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Vielsprachigkeit der Sprache E-Book

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Beschreibung

Das Forschungsfeld "Literatur und Mehrsprachigkeit" hat in den letzten Jahren auch in der Slavistik einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolinguistischen Fragen hin zu den Dynamiken (mehr-)sprachlicher textueller Verfahren gelenkt wurde. Der Band untersucht historische und gegenwärtige Phänomene von Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen. Er spannt einen breiten Bogen durch die slavischen Sprachen und Literaturen über Jahrhunderte hinweg, um damit die Vielfalt der Formen und Funktionen von Vielsprachigkeit zur Darstellung zu bringen. Dabei werden sowohl theoretische Fragen verhandelt, wie etwa die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit Konzepten der Übersetzung, als auch konkrete Textphänomene wie Code-Switching oder Sprachecho analysiert und deren Funktionen und Wirkungseffekte bestimmt.

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Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anja Burghardt / Eva Hausbacher (Hrsg.)

Vielsprachigkeit der Sprache

Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057939

 

© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2627-9010

ISBN 978-3-7720-8793-6 (Print)

ISBN 978-3-7720-0254-0 (ePub)

Inhalt

Einleitung1. Der Charme der Mehrsprachigkeit2. Terminologisches: Mehrsprachigkeit – Vielsprachigkeit – Einsprachigkeit2.1 Mehrsprachigkeit – Vielsprachigkeit2.2 Vielsprachigkeit – Einsprachigkeit3. Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit3.1 Typologien3.2 Neue Akzente in der Forschung4. Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit in der Slavia5. Die Beiträge des BandesNeuere ForschungsperspektivenZeitgenössische PositionenHistorische DimensionenLiteraturverzeichnisI. Neuere ForschungsperspektivenWenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt1. Einleitendes2. Fragestellung und methodische Überlegungen3. Manifest mehrsprachig: Lena Gorelik Wer wir sind4. Latent mehrsprachig: Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein5. Mehrsprachige Kryptonymie6. Russischer Echoraum in Salzmanns Roman7. FazitLiteraturverzeichnisSprachwechsel und Literatur1. Kontextualisierungen2. Der Sprachwechsel und seine Gründe3. Typologie des Sprachwechsels4. FazitTypologie des Sprachwechsels im literarischen SchreibenLiteraturverzeichnisVisuelle Mehrsprachigkeit der Mail Art1. Auf der Suche nach einer universellen Sprache2. Sprachexperimente von Rea Nikonova3. Fremdsprache(n) einer Künstlerin aus der Sowjetunion4. Visuelle Poesie als Kommunikationsmedium5. Die Sprache der Mail Art in der Zeitschrift Double6. Grenzen der Mail Art: Zurück zu der eigenen SpracheLiteraturverzeichnis„mama sagte“. Mütter-Sprachen in der russophonen Gegenwartsdichtung1. Russophone Literaturen: Kontexte und Verortungen2. Aleksandr Averbuchs mehrsprachige Mutter-Monologe3. Tanja Skarynkinas zweisprachige Mutter-Tochter Dialoge4. Das Broken Russian von Ekaterina Sokolovas Müttern5. SchlussbemerkungLiteraturverzeichnisII. Zeitgenössische Positionen‚Vielsprachigkeit der Sprache‘1. Einleitung2. Biografischer Hintergrund: Mehrsprachigkeit, Heimatlosigkeit, Widerstand3. Formen der Vielsprachigkeit im Werk Volha Hapeyevas4. FazitLiteraturverzeichnis„Nadi mnoju letyt’ tat’jana tolstaja“0. Einleitung1. Oksana Osmolovs’ka2. Oleksandr Averbuch3. Borys Chersons’kyj4. ZusammenfassungLiteraturverzeichnisManifeste Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur1. Zur Sprachvielfalt slowenischer Literatur2. Beispiele manifester Mehrsprachigkeit2.1 Jani Oswald, Maja Haderlap, Elena Messner2.2 Ana Marwan2.3 Goran Vojnović2.4 Vinko Möderndorfer2.5 Boris A. Novak3. SchlussbetrachtungenLiteraturverzeichnisPolyphonie und Dialogizität1. Einleitung2. Theoretischer Rahmen3. Polyphonie und Dialogizität in Ivna Žics Roman Die Nachkommende4. Polyphonie und Dialogizität in Meral Kureyshis Elefanten im Garten5. SchlussbemerkungenLiteraturverzeichnisIII. Historische DimensionenSprachen im sorbischen „Wortland“ von Kito Lorenc1. Historische Kontexte2. Kito Lorenc – das „poetisch Dritte“3. SchlussbemerkungenLiteraturverzeichnisMehrsprachigkeit und Verlagsarbeit1. Archa: ein zweisprachiger Verlag in der Slowakei der 1990er-Jahre2. Das zweisprachige Buch: Světelná znamení (Helle Zeichen/Lichtzeichen, 1984/1991)3. Die zweisprachige Reihe: Filozofia do vrecka/Filosofie do kapsy (1993–1999)4. Zweisprachige Übersetzung: Jacques Derrida bei Archa5. Kalligram und die Zukunft der mehrsprachigen Verlagsarbeit in der SlowakeiLiteraturverzeichnisSprache in der Sprache? Über das fremdartige Lexikon der bulgarischen Symbolisten1. Einleitende Bemerkungen zur Geschichte des bulgarischen Symbolismus2. Der Soziolekt der Symbolisten3. Das Idiolektale in der Sprache der bulgarischen Symbolisten4. Modifizierungen der symbolistischen Sprache in den 1920er-Jahren5. Die verteilten Rollen in der Literaturgeschichte und der Soziolekt der bulgarischen SymbolistenLiteraturverzeichnis„Třeba jim taky žádný nerozuměl.“ Individuelle Mehrsprachigkeit in tschechischen und österreichisch-deutschen Dramen des frühen 19. Jahrhunderts1. Einleitung2. Analysekategorien3. Beispielstudien4. ZusammenfassungLiteraturverzeichnis„Das erste Alphabet der Menschen war das Firmament“1. Vielsprachigkeit in Norwids unvollendetem Text „Wort und Buchstabe“2. Zur Reflexion über Sprache in der Romantik3. Aspekte der Vielsprachigkeit in der polnischen Romantik4. SchlussbemerkungLiteraturverzeichnisAutorinnen und Autoren

Einleitung

„Wozu ist eine kleine Sprache gut, hat sie mich einmal provoziert. Da habe ich sie gefragt, wie viele Sprachen sie spricht. Eine, hat sie gesagt. Was machst du, wenn du das Deutsche vergisst, dann kannst du nur noch bellen, habe ich ihr gesagt. Das hat sie aber nicht komisch gefunden, die Nadine.“

 

(Maja Haderlap, Nachtfrauen, Berlin: Suhrkamp 2024, 131.)

1.Der Charme der Mehrsprachigkeit

Zwei Phänomene durchziehen die aktuellen Diskussionen um Mehr- und Vielsprachigkeit: ihre Alltäglichkeit und das Spielerische. Fraglos ist die Vielsprachigkeit ein Phänomen, das – legendär seit dem Turmbau zu Babel, und in diesem Sinne: – „seit jeher“ besteht.1 Gelebte Mehrsprachigkeit, linguistische Forschung und literarische Vielsprachigkeit, die der vorliegende Band in den Mittelpunkt stellt, wirken hier zusammen. Bereits seit den 1980er-Jahren in akademische Kontexte eingegangen, ist in den letzten Jahren das Interesse stetig gewachsen, was sich mittlerweile in etlichen Sammelbänden, verschiedenen Handbüchern, Sondernummern in Reihen und Serien und mit der Gründung des Journal of Literary Multilingualism seit 2023 nun auch in einer eigenen Zeitschrift niederschlägt. Monika Schmitz-Emans (2004) verdeutlicht nicht nur, dass mehrsprachige Texte explizit oder implizit „auf die Vielheit der Sprachen und auf Sprachgrenzen hinweisen“, sondern konstatiert eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Vielsprachigkeit literarisch genutz wird: Die Vielheit der Sprachen muss als Problem bewusst sein, ohne so belastend zu sein, dass sich ein ästhetisches Spiel mit Sprachgrenzen verbietet, es gibt also die „Notwendigkeit, über den Sprachgrenzen zu stehen, um sie spielereisch behandeln zu können“ (22).

