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Beschreibung

Diversität spiegelt sich inzwischen auch sprachlich in einer großen Anzahl an Begriffen wider. Aber welche davon werden im Diskurs und in den Medien wirklich verwendet, wenn es um das Thema Diversity geht? Kann man noch "Behinderte" sagen oder ist nur noch "Menschen mit Behinderungen" angemessen? Was wünschen sich die Betroffenen? Wie steht es um "woke", das auf soziale Ungerechtigkeit und Rassismus hinweist, in rechten Kreisen aber fälschlich synonym für links steht? Und welche Begriffe sollten Sie als Fachleute oder Laien wirklich kennen? Dazu gehören "Ableismus", "Cis", "TERF" und auch "Klassismus". Welche Diversity-Begriffe müssten hingegen eigentlich längst bekannt sein, sind es aber noch nicht? Dazu gehören "queer", "marginalisiert", "Misogynie" und "Inklusion". Die Dudenredaktion stellt ihre Definitionen vor und lässt 100 Menschen zu Wort kommen: Expertinnen und Experten, die meinungsstark, bekannt und kompetent sind und häufig auch einen persönlichen und/oder beruflichen Bezug zum Thema haben.

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Duden

Vielfalt

Das andere Wörterbuch

Sebastian Pertsch (Hrsg.)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort|Kathrin Kunkel-Razum

Einleitung|Sebastian Pertsch

Was dieses Buch enthält

Ableismus bis Zionismus

Ableismus|Tanja Kollodzieyski

Abtreibung|Jana Maeffert

Ally|Anna-Kristina Mohos

alter weißer Mann|Benno Brockmann

antiasiatischer Rassismus|Sun-Ju Choi

antimuslimischer Rassismus|Tuba Bozkurt

Antisemitismus|Pia Lamberty

Antislawismus|Anastasia Tikhomirova

Ausländer*in|Murtaza Akbar

Autismus|Mela Eckenfels

Befriedungsverbrechen|Raúl Krauthausen

Behinderung|Alexandra Koch

Bias|Nora Frerichmann

Biodeutsche*r|Julia Menger

Biodiversität|Christian Schwägerl

Bisexualität|Anne Wizorek

Blackfacing|Patricia Eckermann

Bodyneutrality|Anna Mendel

Care-Arbeit|Yolanda Sylvana Rother

Chancengleichheit|Julia Kloiber

christlich-jüdisches Abendland|Ruben Gerczikow

chronisch krank|Marina Weisband

Coming-out|Werner Hinzpeter

Deaf Gain|Julia Probst

Demokratie|Michaela Mahler

Depression|Zoë Beck

Desinformation|Thomas Laschyk

deutsche Sprache|Maik Walter

Digitalisierung|Vera Linß

Disability-Mainstreaming|Lilian Masuh

Diskriminierung|Ferda Ataman

Diversity|Konstantina Vassiliou-Enz

Downsyndrom|Katja de Bragança

Dualismus|Michael Blume

Ethnomarketing|Maori Kunigo

Euthanasie|Lea De Gregorio

Faschismus|Natascha Strobl

Femizid|Asha Hedayati

FLINTA|Ash

Freiheit|Christian Stöcker

Gaslighting|Michèle Loetzner

Gastarbeiter*in|Jelena Pantić-Panić

Gebärdensprachen|Wille Felix Zante

gendern|Andrea Geier

Geschlechtsidentität|Ravna Marin Siever

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit|Isabell Diekmann

Hasskriminalität|Matthias Quent

Heteronormativität|Valo Christiansen

Identitätspolitik|Aida Baghernejad

Ideologie|Judith Rahner

Inklusion|Sandra Olbrich

inklusive Sprache|Mareice Kaiser

Integration|Erich Kocina

Internet|Vera Lisakowski

Intersektionalität|Rebecca Wienhold

Judentum|Alexander Rasumny

Klassismus|Mario Sixtus

Klimagerechtigkeit|Sara Schurmann

kritisches Weißsein|Friederike Busch

künstliche Intelligenz|tante

Leichte Sprache|Anne Leichtfuß

Liebe|Robert Ide

Marginalisierung|Ana-Nzinga Weiß

Medienvielfalt|Nadia Zaboura

Meinungsfreiheit|Simone Rafael

Mischling|Nora Bendzko

Misogynie|Sarah Koldehoff

Mobilität|Katja Diehl

Multikulti|Imre Grimm

nationale Minderheiten in Deutschland|Romani Rose

Neurodiversität|Jannicke Schwarzhoff

nicht binär|Noah Stoffers

Ostdeutschland|Gábor Halász

Othering|Araththy Logeswaran

Person of Color|Hyun-Ho Cha

Polyamorie|Maya

postmigrantisch|Sheila Mysorekar

Privilegien|Jean Peters

Pronomen|Illi Anna Heger

queer|Johannes Kram

Quote|Paulina Fröhlich

Rassismus|Ismail Küpeli

Rechtspopulismus|Johannes Hillje

Rom*nja und Sinti*zze|Tayo Awosusi-Onutor

Safe(r) Space|Sung Un Gang

Schwarz|Sarah Shiferaw

schwul|Tilmann Warnecke

Sensitivity-Reading|Victoria Linnea

Sexismus|Hannah Beeck

Sport|Nora Hespers

Sprachenvielfalt|Amra Durić

Stereotyp|Frank Joung

TERF|Inga Hofmann

Toleranz|Derviş Hızarcı

trans*|Linus Giese

Ungleichheit|Ulrich Schneider

Verschwörungserzählungen|Lea Frühwirth

Versöhnung|Monty Ott

woke|Hadija Haruna-Oelker

Zionismus|Eliyah Havemann

Anhang

Stichwortverzeichnis

Quellen und Medientipps

Danksagung

Bildnachweis

Impressum

Vorwort

Die Dudenredaktion ist in Berlin beheimatet und wir alle, die wir dort arbeiten und uns intensiv mit der deutschen Sprache beschäftigen, erleben tagtäglich auf unterschiedlichste Weise Vielfalt. Sie ist unsere Lebensrealität. Und auch wenn das Bild nicht in allen Gegenden des Landes gleich ist — unsere Gesellschaft, unser Leben und damit auch unsere Sprache werden vielfältiger. Was bringt diese bereits auf den ersten Blick sichtbare Vielfalt der Menschen einerseits und gegebenenfalls ihr Fehlen andererseits mit sich und welche Spuren hinterlässt die zunehmende Vielfältigkeit der Herkunft, der Lebensentwürfe der Menschen in der deutschen Sprache?

Die Aufgabe der Dudenredaktion ist es, die Entwicklung der deutschen Sprache zu beobachten, auszuwerten und die Ergebnisse in Wörterbüchern, Grammatiken und Ratgebern festzuhalten, zu dokumentieren und Ratsuchenden Hilfestellungen für den Gebrauch der deutschen Sprache zu geben. Diese Aufgabe ist in den vergangenen Jahren anspruchsvoller geworden, weil die Einflüsse auf die Sprache vielfältiger geworden sind und diejenigen, die sie sprechen, andere Anforderungen an sie stellen.

Umso erstaunlicher ist es, dass es bisher kein (gedrucktes) Wörterbuch gibt, das sich speziell mit den Wörtern beschäftigt, die diese vielfältigen Ausprägungen des Lebens in besonderer Weise widerspiegeln.

