalen Rechten und einer aggressiven Verteidigung der fossilistischen Lebensweise, einschließlich harter Kulturkämpfe auf allen Ebenen« (Candeias 2023). Der Ausgang der diesjährigen Europawahlen mit einer Stärkung der rechten Kräfte und die Präsidentschaftswahlen in den USA mit einem möglichen Sieg der Republikaner sind in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung für die weitere Entwicklung.

Zu den Beiträgen[1]

1. Der Beitrag von Tino Heim verfolgt die Frage, warum die sich in gehäuften Temperaturrekorden, Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen zuspitzende Klimakatastrophe keine adäquaten politischen Gegenmaßnahmen motiviert. Die Ursachen der Klimakrise und des fortgesetzten Scheiterns klimapolitischer Ambitionen werden in grundlegenden Widersprüchen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sowie in den Wechselwirkungen multipler struktureller Antagonismen und Konfliktlagen verortet, welche für die kapitalistische Gesellschaftsformation bestimmend bleiben. Nach einer einleitenden Veranschaulichung solcher Antagonismen anhand der Paradoxien der jüngsten Weltklimakonferenz (1.), werden zunächst Befunde zu den Entwicklungen des Klimadiskurses, der Klimapolitik und der Klimakrise seit den 1970er Jahren zusammengefasst (2.). In einem Rückblick auf Marx werden einige basale Widersprüche kapitalistischer Naturverhältnisse und ihre gesellschaftlichen Konstellationen herausgearbeitet (3.). Gerade an jüngsten Bestrebungen um eine ›nachhaltige‹ Reorganisation der Wirtschaftsform lässt sich zeigen, dass diese Antagonismen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems nicht auflösbar sind. ›Grüner Kapitalismus‹ erweist sich stattdessen als neue Form der Reproduktion globaler Ausbeutungsstrukturen, in denen hegemoniale Staaten und Staatenbündnisse soziale und ökologische Folgelasten der Wirtschaftsweise in andere Weltregionen zu externalisieren suchen, wobei globale sozialökologische Krisendynamiken verschärft werden (4.). Die Zuspitzung der Klimakatastrophe folgt aus dem Zusammenspiel weiterer struktureller Antagonismen mit politischen Versuchen, diese Antagonismen auszugleichen. Gerade der politische Ausgleich sozialer und ökonomischer Antagonismen und Krisen führt dabei zur weiteren Verschärfung ökologischer Krisendynamiken (5.). Abschließend werden vor diesem Hintergrund Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen anderer gesellschaftlicher Naturverhältnisse diskutiert (6.).

2. Große Hoffnungen werden in Politik und Medien mit solutionistischen Lösungen – Stichworte: Digitalisierung, künstliche Intelligenz – in Verbindung gebracht. Der Beitrag des Tech-Kollektivs Capulcu argumentiert, dass seit der Erfindung der Dampfmaschine sich folgendes ›Technologieversprechen‹ hartnäckig hält: Technologische Innovationen sollen den Kapitalismus energie- und ressourcenschonender und damit trotz Expansion ›zukunftsfähig‹ machen. Keine Technologie konnte das Versprechen bislang einlösen: Jedes Mal entlarvte der Rebound-Effekt derartige Anleihen auf die Zukunft nachträglich als Illusion oder gar Lüge.

Die derzeitige technokratisch-grüne Erzählung setzt auf die Hoffnung, eine künstlich-intelligente Vernetzung unserer Umwelt möge ›uns‹ bei der zentralen Lösung des ›hochkomplexen‹ Klimaproblems leiten. Der Beitrag von Capulcu untersucht den materiellen Hintergrund künstlicher Intelligenz und legt nahe, dass die dazu benötigten Höchstleistungs-Rechenzentren aktuell zu einem der zentralen Treiber eines beschleunigten Klimawandels avancieren.

Die ökologische Zerstörung durch eine massiv ausgeweitete Computerchip-Produktion ist dabei eng verknüpft mit der Gefahr einer drohenden militärischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China – über die technologisch-ökonomisch entscheidende Frage: Wer hat zukünftig Zugriff auf die neue Weltordnungs-Ressource der Höchstleistungschips?

3. Im Zuge der ökologischen Krisendynamik, so Janina Puder in ihrem Beitrag, wächst der gesellschaftliche Druck, die globale Wirtschaft von ihrer Abhängigkeit von fossilen Ressourcen zu entkoppeln. Auf der Suche nach alternativen Energiequellen ist die Nachfrage nach bio-basierten, nachwachsenden Ressourcen in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen.

In diesem Kontext hat die südostasiatische Palmölindustrie (Indonesien, Malaysia) erheblich an Bedeutung gewonnen. Aufgrund seiner energetischen Eigenschaften eignet sich Palmöl im besonderen Maße zur Herstellung vermeintlich »nachhaltiger« Agrotreibstoffe. Dies hat zu einer massiven Expansion der Ölpalmkultivierung geführt. Infolgedessen hat sich ein regionales Akkumulationsregime herausgebildet, das einerseits auf dem Export von billigem Palmöl für den Weltmarkt und andererseits dem massiven »Import« von (trans-)regionaler Arbeit basiert. Die Ausdehnung der monokulturellen Ölpalmkultivierung führt dabei zu einer permanenten Grenzverschiebung zwischen Plantagenanbaugebieten und von (Primär-)Wald dominierten Zonen. Immer größere Teile komplexer Ökosysteme werden eingehegt und in riesige agroindustrielle Landschaften verwandelt. Gleichzeitig verstetigt die rasche Ausdehnung der Palmölindustrie Arbeitsverhältnisse, die im Wesentlichen durch die extreme Ausbeutung »gering qualifizierter« migrantischer Arbeiter:innen geprägt sind.

Aus Sicht des Kapitals kann Überausbeutung als eine Strategie verstanden werden, mittels derer zusätzlicher Mehrwert im Produktionsprozess appropriiert werden kann. Für die Arbeiter:innen manifestiert sich die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft u.a. in nicht-reproduktionssichernden Löhnen, einer permanenten Ausdehnung des Arbeitstages sowie Arbeitsbedingungen, die unweigerlich zu ihrer physischen (und psychischen) Erschöpfung führen.

Im Weiteren führt Puder aus, dass der Staat durch das vorherrschende Arbeitsmigrationsregime die Voraussetzungen für die Überausbeutung im Palmölsektor schafft. Die Segmentierung des Arbeitsmarktes, die Segregation von migrantischen Arbeiter:innen nach Staatsangehörigkeit, die Diskriminierung von Migrant:innen im Hinblick auf ihre (Selbst-)Organisierung und die Flexibilisierung der Arbeitsmigration disziplinieren und entwerten die Arbeitskraft der Arbeiter:innen und halten ihre Arbeitskraft für das Kapital billig und verfügbar – nichtsdestotrotz zeichnet sich auch eine zögerliche Formation von Widerstand ab.

4. Die Krise der sozialen Reproduktion ist seit der Corona-Pandemie mit Macht in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt: Der Pflegenotstand ist überdeutlich geworden. Christa Wichterich stellt in ihrem Beitrag die globale Dimension der Bearbeitung dieses Notstandes in den Mittelpunkt. Die Lösung für den beklagten Fachkräftemangel im Gesundheits- und Betreuungssektor sollen migrantische Pflegekräfte aus dem Globalen Süden und sogenannte transnationale Sorgeketten sein. Wichterichs Artikel will einen Beitrag leisten zur Analyse der Reproduktionskrise und der geographischen Lösungsstrategie durch eine neue internationale Arbeitsteilung der Care-Arbeit.

Dazu stellt der erste Teil dieses Beitrags die Zentralität sozialer Reproduktion und von Care-Arbeit für die feministische Theoriebildung dar. Der zweite Teil leistet eine Zeit- und Raumdiagnose der aktuellen Krise sozialer Reproduktion für den Praxisbereich der Kranken- und Altenpflege und von entsprechenden Global Care Chains. Dabei beleuchtet er die Rolle von Regierungen und Vermittlungsagenturen bei der Normalisierung des Sorgeextraktivismus und die Versuche, den Export-Import von Care-Arbeit zu regulieren. Der Sorgeextraktivismus kann als Pendant zu dem im vorhergehenden Beitrag analysierten Ressourcenextraktivismus betrachtet werden.