Ihr Charme: das Spielerische. Das ist sicher eine unzulängliche Verkürzung – dennoch möchten wir behaupten, dass auch in der Loslösung von bestehenden Regeln, die sich in dem Moment eröffnen, in dem man die eine Sprache (als ein System grammatischer Regeln mit einem mehr oder minder festgelegten Vokabular) verlässt, ein Raum für Kreativität eröffnet,2 der einen unglaublichen Assoziationsreichtum in sich birgt. Ob das Klänge, Sprachbilder und Assoziationsräume, Text- oder Kulturbezüge sind, Alphabete, Schreibweisen oder literarische Gattungen: das Verlassen der einen Sprache (des einen Kulturraums) eröffnet Neues. Der rumäniendeutsche Dichter Oskar Pastior lässt die Gedichte in seinem autopoetischen Text „Pust, Mattasch, Kradder, Squårp – Gemengelagen“ (2007) darauf basieren:

Warum nicht einmal, sagte ich mir, bedenkenlos […] diese eingefahrene und, weil man doch mehr im Kopf hat, immer auch zensierende literarische Einsprachigkeit einfach lyrisch beiseiteschieben und alle biographisch angeschwemmten Brocken und Kenntnisse anderer Sprachen, und seien es nur Spurenelemente, quasi gleichzeitig herauslassen?

Konkret […]: die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch; angelesenes Französisch, Englisch … […]. Einmalige kleine Sprechsysteme, also keine. (Pastior 2007: 128f.)

Die Freiräume, die sich daraus ergeben, können – manche Beiträge in diesem Band machen das explizit – für Kritik genutzt werden (aktuell etwa: an einem russischen Imperialismus), sie sind Grundlage von Verfremdungen oder dienen der Suche nach verborgenen Seiten der eigenen Biographie.

Doch auch über das literarisch-kreative Moment hinaus wird Mehrsprachigkeit immer wieder mit Erweiterungen verbunden. Beispielsweise erzählt die Linguistin Aneta Pavlenko in einem Interview – an Wittgensteins dictum von den Sprachen als Grenzen der eigenen Welt3 erinnernd – von der Erweiterung der Perspektiven4:

Meine Sprachen bewahren mich vor der Selbstgefälligkeit, zu denken, meine Weltanschauung sei die einzige und unfehlbar. Sie helfen mir, den Grenzen meiner eigenen Welt zu entkommen.5

Nicht nur der Blick auf die Welt erweitert sich, sondern auch der auf das eigene Ich, wie Olga Grjasnowa meint:

Ich selbst habe manchmal das Gefühl, in jeder Sprache eine andere Persönlichkeit zu haben. Auf Russisch bin ich witziger, auf Deutsch aufgeräumter, womöglich sogar sachlicher, und auf Englisch zwar eingeschränkt in meinen Ausdruckmitteln, aber viel freier und entspannter, weil es kein Kampf war, die Sprache zu lernen, und weil mir niemand meine Fehler vorhält. (Grjasnowa 2021, 15)

Spätestens im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten von Globalisierung und Migration geprägten Jahrzehnte ist deutlich geworden, dass Einsprachigkeit von Regionen und Territorien eine Fiktion darstellt: Viele Autor:innen sind mehrsprachig sozialisiert, viele wählen aufgrund eines Kulturwechsels auch eine neue Sprache für ihr Schreiben. In der Beschäftigung mit diesen Phänomenen zeichnet sich ab, dass die über Jahrhunderte gültige Einsprachigkeitsnorm der national bestimmten Philologien als „Erfindung“ bzw. als ideologisch besetztes Konstrukt betrachtet werden muss. Nicht zuletzt ist es mit dem Konzept der „Muttersprache“ verbunden, wie es durch Denker wie Herder, Humboldt und Schleiermacher propagiert worden ist. Häufig ist Muttersprache mit deren „Reinheit“ verbunden worden, also davon geprägt, dass sie von jeglichem Einfluss einer Fremdsprache als kulturell Anderem bewahrt werden müsse.

Dabei ist die Einsprachigkeit nicht „natürlich“, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt, das historische und gegenwärtige Machtstrukturen widerspiegelt und auch zu ihrer Erhaltung beiträgt. Einsprachigkeit als Norm dient letztlich dazu, eine bestimmte gesellschaftliche Normalität zu etablieren und aufrechtzuerhalten (Grajsnowa 2021: 63). Wie Pierre Bourdieu konstatiert, führte die Durchsetzung einer einzigen „offiziellen“ Sprache dazu, dass alle anderen Varietäten und Dialekte sich an dieser einzig richtigen, offiziellen oder eben nationalen Sprache messen lassen müssen (siehe Dirim/Mecherli 2018: 217). Mehrsprachigkeit ist Grjasnowa zufolge weder ein Privileg noch ein Problem; vielmehr sieht sie sie als Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die Beherrschung einer Sprache, die Ausdrucksweise eines Menschen sind voller Probleme und Missverständnisse. Aber genau das ist auch die Grundlage der Literatur (Grjasnowa 2021: 122). Mit Daniel Weidner (2007) lässt sich das weiterwenden: In Schleiermachers Hermeneutik des Neuen Testaments „taucht auch die zunächst verworfene Anderssprachigkeit wieder auf als das, was die Hermeneutik zugleich in Frage stellt und sie antreibt.“ (247) – Vielsprachigkeit tritt so ins Zentrum des steten Deutens und der Verstehensversuche, die prägend sind für Kommunikation.

Ähnlich konstatiert Bettine Menke (2020) deren Alltäglichkeit und führt sie mit der Vielseitigkeit des „Babellonischen“ zusammen. Unter der Perspektive der Vielsprachigkeit der Sprache werden sowohl homogen-geschlossene Vorstellungen von Sprache als auch tradierte Modelle des Übersetzens in Frage gestellt. „Denn die inhärente Sprach-vielheit ist nicht übersetzbar, weil jede traditionelle Übersetzung in eine Sprache sie löschen würde.“ (o.S.) Nicht erst heute sei eine solche Perspektive dringlich, für die Schmitz-Emans (2004) als „freundlichere“ Bezeichnung den „Terminus ›Weltliteratur‹“ vorschlägt (23).6

Der vorliegende Band schreibt sich ein in eine neue „Philologie der Mehrsprachigkeit“. Diese betont die Vielsprachigkeit von Regionen, Individuen und Sprachen; sie spiegelt die Pluralität unserer Gesellschaft und unterstreicht das kreative und ästhetische Potential, das mehrsprachige Literatur hervorbringt. Roger Willemsen, der am Anfang seiner Karriere als Übersetzer arbeitete, bringt den ganzen Charme der Mehrsprachigkeit wunderbar auf den Punkt, wenn er schreibt: „Eine der letzten romantischen Sachen in dieser Welt ist wohl wirklich die Vielsprachigkeit. Sie ist so liebenswert umständlich, zwingt uns in unpraktische Prozeduren, macht uns auf einen Schlag von weltläufigen, selbstbewussten Individuen zu kindlich agierenden, imbezilen Stammlern, die sich mit primitiven Gesten und blödsinniger Schauspielerei zu verständigen suchen.“7

2. Terminologisches: Mehrsprachigkeit – Vielsprachigkeit – Einsprachigkeit

„[D]ie Vielsprachigkeit beinhaltet nicht ein Nebeneinander oder die Kenntnis mehrerer Sprachen, sondern die Gegenwart aller Sprachen der Welt in der Praxis der eigenen; dies bezeichne ich als Vielsprachigkeit.“

 

(Édouard Glissant: Kultur und Identität, Heidelberg: Wunderhorn 2005, 31.)

Grundsätzlich stellt die Forschung zur Mehr- bzw. Vielsprachigkeit1 die nationalsprachliche und monolinguale Determinierung von Sprache und Literatur in Frage (vgl. z.B. Dembeck 2014: 16; Taylor-Batty & Dembeck 2023: 11). Die Begrifflichkeit dafür variiert jedoch.

2.1 Mehrsprachigkeit – Vielsprachigkeit

Wie unklar die Termini nach wie vor sind (und das trotz der mittlerweile publizierten Handbücher und vorgeschlagenen Typologien) zeigt sich bei Taylor-Batty & Dembeck (2023). Nicht zuletzt hängt das auch mit den unterschiedlichen Akzenten zusammen, die Sprach- und Literaturwissenschaft in der Auseinandersetzung mit Vielsprachigkeit setzen; die Vielzahl an Sprachen, in denen die Forschung zur Vielsprachigkeit verfasst ist, kommt hinzu, wie an der Diskussion von multilingualism vs. translingualism deutlich wird: Wenn auch eine strikte Trennung immer wieder schwer möglich ist, bezeichnen Taylor-Batty & Dembeck (2023: 10) text-orientierte Ansätze als Vielsprachigkeit (multilingualism), solche Ansätze, die einen Fokus auf die Textproduktion legen als Translingualismus (translingualism). Letzterer ist in der Linguistik mit ihrem Fokus auf den Sprechenden präsenter, Vielsprachigkeit hingegen wendet sich der ästhetischen Singularität, wenn nicht dem Ausnahmestatus von Einzeltexten zu (vgl. 11). Mit der vorrangigen Verankerung in der Sprachwissenschaft lassen wir im Folgenden den Terminus des Translingualismus weitgehend beiseite.