So haben wir den Vorschlag des Herausgebers dieses Buches, Sebastian Pertsch, einen intensiven Blick auf diese Gruppe von Wörtern zu werfen, gern angenommen. Gemeinsam mit 100 bekannten Menschen haben wir aus einer Liste von mehr als tausend potenziellen Stichwörtern 100 ausgewählt und sie gebeten, sich zu je einem Wort Gedanken zu machen. Ihren Texten vorangestellt ist jeweils der entsprechende Eintrag aus Duden online, dem umfassendsten Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, und ein Vermerk dazu, wann dieses Wort zum ersten Mal im Rechtschreibduden (z. B. 1. Auflage 1880 oder 28. Auflage 2020) oder auf Duden online verzeichnet wurde. Entstanden sind so spannungsreiche Blicke auf Wörter, die uns zunehmend im Alltag beschäftigen und die unsere Sprache bereichern.

Die Dudenredaktion arbeitet mit einer großen digitalen Textsammlung, dem Dudenkorpus, das derzeit knapp 7 Milliarden laufende Wortformen umfasst. Im Wesentlichen stammen sie aus deutschsprachigen Pressetexten aus dem In- und Ausland, aber auch aus Romanen und Sachtexten. Aus der Analyse dieses Korpus gewinnen wir zum Beispiel Neuaufnahmekandidaten für unsere Wörterbücher, aber — durch die Kontextanalyse — auch die Basis für die Definition der einzelnen Stichwörter. Ein Wörterbuch ist immer ein Spiegel seiner Zeit und so verwundert es nicht, wenn gerade in den letzten Jahren und auch im Erscheinungsjahr dieses Buches viele Wörter aufgenommen wurden, die den gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Vielfalt dokumentieren.

Ein Wörterbuch ist kein Lexikon, d. h., wir geben kaum Sachinformationen (z. B. sagen wir nicht, wie viele Menschen von Autismus betroffen sind), erläutern aber in möglichst einfachen Formulierungen die allgemeine Bedeutung eines Wortes. Gelegentlich geben wir auch noch Verwendungshinweise, beispielsweise, wenn ein Wort als diskriminierend aufgefasst wird.

In diesem Buch treffen nun die Duden-Definitionen und der individuelle Blick der 100, die für dieses Buch geschrieben haben, aufeinander — deshalb heißt es im Untertitel »Das andere Wörterbuch«. Denn anders als die üblichen Dudenwörterbücher lässt es auch die persönlichen Sichtweisen der Schreibenden zu und daraus entsteht eine faszinierende Momentaufnahme der Diversity-Begriffe unserer Zeit.

Kathrin Kunkel-Razum, Chefredakteurin, und die Dudenredaktion

Berlin, im Oktober 2023

Einleitung

Ein solch aufwendiges Werk mit 100 Autor*innen zu schreiben, lässt unweigerlich die Frage nach dem Warum? aufkommen: Warum gibt es so viele Themen und Autor*innen — und welches Anliegen verfolgt dieses Buch? Die Antworten darauf lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. In meinen vielen Gesprächen zu dem Sachbuch habe ich festgestellt, dass alle Beteiligten eine etwas andere Vorstellung davon haben, weshalb sie dabei sind, was sie sich davon erhoffen und wieso ihr Thema eine Relevanz für Vielfalt haben könnte. Auch was Vielfalt und Diversity eigentlich zu bedeuten haben, wird von den Autor*innen, die ihre Texte unabhängig voneinander geschrieben haben, unterschiedlich interpretiert. Das finde ich bemerkenswert: Die 100 vielfältigen Blickwinkel tragen dazu bei, dass die 100 Kapitel nicht nur thematisch vielfältig aufgestellt sind, sondern sich das ganze Buchprojekt auch nur unter einem eher unklaren Begriff wie Vielfalt einordnen lässt. Allein dieses scheinbar Unkonkrete stimmt schon neugierig!

Vielfalt und Diversity sind übrigens keine Synonyme, obwohl die Begriffe als eine Übersetzung des jeweils anderen so verstanden werden können. Bei Duden online wird der Begriff Vielfalt1 mit »Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit« erklärt, wohingegen Diversität2 nur als Synonym für »Vielfalt, Vielfältigkeit« steht. Das aus dem Englischen entlehnte Wort Diversity3, das auch im Deutschen genutzt wird, wird differenzierter als Vielfalt gedeutet: »(als positiv wahrgenommene) Vielfältigkeit, Individualität innerhalb einer Gruppe2 oder der Gesellschaft (z. B. hinsichtlich Alter, Herkunft, Geschlecht[sidentität], Sexualität, Weltanschauung, körperlicher und geistiger Fähigkeit)«. Während Vielfalt also eher »nur« als Aufzeigen dieser »Mannigfaltigkeit« zählt, wird Diversitygerade im Englischsprachigen (aber auch zunehmend im Deutschsprachigen) als wichtige Form der Antidiskriminierungsarbeit4 und auch als Bildungsarbeit gesehen: Diversity ermöglicht die Teilhabe für alle Menschen. Sie schließt also nicht nur alle mit ein, sondern sie geht uns alle auch noch etwas an. Auch von diesen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen handelt dieses Buch. Und es möchte beides versuchen: VielfaltundDiversity. Einerseits diese Vielfalt aufzeigen, aber andererseits auch deutlich benennen, wo es noch hakt — und dort, wo es noch zwickt, konstruktive Lösungsvorschläge einbringen.

Die Idee für dieses Buch entstand Ende 2021, als ich ein kleines Diversity-Lexikon5 mit mehreren Autor*innen für die Fachzeitschrift journalist des Deutschen Journalisten-Verbands entwarf. In dem Medienmagazin gebe ich seit 2015 Schreibtipps und analysiere dafür »Worte und Wörter«, mit denen Journalist*innen häufiger falschliegen oder sie Schwierigkeiten haben. Dieses Know-how gebe ich seit Jahren in Vorträgen, Workshops und Interviews weiter. Auch mit der Floskelwolke (2014–2023) und einem Piper-Sachbuch habe ich zusammen mit meinem Kollegen Udo Stiehl die Unsauberkeiten in der deutschen Sprache — gerade im Kontext von Nachrichten — besprochen. Fragen, die mir immer wieder im Journalismus begegnen, waren ebenfalls Beweggründe für die Umsetzung dieses Buchs: Weshalb werden einige Begriffe immer wieder falsch verwendet? Manchmal aus Versehen, aber auch bewusst und manipulativ. Weshalb liest man beispielsweise noch immer von einem euphemistischen »Familiendrama«6, unterlässt zugleich aber, das Thema Femizid zu benennen? Wieso schreibt man von einer Person, die angeblich »an den Rollstuhl gefesselt« sei, statt sachlich zu formulieren: »Die Person ist auf einen Rollstuhl angewiesen« oder gar mit einem positiven Dreh: »Dank des Rollstuhls kann diese Person wieder am Leben teilhaben«? Wieso wird der Begriff woke gekapert und für etwas vermeintlich Linkes umgedeutet? Weshalb gibt es altbekannte Themen, die trotz einer hohen Verbreitung und Aktualität immer wieder neu erklärt werden müssen? Was bedeutet queer noch mal? Sollte das nicht längst bekannt sein? Da wird es beim Unterschied zwischen Inklusion und Integration schon schwieriger, obwohl diese Themen Millionen Menschen betreffen. Und dann gibt es noch scheinbar oder tatsächlich neue Begriffe, die dennoch längst bekannt sein sollten, wie Person of Color, Klassismus, Bias und Care-Arbeit.