5. Mit dem Beitrag von Wolfgang Kastrup zur fortschreitenden Eskalation des Ukrainekrieges werden die im engeren Sinne politischen und militärischen Aspekte der Vielfachkrise in ihrer internationalen Dimension angesprochen. Durch den Überfall russischer Truppen auf die Ukraine hat sich ein »Weltordnungskrieg« entwickelt, der als »wesentlicher Katalysator einer neuen Weltordnung« (Ingar Solty) verstanden werden kann. Die Ausführungen gehen zuerst auf die Vorgeschichte dieses Krieges ein, denn ohne eine solche Betrachtung können die Gründe nicht verstanden und erklärt werden: der Euro-Maidan 2013/2014, die Frage nach einer Sezession oder Annexion der Krim, die Gründung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Bedeutung des Minsker Abkommens und der NATO-Osterweiterung. Analysiert wird dann im nächsten Schritt, welche Ursachen für die militärische Invasion Russlands ausschlaggebend waren und weshalb die Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber Russland nicht wie erhofft wirken. Innenpolitisch ist eine Konsequenz des Krieges, dass sich in Russland die politische Repression deutlich verschärft hat. Für die Ukraine hat der Krieg, der Tod, Leid und Zerstörung verursacht, den Charakter einer nationalen Selbstverteidigung und für die NATO, ohne die die Ukraine diesen Krieg überhaupt nicht führen könnte, den Charakter eines Stellvertreterkrieges. Alle drei Kriegsparteien, ergänzt auf Seiten des Westens noch durch die EU, tragen zur weiteren Eskalation des Krieges bei. Bezüglich der westlichen Kriegsallianz geht der Beitrag der Frage nach, weshalb sie die Ukraine so vehement militärisch, finanziell und humanitär unterstützt und welchen Nutzen sie sich dadurch erhofft.

6. Die internationale Ordnung befindet sich aber bereits seit Längerem, wie viele Stimmen sagen, in »Unordnung«, im »Zerfall«, nach Ansicht des US-Außenministers ist die Nachkriegsordnung sogar »tot«. Ohne Frage haben, so Uwe Hoering in seinem Beitrag, Chinas Aufstieg und selbstbewusste Forderung nach Mitsprache auf Augenhöhe einen erheblichen Anteil an dieser Situation, ebenso wie umgekehrt die Verteidiger der alten Ordnung, deren hegemoniale Position bedroht ist. An Stelle wechselseitiger Schuldzuweisungen, wer diese Situation hervorgerufen hat, analysiert der Beitrag fundamentale Veränderungen in der Globalisierung und daraus resultierende Veränderungen der geoökonomischen und -politischen Machtverhältnisse. Wenn die daraus entstandenen Konflikte nicht in Krieg, sondern in einer ›renovierten‹ neuen Ordnung vermittelt werden sollen, so die weitere Argumentation des Autors, müssen die entstandene Multipolarität und deren Interdependenzen, in denen das im Windschatten von China gestiegene Gewicht und Selbstbewusstsein des Globalen Südens eine zentrale Rolle spielen, anerkannt und in multilateralen Reformen beziehungsweise der Stärkung der Vereinten Nationen, von internationalem Recht und Institutionen umgesetzt werden.

7. Nach dem Ukrainekrieg hat sich der Nahe Osten seit dem terroristischen Angriff der Hamas zu einem weiteren Krisenherd entwickelt. Eine Ausweitung des kriegerischen Konflikts über Gaza hinaus (Libanon, Jemen, Iran) liegt im Bereich des Möglichen. Der Beitrag von Jobst Paul wendet sich in diesem Zusammenhang einer speziellen Thematik zu: Der Artikel soll einige Kontexte der israelischen Kriegführung im aktuellen Gaza-Krieg nachzeichnen. Dazu gehört zweifellos der US-War on Terror, in dem überkommene Prinzipien des Kriegsrechts umgangen wurden, allerdings mit Hilfe von militärethischen Legitimationen durch professionelle Philosophen. Eine zentrale Rolle spielte dabei – als Erneuerer des philosophischen Utilitarismus und als neoliberaler Dienstleister – die in den USA entstandene Praktische Ethik. Sie stellt auch den Bezug her zum Ethik-Kodex der israelischen Armee (IDF), der maßgeblich von Asa Kasher, einem Vertreter des neuen philosophischen Aufbruchs, formuliert wurde. Der Artikel verfolgt darüber hinaus die psychologische Umsetzung des ›philosophischen‹ Rahmens bei der Schaffung eines ›militärischen Subjekts‹ im Rahmen der IDF.

8. Die Vision einer multilaterialen Gestaltung einer neuen internationalen Ordnung, wie sie Uwe Hoering in seinem Beitrag anspricht, gehört sicherlich nicht zu den Anliegen der Alternative für Deutschland (AfD). Im Unterschied zu einigen anderen Parteien der autoritären Rechten in Europa steht sie nicht in Regierungsverantwortung. Gleichwohl sind ihre außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen in Bezug auf Europa und die multipolare Weltordnung von Interesse, insbesondere hinsichtlich des Agierens der AfD auf europäischer Bühne. Der Beitrag von Helmut Kellershohn zeichnet zunächst die Entwicklung der AfD-Programmatik bzgl. ihrer Haltung zur EU und zu Europa nach. Das jüngste Ansinnen der AfD, einen »Bund europäischer Nationen« ins Leben zu rufen, steht dabei im Mittelpunkt. Dass diese Idee auch mit einer Distanzierung von der NATO (ohne bislang den Austritt zu fordern) und einem antiamerikanischen ›Grundrauschen‹ gekoppelt ist, soll im Verlauf der Ausführungen deutlich werden. Im Anschluss konfrontiert der Beitrag die Idee des Bundes mit dem Konzept des Großraums, das zwar nicht im aktuellen Programm, wohl aber bei den radikalen Vordenkern der Partei und in ihrem »Rückraum« (Götz Kubitschek) perspektivisch als Weiterentwicklung des Programms propagiert wird. Die Berufung auf Carl Schmitts »Völkerrechtliche Großraumordnung« als Vorlage für eine neue multipolare Weltordnung verschärft die antiamerikanische Stoßrichtung (Stichwort: Interventionsverbot) und betont die hegemoniale Stellung Deutschlands in Europa (wahlweise auch: Mitteleuropa), die vermittels eines Arrangements mit Russland erreicht bzw. abgesichert werden soll. Eine davon abweichende, westlich orientierte und gegen Russland gerichtete Großraumversion offeriert die Junge Freiheit und unterstreicht damit den Kampf zweier Linien um die ideologisch-politische Ausrichtung der AfD auch in diesem Punkt.

9. Mit dem Aufstieg der AfD, sichtbar geworden bei den Landtagswahlen in 2023 in Hessen und Bayern und bereits überdeutlich mit den Umfrageergebnissen in Ostdeutschland, rückt die Krise des politischen Systems, die seit längerem als Krise der westlichen liberalen Demokratien auf den Aufstieg populistischer und autoritärer Bewegungen zurückgeführt wird, auch für Deutschland in den Bereich des öffentlichen Interesses. Sowohl die Arbeiten von Colin Crouch (2021), Craig Calhoun u.a. (2024) und Veith Selk (2023) sehen sie als Ausdruck einer tieferliegenden Problematik, die u.a. mit der Erosion der sozialen Grundlagen der Demokratie zu tun hat. Der Beitrag Peter Höhmanns befasst sich in diesem Zusammenhang speziell mit dem Abschneiden der AfD bei den hessischen Landtagswahlen. Im Zentrum stehen dabei die sehr unterschiedlichen Stimmenanteile, die diese Partei in den einzelnen Gebietsteilen des Bundeslandes erzielt hat. Höhmann interpretiert das Wahlergebnis auf Grundlage der von Anthony Giddens als Entbettung und Rückbettung bezeichneten Formen ungleichzeitiger Entwicklung. Hierfür werden längerfristig erkennbare Folgen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels als ein in ihrem Verlauf krisenhafter Entbettungsprozess dargestellt. Dieser gibt deutliche Unterschiede in der Entwicklung einzelner Regionen zu erkennen. In diesen Differenzen spiegeln sich zugleich die Zustimmungswerte, die die AfD jeweils erhalten hat. Besonders auffällig ist nicht nur der markante Stimmenzuwachs für diese Partei in den benachteiligten Randgebieten, sondern auch seine langfristige Stabilität, wie aus dem Vergleich mit dem Ergebnis der Reichstagswahlen des Jahres 1932 hervorgeht.