Etwas anders gelagert ist die – linguistisch fundierte – Terminologie von Thorsten Roelcke (2022). Er unterscheidet Vielsprachigkeit (engl: multilingualism) von Mehrsprachigkeit (im engeren Sinne; engl.: plurilingualism). Mehrsprachigkeit wird in der Regel für einzelne Personen verwendet, während diejenige von Gesellschaften als Vielsprachigkeit bezeichnet wird (6). Vielsprachigkeit innerhalb einer Gesellschaft betrifft den Gebrauch sowohl von verschiedenen Einzelsprachen als auch von verschiedenen Sprachvarietäten; dementsprechend besteht Vielsprachigkeit so gut wie immer und überall (ibid.). Die Gegenüberstellung von Einzelsprachen und Sprachvarietäten fasst Roelcke terminologisch mit innerer vs. äußerer Vielsprachigkeit. Während äußere Vielsprachigkeit im Gebrauch verschiedener Einzelsprachen innerhalb einer Gesellschaft besteht (6), basiert innere Vielsprachigkeit auf dem Gebrauch verschiedener Sprachvarietäten innerhalb einer Gesellschaft (10). Die Grenzen zwischen beiden sind fließend (ibid.). Analog unterscheidet er die Verwendung von verschiedenen Einzelsprachen durch einzelne Personen (auch als ,Zweisprachigkeit‘ oder ,Bilingualismus‘ bezeichnet) als äußererMehrsprachigkeit gegenüber dem Gebrauch unterschiedlicher Varietäten als innere Mehrsprachigkeit (11f.).

Der von Roelcke betonte enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Vielsprachigkeit und individueller Mehrsprachigkeit weist bereits auf die innerhalb der Vielsprachigkeitsforschung häufig thematisierten kulturellen und gesellschaftspolitischen Aspekte derselben hin, die er als Fragen der Teilhabe akzentuiert und unter dem Stichwort des Sprachpluralismus zusammenfasst (vgl. 20).1 Denn die positive Bewertung von Mehrsprachigkeit, als deren Grundlagen die Erweiterung von Kommunikationskompetenz und kognitiven Ressourcen mittlerweile als ein „Bildungsziel“ (Dittmann/Gibalk/Witt 2015) in den Blick gerückt sind, hat erst in den letzten Jahrzehnten die kritische Beurteilung von Mehrsprachigkeit (als Grundlagen dafür galten der erhöhte Lernaufwand, Entwicklung von Sprachgefühl und die Entstehung von sprachlichen Barrieren) zurückgedrängt (vgl. 11). An diesem Wandel zeigt sich anschaulich die Interdependenz von kollektiver Viel- und individueller Mehrsprachigkeit.2

Weil es hier nicht um die (sprachliche Verfasstheit) von Gesellschaften oder Individuen, sondern von literarischen Texten geht, erfolgt eine andere Akzentuierung in der Verwendung von Mehr- und Vielsprachigkeit, bei der auf Roelckes Differenzierung von „inneren“ und „äußeren“ Formen verzichtet und sein Modell folgendermaßen adaptiert wird: Mehrsprachigkeit bezeichnet verschiedene Einzelsprachen, wohingegen Vielsprachigkeit wesentlich weiter gefasst ein Vorhandensein unterschiedlicher Sprachen und Varietäten meint.

2.2 Vielsprachigkeit – Einsprachigkeit

Ein Begriff, der in den letzten Jahren in der Vielsprachigkeitsforschung in die Kritik geraten ist, ist die ,Muttersprache‘. Roelcke führt ihn als einen veralteten Terminus an (17), Yildiz (2012) kritisiert v. a. die patriarchalen Konnotationen; Hitzke (2019) bezieht neben der romantischen Kristevas psychoanalytische Lesart kritisch mit ein. Diesen – zurecht als fragwürdig kritisierten – Begriffstraditionen lässt sich andererseits entgegenstellen, dass das Konzept in Europa eine weit ältere Tradition hat, nämlich aus dem ausgehenden Mittelalter stammt, wo die jeweils eigenen Sprachen in Abgrenzung gegen das Lateinische damit bezeichnet wurden.1 Karl-Markus Gauss plädiert in einer Kolumne in der SZ für ein Beibehalten der Bezeichnung, weil damit ein auf emotionalen Bindungen beruhendes Sprachverständnis unterstrichen werde, das er gegen die Verkürzung von Sprache auf reinen Informationsaustausch ebenso wie deren Betrachtung allein unter ökonomischen Gesichtspunkten abgrenzt:

Es spricht also einiges dagegen, jene Sprache, die keiner erwerben muss, weil jeder in sie hineinwächst, weiterhin „Muttersprache“ zu nennen. Und doch geht, wenn dieses Wort herzlos zum ideologischen Sprachgerümpel geworfen wird, mit der Gestalt der Mutter etwas verloren, nämlich der Mensch. […]

Die Sprache ist mehr als der digitale Code, auf den Zuckerberg sie reduzieren, und etwas anderes als die technologische Ware, mit der Musk Profit erwirtschaften möchte. Und wer die „Muttersprache“ von gestern künftig durch die „Erstsprache“ ersetzt, wie das neuerdings die Linguistik empfiehlt, der bringt (sic!) das fundamentale Verhältnis des Einzelnen zu einer Sprache auf das Zählsystem herunter.“ (Gauss 2022)

In historischer Dimension ist auch daran zu erinnern, dass die Einsprachigkeit durchaus eine Errungenschaft darstellen kann (bzw. dargestellt hat): Eine Sprachgemeinschaft bedarf für die Ausbildung einer Sprache, die nach Möglichkeit alle Lebensbereiche abdeckt, eine Kodifizierung – und die wird einsprachig vorgenommen. Natürlich gibt es Lehnwörter, die Teil dieser Sprache sind, Lehnübersetzungen, teilweise auch Entlehnungen grammatischer Strukturen etc. und all das lässt sich als Grund dafür anführen, dass im Grunde keine Sprache einsprachig ist (wie z.B. Schmitz-Emans 2004 betont). Aber Sprachen können sich als solche in der Regel nur etablieren und erhalten, wenn sie eine gewisse Einheit(lichkeit) aufweisen.2 Insbesondere Bildung kann sich der Einsprachigkeit (bzw. einer Mehrsprachigkeit, die sich am monolingualen Paradigma orientiert) vermutlich nicht gänzlich entziehen.3 Dass Fragen von Viel- vs. Einsprachigkeit komplex sind, verdeutlicht die Bandbreite an Funktionen von Sprache, von denen Dirk Naguschewski (2007) aus afrikanischen Diskussionen um die Literatursprache(n) einige maßgebliche benennt: Sprache hat eine unmittelbar kommunikative Funktion, sie verleiht „den Partikularitäten von Kulturen Ausdruck“ (93), die sie zudem (mündlich oder schriftlich) bewahrt. Er verweist darüber hinaus auf den symbolischen Wert, der eng mit dem eigenen Identitätsverständnis verbunden ist und z.B. mit einem bestimmten Prestige einhergeht. Schließlich gibt es eine affektive Nähe zur eigenen Sprache, die Naguschewski für den von ihm näher betrachteten sengalesischen Autor Diop anführt, nämlich die jeder Sprache eigenen Tönen, ihre Melodie (ibid.).4 Mit Blick auf Literatur kommen dann auch Aspekte der Verbreitung und Ökonomie ins Spiel, auf die Naguschewski immer wieder hinweist.

Einschätzungen des Einsprachigkeitsparadigmas bedürfen also einer historischen und kulturellen Kontextualisierung. Gegenwärtig (und hinsichtlich des vorliegenden Bandes) erweist es sich als fragwürdig – besonders eklatant im Fall Russlands, das (wie Mariya Donska in ihrem Beitrag ausführt) imperial mit der Unterdrückung des Ukrainischen die Vernichtung der ukrainischen Kultur verknüpft. Die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens wiederum zeigen, dass umgekehrt ein (künstliches) Auseinander-Dividieren des Serbokroatischen in das Bosnische, Kroatische, Montenegrinische und Serbische zu einer fragwürdigen nationalistischen Politisierung führen kann.5 2017 wurde die „Deklaration zur gemeinsamen Sprache“, die mittlerweile von mehreren Tausend Personen, darunter etliche Intellektuelle und Künstler:innen, unterzeichnet worden ist, publiziert;6 das Serbokroatische wird hier als eine (plurizentrische) Sprache etabliert, Wie komplex das Einsprachigkeitsparadigma und die Vielsprachigkeit sind, klingt bei Taylor-Batty & Dembeck 2023 an: Ganz lässt sich das Einsprachigkeits-Paradigma nicht überwinden. Denn eine Institutionalisierung (angefangen vom Schulunterricht über das Theater, das Zeitungs- und Verlagswesen, bis hin zu den Neuphilologien u.a. akademischen Disziplinen) bleibt bestehen. Beispielsweise braucht die Literaturwissenschaft für ein Verständnis literaturgeschichtlicher Entwicklungen gewisse Orientierungen, die wiederum einen durchaus sinnvollen Hintergrund für das Verständnis einzelner literarischer Werke bilden. In diesem Sinne ist das „post-monolinguale“ Paradigma wohl am besten analog zum „post-modernen“ zu verstehen, dass nämlich vom Monolingualen immer etwas mitschwingen wird. Um so facettenreicher kann vor seinem Hintergrund der ganze Charme der Vielsprachigkeit hervortreten.