Ich beobachte aber auch, dass die Kenntnis dieser Begriffe mit einer unnötigen Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden — und dadurch viele Menschen in den Diskursen exkludiert. Zum Beispiel wissen viele nicht, was exkludieren bedeutet: nämlich ausschließen. Wenn über »marginalisierte Personengruppen« (siehe Marginalisierung) oder Intersektionalität gesprochen wird, ist es zwar wichtig, dass diese Fachbegriffe verwendet werden. Andererseits lässt man viele Menschen ratlos zurück, anstatt zumindest in einem Nebensatz zu erklären, was die Wörter eigentlich bedeuten. Es ist dann auch deshalb eine paradoxe Rhetorik, weil man ja mit diesen Themen auch jene Menschen ansprechen und erreichen möchte, die Interesse signalisieren und bestenfalls auch die, die längst abgeschaltet haben. Eine inklusive Sprache wäre aus meiner Sicht zielführender. Denn natürlich kann man von niemandem verlangen, alle 148.000 Stichwörter des aktuellen Rechtschreibdudens7 zu kennen. Es geht weniger um pedantisches Besserwissen einzelner Schlagworte, schon gar nicht um »Sprachpolizei«, sondern eher um das Wissen, was hinter den Wörtern steckt und wie wir die Herausforderungen, die sie benennen, gesellschaftlich anpacken können. Ein gutes Beispiel ist Ableismus. Der englische Begriff ableism tritt in den USA verstärkt8 seit den 1970er-Jahren auf. Im deutschsprachigen Raum findet er erst seit wenigen Jahren Verbreitung, wie die Verlaufskurve9 des Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache aufzeigt. Doch das Thema gibt es seit Menschengedenken: die Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen — und selbst diese Deutung reicht nicht aus, um das facettenreiche Thema zu erklären. Wussten Sie übrigens, dass jede zehnte Person in Deutschland eine schwere Behinderung hat und nur drei Prozent mit einer Behinderung geboren wurden?

Dieses Diversity-Wörterbuch war aus mehreren Gründen herausfordernd, denn es unterscheidet sich von regulären Wörterbüchern und es möchte trotzdem ein wörterbuchähnliches Format darstellen:

1. Obwohl 100 Kapitel viel sind, repräsentativ können sie nicht sein. Das liegt schon alleine an der großen Menge an möglichen Themen, die einen Bezug zu Diversity bzw. Vielfalt haben: In der Vorbereitung dieses Buchs sammelte ich mehr als tausend Stichwörter und recherchierte Hunderte potenzielle Autor*innen. Dieses Sachbuch mit »nur« einhundert Beiträgen darf daher als Auftakt verstanden werden.

2. Wir haben versucht, eine breite Palette abzubilden: Diskriminierung, Religion, Medizin, Behinderungen, Digitalisierung, Sprache, Kultur, Queer, Medien, Geschlecht, Naturwissenschaften und viele Themen, die in unserer Gesellschaft gerade besonders relevant sind und viel diskutiert werden. Das Thema Sprache kommt — und hier sind wir dem Namensgeber des Verlags, Konrad Duden, verpflichtet — in jedem Kapitel vor.

3. Jedes einzelne Thema böte Stoff für mehrere Bücher, um die gesamte Bandbreite zu erklären. In den Kapiteln wird ein Fokus gesetzt, werden Beispiele gegeben und Aspekte kompakt zusammengefasst, um das Wichtigste zu vermitteln. Mit den Quellen und Medientipps (siehe Was dieses Buch enthält) geben die Autor*innen aber zusätzlich Empfehlungen zu weiterer Literatur. Diese Medien sollen Sie unterstützen, wenn Sie mehr über ein Thema erfahren möchten.

4. Die Kapitel sind Einordnungen von Expert*innen, die sich zur Sache hervorragend auskennen. Manche Einschätzungen decken sich nicht unbedingt mit denen anderer kompetenter Autor*innen und manchmal auch nicht damit, wie sie im Duden stehen. Um die Qualität und den Anspruch an ein Wörterbuch zu sichern, gab es zahlreiche Vorgaben und es wurde durch Lektorat, Korrektorat und Sensitivity-Reading alles gründlich geprüft und einem Fakten- und Quellencheck unterzogen.

5. Wie auch im Journalismus gibt es ein Dilemma, ein unlösbares Problem: Ist eine Person zu nah dran an einem Thema, wird ihr vorgeworfen, »befangen«, »ideologisch« oder »betriebsblind« zu sein. Ist die Person hingegen zu weit weg vom Thema, wird ihr vorgeworfen, keine Kompetenz zum Thema zu haben. Ein Dilemma ist es deshalb, weil man sich nicht in der vermeintlichen, da unmöglich zu definierenden Mitte treffen kann. Dieses Buch lässt Menschen zu Wort kommen, die sich nicht nur einen Namen gemacht haben, sondern auch einen persönlichen und/oder beruflichen bzw. akademischen Bezug zum Thema haben.

Eigentlich sind wir in unserer pluralistischen und modernen Gesellschaft schon viel weiter, als wir uns eingestehen wollen, lassen uns aber bewusst, manchmal unbewusst von altbackenen Strukturen und populistischen Persönlichkeiten zurückwerfen. Nicht selten aus Bequemlichkeit, weil einfache Antworten zu komplexen Themen verheißungsvoll, obgleich selten hilfreich sind; manchmal aus einer diffusen Angst heraus. »Je mehr man über sich selbst und über das, was man will, weiß, desto weniger lässt man an sich ran«, sagte Bill Murray im Film »Lost in Translation« (2003).11 Diese melancholischen Worte haben aber auch ihre Schattenseiten, denn je älter man wird, desto gefestigter wird das eigene Weltbild — und man ist weniger bereit, sich selbst und die Stationen seines Lebens zu reflektieren und schließlich zu hinterfragen. Nicht immer, aber leider zu oft.

Meiner Ansicht nach könnten wir an manchen Stellen schon längst weiter sein. Nicht alles ist gut, manches einfach nur grau, braun, hässlich und unangenehm — und oftmals selbst verschuldet. Das heißt auch, dass wir unsere Privilegien gelegentlich prüfen und uns fragen sollten, ob in jeder unserer Entscheidung Egoismus oder eine falsch verstandene Freiheit zum Wohle aller dient, oder ob es nicht vielleicht besser wäre, diese Vielfalt auch wahrhaftig, also nicht nur mit leeren Worten zu ermöglichen und uns als Ally einzusetzen, wenn Menschen beispielsweise Diskriminierungen erleben. Der Schwarze Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) beobachtete treffend: »Wir dürfen nicht vergessen, dass Unterdrückte und Unterdrücker in derselben Gesellschaft aneinandergebunden sind; sie akzeptieren dieselben Kriterien, sie teilen dieselben Überzeugungen, beide hängen von derselben Wirklichkeit ab.«12

Dieses Buch soll neugierig machen, im besten Falle Horizonte erweitern, Sie zuversichtlich für eine Welt voller Veränderungen stimmen und Sie vielleicht auch zu mehr Mut gegen Ungerechtigkeiten anregen. Die Texte sind weder absolut noch apodiktisch, weder zu kompliziert noch mit erhobenem Zeigefinger geschrieben, sondern sollen hoffnungsvoll und inkludierend sein und kompakte Einordnungen zu sensiblen, spannenden und höchst interessanten Themen bieten. Ich bin optimistisch, dass es die 100 Autor*innen schaffen werden, bei Ihnen das eine oder andere Aha-Erlebnis auszulösen. Vermutlich werden Sie — ebenso wie ich es bereits tat — erstaunt feststellen, wie viele Themen Sie direkt oder indirekt berühren und wie viel Neues Sie erfahren werden. Ich freue mich also sehr, dass Sie dieses Buch in den Händen halten, und ich hoffe sehr, dass es Ihnen ein guter und lesenswerter Leitfaden sein wird.