10. Die Krise der westlichen liberalen Demokratien ist auch eine Krise des politisch organisierten Konservatismus. Dafür stehen die Beispiele in Italien und Frankreich. Der Beitrag von Robert Tonks thematisiert die Entwicklung in Großbritannien. Seit dem EU-Referendum am 23. Juni 2016 kämpft Großbritannien mit den Folgen seines Ausscheidens aus der Europäischen Union am 31. Januar 2020. Der sogenannte Brexit spaltete die Nation – und tut dies bis heute – in leavers und remainers. Der vorliegende Artikel stellt die Entwicklung der vergangenen acht Jahre dar. Dabei wird die schleichende Verwandlung der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertretenen Postulate der Europäischen Idee am Beispiel der Wahlsprüche der letzten fünf aufeinander folgenden Premierminister*innen der Conservative Party zur Durchsetzung des Brexits beschrieben. Sie signalisieren einen zunehmenden Verlust der konservativen Hegemonie angesichts des Rechtsrucks in den eigenen Reihen und des Rechtsdrucks von außen (Reform UK) auf die Partei. Vor dem Hintergrund der jüngsten Wahlen werden mögliche gesellschaftliche Entwicklungen diskutiert.

11. Der abschließende Artikel von Sebastian Friedrich greift in einer historisch gerichteten Diskursanalyse ein systematisches Problem auf, wonach die Ware Arbeitskraft, von der Marx spricht, von ihren Besitzer:innen zwar gezwungermaßen, aufgrund ihrer persönlichen Freiheit von Produktionsmitteln, zum Arbeitsmarkt getragen wird, dies aber nicht ohne ein Mindestmaß von gesellschaftlich hergestellter Sinngebung und ideologischer Überzeugung gelingen kann. Friedrich diskutiert dieses Problem an einem scheinbar abseitigen historischen Phänomen: Junge Männer und Frauen mit langen Haaren, ausgefransten Hosen, barfuß oder in ausgelatschten Schuhen erregten in den 1960er-Jahren Aufsehen. Die »Gammler« – so das Etikett dieser Gruppe – saßen oder lagen an Orten wie der Gedächtniskirche in West-Berlin, an der Hauptwache in Frankfurt am Main, am Monopteros im Englischen Garten in München und schienen den ganzen Tag nichts zu tun. Sie galten als »die langsamste Jugendbewegung der Welt« (Der Spiegel) und wurden zum gesellschaftlichen Problem, etwa für den Sänger Freddy Quinn oder für Bundeskanzler Ludwig Erhard, der sich als »Anti-Gammler« (BILD) positionierte und mit Blick auf das Gammlerphänomen erklärte: »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um das zu zerstören.« Um die Auseinandersetzung um Gammler entwickelte sich ein Kulturkampf. Warum brach dieser Kulturkampf aus? Warum erschienen Gammler als Problem? Und was hat die Problematisierung der Gammler mit der Krise des Fordismus zu tun? Der Beitrag geht diesen Fragen nach, indem er den Diskurs über die »Gammler« zwischen 1965 und 1968 analysiert und die öffentliche Aufregung als Anzeichen einer Krise in der ideologischen Reproduktion von Lohnarbeit deutet. Friedrich spannt abschließend einen Bogen bis heute, um deutlich zu machen, dass der Gammler-Diskurs ein Lehrstück, ein Modell ist für die ideologischen Diskurse, in denen die mangelnde Bereitschaft potenzieller Lohnarbeiter:innen zur (Lohn-)Arbeit zum gesellschaftlichen Thema gemacht wird.

Literatur

Altvater, Elmar 2018: Kapitalozän. Der Kapitalismus schreibt Erdgeschichte. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/kapitalozaen/.

Beck, Martin / Stützle, Ingo (Hg.) 2018: Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen, Berlin: Dietz.

Biebricher, Thomas 2023: Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus, Berlin: Suhrkamp.

Brand, Ulrich / Wissen, Markus 2024: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven, München: oekom.

Calhoun, Craig / Gaonkar, Dilip P. / Taylor, Charles: Zerfallserscheinungen der Demokratie, Berlin: Suhrkamp.

Candeias, Mario 2023: Wir leben in keiner offenen Situation mehr. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/ (Abruf: 10.07.2024).

Crouch, Colin 2021: Postdemokratie revisited, Berlin: Suhrkamp.

Decker, Samuel 2022: Die Krise verändert ihr Gesicht, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/die-krise-veraendert-ihr-Gesicht (Abruf: 10.07.2024).

Demirović, Alex 2018: Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie, in: PROKLA 190, 27-42.

Dörre, Klaus 2020: Die Corona-Pandemie – eine Katastrophe mit Sprengkraft, in: Berliner Journal für Soziologie Bd. 30/2, 165-190.

Dörre, Klaus 2021: Kapitalismus, Natur und die Utopie eines nachhaltigen Sozialismus, in: Sozialismus H. 5, 45-51.

Fraser, Nancy 2022: Gegen den Kannibalismus des Kapitals, in: LuXemburg 3, 42-47.

Fraser, Lancy 2023: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin: Suhrkamp.

Haug, Frigga 2010: Art. »Krise«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Berlin: Argument, Bd. 7/II, 2121-2143.

Heim, Tino 2024: Der Klimawandel und die Grenzen normalistischer Notstandspolitik, in: kultuRRevolution Nr. 86, 20-25.

Heinrich, Michael 2017: Die Wissenschaft vom Wert, 7. erw. Aufl., Münster: Westfälisches Dampfboot.

Marx, Karl / Engels, Friedrich 1969 [1848]: Manifest der Kommunistischen Partei (= MEW 4), Berlin (DDR), 459-493.

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Sander, Hendrik 2023: Zum Potenzial eines grünen Kapitalismus. Sozial-ökologische Hegemonieprojekt in der Vielfachkrise, in: PROKLA 213, Nr. 4, 745-764.

Selk, Veith 2023: Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp.

Tino Heim

Die Klimakrise als Knotenpunkt multipler sozialökologischer Antagonismen

Zum Verhältnis von Ökonomie, Geopolitik und Ökologie im »Kapitalozän«

1. Offenkundige Paradoxien und strukturelle Widersprüche – Eine Einleitung mit Blick auf die Farce der Weltklimakonferenz 2023

Angesichts sich häufender Wetterextreme gilt die Klimakatastrophe in medialen Debatten vermehrt als drängendes globales Problem. Zu adäquaten Gegenmaßnahmen haben über 30 Jahre internationaler Klimapolitik jedoch nicht geführt und sie werden auch absehbar weiter ausbleiben (s.u. 2). Beides wird im Folgenden als Zuspitzung einer generellen Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse diskutiert, die in globalen Strukturantagonismen und Konfliktlagen des kapitalistischen Weltsystems angelegt sind (s.u. 3-5). Zur Analyse solcher Antagonismen ist etwas Begriffs- und Theoriearbeit erfordert; ihre Konturen zeigen sich aber zunehmend auch in offenkundigen Paradoxien grotesker Ereigniskonstellationen, welche etwa die 28. Weltklimakonferenz (COP 28) reichlich bot: Am 13.12.2023 wurde dort (nach mehrtägigen harten Kontroversen) doch noch ein als konsensuell ausgewiesenes Abschlussdokument abgenickt – auf das sich zumindest jene Delegierten einigten, die nach durchdiskutierter Nacht am Morgen nach dem offiziellen Konferenzende zum Abschlussplenum gerade anwesend waren. Konferenzpräsident Sultan Al-Dschaber – hauptamtlich Industrieminister und CEO des staatlichen Ölkonzerns der Vereinigten Arabischen Emirate – lobte das »historische Ergebnis«, für das sich das Plenum ausgiebig selbst applaudierte. Konkret war es der Minderheit ölfördernder Staaten gelungen, ein klares Bekenntnis zum Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas – das anfangs noch 130 der 196 teilnehmenden Staaten anstrebten – erneut zu verhindern. Die Kompromissformel des Abschlussdokuments »ersucht« die Staaten nurmehr, zur »Abkehr«, bzw. zum »Übergang weg von fossilen Energieträgern« nach eigenem Duktus beizutragen.[2] Statt konkrete Maßnahmen zum Erreichen der Klimaziele oder klare Vorgaben zur Reduktion des fossilen Energieverbrauchs festzulegen, wird ein ›Übergang‹ v.a. von technologischen Lösungen erhofft. Der Ausbau der Atomenergie sowie von Technologien der CO2-Abscheidung und Speicherung (CCS) gelten als dem Ausbau erneuerbarer Energien gleichwertige Pfade der ›Abkehr‹.[3] Energieintensive, technisch unausgereifte, ökologisch hoch umstrittene und zur Erreichung der Klimaziele unzureichende CCS-Technologien fungieren dabei als leicht durchschaubarer Vorwand, um den Ausstieg aus fossilen Energien zu vermeiden.[4] Der Klimawissenschaftler C.-F. Schleussner (2023) sprach von einer »Liste der Scheinlösungen«, die sich wie »ein ›Wünsch dir was‹ der fossilen Lobby« lese, was »wohl nötig« sei, »um die fossilen Länder mit an Bord zu holen.«