3.Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit

„Wir sind Schriftsteller*innen, wir kommunizieren immer in etwas anderem als in Nationalsprachen.“

 

(Sasha Marianna Salzmann, Gleichzeit, Berlin: Suhrkamp 2024, 119.)

Wie Roelcke unterscheidet auch Monika Schmitz-Emans (2004) der Sache nach zwischen vielsprachigen Kollektiven (Nationen, Staaten, Regionen und Kulturen) und mehrsprachigen Individuen. Sie macht diese Differenz für ein „weites Panorma an Phänomenen literarischer Mehrsprachigkeit“ (13) fruchtbar.1 Mit Blick auf die Literatur vielsprachiger Kulturen verweist sie darauf, dass monolinguale Nationalliteraturen allenfalls eine pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion seien (11), ehe sie mehrsprachige literarische Werke und das Schreiben mehrsprachiger Autor:innen in den Blick nimmt. Hier sei zwischen solchen Autor:innen zu unterscheiden, die bedingt durch ihre Lebensgeschichte nacheinander in verschiedenen Sprachen schreiben, und solchen, die über längere Zeit oder stets zwischen den Sprachen wechseln (vgl. 11). Das „Dazwischen-Stehen“ könne dabei als produktive Chance ebenso wie als Belastung empfunden werden (vgl. 13).2 Wie Blum-Barth (2019) anmerkt, führt die Mehrsprachigkeit von Autor:innen allerdings nicht nowendig zu einer Mehrsprachigkeit ihrer Texte (13).

Für die Texte entwirft Schmitz-Emans typologische Spielformen: eine Mischung aus Elementen konventioneller Sprachen unterscheidet sie von solchen, in denen Kunst- und Phantasiesprachen das Ensemble der bekannten Sprachen erweitern.3 Till Dembeck nimmt das in seiner Darlegung von Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit mit der Gegenüberstellung von Sprachwechsel vs. Sprachmischung ähnlich vor. Während beim Sprachwechsel ein Umschalten zwischen unterschiedlichen Idiomen gegeben ist, zeichnet sich die Sprachmischung dadurch aus, dass ein neues Idiom entsteht, das sich der Elemente mindestens zweier verschiedener Idiome bedient. Es handelt sich bei den beiden Termini also um die literarischen Analogien zu Code-Switching (Sprachwechsel) vs. Kontaktsprachen (Sprachmischung). In Aleksandr Puškins Evgenij Onegin (1830) ist demnach ein Sprachwechsel durch das Einfügen französischer Wörter gegeben; zudem gibt es hier insofern eine Sprachmischung, als Puškin in diesem „Roman in Versen“ getrennte Stillagen der russischen Sprache auflöst. Im 20. Jahrhundert sind dem gegenüber Sprachspiel und innovative Formbildung sowie verfremdende Effekte zentral, insbesondere im Futurismus, der Avantgardelyrik oder auch der Konkreten Poesie.

Mit der visuellen Ebene der konkreten Poesie ist eine weitere Ebene in der Typologie von Schmitz-Emans (2004) angesprochen, nämlich die Intermedialität, die sie als besondere Spielart der Sprachmischungen ansieht. Allgemeiner: die intermediale Integration non-verbaler Sprachen (Bild-, Ton- und Körper-Sprachen), also differenter semiotischer Systeme, stellt ebenfalls eine Form der Vielsprachigkeit dar (15). Sie lenkt so die Aufmerksamkeit in der Vielsprachigkeitsforschung auf die Beziehungen einzelner Künste und Medien, etwas das in dem vorliegenden Band der Beitrag von Ilja Kukuj näher beleuchtet. Auch hier findet sich eine Parallele zu Dembecks Typologie (2017), und zwar zu seinem Konzept der ,Mehrschriftlichkeit‘, für das er zwischen einer thematisierten (oder auch erzählten) gegenüber einer „gezeigten“ Mehrschriftlichkeit differenziert.4 Letztere beinhaltet den Einsatz von Handschrift oder spezifischer kalligraphischer Praktiken innerhalb desselben Alphabets. Über die sichtbare Kombination mehrerer Schriften hinaus betrachtet er das Zusammenspiel von Schrift und Bild als eine Form der Mehrschriftlichkeit, die mit der Popularität der Graphic Novel aktuell einen Trend zur Integration graphisch-visueller Elemente im literarischen Text erkennen lässt. Dabei lässt sich beobachten, dass ein unkonventionelles Schriftbild oft mit einem inhaltlich-thematischen Irritations-Effekt korrespondiert: Kulturdifferenzen werden so dargestellt oder auch Rätsel (beispielsweise in Form kryptographischer Codes und rätselhafter Geheimschriften).

Solche Formen intermedialer Vielsprachigkeit ebenso wie die historische Forschung zu Vielsprachigkeit (in dem vorliegenden Band beispielsweise mit Agnes Kims Analyse von Dramentexten auch von Unterhaltungsliteratur im 19. Jahrhundert) lassen textuell literaturwissenschaftliche, insbesondere mit Blick auf das Publikum kulturwissenschaftliche oder poietisch für das Œuvre der Schreibenden gegebene Fragen hervortreten: Wie sehr war und ist ein Aspekt der Mehrsprachigkeit, dass die mit ihr bis zu einem gewissen Grad gegebene Unverständlichkeit gelassen oder gar erfreut als Teil der literarischen Kommunikation betrachtetet wurde und wird, als Teil einer Begegnung also mit etwas mehr oder minder Fremdem, auf das überhaupt erst eine Neugier geweckt wird? In diesem Sinne dürfte mehrsprachige Literatur immer ein „translanguaging“ (Taylor-Bartty/Dembeck 2023: 12) zelebrieren.

Für Michel Butor (1996)5 ist die Idee von der immanenten Vielsprachigkeit des jeweiligen Einzeltextes zentral, u.a. durch fremdsprachige Zitate und Übersetzungsprozesse, die den Anschluss an viele Sprachen gleichzeitig bedeuten. Innerhalb der Slavistik findet sich eine solche Idee bereits in Michail Bachtins Überlegungen zum neuzeitlichen Roman (vgl. Bachtin 1979: 156f.). Nicht nur über die verschiedenen Sprechweisen einzelner Charaktere, die es Bachtin zufolge zudem mit sich bringen, dass im Roman eine große Bandbreite an Idio-, Dia- und Soziolekten aufgerufen wird, ensteht in der Integration von Gattungen aus anderen Literaturen eine Vielsprachigkeit bzw. Polyphonie. Ivana Pajić macht sich Bachtins Konzeption zunutze, um über die Polyphonie Besonderheiten der Mehrsprachigkeit bei deutschsprachigen Autorinnen aufzuzeigen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen.

3.1Typologien

Die bereits angeklungenen Reflexionen von Spielarten literarischer Vielsprachigkeit systematisiert Natalia Blum-Barth (2019 und 2021). Mit Blick auf die Mehrsprachigkeit von Autor:innen verweist sie zunächst auf eine textexterne bzw. textübergreifende Mehrsprachigkeit, die (neben dem Sprachvermögen der Schreibenden) das Gesamtwerk, das in zwei oder mehr Sprachen vorliegt, umfasst (z.B. Vladimir Nabokov, für dessen Œuvre Selbstübersetzungen eine wichtige Rolle spielen; im Fall von Olga Martynova ist das an die Gattung gebunden, hat sie doch Lyrik auf Russisch,1 Prosa auf Deutsch verfasst).