Sebastian Pertsch

Journalist, Medienprofi, Projektleiter und Herausgeber dieses Buchs

Medientipps 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20

Was dieses Buch enthält

Die 100 Kapitel dieses Buches enthalten viele unterschiedliche Elemente. Dazu gehören Shortlinker, interne Verweise, Quellenangaben, Medientipps, Illustrationen und die Erläuterungen aus Duden — Die deutsche Rechtschreibung oder aus Duden online zu den jeweiligen Stichwörtern. Im Folgenden erläutern wir diese Elemente:

Header

Zu jedem Stichwort folgen zunächst die Angaben zu dem jeweiligen Stichwort aus Duden — Die deutsche Rechtschreibung oder Duden online. Sie umfassen die Wortart, die Schreib- und Trennmöglichkeiten sowie das Jahr der Aufnahme des Wortes in den Duden. Diese Jahreszahl bezieht sich normalerweise auf Duden — Die deutsche Rechtschreibung. Sollte das Wort noch nicht Eingang in das gedruckte Werk gefunden haben, wird das Jahr der Aufnahme in das Onlinewörterbuch (Duden online) angegeben. Es folgt dann die Bedeutungsangabe bzw. die für das Buch relevanten Teile daraus.

Sensitivity-Reading

Substantiv, Neutrum|Sen|si|ti|vi|ty-Rea|ding, Sen|si|ti|vi|ty|rea|ding|im Duden seit 2023 (Duden online)

mit hoher Aufmerksamkeit für exkludierende, diskriminierende und stereotype (1) Inhalte oder Formulierungen erfolgendes Lesen oder Lektorieren

Dieser Header und der jeweilige Beitrag der Autor*innen sind nicht aufeinander abgestimmt worden. Sowohl Überschneidungen als auch Diskrepanzen in den Bedeutungen sind daher möglich und durchaus gewünscht, um Diskussionen zu ermöglichen.

Medientipps

Neben den Quellenhinweisen, die oftmals Fakten belegen und sich als hochgestellte blaue Zahlen im Text selbst befinden, bieten alle Autor*innen zusätzlich noch Medientipps an. Sie finden Sie unten rechts neben dem Porträtfoto ebenfalls als blaue Zahlen. Diese Medientipps sind Empfehlungen für Sie, wenn Sie mehr zum Thema lesen, hören oder sehen möchten. Das Spektrum reicht von Presseartikeln, über Bücher hin zu Videos und manchmal auch Songs.

Shortlinker — Teil 1

Sowohl die Quellenangaben als auch die Medientipps haben ein gemeinsames Zahlenreferenzsystem. Keine Zahl tritt also doppelt auf. Zahlen können aus maximal vier Ziffern bestehen. Im Buchanhang sind das Quellenverzeichnis und die Medientipps zusammengelegt und nach Zahlen geordnet. Wegen der hohen Anzahl an Autor*innen, Kapitel und dementsprechend auch vielen Quellen und Medientipps sind die Angaben im Buchanhang auf eine Zeile pro Eintrag verkürzt. Eine ausführliche Aufschlüsselung mit allen Informationen zur Quelle bzw. zum Medientipp gibt es nur online.

Hadija Haruna-Oelker

Journalistin, Autorin und Moderatorin

Medientipps 1155, 1156, 1157, 1158, 1159

Für dieses Buchprojekt nutzen wir ein Hilfsmittel: Ein sogenannter URL Shortlinker (oder auch Kurz-URL-Dienst genannt) schlägt einen Bogen vom Buch zum Internet. Der Shortlinker leitet Sie auf eine Internetseite des Dudenverlags weiter, auf der alle Details zur Quelle oder zum Medientipp stehen. Hierfür geben Sie im Internetbrowser die Domain vielfalt.link ein, gefolgt vom Schrägstrich bzw. Slash / und anschließend die Zahl für die Quelle oder den Medientipp. Das sieht wie folgt aus:

https://vielfalt.link/1234

Gibt es beispielweise die Quelle mit der hochgestellten Nummer 1234 im Buchbeitrag, geben Sie im Browser vielfalt.link/1234 ein und Sie werden automatisch zur Internetseite des Buchprojekts weitergeleitet und erfahren mehr zu dieser Quelle. Gleiches gilt für die Zahlen der Medientipps. Das einleitende https:// können Sie bei der Eingabe im Browser übrigens auslassen.

Hinweis: Die Zahl 1234 soll hier nur als Beispiel dienen; es gibt sie nicht als Quelle oder Medientipp im Buch. Wenn Sie den Link vielfalt.link/1234 aufrufen, gelangen Sie zu diesem Buch im Duden-Shop.

Shortlinker — Teil 2

Dieser Shortlinker kommt auch bei der inhaltlichen Aufschlüsselung der Quellen und Medientipps zum Einsatz. Hierfür werden aber keine Zahlen, sondern nur Großbuchstaben verwendet, um besser unterscheiden zu können und Verwechslungen zu vermeiden. Technisch gesehen funktionieren sie aber identisch:

https://vielfalt.link/ABCD

Angenommen, Sie haben in einem Kapitel die Zahl 1234 als Medientipp entdeckt und möchten mehr dazu wissen. Wie Sie gerade erfahren haben, gibt es dafür zwei Möglichkeiten: Sie nutzen den Shortlinker und geben im Internetbrowser vielfalt.link/1234 ein oder Sie blättern hinten im Buchanhang bis zur Zahl 1234. So oder so gelangen Sie zu weiteren Details und erfahren nun, auf welches Buch, welchen Artikel oder welches Video verwiesen wird. Für alle Quellen und Medientipps gibt es eine Internetseite, also einen Link. Und damit Sie lange Links nicht mühsam abtippen müssen und auch, damit wir im Buchanhang Platz sparen, nutzen wir hierfür ebenfalls diesen Shortlinker.

1Duden online: Eintrag zu »Vielfalt« vielfalt.link/AHBL

2Duden online: Eintrag zu »Diversität« vielfalt.link/AEHG

3Duden online: Eintrag zu »Diversity«, abgerufen: 05.10.2023 vielfalt.link/TWKA

4Gregull: »Dossier Migration: Migration und Diversity«, 2018 vielfalt.link/AGRK

5Pertsch (Hrsg.): »Diversity-Lexikon«, journalist (Zeitschrift), 2021 vielfalt.link/REWT

6Leitfaden: »Kein Familiendrama, journalist (Zeitschrift), 2023 vielfalt.link/WHKC

7Duden: »Der Umfang des deutschen Wortschatzes« vielfalt.link/XDBL

8»Ableismus & Gewalt: Was ist Ableismus?«, Rechercheprojekt #AbleismusTötet vielfalt.link/DFTP

9Wortverlaufskurve von »Ableismus« und »Ableism«, DWDS, Zeitraum: 2000 bis 2023 vielfalt.link/TXER

10Baldwin: »Von einem Sohn dieses Landes«, dtv, 2022 vielfalt.link/BAMP

Haben Sie also, um im Beispiel zu bleiben, die Quelle 1234 im Buchanhang gefunden, könnte da auf eine TV-Dokumentation hingewiesen sein. Die URL zu dieser Doku befindet sich aber nicht in voller Länge dort, sondern nur als verkürzter Link mit den vier Großbuchstaben, beispielsweise »Video in der ARD-Mediathek vielfalt.link/ABCD«. Um zur eigentlichen Internetseite weitergeleitet zu werden, rufen Sie vielfalt.link/ABCD im Browser auf.

Hinweis: Wie auch die 1234 ist ABCD nur ein Beispiel und taucht nicht als Quelle oder Medientipp im Buch auf. Wenn Sie den Link vielfalt.link/ABCD aufrufen, gelangen Sie ebenfalls zum Buch im Duden-Shop.