Zwei Tage zuvor führte der erste Textentwurf des COP-Präsidenten, der klimawissenschaftliche Befunde ignorierte und den Abschied von fossilen Energien nicht einmal als Denkoption andeutete, noch zu breiter Empörung. Klimaaktivist*innen sprachen von einer Auswahloption aus »toten Ratten« und es kursierte der Witz, Al-Dschaber habe ChatGPT die Aufgabe gestellt, Maximalforderungen der Öl-Lobby als Klimakonsens auszugeben. Der Umweltminister Samoas kommentierte für die Gruppe der Inselstaaten (AOSIS) klar: »Wir werden nicht unseren Totenschein unterschreiben« (zit. in: Erdmann/Kiel 2023) und auch die BRD wies den Entwurf als inakzeptabel und irreführend zurück. Dass die finale Erklärung wenigstens verbal Befunde der Klimaforschung anerkannte und Emissionssenkungen diffus anriet, galt so als enormer Verhandlungserfolg. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen genügte das, um den Beginn des »postfossilen Zeitalters« auszurufen. BRD-Außenministerin Baerbock äußerte »Freude«, dass die Welt nun »den Weg der Klimagerechtigkeit gemeinsam« gehe (zit. in: dpa et al. 2023). Ein Weg, der hier politisch erfreulich anstrengungslos und nahezu kostenneutral erschien. Denn »Klimagerechtigkeit« à la COP 28 braucht weder Veränderungen der Wirtschaftsweise in den für die Klimakatastrophe verantwortlichen Industriestaaten noch echte Emissionsreduktion, erst recht keinen Abbau globaler Reichtumsgefälle und Ausbeutungsstrukturen. Es genügt die magere Startfinanzierung von 792 Millionen US-Dollar für einen ›Loss-and-Damage-Fond‹, der ärmere Staaten bei der Bewältigung akuter Klimafolgeschäden unterstützt. Regierungsamtlich gilt das als »der große Durchbruch gleich zu Beginn der COP 28« (BMZ 2023, 2). Faktisch handelt es sich für die größten Geberstaaten (die BRD und die Vereinigten Emirate, die je 100 Millionen zusicherten) um einen Klimaablass zum Schnäppchenpreis.[5]

Abb. 1: Baerbock tröstet Delegierte der Marshallinseln zum Abschluss der COP28. Illustration in: dpa et al 2023.

Insofern erscheint die COP-28-Erklärung als musterhafter diplomatischer Kompromiss: Sie markiert hinreichend guten Veränderungswillen, damit weltwirtschaftlich und -politisch alles bleiben kann, wie es ist. Dem stehen jedoch nicht nur wissenschaftliche Befunde entgegen (s.u. 2.), sondern auch tränenreiche Stimmen der vom ›Weltklimakonsens‹ übergangenen und akut bedrohten AOSIS-Staaten, die den süßen PR-Brei zum Abschluss des Klimagipfels zu versalzen drohten. Eine Vertreterin Samoas erklärte sich kurz nach dem Beschluss »verwirrt darüber, was gerade passiert ist«. Der Konferenzpräsident habe den Entwurf rasch zu Beginn der Abschlusssitzung mit einem Hammerschlag besiegelt, obwohl die Inselstaaten noch vor dem Plenarraum ihre Position koordinierten. Um die rechtzeitige Einspruchsmöglichkeit gebracht, ließ sich nur post factum konstatieren, dass die nötige klimapolitische »Kurskorrektur nicht erreicht« wurde und »dieser Prozess uns betrogen hat« (zit. in: dpa et al. 2023). Symbolisch solidarisierten sich viele Delegierte durch Applaus. Am erzielten ›Konsens‹ änderte das nichts. Immerhin demonstrierte Annalena Baerbock, dass ›Klimagerechtigkeit‹ den deutschen Grünen nicht nur eine Hand voll Dollar, sondern noch mehr warme Worte und große Gesten wert ist. »We feel you and we see you« erklärte sie der AOSIS-Gruppe und lies sich beim Trostspenden an die Delegation der Marshallinseln ablichten (Abb. 1). Zugleich mahnte sie, den Beschluss als ersten Schritt am Beginn eines langen Weges nicht gering zu schätzen. Nach über 30 Jahren Klimapolitik ist dieser ›Beginn‹ eher ein Symptom für deren Totalversagen.

Maternalistische Gesten trösten jene, die mit den Füßen bereits im Wasser stehen, kaum. Der philippinischen Klimaexpertin Tetet Lauron galt Baerbocks Agieren als »sehr herablassend«. Wenn »Deutschland tatsächlich die Sorgen der Entwicklungsländer sieht, hört und spürt, dann würde es sich bei den Klimaverhandlungen anders verhalten.« Angesichts globaler Verwüstungen, die die Wachstumspolitik der BRD und anderer Industriestaaten weiter verursache – ob durch ausbleibende Emissionsreduktion oder durch den »verrückten Ansturm auf Rohstoffe für die Energiewende im Westen« – sei der gelobte Multilateralismus in der Klimapolitik nur ein neues Wort dafür, dass »Industrieländer und ihre Unternehmen kommen […], um unsere natürlichen Ressourcen auszubeuten. In meinem Land führt das zu viel Vertreibung.« Der ›Loss-and-Damage-Fond‹ gleiche »Brotkrümeln«, die man den Betroffen hinwerfe, um zu »erwarten, dass wir jubeln« (Lauron/Schönigh 2023). Während das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit phantasierte, der COP-28 habe »zum Vertrauensaufbau zwischen Europa und dem Globalen Süden« ganz »maßgeblich beigetragen« (BMZ 2023, 2), erlebten die ›Partner*innen‹ die Umarmungsgesten als Teil post- und neokolonialer Auspressungsstrategien.

Das blieben nicht die einzigen kritischen Worte zur COP-28-Erklärung. NGOs, Umweltverbände und Klimawissenschaftler*innen begrüßten sie pflichtschuldig als ›wichtiges Signal‹, um sie zugleich als praktisch völlig unzureichend zu kritisierten. Auch vor diesem absehbaren Ausgang bot die Konferenz viele Anlässe für Kritik (vgl. prägnant u.a. Buchter 2023). Da Klimagipfel den Anstieg der CO2-Emissionen seit 1992 nicht aufhalten, schien es eher als vermeidbarer Beitrag zur Emissionssteigerung, ca. 80.000 Teilnehmende zum unverbindlichen Plaudern in die Emirate einzufliegen (viele im besonders klimaschädlichen Privatjet). Ebenso lud die Personalie des Konferenzpräsidenten zu Kontroversen und Spott ein. Al-Dschaber bezweifelt Befunde der Klimawissenschaft und den Sinn des Ausstiegs aus fossilen Energien und die von ihm geführte Abu Dhabi National Oil Company will ihre Förderquote bis 2027 um 20 Prozent steigern. Den Klimagipfel suchte sie nebenbei zu nutzen, um neue Öl-Förderprojekte und internationale Kooperationen einzufädeln (vgl. Rowlatt 2023). Statt als Repräsentant einer Klimawende erschien der Präsident eher als Sprachrohr der OPEC.[6] Auch die Rekord-Präsenz 2.456 akkreditierter fossiler Lobbyist*innen drohte den Klimagipfel zur »Netzwerk-Plattform für Big Oil« (Buchter 2023) zu machen. Dazu passte ein Tagungsort, der wie kein anderer für ökologisch destruktive Reichtumsexzesse steht.[7] Der COP 28 erinnerte so an ein Treffen anonymer Alkoholiker*innen, die im Nachtclub zur Partytime Wege zur Abstinenz debattieren (vgl. Gongloff 2023), oder an eine »Gruppentherapie mit Dealer« (Stöcker 2023). Wie schon beim COP 27 in Scharm el-Scheich erschien all dies als pragmasymbolische Verdichtung globaler Hegemonieverhältnisse und Widersprüche der Weltklimapolitik.[8] Dass der COP 29 in Baku (Aserbaidschan) erneut in einer fossilen Autokratie stattfindet und das den COP 30 ausrichtende Brasilien jüngst der OPEC beitrat, lässt erwarten, dass auch kommende Klimagipfel primär die Produktion von »heißer Luft«[9] garantieren – politisch wie physikalisch.