Für die textinterne Mehrsprachigkeit führt Blum-Barth eine ganze Palette an Phänomenen an, die Dembeck (2017) ganz ähnlich vorschlägt: Nach Blum-Barth gibt es einerseits (1) eine manifeste Mehrsprachigkeit, die an der Oberfläche eines Textes und unmittelbar wahrnehmbar ist. Sprachwechsel innerhalb eines literarischen Textes (Nebeneinander der Sprachen durch Zitate, Figurenrede, Mnemolexeme u.ä.) und Sprachmischung (Phantasiesprachen, Verballhornungen, phonetische Transkription u.a.) sind hier die gängigen Formen (vgl. dazu im vorliegenden Band Agnes Kims Beitrag zur Figurenrede im deutsch-österreichischen Drama). Diese manifeste Form kann sich auch als „Mehrschriftlichkeit“ äußern, wenn sie z.B. über kyrillische oder hebräische Buchstaben sichtbar wird (vgl. zu solchen Phänomenen im vorliegenden Band die Beiträge von Eva Hausbacher und Mariya Donska). Der Umgang mit anderssprachlichen Elementen ist häufig spielerisch, etwas das in Uljana Wolfs meine schönste lengevitch besonders markant ist, sich beispielsweise auch in Olga Martynovas Gedichtzyklus Von Tschwirik und Tschwirka oder in Ilma Rakusas Love after love findet.

Dem gegenüber verzeichnet Blum-Barth folgende Typen (2) einer latenten Mehrsprachigkeit, die in der Tiefenstruktur eines Textes verortet, also palimpsesthaft und nicht unmittelbar wahrnehmbar ist: Unmarkierte Zitate oder Anleihen aus anderen Texten stehen hier neben „verdeckten“ Übersetzungen, Sprachlatenz und Sprachecho, es gibt also Einwirkungen auf die Grundsprache sowohl auf der lautlichen als auch auf der syntaktischen Ebene. Nicht nur erscheint Fremdsprachigkeit hier als ästhetisches Prinzip, sie durchdringt Texte vielmehr derart vielfältig, dass Monolingualität als Chimäre erscheint. Verstärkt wird das durch einen letzten Typus der Mehrsprachigkeit, die exkludierte Mehrsprachigkeit, der das eingangs mit Roelcke (2022) angeführte Ineinandgreifen individueller und politischer Dimensionen von Vielsprachigkeit abermals hervortreten lässt. Blum-Barth zufolge ist diese dann gegeben, wenn eine andere Sprache im Text thematisiert, aber nicht realisiert wird, z.B. in Form von Inquit-Formeln und Sprachverweisen (Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt mit einer Dolmetscherin als Protagonistin ist hier ein einschlägiges Beispiel). In ihrem Beitrag in dem vorliegenden Band konzentriert sich Blum-Barth dann auf die biographische Seite und sucht nach Möglichkeiten, verschiedene Formen von mehrsprachiger Autorschaft zu typologisieren.

Innerhalb der manifesten Mehrsprachigkeit ist die in der Figurenrede die augenfälligste Form literarischer Mehrsprachigkeit. Sie kann unauffällig oder offensichtlich auftreten; Funktionen von Mehrsprachigkeit wurden v. a. dafür reflektiert: Ein Sprachwechsel in der Figurenrede ist beispielsweise Teil von deren Charakterisierung, wie das etwa in Romanen des 19. Jahrhunderts prominent ist, dient aber – man denke an Lev Tolstojs Vojna i mir (1869, Krieg und Frieden) – auch einer Repräsentation der russisch-französischen Diglossie in Teilen der Gesellschaft. Ganz andere Funktionen erhält diese Form der Mehrsprachigkeit beispielsweise in der Lagerliteratur, in der postkolonialen bzw. in der postmigrantischen Literatur, wo Sprachdifferenzen in ihrer soziokulturellen Einbettung für Hierarchisierungen und damit auch Darstellungen von Machtverhältnissen genutzt und so unmittelbar zur Kritik werden. Wenn Zitate als Verweis auf fremde Rede und Rekurs auf fremde Sprachverwendung2 genutzt werden, insbesondere wenn handelnde Figuren Zitate benutzen, treten Bildungsanspruch und Kulturdifferenz – wenn auch nicht notwendig mit ihrem kritischen Potenzial – hervor. Diese Formen der Vielsprachigkeit finden sich auch in der Popliteratur (Thomas Meinecke, Christian Kracht). Dembeck formuliert die Systematisierung zur Frage der Motivation von Zitaten (im Original oder in Übersetzung) als ein Forschungsdesiderat. Zemanek/Willms (2014) führen eine ganze Reihe von Funktionen manifester Mehrsprachigkeit an, bei der textinterne und textexterne Wirkungsziele immer wieder interagierten (vgl. 6): Vielsprachigkeit kann als Verweis allgemein auf sprachliche Realitäten genutzt werden, der auch die Illusionsbildung verstärken kann; für die anderssprachige Figurenrede verweisen sie vor allem auf die Charakterisierung hinsichtlich der kulturellen Herkunft, des Bildungsstands und der sozialen Zugehörigkeit (vgl. 4). Mit Blick auf die Präsenz des Fremden ließen sich über die Mehrsprachigkeit „kulturelle Unterschiede überbrücken oder exponieren und problematisieren“ (5), was freilich zu sehr verschiedenen Funktionen führt. Hinsichtlich der Autor:innen gehören Bildungsnachweis oder die sprachhistorische Situation ebenso zu den Funktionen von Mehrsprachigkeit wie Spieltrieb und Sprachskepsis (ibid.). In dem vorliegenden Band weisen die Beiträge ganz unterschiedliche Funktionen von (latenter wie evidenter) Vielsprachigkeit auf. In ihrere Bandbreite werfen sie die Frage auf, ob hier eine Systematisierung möglich ist oder ob nicht – wie bereits mehrfach angeklungen – Vielsprachigkeit mit ihrem Potenzial für literarische Verfahren eine der Grundlagen für literarische Kreativität darstellt.

3.2Neue Akzente in der Forschung

Die Forschung ist von Verschiebungen der Fragestellungen und Konzeptionen geprägt: wird in den 1990er-Jahren noch in erster Linie von der Sprachbiographie der mehrsprachigen Autor:innen bzw. dem soziolinguistischen Produktionskontext eines Werkes ausgegangen, so werden zuletzt die mehrsprachigen Textverfahren immer deutlicher als literarische Experimente bzw. als Effekte der Poetizität von Texten gefasst. Zunehmend steht die „inszenierte Eigendynamik und Beweglichkeit von Sprachen wie von Sprache überhaupt“ im Mittelpunkt (Kilchmann 2017: 186). Jüngere Fallstudien wenden sich verstärkt dem literaturästhetischen Gehalt zu, den Schreibverfahren und der dahinterliegenden Poetik – Kilchmann pointiert das als den „Gebrauch einer fremden Sprache als Grundform poetischer Verfremdung“ (2012: 110). Sie konstatiert zudem die zunehmende Produktivität mehrsprachiger literarischer Texte seit der Jahrtausendwende, insbesondere die „Erweiterung poetischer Verfahren […], die auf eine Durchbrechung einheitlich normierter – linear, nationalsprachlicher – Schriftbilder nebst zugehörigen Denkweisen und Lebensentwürfen abzielen“ (Kilchmann 2017: 186). Angesichts dieser immer offener reflektierten Vielsprachigkeit in der literarischen Praxis fordert beispielsweise Dembeck (2017) eine Philologie der Mehrsprachigkeit: Damit verbunden ist die Infragestellung der nationalsprachlichen und monolingualen Determinierung von Literatur. Mehrsprachige Literatur stellt dann keinen „Sonderfall“ mehr dar, keine literarische Randerscheinung (z.B. der „Migrationsliteratur“), sondern sie wird wahrgenommen als eine rege Literatur, die auf dem dialogischen Potential, das Sprachen per se inhärent ist, beruht. Mehrsprachige Texte ließen sich hier neben Texten der Avantgarde, der Konkreten Poesie oder der Spoken Word-Literatur verorten.

Gabriella Pelloni & Ievgeniia Voloshchuk (2023) gehen der Frage nach, in welchen Formen und mit welchen Funktionen literarische Mehrsprachigkeit in Prozessen der Transkulturation zum Ausdruck kommt:

„Transkultur“ wird […] auch als ein Befreiungsprozess aus dem ‚Gefängnis der Sprache‘ – als Einsprachigkeit verstanden – betrachtet, d.h. die Befreiung aus unbewussten, unreflektierten Prädispositionen und Vorurteilen der ‚einheimischen‘, naturalisierten Kultur, die in der Sprache unhinterfragt weiter tradiert werden. (20)

In ihrem Sammelband geht es also einerseits um die spezifische Qualität und Prägung literarischer Mehrsprachigkeit, andererseits gehen die Beiträge der Frage nach dessen Wechselwirkungen mit dem sogenannten „transkulturellen Schreiben“ bei Autor:innen mit Migrationshintergrund nach (vgl. 8).