Interne Verweise

Alle Themen in diesem Buch haben Berührungspunkte zu weiteren Kapiteln; manche mehr, manche weniger. Um Sie darauf aufmerksam zu machen, verweisen wir mit einem vorangestellten blauen Pfeil vor dem Begriff auf diese hilfreiche Verknüpfung. Der anschließende Begriff ist kursiv gesetzt (z. B. deutsche Sprache). Gelegentlich verlinken wir nur die gebeugte Form (z. B. marginalisierte Person), wenn die Grundform im Beitrag nicht erwähnt wird (hier im Beispiel statt Marginalisierung).

Illustrationen

Zahlreiche Kapitel wurden von der Designerin und Infografikerin Katharina Schwochow20 illustriert. An der inhaltlichen Aufbereitung der Illustrationen waren alle beteiligt: Nicht nur die Illustratorin, sondern auch die Autor*innen als Expert*innen zu ihren Themen, die Dudenredaktion und der Herausgeber haben sich gemeinsam viele Gedanken gemacht, um eine Einordnung und einen Mehrwert zu schaffen, der das jeweilige Kapitel bereichert.

Möglichkeiten der Teilhabe führt. Dieses Modell sieht nicht länger den einzelnen behinderten Menschen, sondern uns als ganze Gesellschaft in der Verantwortung, Barrieren abzubauen und die Teilhabe von behinderten Menschen zu ermöglichen.231

Für beide Modelle ist die Abgrenzung von Normalität und Anderssein

Geschlechtergerechte Sprache

Wir nutzen im Buch eine genderinklusive Sprache, weil wir nicht nur Frauen und Männer, sondern selbstverständlich alle, also auch nicht binäre Menschen ansprechen möchten.21 Gibt es keine geschlechtsneutrale Formulierung, kommt auf Wunsch des Herausgebers der Asterisk zum Einsatz.

Barrierefreiheit

Insbesondere für die Ausgabe als E-Book und in Online-Publikationen wurde Wert darauf gelegt, dass das Buch barrierearm ist. Für dieses Buch sind alle Illustrationen und Porträtfotos mit einem sogenannten ALT-Text22 hinterlegt. Die Illustrationen und der mit der Spiegelfolie versehene Umschlag enthalten außerdem genügend Kontraste, damit sie besser gesehen werden können.

Ableismus bis Zionismus

Ableismus

Substantiv, maskulin|Able|is|mus|im Duden seit 2020 (D1, 1. Auflage)

Abwertung, Diskriminierung, Marginalisierung von Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken aufgrund ihrer Fähigkeiten; Gebrauch: besonders Soziologie

Ableismus ist eine Diskriminierungskategorie, die Menschen mit Behinderung strukturell auf verschiedenen Ebenen abwertet und ausschließt. Das sozialwissenschaftliche Fachwort verbreitete sich im großen Rahmen zuerst innerhalb der US-amerikanischen Behindertenbewegung der 1970er-Jahre.100 Im Englischen setzt sich das Wort ableism aus dem Adjektiv able (fähig) und der Endung ism, die für gesellschaftliche Strukturen steht, zusammen.101

Im Deutschen wird Ableismus immer noch oft fälschlicherweise mit dem Wort Behindertenfeindlichkeit gleichgesetzt. Das ist eine Vereinfachung, die der gesellschaftlichen Verbreitung von Ableismus und seinen Folgen nicht gerecht wird. Aktive Behindertenfeindlichkeit bildet einen Teilaspekt von Ableismus ab, reicht aber nicht aus, um den Begriff im Ganzen zu erfassen.

Der Ableismus stellt den nichtbehinderten Menschen in das Zentrum der Norm. Alle gesellschaftlichen Bereiche sind in einer ableistischen Gesellschaft allein auf die Bedürfnisse und Erfahrungen von nichtbehinderten Menschen ausgerichtet. Behinderte Menschen, die diese Norm nicht erreichen können, werden von Politik, Institutionen und Gesellschaft strukturell abgewertet, ignoriert oder schlicht vergessen.102

Menschen mit sichtbarer Behinderung werden zudem oft von baulichen, aber auch von kommunikativen Barrieren darin gehindert, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Eindrückliche Beispiele sind Schulen ohne Aufzüge, Haltestellen ohne Leitsystem für sehbehinderte und blinde Menschen oder Bundespressekonferenzen, die ohne Gebärdensprachdolmetscher*innen stattfinden. Behinderte Menschen ohne sichtbare Behinderungen hingegen müssen viel zu oft erst um die Anerkennung ihrer Einschränkungen und Barrieren kämpfen. Ihnen begegnen des Öfteren die ableistischen Glaubenssätze, dass sie nur Aufmerksamkeit suchen oder sich einfach nicht genug anstrengen würden.103

Daneben existiert Ableismus natürlich auch in der Sprache. Das Wort behindert wird zum Beispiel häufiger als Schimpfwort verwendet. Das führt nicht nur zu einer Abwertung, sondern auch dazu, dass die nicht behinderte Mehrheitsgesellschaft versucht, das Wort zu vermeiden. Die fremdbestimmten und beschönigenden Alternativen — wie Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Menschen mit speziellen Fähigkeiten — lehnen viele Menschen mit Behinderung ab.104 Die Bedürfnisse von behinderten Menschen unterscheiden sich kaum von denen nichtbehinderter Menschen. Nur die Zugänge zur Erfüllung dieser Bedürfnisse sind für behinderte Menschen erschwert, blockiert oder gar nicht erst vorhanden. Das Wort behindert beschreibt eben genau diese Behinderung von außen, aber auch die körperlichen und psychischen Einschränkungen der individuellen Personen. Daher gilt es für die meisten behinderten Menschen als neutrales Wort.

Deutschland hat sich bereits seit 2009 dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um Ableismus in allen Formen und Bereichen entgegenzuwirken. Mit der Unterzeichnung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz: »UN-Behindertenrechtskonvention«) hat die deutsche Regierung anerkannt, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Chancengleichheit, Zugänglichkeit und volle Teilhabe an der Gesellschaft haben.105 Leider warten Menschen mit Behinderung bislang in vielen Bereichen vergeblich, dass dieses Recht in einklagbare Gesetze innerhalb der deutschen Gesetzgebung übersetzt wird.

Eine Gesellschaft, die Inklusion strukturell und individuell lebt und vorantreibt, ist die beste Antwort auf Ableismus, denn jeder Mensch mit und ohne Behinderung hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ohne ständige Abwertung und dauerhaften Ausschluss.

Tanja Kollodzieyski

Autorin, Redakteurin und Behindertenrechtsaktivistin

Medientipps 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113

Abtreibung

Substantiv, feminin|Ab|trei|bung|im Duden seit 1880 (D1, 1. Auflage)

das Abtreiben (2b); Schwangerschaftsabbruch

Eine Abtreibung ist die vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft durch einen operativen Eingriff oder die Einnahme von Medikamenten. Der Begriff wurde die längste Zeit seines Bestehens als neutrale Beschreibung verwendet. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts bekam der Begriff eine negative Bewertung, als Abtreibungsgegner*innen ihn zunehmend abwertend gebrauchten.114 Dies führt dazu, dass gerade Personen, die sachlich über das Thema schreiben wollen, eher Begriffe wie Schwangerschaftsabbruch oder -beendigung verwenden.