All dies ereignet sich in einer Zeit, in der drastische Temperaturrekorde sowie kaum mehr beherrschbare Häufungen extremwetterbedingter Naturkatastrophen längst die Regel sind (s.u. 2). An fachwissenschaftlichem Wissen über die Ursachen und nötige Gegenmaßnahmen fehlt es dabei nicht. Ebensowenig fehlt es an mediopolitischem Bewusstsein über den unzureichenden Charakter der Klimapolitik oder am zivilgesellschaftlichen Handlungsdruck. All dies vertieft aber nur die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Wissen und dem politischen (Nicht-)Handeln. Das macht die in den jüngsten Weltklimakonferenzen offenkundigen Paradoxien, Widersprüche und Konfliktlagen umso erklärungsbedürftiger: Im Bewusstsein der eskalierenden Klimakatastrophe entscheidet sich die ›Weltgemeinschaft‹, die Koordination einer internationalen Klimapolitik vertrauensvoll in die Hände von Hauptverursachern der Katastrophe zu legen. Ein ›Klimakonsens‹ ist nur zu erzielen, wenn jene vor der Tür bleiben, die davon akut betroffen sind. Eine Mehrheit der Teilnehmenden strebt den Ausstieg aus fossilen Energien an, um einen entgegengesetzten, von Repräsentanten einer Minderheit vorformulierten ›Konsens‹ abzunicken.[10] All das ist Teil einer Wirtschafts- und Geopolitik, in der hegemoniale ›Vorreiter‹ der ›Klimawende‹ ihr Wachstum nur ergrünen lassen können, indem sie die entgrenzte Ausbeutung begrenzter Ressourcen in der globalen (Semi-)Peripherie weiter forcieren und post- und neokoloniale Ausbeutungsstrukturen vertiefen (s.u. 4). Es bleibt historisch abzuwarten, ob derart groteske Pfade der Weltklimapolitik noch zur überraschenden Auflösung der Widersprüche und Konfliktverwicklungen in der Form einer klassischen Komödie führen. Bisherige Entwicklungen lassen den tragischen Ausgang jedoch wahrscheinlicher erscheinen (s.u. 2). Dann gäbe es allerdings wohl keine Historiker*innen mehr, um die finalen Ergebnisse zu deuten. Derzeit kann eine sozialwissenschaftliche Reflexion nur bisherige Krisendynamiken und darin wirksame gesellschaftsstrukturellen Widerspruchs- und Konfliktkonstellationen etwas genauer aufschlüsseln und bestenfalls Seitenblicke auf alternative Möglichkeiten eröffnen.

Dazu werden im Folgenden zunächst Befunde zu den Entwicklungen der Klimakatastrophe, der Klimadebatte und der Klimapolitik zusammengefasst (2.), um dann (in einem Rückblick auf Marx’ Analysen) einige basale Widersprüche kapitalistischer Naturverhältnisse zu bestimmen (3.). Jüngste Bestrebungen einer ›nachhaltigen‹ Reorganisation des Kapitalismus lösen diese Antagonismen nicht auf. Grüner Kapitalismus erweist sich stattdessen als neue Form der Reproduktion globaler Ausbeutungsstrukturen, in denen hegemoniale Staaten und Staatenbündnisse sozial und ökologisch katastrophale Folgelasten ihrer Wirtschaftsweise verstärkt in andere Weltregionen externalisieren (4.). Die Zuspitzung der Klimakatastrophe resultiert dabei nicht aus einem individualisierbaren Versagen einzelner Politiker*innen oder Gruppen, sondern aus dem Zusammenspiel weiterer struktureller Widerspruchskonstellationen (5.). Abschließend stellt sich die Frage nach Möglichkeitsbedingungen anderer gesellschaftlicher Naturverhältnisse, deren Verwirklichung gegenwärtig blockiert (und insofern utopisch) scheint, für die es aber durchaus realistische Ansatzpunkte gibt (6.).

2. Von abwendbaren Risiken des Klimawandels zum Notstand der Klimakatastrophe – Eine Bilanz nach über 30 Jahren Klimadebatte und Klimapolitik

Befunde zu Klimawandel und Artensterben führten bereits 1992 zur von 1.700 Wissenschaftler*innen (darunter 104 Nobelpreisträger*innen) unterzeichneten World Scientists’ Warning to Humanity: »[M]any of our current practices put at serious risk the future […]. Fundamental changes are urgent if we are to avoid the collision our present course will bring about.«[11] Obwohl 1992 mit der Konferenz von Rio auch den Beginn internationaler Klimapolitik markiert, teilt dieser Warnruf das Schicksal realpolitisch Folgenlosigkeit mit anderen wissenschaftlichen Interventionen, die (wie zwei Dekaden zuvor der Club of Rome) vor »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) warnten. Medial wurden Prognosen der Klimaforschung durchaus rezipiert und oft zu spektakulären, marktgängigen Schreckensszenarien ausgewalzt. Ein Temperaturanstieg von 1,5 – 3°C binnen 100 Jahren galt dabei bereits 1979 als relativ sicher und ließ den »Klimaschock«, ja eine »Klimakatastrophe« als Folge der Treibhausgasemissionen fürchten (vgl. u.a. Günther 1979). Gleichwohl wurden die Szenarien den »abenteuerlichsten Theorien« über eine ferne Zukunft zugeordnet, da es einfache »technische Lösungen« gäbe. CCS-Phantasmen der COP 28 44 Jahre vorwegnehmend, sollte z.B. ein gigantischer fossiler Kraftwerkskomplex an der Straße von Gibraltar das ganze zur Energieversorgung Südeuropas anfallende CO2 direkt auf den Meeresboden pumpen: Als Kohlensäure gebunden, werde es vom Tiefenstrom »in die atlantische Tiefsee transportiert und dort gefahrlos endgelagert« (ebd.).

Abb. 2: Spiegel-Cover: Die Klimakatastrophe. Titel des Spiegel 33/1986.

Da CCS-Träume sich schon damals nicht erfüllten, galt der Klimawandel um 1985 zunehmend als ernste, (noch) nicht zu beherrschende Gefahr. Spektakulär überzogene kollektivsymbolische Visualisierungen des Anstiegs der Meeresspiegel (vgl. Abb. 2) ließen sich aber leicht als Panikmache abtun. Das schlug auch auf (heute bestätigte) Langzeitprognosen zurück, die Erwärmung werde »Ackerland verwüsten, Klimazonen unkalkulierbar verschieben und das Artensterben dramatisch beschleunigen« oder »Völkerwanderungen von Ökoflüchtlingen« auslösen, da sie Existenzgrundlagen zerstört und Ressourcenkonflikte »zu Kriegen eskalieren« (Klingholz 1988). Da der ›Testfall‹ für solche Kassandrarufe noch weit entfernt schien, genügten Seitenhiebe auf »notorische Schwierigkeiten« von Wettervorhersagen, um »fundamentale Zweifel« an allen Rechenmodellen zum »Klimakollaps« zu äußern: Eine »weiter rasch steigende Zunahme des Kohlendioxidgehalts der Erdatmosphäre« sei »fraglich« und der bisherige Anstieg habe das Weltklima kaum verändert. Die »Drohung mit der Welt-Klimakatastrophe« durch »Gänsehaut erregende« Modelle dürfte sich als »Computer-Frühgeburt« erweisen. Da für Treibhauseffekte in der »Jetztzeit« jeder »schlüssige Beweis« fehle, sei politischer Aktionismus jedenfalls unangebracht. Falls die Prognosen doch zuträfen, ließe sich später noch handeln (Steinert 1988).

Weltklimaberichte mit stetig verbesserter Datenbasis entzogen den Grundsatzzweifeln die Plausibilität – obwohl professionelle »Merchants of Doubt« sie weiter streuen (vgl. Oreskes/Conway 2010; Oreskes 2023). 2006 waren der Klimawandel und seine gesellschaftlichen Ursachen kaum mehr zu leugnen. Jedoch erlaubte eine neue »entscheidende Frage« die Verschiebung des Problems: »Wie hoch ist die Schwelle zur Katastrophe? Wir wissen es noch nicht«, es werde sich erst in 20 Jahren zeigen. Vorerst ließ sich daher überzogener ›Aktionismus‹ zurückweisen, um auf die erneut angekündigte technologische Lösung zu vertrauen: »Saubere Energietechnik« (»Kohlendioxid-Sequestrierung, Wasserstofftechnik und neue Biotreibstoffe«) stehe bereit und staatliche Investitionen würden ihren Durchbruch beschleunigen. Ohnehin verbrauche die »Informations-, Kommunikations- und Biotechnologie«, die »das Wirtschaftswachstum von heute« antreibe, kaum Ressourcen, sei also »für Umwelt und Gesellschaft gut verträglich«. 2007 übernehme zudem der Klimavorreiter BRD die EU- und die G8-Präsidentschaft und werde in »dieser starken Position« einen »Konsens in Sachen Klimaschutz« (Hürter/Rees 2006) vermitteln. Leider lag der Konsens v.a. in unverbindlichen Absichtserklärungen, im Verfehlen aller Klimaziele, in der Externalisierung von Verantwortung sowie im Schönen von Statistiken. Biofuels erwiesen sich v.a. als Treibstoff eines neuen Landgrabbing, das (neben gravierenden sozioökonomischen Folgen in den Zielländern) auch den Klimawandel und die Vernichtung von Biodiversität anheizt (s.u. 4). Reale Informationstechnologien durchkreuzten die Milchbuben-Rechnung virtuell=physisch-folgenlos=grüner Wachstumsmotor. Der Energie- und Ressourcenaufwand – für die Produktion immer neuer Endgeräte in beschleunigten Obsoleszenz-Zyklen und für Infrastrukturen des globalen Datenverkehrs – machte sie zu einem Hauptfaktor steigender Emissionen. Der Glaube an den (wie schon 1979) kurz bevorstehende CCS-Durchbruch ist längst als billige Strategie decouvriert, um Emissionsreduktionen zu vermeiden.