Durchaus ähnlich hinterfragen Renata Cornejo und Tamás Lénárt (2024) die traditionellen mit einer singulären Muttersprache verbundenen Implikationen, die in das Spannungsverhältnis zwischen eigen und fremd hineinspielen.1 Vielsprachigkeit rückt demnach Sprache und Identität in ein anderes Licht und untergräbt, pluralisiert oder diversifiziert geläufige Identitätskonzepte (9). Für die Gegenwart akzentuieren sie den gesellschaftlichen Wandel. Aufgrund eines wachsenden Mobilitätsanspruchs einer globalen Gesellschaft könne „[u]nsere Welt […] nur in mehreren Sprachen erfasst und verstanden werden“ (10). So wird gezeigt, dass literarische Vielsprachigkeit ein umfassendes literarisches Phänomen darstellt,2 das sowohl in unserer aktuellen sozialen und politischen Gegenwart präsent, als auch in unserer literarischen und poetischen Wahrnehmung der Welt verankert ist (vgl. 8). Das spiegelt sich auch in der slavistischen Mehr- und Vielsprachigkeitsforschung.

4.Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit in der Slavia

Seit den 2000er-Jahren ist Mehr- bzw. Vielsprachigkeit als Forschungsthema in den philologischen Teildisziplinen der Linguistik, der Sprachdidaktik1 und Fremdsprachendidaktik2 sowie der Literaturwissenschaft3 etabliert. Auch in der Slavistik hat das Forschungsfeld „Literatur und Mehrsprachigkeit“ in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufschwung erfahren, wobei wie oben erwähnt der Fokus der Forschung weg von sprachbiographischen und soziolinguistischen Fragen hin zu den (mehr-)sprachlichen Dynamiken und textuellen Verfahren – von der Mehrsprachigkeit der Autor:innen zur Mehrsprachigkeit der Texte – erfolgt ist. Ein höchst anregender Beitrag ist der 2004 publizierte Aufsatz von Erika Greber, in dem sie die vielfältigen Formen und Funktionen sprachlicher Hybridbildungen in einigen Kurzgeschichten Tėffis analysiert. Tėffi, die als Ethnographin der ersten russischen Emigrationswelle in Paris bezeichnet werden kann, entwirft in der Darstellung eines zwei- oder mehrsprachigen Exilkontexts eine Poetik der Interkulturalität, die Greber als „literarische Kosmopolitik“ bezeichnet (Greber 2004: 388). Die Sprachkreuzungen ebenso wie die Doppelschriftigkeit in Tėffis Texten, die nicht nur die Figurenrede kennzeichnen, sondern auch von erzähltechnischer Relevanz sind, erzeugen humorvolle, verfremdende oder auch sprachkritische Effekte. Von den neueren Forschungsarbeiten sind die Publikationen von Miriam Finkelstein u.a. zur russisch-amerikanischen transkulturellen Gegenwartslyrik (2016) oder Diana Hitzkes Nach der Einsprachigkeit. Slavisch-deutsche Texte transkulturell (2019) zu nennen; auch in einem der letzten Bände zur historischen Mehrsprachigkeit von Franceschini et al. (2023) sind einige slavistische Beiträge vertreten.

Die slavischsprachigen Gebiete stellen einen vielseitigen Bereich dar, der in der anglophonen Dominanz (vgl. Taylor-Batty/Dembeck 2023: 9)4 bislang wenig berücksichtigt worden ist.5 Einen Monolingualismus gab es im Alltag nicht. Allerdings wurde in der Institutionalisierung (von Einzelsprachen und Nationalliteraturen) sehr wohl eine Einsprachigkeit etabliert. Dennoch dürfte zumindest in Formen der Sprachlatenz die Vielsprachigkeit auch in den Literaturen ihre Spuren hinterlassen haben. In vielen Literaturen hatte darüber hinaus das Französische als Bildungssprache bzw. Sprache des Adels historisch und kulturell eine andere Stellung als innerhalb der westeuropäischen Staaten und ist weit bis ins 19. Jahrhundert hinein in die Literatur eingeflossen (wie in den oben genannten Beispielen literarischer Werke von Puškin und Tolstoj bereits angeklungen ist). Eine besondere Stellung haben zudem viele slavische Sprachen als Minderheitensprachen oder marginalisierte, z.T. lediglich lokale Mehrheitssprachen. Mindestens bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist für viele slavische Literaturen also das Einsprachigkeitsparadigma weniger deutlich ausgeprägt. Im vorliegenden Band wird das spezifische Potenzial einer Minderheitensprache und ihrer Literatur in Prunitschs Beitrag über das Sorbische deutlich: Die Forderung nach umfassender Teilhabe am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs bildet den Rahmen für die ausgenommen kritische Lyrik des sorbischen Dichters Kito Lorenc in Bezug auf die Krise von Natur, Gesellschaft und ethnisch-sprachlicher Abgrenzung in der DDR ab Mitte der 1980er-Jahre. Andere Aspekte von – in diesen Fällen durch das hegemoniale Russisch unterdrückten – Sprachen treten beispielsweise in den Beiträgen von Donska, Finkelstein und Willms hervor,6 in deren Analysen politische Stellungnahmen ebenso wie autobiographische Befreiung und poetisches Experimentieren mit Sprachwechseln und -mischungen aufgezeigt werden.

Migrationsbewegungen bestehen selbstverständlich über Zeiten und Kulturräume hinweg und stellen allgemein einen produktiven Faktor literarischen Schreibens dar. In den slavischen Kulturen haben sie allerdings eine auffällige Prominenz, die sich literarisch niederschlägt. Wohl bekannt sind etwa im Fall Polens die sogenannte Große Emigration nach der Niederschlagung des Novemberaufstands 1830/1831, so dass sich das kulturelle Zentrum zeitweise nach Paris verlagerte; eine weitere Emigrationswelle zog die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nach sich.7 In Russland führte die Oktoberrevolution zu einer massiven Fluchtbewegung auch von Autor:innen, zunächst mit Prag und Berlin, dann Paris als Zentren,8 denen – nach den Exilant:innen aus sowjetischer Zeit, die sich häufig in den USA niederließen – mittlerweile weitere Zentren wie Riga oder Tel Aviv als Lebensmittelpunkt von Autor:innen zur Seite stehen. Aus der ČSSR flohen viele Intellektuelle nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968,9 und die jugoslawischen Zerfallskriege ließen unzählige das Land verlassen. Angesichts der vielen Länder, in denen Autor:innen leben, die einen biographischen Bezug zu den jugoslawischen Nachfolgestaaten haben, und der vielen Sprachen, in denen sie schreiben, hat Hana Stojić die Bezeichnung „Archipel Jugoslawien“ geprägt.10 Betont wird damit der gemeinsame südosteuropäische Bezugsrahmen bzw. der kulturelle Raum einer vielsprachigen Literatur.11 Leider haben in den vorliegenden Band Fragen literarischer Mehrsprachigkeit im Fall des Burgenlandkroatischen oder des Kärntnerslowenischen, das mit Florian Lipuš einen namhaften Vertreter hat und das in Maja Haderlaps neuem Roman Nachtfrauen, dem wir das Motto für diesen Band entnommen haben, in erster Linie thematisch präsent ist, keinen Eingang gefunden.

Geht man mit einem offenen Ohr durch die Straßen, wird wahrnehmbar, dass unsere gesellschaftliche Realität eine mehr- und vielsprachige ist. Mehrsprachige Literatur spiegelt diese Entwicklungen und bricht damit die gewohnten Einsprachigkeitsnormen.

5.Die Beiträge des Bandes

Die Beiträge des Bandes sind in drei Abschnitte untergliedert: Am Beginn stehen methodisch-programmatische Blickwinkel auf die Mehr- und Vielsprachigkeitsforschung. Dem folgen Fallstudien zu zeitgenössischen Autor:innen, ehe der dritte Teil (chronologisch rückläufig) historische Perspektiven (von den 1990er-Jahren bis ins 19. Jahrhundert) einnimmt.

Neuere Forschungsperspektiven

Eva Hausbacher betrachtet am Beispiel deutsch-russischer Gegenwartsromane (Lena Gorelik, Sasha Marianna Salzmann) Funktionsweisen manifester und latenter Realisierungsformen mehrsprachiger Poetizität analog zu psychoanalytischen Modellen. Sie erkundet damit neue Möglichkeiten, Spielarten von latenter, an der Textoberfläche nicht deutlich sichtbarer Mehrsprachigkeit methodisch fundiert nachzugehen, und zwar auf Grundlage einer Zusammenführung von Jakobsons Modellen von Metonymie und Metapher mit Aspekten der psychoanalytischen Traumdeutung.