Zwar wird der Begriff Abtreibung auch kämpferisch von Menschen gebraucht, die sich für das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen. Es hält sich aber die Tendenz, dass häufiger Gegner*innen ihn nutzen. Analysen zeigen, dass Abtreibung doppelt so häufig in Suchmaschinen eingegeben wird wie Schwangerschaftsabbruch.115 Er ist für viele Menschen das geläufigere Wort. Durch die einseitige Besetzung des Begriffs von Abtreibungsgegner*innen besteht die Gefahr, schnell auf Internetseiten mit bewusst verbreiteten Fehlinformationen zu gelangen. Es ist daher wichtig, Abtreibung auch im wertfreien Kontext zu verwenden.

So umkämpft wie der Begriff ist auch das Recht darauf, über Fortführung oder Abbruch einer Schwangerschaft selbst entscheiden zu können. Zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft gibt es Debatten darüber, unter welchen Umständen Abtreibungen erlaubt sind. Auf der Welt gibt es große Unterschiede. In manchen Ländern können Schwangere bis zu bestimmten Fristen einfach selbst entscheiden, in anderen Ländern gibt es Beratungspflichten und Wartezeiten — und in wieder anderen Ländern ist Abtreibung absolut verboten.

In Deutschland sieht die Gesetzeslage vor, dass eine Abtreibung verboten ist, aber geduldet wird, wenn bestimmte Bedingungen eingehalten werden. Diese Regelung und das gesellschaftliche Tabu haben zur Folge, dass es in manchen Regionen kaum möglich ist, zeit- und wohnortnah eine Schwangerschaft abzubrechen. Insbesondere medikamentöse Abtreibungen werden von zu wenigen Ärzt*innen angeboten.116 Dabei stellt gerade diese Methode seit Ende der 1980er-Jahre eine revolutionäre Entwicklung dar, um sicher abzutreiben — und das ohne fremde Hilfe im häuslichen Umfeld. Es ist nicht verwunderlich, dass besonders in Ländern mit rechtem Backlash die Verbreitung dieser Medikamente erschwert wird (siehe Rechtspopulismus).

Verbote und Hindernisse verhindern aber keine Abtreibungen, sondern machen sie nur gefährlicher, weil sie dann heimlich und zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Weltweit werden etwa 45 % aller Abtreibungen unter unsicheren Bedingungen durchgeführt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert117 daher, dass Abtreibungen »sicher, zeitnah, kostengünstig, diskriminierungsfrei und respektvoll« sein müssen. Für marginalisierte Gruppen ist der Zugang häufig besonders erschwert. Unnötige Hindernisse und die daraus resultierenden Versorgungsprobleme treffen diese Personen stärker.

Für ungewollt schwangere trans* Männer und nicht binäre Personen ist beispielsweise die Vorstellung, von einer unbekannten Gynäkolog*in medizinisch betreut zu werden, häufig mit mehr Ängsten verbunden als für cis Frauen. Arme Schwangere können sich die Fahrt zu einer weit entfernten Praxis weniger leisten als reiche und nicht jede Einrichtung ist barrierefrei.118

Ob Abtreibung oder Schwangerschaftsabbruch: Es ist wichtig, überhaupt über das Thema zu sprechen und es zu enttabuisieren. Denn Abtreibungen betreffen im Laufe eines Lebens fast alle mindestens einmal — als Schwangere, Partner*innen, Eltern oder Freund*innen.

Jana Maeffert

Gynäkologin und Pro-Choice-Aktivistin

Medientipps 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128

Ally

Substantiv feminin; Substantiv maskulin|Al|ly|im Duden seit 2023 (Duden online)

Ally, der: männliche Person, die sich mit den Anliegen einer marginalisierten (2) oder diskriminierten gesellschaftlichen Gruppe solidarisch zeigt, ohne dieser selbst anzugehören; Ally, die: weibliche Person, die sich mit den Anliegen einer marginalisierten (2) oder diskriminierten gesellschaftlichen Gruppe (2) solidarisch zeigt, ohne dieser selbst anzugehören

Wenn wir uns im Themenfeld von Vielfalt und Diversity bewegen, beschreibt der Begriff Ally einen Menschen, der in bestimmten Kontexten zu privilegierten sozialen Gruppen gehört und diese für Menschen einsetzt, die von Ungleichbehandlung und struktureller Diskriminierung betroffen sind.129Ally ist ein englisches Wort und bedeutet Verbündete*r, Partner*in oder Alliierte*r. In den USA bekam der Begriff in den 1970er-Jahren eine neue Kontextualisierung durch die Selbstbenennung heterosexueller Unterstützer*innen in der queeren Community. Sie bezeichneten sich als »Straight Ally« und auch in Deutschland ist dieser Begriff mittlerweile verbreitet.130

In den Medien und bei Demonstrationen positionieren sie sich gegen die Diskriminierung von LGBTQIA*. In den 1980er-Jahren etablierte sich die Bezeichnung Ally als Ergebnis verschiedener Initiativen zur multikulturellen Erziehung in den USA131 in einem vielfältigeren Bedeutungsspektrum. Heutzutage treten Allys (engl. allies) als Verbündete für alle marginalisierten Gruppen in unserer Gesellschaft ein, so z. B. für Menschen mit Behinderungen, Menschen aus Einwandererfamilien oder BIPoCs (siehe Person of Color).

Neben dem Aktivismus stellt Allyship eine aktive Interventionsmöglichkeit im Kampf gegen Diskriminierung, Exklusion und Paternalismus dar und ist damit eine wichtige Stellschraube für Partizipation und soziale Gerechtigkeit. Wir brauchen heute und in der Zukunft viel mehr Menschen, die sich bewusst dafür entscheiden, ihre Ressourcen zu teilen, um zu einer Stärkung der Rechte und Anliegen nicht privilegierter Menschen beizutragen.

Aber wie werde ich ein Ally? Zunächst geht es um eine intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Die Reflexion darüber, in welchen Kontexten ich privilegiert bin und über welche soziale Macht ich dadurch verfüge, schafft ein Bewusstsein dafür, welche Ressourcen ich anderen zur Verfügung stellen kann.129 Als Ally ist es meine Aufgabe, mich zu informieren und fortzubilden, vor allem aber, den Menschen zuzuhören, die von Diskriminierung betroffen sind. Ich suche immer wieder das Gespräch, um meine eigene Perspektive zu hinterfragen und zu verändern. Für einen Ally stehen niemals eigene Interessen oder Erwartungen an Nützlichkeit im Vordergrund. Im Gegenteil, Allys bieten die Bühne, die ihnen aufgrund ihrer Privilegien angeboten wird, Menschen an, die zu unterrepräsentierten und diskriminierten Gruppen in unserer Gesellschaft gehören. Allys sind sich ihrer Rolle absolut bewusst und verhalten sich verantwortungsbewusst und reflektiert, denn sie könnten Menschen, für die sie Verbündete sind, durch Fehlverhalten neue Verletzungen zufügen.132

Meine Haltung als Ally bezieht sich nie nur situativ auf einzelne Momente einer Solidarisierung. In den sozialen Medien auf Hatespeech zu reagieren, macht noch keinen Ally (siehe Hasskriminalität). Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Positionierung und Praxis — ein aktives Tun — im eigenen Alltag. Abhängig von den je eigenen Ressourcen kann es vielfältig sein, wie ich mich als Ally einbringe und die Anliegen anderer zu meinen eigenen mache. Jedes Engagement gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung ist wertvoll. In diesem Sinne: Be an Ally!