Ähnlich wie die skizierte mediopolitische Debattenlage blieb auch die Weltklimapolitik (trotz wachsendem Gefahren- und Problembewusstsein) fortgesetzt von sich ablösenden Strategien der Verleugnung des unmittelbaren Handlungsdrucks, der Verschiebung von Verantwortlichkeiten und der Vertagung der Umsetzung von Maßnahmen geprägt. Dabei zeigten die Weltklimakonferenzen auf den Ebenen der Beschlüsse und der Textproduktion anfangs durchaus Fortschritte. Bereits im Gefolge der Konferenz von Rio (1992) wurden in der Agenda 21 und der Klimarahmenkonvention alle (bis heute zentralen und stets verfehlten) klimapolitischen Ziele verankert – inklusive des Ausgleichs des Nord-Süd-Gefälles und klimapolitischer Generationengerechtigkeit. Nur rückte das Erreichen der Ziele seither in immer weitere Ferne. Schon 1997 verhandelte die Kyoto-Konferenz relativ konkrete Ziele und Maßnahmen zur Emissionsreduktion, welche im Pariser Klimaabkommen 2015 im Hinblick auf das 1,5- bzw. 2°C-Ziel eine Bekräftigung und Präzisierung erfuhren. Nur wurden die Maßnahmen kaum umgesetzt und bislang alle Klimaziele verfehlt. Das liegt nicht nur am Fehlen ›politischen Willens‹. Wie zu zeigen ist, kollidieren die Klimaziele und -maßnahmen vielmehr mit systemimmanenten Zwängen der kapitalistischen Wirtschaftsweise und den Strukturvorgaben und Konkurrenzzwängen des kapitalistischen Weltsystems. In den gegebenen Systemparameter sind auch ernsthafte nationale Klimaambitionen daher zum Scheitern verurteilt oder haben Effekte, die den Zielen zuwiderlaufen (s.u. 4-5). Zudem errichten weltwirtschaftliche und geopolitische Friktionen und Krisen stets neue Hindernisse und führen zu immer neuen Rückschlägen klimapolitischer Prozesse, für die im je aktuellen Notstand stets die Zeit und das Geld fehlen.

Die Realgeschichte internationaler Klimapolitik erweist sich so als Geschichte immer ambitionierter Anläufe, die in weltwirtschaftlichen und geopolitischen Realitäten zerrieben oder ad absurdum geführt werden.[12] Ein Rückblick auf dieses Zusammenspiel kommt zum Fazit: »Immer war was anderes«; Klimapolitik wurde stets »anderen Prioritäten« geopfert (Loske 2022).[13] In über 30 Jahren internationaler Klimapolitik stieg der jährliche globale CO2 Ausstoß so von ca. 22 Gigatonnen (1992) auf über 37 Gigatonnen (2023). (Abb. 3) Dabei erfassen die offiziellen Zahlen der IPCC-Berichte reale Emissionen nur teilweise. So setzten die USA in den Kyoto-Verhandlungen (1997) durch, dass militärische Emissionen stehender Heere und operativer Einsätze von der Angabepflicht in nationalen Klimaberichten (aus Gründen von Geheimhaltung und nationaler Sicherheit) ausgenommen sind. Schätzungen des CO2-Stiefelabdrucks des globalen Militärs gehen von 1,64–3,48 Gigatonnen jährlich aus (die Folgeemissionen von Kriegen nicht einbezogen). Wäre das globale Militär ein Staat, stünde es auf Rang 4 der größten CO2 Emittenten (vgl. Parkinson/Cottrell 2022). Weitere hier nicht einbezogene Emissionen werden infolge des Klimawandels selbst freigesetzt.[14]

Abb. 3: Entwicklung des jährlichen energiebedingten globalen CO2 Ausstoß von 1900 bis 2023 [Grafik online unter: https://nachhaltigwirtschaften.at/de/iea/publikationen/CO2-emissionen-weltweit-2023.php]

Nationale statistische Erfolge vermeintlicher ›Vorreiter‹ der Emissionsreduktion fallen dagegen global kaum ins Gewicht und sind zudem Mogelpackungen. Statistisch reduzierte z.B. die BRD ihre Jahresemissionen seit 1990 zwar um ca. 30%, parallel wuchsen aber die Emissionen Chinas um 316%. Die Anprangerung Chinas als größter »Klimasünder« (vgl. Yang 2023) verdeckt, dass deutsche ›Klimaerfolge‹ auf der Auslagerung energieintensiver Extraktions- und Produktionsschritte basieren. Große Teile der Emissionsanstiege in China oder Indien fallen zur Produktion von Konsum- und Produktionsgütern für EU-Staaten an, die gleich mehrfach die Hauptprofiteure des globalen Emissionstransfer (Abb. 4) sind – sinkende Produktionskosten und erhöhte Profitmargen verbinden sich mit dem ökomoralischen Gratisbonus relativ vorbildlicher Klimabilanzen. Daher blockieren EU-Staaten bei Klimaverhandlungen jede Anrechnung der in globalen Handelsketten entstehenden Emissionen nach Konsum- oder Gewinnindikatoren.

Abb. 4: Netto-Transfer von CO2-Emissionen für Konsumgüter: Die Pfeile zeigen die 16 größten Transfers (in Millionen Tonnen CO2 p.A.). Nach: Global Carbon Project 2022.

Statistische Taschenspielertricks und das Schwarzer-Peter-Spiel der Verantwortungsabwälzung (ein Hauptinhalt der Klimagipfel), stoppen den Klimawandel jedoch nicht, und seine Staatsgrenzen ignorierenden Auswirkungen sind immer alarmierender. So war der 6.7.2023 nicht nur (einmal mehr) der heißeste Tag seit Beginn der Aufzeichnungen (und wohl der letzten 100.000 Jahre), die globale Durchschnittstemperatur lag seit Februar 2023 erstmals 16 Monate in Folge um mehr als 1,5°C über dem vorindustriellen Vergleichszeitraum. Die symbolische 1,5°C Marke, auf die das Pariser Abkommen die Erwärmung bis 2100 begrenzen sollte, ist zwar noch nicht überschritten, da damit der 20jährige Mittelwert gemeint ist,[15] laut IPCC (2023) wird auch dieser aber bald 1,5°C erreichen. Jüngste Anstiege hitzebedingter Todesfälle und die weltweite Welle von Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen sind nur ein Vorgeschmack.[16]

Solche Befunde und Erfahrungen führen im mediopolitischen Interdiskurs zu einer schärferen Tonlage: Die »Klimakatastrophe« figuriert nicht mehr als Prognose einer Zukunft jenseits der eigenen Lebensspanne, sondern als akute Gegenwartsdiagnose. Das zeigt auch eine neue Wortprägung: Der »Klimanotstand«, von dem etwa die ZEIT erstmals 2019 sprach, als das britische und das irische Parlament den »Climate Emergency« erklärten. An dieses »wichtige Signal« knüpfte sich die Forderung: »Alle Regierungen müssen den Notstand nicht nur erkennen – sie müssen auch ernsthafte Maßnahmen ergreifen.« (Tubiana 2019). In der Folge wurde der (offenbar plausible) Begriff u.a. in Berichten zur Letzten Generation oder zu je aktuellen Katastrophenmeldungen gehäuft genutzt. Er findet sich aber auch in Reflexionen auf ein verändertes Verständnis der Mensch-Naturverhältnisse: Durch den sichtbaren »Klimanotstand« seien »Menschen allerorten aufgewacht«; der Traum von der Herrschaft über die Natur weiche dem Bewusstsein, deren zugleich abhängiger und verantwortlicher Teil zu sein. Damit könne auch »die schnelle Wende« gelingen »wenn sich die praktischen Veränderungen und ein neues Bewusstsein über das, was der Mensch ist und soll, gegenseitig verstärken«. (Heuser 2023)