Natalia Blum-Barth schlägt hier eine Typologie für die biographische Annäherung an mehrsprachige Autor:innen vor, die dem oben thematisierten Wechselspiel von individueller Mehrsprachigkeit und gesellschaftlicher Vielsprachigkeit Rechnung trägt.

Ilja Kukuj rückt mit der visuellen Mehrsprachigkeit die intermediale Vielsprachigkeit in den Fokus. Als erste Künstlerin aus der Sowjetunion nahm Rea Nikonova zusammen mit Sergej Sigov ab Mitte der 1980er-Jahre aktiv an der Arbeit des internationalen Mail-Art Netzwerks teil. Der Beitrag zeigt am Beispiel der Zeitschrift Double, welche Rolle die Sprache in der Gattung der visuellen Poesie innerhalb einer mehrsprachigen Edition mit ihren Lese- bzw. Interpretationsmöglichkeiten spielt.

Miriam Finkelstein widmet sich den Mütter-Sprachen in der russophonen und russischen Gegenwartsliteratur mit der Frage, inwiefern der Bezug auf ihre Sprachen Regelabweichungen ermöglicht, individuelle Sprach- und Ausdrucksweisen, die in der Standardsprache nicht vorgesehen bzw. toleriert sind. Aus dem Rückgriff etwa auf das Belarusische oder Ukrainische erweist sich ein solches Zurückweisen der Sprachnormen als Möglichkeit der individuellen Ausdrucksformen, das die von Finkelstein analysierten mehr- und vielsprachigen Texte prägt.

Zeitgenössische Positionen

Weertje Willms betrachtet die ‚Vielsprachigkeit der Sprache‘ im Werk der 1982 in Minsk geborenen belarusischen Autorin Volha Hapeyeva. Für die Autorin (vornehmlich eine Lyrikerin) hat das Verlassen ihrer Heimat 2020 aus politischen Gründen – seither lebt sie in München – auch zu einem teilweisen Sprachwechsel geführt und womöglich (so legt ihr Rekurs auf einen uralten Topos der Exilliteratur nahe) zu einer Heimat, wie die Sprache im Allgemeinen und die Poesie im Speziellen sie darstellen.

Ähnlich wie für Hapeyeva die Wahl des Belarusischen als Literatursprache ein politisches Bekenntnis darstellt, sind die Autor:innen und ihre Werke, die Mariya Donska analysiert, eminent politisch. Donska stellt die Frage, wie und warum in einem Text Sprachen gemischt werden, in den Mittelpunkt ihrer Reflexion von Mehrsprachigkeit innerhalb von Einzeltexten sowie einem Gedichtband in der ukrainischen Literatur nach 2014.

Ivana Pajić greift Bachtins Konzept der Polyphonie bzw. Dialogizität für die Analyse ausgewählter Romane deutschschreibender Autorinnen mit Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien auf. Stellvertretend für eine Reihe von Autorinnen, deren Leben, Verortung, Selbstverständnis und Werke sich durch eine fruchtbare Vielfalt auszeichnen, zeigt sie v. a. für Meral Kureyshis Elefanten im Garten (2015) und Ivna Žics Die Nachkommende (2020) die Vielschichtigkeit dieser Texte auf, die auf den interkulturellen Beziehungen beruhen.

Andreas Leben wendet sich der manifesten Mehrsprachigkeit in der aktuellen slowenischen Literatur zu. Vielsprachigkeit, sprachliche Polyphonie und asymmetrische Relationen zwischen Sprachen waren maßgeblich an der Herausbildung slowenischer literarischer Genres und des polyzentrischen und per se mehrsprachigen slowenischen Literatursystems beteiligt. Vor diesem Hintergrund nähert er sich der mittlerweile kaum noch fassbaren Vielfalt von Verfahren, die Mehrsprachigkeit als ein zentrales textkonstitutives Element in der slowenischen Gegenwartsliteratur aufweisen.

Historische Dimensionen

Anna Förster betrachtet den 1990 von dem slowakischen Schriftsteller Martin M. Šimečka gegründeten Verlag Archa, in dem neben regimekritischen Schriften Übersetzungen westeuropäischer und nordamerikanischer Literatur und Philosophie ins Slowakische und Tschechische publiziert wurden. Unter Einbezug der historischen Entwicklungen lotet sie anhand des zweisprachigen Verlags- und Übersetzungsprogramms neben kultur- und gesellschaftspolitischen Aspekten auch Besonderheiten der Vielsprachigkeit im Fall einander so nahestehender Sprachen wie dem Slowakischen und Tschechischen aus.

Christian Prunitsch stellt das Œuvre von Kito Lorenc in den Mittelpunkt seiner Analyse der Vielsprachigkeit im Fall des Sorbischen. Die Institutionalisierung der sorbischen Kultur in der DDR nach 1945 tritt dabei ebenso hervor wie die Chancen, aber auch die Risiken literarischer Mehrsprachigkeit im Sinne einer ideologiekritischen Praxis unter den spezifischen Bedingungen einer kleinen Literatur im Sozialismus wie im Kapitalismus.

Bisera Dakova analysiert das fremdartige Lexikon der bulgarischen Symbolisten. In der Gegenüberstellung des Soziolekts der Dichterströmung mit den Idiolekten der einzelnen Mitglieder fordert sie eine literaturgeschichtliche Re-Lektüre dieser Strömung und zeigt eine Vielsprachigkeit auf, die in ihrem Facettenreichtum und innovativen Verfahren häufig unterschätzt wird.

Agnes Kim analysiert die Mehrsprachigkeit im tschechischen und österreichisch-deutschen Drama des 19. Jahrhunderts, und zwar im Wiener Volksstück. Indem sie die Verfahren der sprachlichen Gestaltung mehrsprachiger Figurenrede in den Mittelpunkt rückt, zeigt sie beispielhaft auf, wie sich der Repräsentations- und Imitationscharakter literarischer Sprache auch für die linguistische Ergründung historischer Sprachkontaktphänomene nutzen lässt. Zugleich macht sie damit den tschechisch-deutschen sekundären Ethnolekt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – auch „Kuchldeutsch“ oder „Böhmakeln“ genannt – linguistisch fassbar.

Anja Burghardt nimmt ein Fragment des polnischen Dichters Cyprian Norwid als Ausgangspunkt für die Betrachtung verschiedener Kontexte, in denen in der polnischen Romantik eine Reflexion von Mehr- und Vielsprachigkeit gegeben ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der latenten Mehrsprachigkeit in Form der Rezeption insbesondere deutschsprachiger Texte.

Literaturverzeichnis

I.Neuere Forschungsperspektiven

Wenn das Russische zwischen den lateinischen Buchstaben hindurchrieselt

Mehrsprachigkeit in der deutsch-russischen Gegenwartsliteratur und ihre psychoanalytische Erschließung

Eva Hausbacher

Abstract: Since the 2000s, multilingualism has become a prominent research field also in the literary criticism of Slavonic Studies. Here textual devises of multilingualism have been viewed not any more in the context of the authors’ biographies, but rather as literary experiments or as an effect of the literacy of texts and of the multilingual capacities of language itself. In the chapter at hand I analyze the manifest and latent realizations of multilingual poetics in contemporary novels of German-Russian authors (Lena Gorelik and Sasha Marianna Salzmann) using psychoanalytical models. Latent multilingualism that is neither explicit nor visible at the textual surface is a particular challenge in multilingual research. Here I suggest a new approach, namely to follow psychoanalytical methods for developing analytical tools in order to mark latent language aspects. In psychoanalytical literary theory, processes of shifting (Verschieben) and intensifying (Verdichten) are equated with Roman Jakobson’s metonymical and metaphorical language operations. As in psychoanalytical analyses they allow us to get access to that which is “actually meant”, in multilingual analyses, the same methods allow us to recognize the latent parts and aspects of other languages in a multilingual text.