Anna-Kristina Mohos

Dolmetscherin, Diversity-Trainerin und Autorin

Medientipps 133, 134, 131, 132, 135, 136

alter weißer Mann

Mann: Substantiv, maskulin|al|ter wei|ßer Mann|im Duden seit 2023

kein eigener Eintrag, aber auf Duden online als Beispiel unter Mann gezeigt

Das Schlagwort alter weißer Mann bzw. alte weiße Männer bezeichnet eine Person oder Personengruppe, die eine von ihr als selbstverständlich empfundene privilegierte Stellung besitzt, dazu eine überhebliche und abwertende Haltung gegenüber Menschen einnimmt, die nicht ihren moralischen oder gesellschaftlichen Idealen entsprechen und die dem gesellschaftlichen Wandel im Allgemeinen eher ablehnend gegenübersteht. Sowohl Privilegien als auch Haltung werden von den Gemeinten zumeist vehement bestritten.

Die Ursprünge des Begriffs lassen sich zum englischen »old white men« zurückverfolgen, der in den USA im Laufe der 1990er-Jahre aufkam.137 Im deutschsprachigen Raum fand der Begriff dann zunehmend in den 2010er-Jahren Verwendung und Beachtung.138 2019 setzte sich Sophie Passmann in ihrem Buch »Alte weiße Männer — Ein Schlichtungsversuch« intensiv mit dem Ausdruck und seiner Bedeutung auseinander. Das Schlagwort steht immer wieder in nicht ganz unberechtigter Kritik, und das nicht allein innerhalb der Riege der Gemeinten, da es im Grunde genommen irreführend ist.139140141142

Zum einen, weil bei Weitem nicht alle alten, weißen Männer die für alte weiße Männer entscheidenden Merkmale aufweisen, zum anderen, weil es überraschenderweise keineswegs zwingend notwendig ist, alt, weiß oder auch nur ein Mann zu sein, um ein alter weißer Mann zu sein. So lässt sich die Mischung aus verleugneter privilegierter Stellung, mit Intoleranz gepaarter Überheblichkeit sowie dem konservativen Streben nach Erhaltung des Status quo heute nicht nur ohne Weiteres auch bei jungen, weißen Männern, alten, nicht weißen Männern oder mittelalten Männern ganz gleich welcher Hautfarbe vorfinden, nein, es ist sogar möglich, als Frau ein alter weißer Mann zu sein, wenngleich diese Kombination eher seltener vorzukommen scheint.

Möglicherweise hängt dies mit dem Umstand zusammen, dass beim typischen alten weißen Mann fast immer auch ein Fundament aus patriarchischer Grundhaltung vorhanden ist und sich das Patriarchat nach wie vor schwer damit tut, Patriarchinnen zu akzeptieren. Ungeachtet aller bei alten weißen Männern möglichen Kombinationen von Alter, Hautfarbe und Geschlecht weisen jedoch, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, noch immer mehrheitlich tatsächlich alte, weiße Männer die für alte weiße Männer typischen Charakteristika auf. Deshalb lässt sich das Schlagwort trotz seiner relativen Ungenauigkeit nur schwer kompakt, allgemeingültig und dabei für alle verständlich ersetzen.

Darüber hinaus kommt die lauteste Kritik an dem Begriff nach wie vor aus den Reihen der Gemeinten. Da allgemein eher wenig Interesse daran zu bestehen scheint, auf die Gefühle dieser selbst als eher intolerant und rücksichtslos wahrgenommenen Gruppierung Rücksicht zu nehmen, halten sich die Bemühungen zur Findung eines alternativen Ausdrucks bisher in sehr überschaubaren Grenzen.

Die meisten alten, weißen Männer, die bestreiten, alte weiße Männer zu sein, oder sogar beklagen, dafür diskriminiert zu werden, alt, weiß und ein Mann zu sein, sind in der Regel tatsächlich alte weiße Männer, die, ganz nach Art alter weißer Männer, nur nicht in der Lage oder gewillt sind, sich selbst zu reflektieren.

Benno Brockmann

Autor und Slam-Poet

Medientipps 142, 139, 137, 143, 144, 145

antiasiatischer Rassismus

Rassismus: Substantiv, maskulin|an|ti|asi|a|ti|scher Ras|sis|mus|im Duden seit 2023

kein eigenes Stichwort im Duden, aber als Beispiel unter Rassismus auf Duden online aufgeführt

Antiasiatischer Rassismus ist kein neues Phänomen und zeit- und kontextabhängig. In seinem Ausmaß und Typus zeigt er sich in vielfältigen Erscheinungsformen. Die Wahrnehmung und Behandlung asiatischer Personen oder jener, die für Asiat*innen gehalten werden, sind äußerst volatil und widersprüchlich. Die weitverbreiteten rassifizierten Zuschreibungen sind genderabhängig, d. h., das Geschlecht wird rassifiziert und die »Rasse« wird geschlechtsspezifisch eingeordnet: Frauen werden infantilisiert und hypersexualisiert, Männer hingegen entsexualisiert und feminisiert. Die sexuell gefügige asiatische Frau ist ein zentraler Bestandteil des Orientalismus146 und viele mediale Asienbilder sind Konstrukte einer orientalistischen Fantasie. Beispielsweise ermöglicht das Bild der »Lotusblume« oder der »China Doll« ein sofortiges Abrufen vorhandener Klischees und stellt ein breites Angebot an »exotischen« bzw. exotisierten Bildern zur Verfügung.

Asiatische Communitys in Deutschland sind in ihrer Zusammensetzung sehr heterogen und haben unterschiedliche Herkunfts- und Migrationsgeschichten.147 Dadurch ergeben sich komplexe Fragen wie: Welche Länder zählen zu Asien und wer wird als Asiat*in gelesen? Es gibt keine eindeutigen Antworten darauf und sie müssen stets kontextabhängig verhandelt werden.

Asiat*innen in Deutschland — insbesondere Koreaner*innen und Vietnames*innen — wurden und werden wiederholt als »Vorzeigemigrant*innen« für ihre vermeintlich mühelose Integration gelobt. Der Bildungserfolg der zweiten Generation gilt dafür als Beleg. Dieser »Model Minority Myth«148 ist aus mehreren Gründen problematisch und irreführend: Er ignoriert bestehende Konflikte und verschweigt Rechte. Darüber hinaus gibt es — weil sich Asiat*innen eben »reibungslos« in die weiße Mehrheitsgesellschaft integrieren — wenig oder keine Forschung zum antiasiatischen Rassismus. Da keine Daten über den spezifischen Rassismus vorhanden sind, gibt es kaum Sichtbarkeit und Verantwortlichkeit. Daher ist es schwieriger, Widerstand gegen Diskriminierung zu organisieren, und Asiat*innen laufen Gefahr, auch nach Generationen ewige Ausländer*innen zu bleiben. Zudem werden andere Communitys durch den Mythos der »Model Minority« ausgegrenzt und abgewertet, indem sie als integrationsunwillig und/oder defizitär dargestellt werden. Gleichzeitig werden Asiat*innen oft als ununterscheidbare Masse beschrieben: »Die sehen doch alle gleich aus.« Mit der Etablierung Chinas als wirtschafts- und geopolitische Macht ist die Angst vor der »Gelben Gefahr« wieder spürbar präsent.149

Während der Coronapandemie häuften sich sowohl verbale als auch körperliche Gewalttaten gegen Asiat*innen. Medien, die gezielt antiasiatische Ressentiments schürten, waren keine Seltenheit.150 Diese spezifische Zunahme von Angriffen fügt sich in die Logik der unterschiedlichen und sich widersprechenden Bilder über Asiat*innen ein: Je nach Krisensituation und Narrativbedarf werden rassifiziertes Wissen und passende Bilder abgerufen und in Umlauf gebracht. Bestehende Vorurteile und Ablehnungen werden (re)aktiviert und führen zu verschiedenen Ausprägungen von antiasiatischem Rassismus.