Die reale Klimapolitik und ihre schwindenden Spielräume enttäuschen solche Hoffnungen, weshalb wissenschaftliche Einordnungen und Einmischungen die Notstandsdiagnose umso dringlicher unterstreichen. Wollte die World Scientists’ Warning 1992 noch das »ernsthafte Risiko« der Zerstörung von Lebensgrundlagen abwenden, sprach der erste Bericht jener Wissenschaftler*innen, die das Konzept der Scientists’ Warning 2019 (mit inzwischen über 15.000 Unterzeichnenden) wieder aufgriffen, klar vom »Climate Emergency« (Ripple et al. 2020), also von einem akuten Notstand, den auch sofortige Gegenmaßnahmen nicht mehr abwenden, sondern nur mehr in seiner Ausprägung abmildern können (vgl. ebd., 11f.). Noch klarer figuriert der Notstand im Folgebericht als prägendes Moment der Gegenwart: »We are now at ›code red‹ on planet Earth. Humanity is unequivocally facing a climate emergency.« (Ripple et al. 2022, 1149) 2023 wird die ›Alarmstufe Rot‹ von einer Formulierung abgelöst, die die Zeit, um eine Katastrophe abzuwenden, als endgültig abgelaufen ausweist und erhöhte Unsicherheitsmargen wissenschaftlicher Prognosen angesichts der Eigendynamiken des Klimawandels betont:

»Life on planet Earth is under siege. We are now in an uncharted territory. For several decades, scientists have consistently warned of a future marked by extreme climatic conditions […]. Unfortunately, time is up. We are seeing the manifestation of those predictions as an alarming and unprecedented succession of climate records are broken, causing profoundly distressing scenes of suffering to unfold. We are entering an unfamiliar domain regarding our climate crisis […].« (Ripple et al. 2023, 841)

Dies verdeutlicht eine zentrale Konsequenz der dargestellten Befunde: Die gravierende Zunahme von Wetterextremen und Katastrophen spricht für eine fachwissenschaftlich zuvor als unwahrscheinlich erachtete rapide Beschleunigung der Destabilisierung des Weltklimas. Durch selbstverstärkende Rückkopplungsschleifen (z.B. bei der Freisetzung von in Permafrostböden und Feuchtflächen gebundenen Treibhausgasen) dürften Kipppunkte der Klima- und Ökosysteme weit früher erreicht sein als befürchtet (vgl. ebd., 841ff.; McKay et al.2022). Akkumulierte Veränderungen verschiedener Systemvariablen lösen hier Eigendynamiken mit unkalkulierbaren Verlaufsformen und Konsequenzen aus, was zum Kollaps oder zur Austarierung neuer Systeme mit grundsätzlich anderen Gleichgewichten führt. Die Klimanische, die menschliches Leben ermöglicht, ist dadurch in vielen Regionen akut gefährdet (vgl. Xu et al. 2020). Zugleich ist der Klimawandel ein Hauptfaktor des Artensterbens (Abb. 5), das zum Kollaps ganzer Ökosysteme führen kann und (z.B. durch das Aussterben von Bestäubern) auch die Agrarwirtschaft gefährdet. Das Artensterben wirkt wiederum auf das Klima zurück. So zerstört das Korallensterben infolge der Erwärmung der Meere nicht nur ökologische Nischen vieler maritimer Arten, sondern auch wichtige CO2-Senken. Da gesellschaftliche Systeme eng mit Klima- und Ökosystemen gekoppelt sind, bergen Extreme ökologische Veränderungen hohe Risken des Zusammenbruchs bisheriger sozioökonomischer Systeme. (Vgl. Ripple et al. 2023, 848f.)

Abb. 5: Klimawandel als Faktor des Artensterbens. Grafik in: Fischer et al. 2023.

Auch der IPCC-Synthesebericht (2023), der in den von UN-Mitgliedsstaaten mitverhandelten Formulierungen kaum zur Dramatisierung und eher zum ›Weichspülen‹ tendiert,[17] vermittelt bezüglich der Faktenlage das Bild einer kaum mehr abwendbaren Katastrophe: Da bereits freigesetzte Treibhausgase schon in den 2030er Jahren zur Überschreiten der 1,5°C-Marke führen, könnten nur sofortige drastische Emissionssenkungen – bis 2030 um 43%, bis 2035 um 60% (verglichen mit 2019), Netto-Null-Emissionen bis 2050 – den Temperaturanstieg noch bei ca. 1,6 Grad stabilisieren. Um bis 2100 1,5°C wieder zu unterschreiten, wäre ab 2050 eine Netto-Negativ-Bilanz nötig, bei der mehr CO2 gebunden als emittiert wird. Auf dem Pfad aktueller Klimapolitik ist das unerreichbar. Eine Erwärmung um 2,8°C ist selbst dann absehbar, wenn alle Staaten ihre (stets verfehlten) Reduktionsziele künftig einhielten. Dafür fehlen aber plausible Umsetzungspläne. Die Fortsetzung der bisherigen Klimapolitik läuft auf eine Erwärmung über 3,2°C hinaus. Wir steuern auf eine Welt zu, in der große Regionen unbewohnbar und basale Existenzgrundlagen prekär sind, was ein Drittel bis die Hälfte der Weltbevölkerung besonders akut betreffen wird (vgl. Lenton et al. 2023) – v.a. instabile Staaten des ›globalen Südens‹, die kaum Kompensations- und Anpassungsleistungen erbringen können (siehe Abb. 6). Wassermangel, Ernteeinbrüche, Naturkatastrophen etc. würden aber auch in Europa zum ›New Normal‹. Das Zeitfenster, um diese Ausprägungen einzudämmen, schließt sich rapide. Die Entscheidungen lassen sich laut IPCC nicht mehr vertagen, sie fallen im laufenden Jahrzehnt.

Verbal nimmt die COP-28-Abschlusserklärung all dies zur Notiz und erkennt an,[18] dass zum Erreichen der Pariser Ziele der Emissionsanstieg ab 2025 in eine rasch fallende Kurve (gemäß den IPCC-Richtwerten) übergehen müsste (vgl. UNFCCC 2023, 5). Wie dies in nur 2 Jahren zu erreichen ist, wenn die Beschlüsse zugleich zur weiteren Emissionssteigerung einladen,[19] bleibt unbeantwortet. Das ist symptomatisch für wachsende Widersprüche der klimapolitischen Praxis zu wissenschaftlichen Diagnosen und mediopolitisch debattierten Notwendigkeiten. Exemplarisch konstatiert ein Kommentar zum Klimastreiktag (ein Aktionstag ohne Streik) im September 2023 hier eine Kluft zwischen Wissen und politischen (Nicht-)Handeln: Obwohl die »Botschaft vom Klimanotstand« dringlich bleibe, büße die Klimabewegung ihre Mobilisierungskraft und ihr transformatorisches Potential ein und münde in verschiedene Ausdrucksformen »wachsende[r] Verzweiflung«. Eine die »Bekömmlichkeit für die Mehrheitsgesellschaft« fördernde »Rückverbürgerlichung« (Fridays for Future) laufe dabei ebenso ins Leere, wie subversive Aktionen, die zur »Dringlichkeitsbotschaft« passen, aber »jede Mehrheitsfähigkeit einbüßen« (Letzte Generation). Beides ändere nichts am »ökologischen Verrat« der Politik an all jenen, die das Jahr 2070 noch erleben könnten. Namentlich die Ampel-Regierung habe sich »auf allen Feldern der Ökologie« zu wenig vorgenommen, »um die Ziele von Paris (Klima) und von Montreal (Artensterben) auch nur annähernd einzuhalten«, um davon noch weniger umzusetzen. Statt das »düstere Momentum« des Katastrophensommers für ein »ökologisches Sofortprogramm« zu nutzen, werde der akute Notstand »regierungsamtlich dethematisiert«, um (nach dem Desaster um das Gebäudeenergiegesetz) »jedwede spürbare Ökologiepolitik einzustellen«. Angesichts einer Katastrophe, die »keinerlei Resonanz in der Politik« finde, sei die »eigentliche Demonstration« nicht der Klimastreik, sondern die »düstere Demonstration seitens der Regierung, ein Schweigemarsch für das illusionäre Weiter-so.« (Ulrich 2023)

Abb. 6: Globale Unterschiede der Verletzbarkeit durch den Klimawandel (nach Ripple et al. 2023, 847)

Das »Mißverhältnis« von Klimawissenschaft und -politik war schon 35 Jahre zuvor deutlich: Die enorme »intellektuelle Fähigkeit, mit gewaltigen Computern unseren eigenen Untergang zu simulieren« und Ideen zu entwickeln, wie sich »einer Klimakatastrophe begegnen« ließe, sei begleitet von fehlender »Vernunft, nach den eigenen Erkenntnissen zu handeln«. Das sei wohl »der evolutionäre Nachteil der Spezies Homo sapiens«, die (»darwinistisch« gesehen) »keine Überlebenschance« habe. »Es sei denn, sie lernt aus ihren Fehlern.« (Klingholz 1988) Dass der Weg »[s]ehenden Auges in die Katastrophe« (ebd.) seither geradlinig weiter beschritten wurde, könnte Zweifel an der Lernfähigkeit wecken. Allerdings fügte sich die Spezies vor dem Anbruch des ›Kapitalozäns‹ ohne vergleichbare globale Zerstörungen in ihre ökologische Nische ein. Insofern ist fraglich, ob es hier wirklich um ein Gattungsmerkmal geht oder nicht eher um historische Formen des gesellschaftlichen Lebens. Das stellt zugleich Prämissen bisheriger Klimapolitik in Frage, die auf dem Glauben beruht, die Klimakrise ließe sich (nur) innerhalb der Parameter des kapitalistischen Weltsystems bewältigen, dessen ökologische Antagonismen ebenso ›gemanagt‹ werden könnten, wie die sozialen Antagonismen, deren Sprengkraft dank staatlicher Regulation (zumindest im ›globalen Norden‹) zeitweise entschärft schien. Demgegenüber eröffnen Marx Bestimmungen der Antagonismen gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Kapitalismus ganz andere Analysemöglichkeiten und Handlungsoptionen.

3. Antagonistische Naturverhältnisse: Zur Unvereinbarkeit der Kapitalakkumulation mit sozial-ökologischen Reproduktionszyklen nach Marx

Reflexionen über die Spezifika historisch unterscheidbarer gesellschaftlicher Naturverhältnisse durchziehen das Werk von Marx von den Frühschriften bis zur Arbeit am Kapital. Dabei steht schon der Begriff in Kontrast zu den Dualismen, die die moderne Philosophie sowie die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften prägen. ›Mensch‹, ›Gesellschaft‹ oder ›Ökonomie‹ werden dort meist einer ihnen äußerlich scheinenden ›Natur‹ entgegensetzt, die allenfalls in Gestalt ›exogener Umweltfaktoren‹ und ›-kosten‹ in Betracht kommt. Demgegenüber sieht Marx jede Form gesellschaftlicher Existenz in unauflösbaren Wechselverhältnissen mit der Natur und ihren Reproduktionszyklen verwoben.[20]Alle Formen von Produktion und Konsum müssen sich im »Reich der Naturkräfte« vollziehen und können »nur die Formen der Stoffe ändern« (MEW 23, 57f.). Was immer sich eine Gesellschaftsformation über sich selbst und die Natur einbildet, bleibt sie doch von der Natur abhängig, die das »Arsenal aller Arbeitsgegenstände« (MEW 25, 833), die »Basis des Gemeinwesens.« (MEW 42, 384) und »Quelle aller Produktion und allen Daseins« (MEW 13, 637) ist.[21] Daher setzen natürliche Reproduktionszyklen auch gesellschaftlichen Produktionsprozessen Grenzen, die nicht beliebig zu überschreiten und nicht folgenlos zu ignorieren sind. Natur und Gesellschaft sind hier Momente einer prozessualen Einheit, auch wenn sie sich in den historischen Verhältnissen in äußeren Gegensätzen bewegen.[22]

»Gesellschaft« ist daher nichts anderes als »das Ganze dieser Beziehungen, worin sich die Träger« einer Produktionsweise »zur Natur und zueinander befinden« (MEW 25, 826f.). Konkrete Gesellschaften sind »wesentlich darüber zu verstehen, wie sie ihr Verhältnis zur Natur jeweils konkret gestalten« (Görg 2004, 201). Da hier alle ökonomischen und sozialen Strukturen und alle Momente gesellschaftlicher (Re-)Produktion in ihrem Verhältnis mit der Natur zu betrachten sind, stellen sich Ökologieprobleme grundsätzlicher als in auf partielle Risikokalküle oder die sekundäre Kompensation von Naturzerstörungen reduzierten Umweltpolitiken dar.[23] Obwohl jede Produktion »Aneignung der Natur […] innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform« (MEW 42, 23) ist, gibt es grundlegende historische Differenzen der Formen, in der sich eine Gesellschaft zu ihren »natürlichen Existenzbedingungen«, also zu dem zu ihr »selbst gehörige[n], unorganische[n] Leib verhält« (ebd., 398). Kapitalistische Formen erweisen sich als besonders destruktiv, da sie gesellschaftliche Bedürfnisse und Produktivkräfte in einer Form steigern, deren interne Rationalität sich auf den Stoffwechsel mit der Natur und auf die Verteilung und Nutzung des stofflichen Reichtums zunehmend irrational auswirkt. Ein Antagonismus ergibt sich hier schon aus dem Basisprinzip der Kapitalakkumulation, bei dem die Verwertung eines monetären Werts zur Produktion von mehr monetären Wert endloses monetäres Wachstum zum systemimmanenten Zwang macht, dem alle gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen untergeordnet sind. Der für die kapitalistische Produktionsweise konstitutive Gesamtkreislauf des Kapitals ist dabei in Form eines Flussdiagramms darstellbar (vgl. MEW 24, 56):

x

Geld [G] wird in die Waren [W] Arbeitskraft [A] und Produktionsmittel [Pm] investiert, durch deren Anwendung im Produktionsprozess [P] mehr Waren [W‘] produziert werden. Deren Verkauf erzielt einen über G hinausgehender Geldwert [G’] (inklusive eines Mehrwerts [g]). Das vermehrte G’ wird als neue Geldinvestition [G] Ausgangspunkt eines neuen Zyklus, auf gegenüber dem vorherigen Zyklus höherem Niveau, in dem mit mehr Arbeitskraft und mehr Produktionsmitteln wieder mehr Geld erzielt werden muss, um es in einem neuen (noch höherstufigerem) Zyklus zu reinvestieren usw. In Differenz zu den einfachen Reproduktionszyklen vorkapitalistischer Gesellschaften, in denen die zyklische Reproduktion verbrauchter Güter primär einen relativ statischen gesellschaftlichen Bedarf deckte, erfordern Zyklen der Kapitalakkumulation also eine dynamische »Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter« (vgl. ebd., 82ff.). Kapital »existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung«, in der die progressive Verwertung des abstrakten Geldwerts »Selbstzweck« ist. »Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos« (MEW 23, 167) und verhält sich notwendig rücksichtlos gegen ihre sozial-ökologischen Existenzbedingungen. Wo weite Teile gesellschaftlicher Reproduktion von diesem Prinzip abhängen (z.B. indem Lohnarbeit für die Mehrzahl zur Existenzbedingung wird), müssen alle gesellschaftlichen Beziehungen und Lebensweisen permanent den sich verändernden Erfordernissen des Kapitalzyklus gemäß umgestaltet werden, wobei Produkte nicht mehr der Erfüllung eines gegebenen Bedarfs dienen, sondern umgekehrt, den Produkten immer neue Bedürfnisse geschaffen werden, die mit der entgrenzten Verwertungsdynamik Schritt halten.[24]

Zwar setzt die Kapitalverwertung lebendige Arbeitskraft und Naturressourcen voraus, die sich nur exploitieren lassen, wenn sie sich irgendwie reproduzieren; der systemische Zwang zum endlosen monetären Wachstum zerstört aber zugleich die Grundlagen dieser Reproduktion. Innerhalb des unhintergehbare »materiellen Stoffwechsels« (MEW 42: 600f.; vgl. ebd.: 396ff.), in dem jede gesellschaftliche (Re-)Produktion der Natur Stoffe und Energie entnimmt, um sie in veränderter Form abzugeben, bewegt sich die Produktionsweise so in eskalierendem Widerspruch zu ihren Naturbedingungen. Technische Produktivkräfte, in deren Entwicklung der Kapitalismus alle früheren Produktionsformen in der »Überwältigung der Naturkräfte weit überflügelt« (ebd., 4), schlagen global »für die Mehrzahl« zu »Destruktivkräften« (MEW 3, 60) um, wobei jede technische Innovation in ihrer kapitalistischen Anwendung auch diese Destruktivkräfte steigert (vgl. MEW 23, 253): Im selben Maße wie »die kapitalistische Produktion« die »Bewegungskraft der Gesellschaft« erhöht, »stört sie […] den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde. […] Je mehr ein Land […] von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß.« Sie »entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (Ebd., 528ff.)

Der basale Antagonismus zwischen dem entgrenzten Kapitalzyklus und den Grenzen ökologischer Reproduktionszyklen[25]