Noch heute werden in Kindergärten und Schulen asiatisch gelesene Kinder und Jugendliche mit rassistischen Worten, Liedern, Gesten und Spielen gehänselt und diskriminiert. Antiasiatischer Rassismus ist nicht nur für betroffene Menschen relevant, sondern Teil und Symptom eines gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Systems, dessen Auswirkungen alle betreffen.151

Sun-Ju Choi

Autorin, Sensitivity-Readerin und Diversity-Beraterin

Medientipps 146, 151, 150, 147, 152

antimuslimischer Rassismus

Rassismus: Substantiv, maskulin|an|ti|mus|li|mi|scher Ras|sis|mus|im Duden seit 2023

kein eigenes Stichwort, aber als Beispiel unter Rassismus auf Duden online aufgeführt

Antimuslimischer Rassismus, Islam- oder Muslimfeindlichkeit und Islamophobie werden oft synonym verwendet. Anders als die anderen Begriffe werden bei antimuslimischem Rassismus jedoch gesellschaftliche Machthierarchien mitgedacht.153 Sie bedeuten die unterschiedliche (Chance auf) Teilhabe an gesellschaftlicher Macht je nach Gruppenzugehörigkeit. In dieser Hierarchie sind diejenigen Menschen privilegiert, die keiner gesellschaftlichen Minderheit angehören, also nicht marginalisiert oder rassifiziert werden. Als rassifiziert gelten Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Die Kategorisierung von Menschen auf Grundlage des sozialen Konstrukts »Rasse« gehört der Vergangenheit an. Doch ist Rassifizierung als Prozess einer Benennung und Markierung durch die gesellschaftlich-dominante Gruppe allgegenwärtig.154

Bei antimuslimischem Rassismus geht es nicht um eine Religionskritik oder religiöse Diskriminierung. Auch Nichtmuslim*innen sind von antimuslimischem Rassismus betroffen. Die Zuschreibung muslimischer Zugehörigkeit — wenn also ein Mensch als Muslim*in »gelesen« oder »markiert« wird — ist das wichtige Konstruktionsmerkmal für antimuslimischen Rassismus.155

Es gibt strukturellen, institutionalisierten und interpersonellen antimuslimischen Rassismus. Auch dieser Form des Rassismus geht nicht zwingend eine bewusst boshafte Entscheidung voraus, Menschen benachteiligen oder diskriminieren zu wollen. Die in unseren Denk-, Gesellschaftsund Ordnungsstrukturen verankerten Stereotype bedingen — auch ungewollt — Ausgrenzungsmechanismen, mit denen muslimisch gelesene Menschen konfrontiert sind.156 Das Berliner Neutralitätsgesetz ist ein solcher strukturell verankerter Übergriff, der es Lehrerinnen pauschal verbietet, bei der Ausübung ihres Berufs ein Kopftuch zu tragen. Das Gesetz ist vom Bundesarbeitsgericht als diskriminierend eingestuft, was Anfang 2023 vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet worden ist.157

Neben den Zuschreibungen, mit denen muslimische Menschen konfrontiert sind, bleibt die sichtbare Auslebung ihrer Religion stets ein Politikum. Dass Muslim*innen natürlicher Teil der Gesellschaft, damit in allen Räumen dieser Gesellschaft auch adäquat repräsentiert sein und teilhaben müssen, ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dafür sprechen viele pauschalisierende Debatten über Muslim*innen bzw. den Islam. Auch Hasskriminalität gegen Muslim*innen bzw. Orte islamischen Lebens, wie z. B. Moscheen, geben Hinweise darauf.158159

Das rassistische Attentat im Frühjahr 2019 in Hanau war entscheidend für das Verständnis um die problematische Tragweite antimuslimisch rassistischer Weltbilder.160 Bei diesem Attentat wurden gezielt junge, rassifizierte Menschen ins Visier genommen, die sich an einem »muslimisch markierten« Ort aufhielten. Die Tat selbst, die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden sowie die politische und mediale Rezeption liefern wichtige Erkenntnisse, wie muslimisch gelesene Menschen Übergriffe und Ungleichbehandlung — auch nach ihrem Ableben — erleben.161 Nach Hanau forderte »CLAIM — Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit« von der Politik, antimuslimischen Rassismus als Motor von rechtem und antidemokratischem Gedankengut zu erkennen und Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Der Berliner Senat setze daraufhin eine »Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus« ein, die im Jahr 2022 ihre konkreten Handlungsempfehlungen veröffentlichten.157

Auch heute sind Entwicklungen um rassistisch aufgeheizte Debatten gegen Muslim*innen und muslimisch gelesene Menschen ein Grund zur Sorge. Den Silberstreif am Horizont bilden dagegen zivilgesellschaftlich immer breitere Bündnisse und stabile politische Allianzen.

Tuba Bozkurt

Unternehmensberaterin und Politikerin

Medientipps 162, 163, 164, 165, 158

Antisemitismus

Substantiv, maskulin|An|ti|se|mi|tis|mus|im Duden seit 1934 (D1, 11. Auflage)

a) Abneigung oder Feindschaft gegenüber dem Judentum; b) [Politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen

Antisemitismus war nie verschwunden, sondern hat eine jahrhundertealte Kontinuität — in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern auf der Welt. Jüdinnen*Juden werden als »andere« konstruiert, als homogenes Kollektiv, als Teil einer angeblich mächtigen Verschwörung. Antisemitismus kann dabei unterschiedliche Formen annehmen und sich in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich manifestieren. Mal zeigt er sich als offener Hass gegen Jüdinnen*Juden, mal als Verschwörungserzählung oder in antisemitischen Narrativen über Israel.

Für eine Einordnung wird an vielen Stellen die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als Grundlage genutzt. Die IHRA-Arbeitsdefinition beschreibt Antisemitismus als »eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.«166

Antisemitismus äußert sich nicht nur in der offenen Ablehnung von Jüdinnen*Juden (siehe Judentum), sondern auch versteckter über Codes und Chiffren.167 In der Arbeitsdefinition Antisemitismus werden hier exemplarisch auch »falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv« genannt.166 Zu den wirkmächtigsten antisemitischen Zuschreibungen zählt in diesen Kontext die antisemitische Hetzschrift »Die Protokolle der Weisen von Zion«, die weltweit bis heute als Grundlage für antisemitische Stereotype bis hin zu offenem Hass gegen Jüdinnen*Juden dient. In der Gründungscharta der palästinensischen Terrororganisation Hamas wurde auf die »Protokolle« Bezug genommen. Auch das westliche verschwörungsideologische bzw. rechtsextreme Milieu verbreitet immer wieder die antisemitischen »Protokolle«.168

Als weitere Form spielt der sekundäre Antisemitismus in gegenwärtigen antisemitischen Diskursen ebenfalls eine wichtige Rolle. Er kann als Form der Schuldabwehr im postnationalsozialistischen Deutschland verstanden werden und sich etwa in Relativierung oder Leugnung des Holocaust, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder in der Täter-Opfer-Umkehr zeigen.169

Im Kontext der Proteste, die sich vorgeblich gegen die Coronaschutzmaßnahmen richteten, spielte diese Form des Antisemitismus wiederholt eine Rolle. So wurden beispielsweise sogenannte »Judensterne« getragen mit der Aufschrift »Ungeimpft«.170

Antisemitismus kann sich auch als israelbezogener Antisemitismus äußern. Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, wird aber nicht als antisemitisch betrachtet. Von israelbezogenem Antisemitismus spricht man, wenn Israel beispielsweise stellvertretend für ein erdachtes jüdisches Kollektiv steht.171

Die Erfahrungen, die Betroffene von Antisemitismus