Keywords: Manifest and latent forms of multilingualism – psychoanalytical models for the exploration of multilingualism – Lena Gorelik – Sasha Marianna Salzmann

1.Einleitendes

Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch. Ich hatte das Glück, mich in der Kluft der Sprachen, im Tausch, in der Verwechslung von Rollen und Blickwinkeln zu bewegen. (Petrowskaja 2014: 115)

In diesem Zitat aus dem mehrfach preisgekrönten Text Vielleicht Esther von Katja Petrowskaja (2014) klingt bereits an, was dem vorliegenden Beitrag zu den Formen literarischer Mehrsprachigkeit als Prämisse zugrunde liegt: dass das literarische Schreiben unter den Bedingungen eines Sprachwechsels, also das literarische Schreiben in einer anderen als der sog. „Muttersprache“, nicht als defizitär zu bewerten ist, sondern als Gewinn, ja sogar als Befreiung – es war „ein Schritt ins Freie“ bekräftigt Petrowskaja in einem Interview mit Volker Weidermann diese Sicht (Petrowskaja, zit. nach Weidermann 2015: 104). Auch die Erfolge, die etwa die deutsch-russische, wie auch die deutsch-ukrainische oder deutsch-türkische Gegenwartsliteratur in den letzten zwei Jahrzehnten am Literaturmarkt erzielen konnten, hängen – so meine ich – wesentlich mit dem innovativen Potential zusammen, das die Mehrsprachigkeit in sehr vielfältigen Formen1 und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Funktionen2 in diese Texte einspeist. Entsprechend verweist die Forschung3 auf die große Verbreitung und die enorme Produktivität von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten, die insbesondere seit den 2000er-Jahren einen deutlichen Anstieg erlebt und „zur Erweiterung poetischer Verfahren geworden ist, die auf eine Durchbrechung einheitlicher normierter – linearer, nationalsprachlicher – Schriftbilder nebst zugehörigen Denkweisen und Lebensentwürfen abzielen.“ (Kilchmann 2017: 186). Vor allem in inter- bzw. transkultureller Literatur – aber nicht nur dort – sind immer mehrere Sprachen am Werk,4 die textinterne wie textexterne Wirkungsziele generieren und so für die Ästhetik eines Textes gleichermaßen wie für seine sozio-kulturelle Bedeutung relevant sind.

2.Fragestellung und methodische Überlegungen

Es sind zwei neue Prosatexte aus diesem Literatursegment, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen: Der 2021 erschienene, bislang letzte Roman von Lena Gorelik Wer wir sind (Abschnitt 3) und Sasha Marianna Salzmanns zweite Romanpublikation Im Menschen muss alles herrlich sein ebenso von 2021 (Abschnitt 4, 5 und 6). Der vergleichende Blick auf diese beiden Texte ist insofern aufschlussreich, weil wir es hier sowohl mit sehr ähnlichen biographischen Kontexten zu tun haben, als auch mit auffälligen Parallelen in der Genrewahl, den zentralen Narrativen und textuellen Strukturen: Beide Autorinnen kommen aus einer russisch-jüdischen Familie, in einem ganz ähnlichen Alter – Salzmann war zehn, Gorelik elf Jahre alt – wandern sie mit ihren Eltern aus der Sowjetunion nach Deutschland aus und erleben die Problematik der Migration, des Andersseins und der kulturellen und sprachlichen Anpassung; beide legen ihren russischen Akzent relativ schnell ab, und sie beginnen auf Deutsch zu schreiben. Die beiden Romane, um die es im Folgenden gehen wird, sind autofiktionale Erinnerungs- bzw. Familienromane, beide erzählen – wenn auch in Setting und erzählerischer Perspektivierung unterschiedlich – dieselbe Story, wie sich die Emigration aus Sowjetrussland nach Deutschland im Generationenwechsel in den Familien vollzieht. Große Differenzen allerdings zeigen sich in den Modi der mehrsprachigen Schreibformen und damit in der sprachlich-stilistischen Dimension der beiden Romane: Dominieren bei Gorelik sehr eindeutig manifeste Formen der Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit, die in erster Linie darauf abzielen, im Text Affekträume zu evozieren, die in dieser Form nur durch den Einsatz russischer Sprachelemente erzeugt werden können, so haben wir es im Salzmann-Roman über weite Strecken mit einem zumindest an der Oberfläche „rein“ deutschsprachigen Text zu tun. Lesen wir allerdings Salzmanns Ausführungen über ihre Schreibweise, wie sie sie beispielsweise in ihrer Mainzer Poetikvorlesung mit dem sprechenden Titel Dunkle Räume (2019) darlegt,1 so muss angenommen werden, dass auch in ihrer Prosa das Russische präsent ist, allerdings in latenter Form. Die Kenntlichmachung dieser quasi unsichtbaren, echogleichen Präsenz des Russischen ist eine spannende Herausforderung, auch weil es zu den latenten Mehrsprachigkeitsformen in der Forschung bislang wenig erhellende Studien gibt2 und in den Auseinandersetzungen mit Sprachlatenz bzw. Sprachecho – ganz ähnlich wie in den poetologischen Texten der Autor:innen selbst – häufig mit metaphorischen Umschreibungen operiert wird: da findet sich die Bildlichkeit des Palimpsests (Natalia Blum-Barth 2019: 23), des „unsichtbaren Mundes“ (Wladimir Krysinski 2002: 39) oder der „zweiten Zunge“ (Carmine Chiellino 2003: 14), es ist die Rede vom „herauftönenden Unterpfand“ (Marica Bodrožić 2007: 11), von einem „geheimen Text“ (Terézia Mora 2016), der mit im Spiel ist oder von einem „Hall- bzw. Echoraum“ (Ilma Rakusa 2006: 30), den die unsichtbare Erstsprache im „Kopforchester“ der Autor:innen (Ilma Rakusa 2020: 134) evoziert. Diese bilderreichen Umschreibungen in der Rede von der Subversion und Tarnung der latenten Sprache in einem mehrsprachigen Text erinnert stark an psychoanalytische Diskurse und regt dazu an, diese in die Kenntlichmachung latenter Sprachanteile eines Textes methodisch einzubeziehen: einerseits – so meine Hypothese – könnte die Analogie zur Traumanalyse bzw. die bei Jakobson3 weiterentwickelten Überlegungen zu metonymischen und metaphorischen Sprachoperationen ein Weg sein, die latenten Anteile der Erstsprache im Text zu erschließen; diesen verfolgt der vorliegende Beitrag. Andererseits ließe sich auch Julia Kristevas Modell der Semiotisierung des Symbolischen im kreativen Prozess4 für den Nachweis latenter Anteile in mehr- bzw. vielsprachigen Texten adaptieren. In der Mehrsprachigkeitsforschung fehlen psychoanalytisch ausgerichtete Ansätze weitgehend.5 Allerdings sind in neueren literaturwissenschaftlichen Forschungen, die den Affective Turn mit Fragen der Mehrsprachigkeit verbinden,6 in Bezug auf manifeste mehrsprachige Formen psychoanalytische Überlegungen im Spiel. Esther Kilchmann zeichnet in ihrem Beitrag zu Sprachwechsel und Erinnerungsprozesse[n] (2019) anhand der Prosa von Marica Bodrožić nach, wie auf der semantisch-emotionalen Ebene Affekte den Wörtern in der Erstsprache anhaften und wie sie im mehrsprachigen Text als Vehikel für (erzählte) Emotionen fungieren und mit verborgenen oder verdrängten, oft in die Kindheit zurückweisenden Erlebnissen verknüpft sind:

Ein Sprachwechsel [kann] Verdrängungsvorgänge überwinden und Zugang zu bestimmten Erinnerungen verschaffen […], die am affektiv besetzten Wortlaut selbst haften. (Kilchmann 2019: 202)

In der Zweitsprache sind die Wörter nicht (zumindest nicht so stark) affektiv besetzt, insofern herrscht hier eine befreiende Distanz; an den Berührungsflächen der Sprachen und entlang der Übersetzungsprozesse zwischen den Sprachen kann in der Erstsprache Verdrängtes im Aufscheinen von affektiv besetzten Wörtern wieder einsehbar bzw. formulierbar werden:

Die Verwendung von Zweit- und Drittsprachen wird dabei, so defizitär sie auch sein mag, zur Alternative zum Verstummen in der Erstsprache. (Kilchmann 2019: 212)

Wie Erinnerungsprozesse der Protagonistin aufgrund des Wechsels in die Erstsprache und deren starker Affektivität verlaufen, soll nun in der Analyse von Lena Goreliks Wer wir sind nachvollzogen werden.

3.Manifest mehrsprachig: Lena Gorelik Wer wir sind

Die manifest mehrsprachigen Verfahren in Lena Goreliks Roman Wer wir sind – dazu gehören der Wechsel und die Mischung von russischen und deutschen Wörtern und Wendungen in der Figuren- und der Erzählerrede,1 der Einsatz von Mnemolexemen2 und Verballhornungen,3 wobei zudem häufig in die kyrillische Schrift gewechselt wird – bedienen vielfach genau diese Funktion des Aufrufens besonders emotionaler Themen bzw. traumatischer Erfahrungen, wie beispielsweise den Tod des Onkels:

Ljowa. So weich, dieser Name.

Neuneinhalb Jahre und acht Tage nachdem er diesen Brief verfasst hatte, der den Pralinen beilag und den Veilchen und der nun in meinem antiquarischen Hängeschrank steht, ging Лëва ins Wasser. […] Solange sie [die Großmutter der Protagonistin, E.H.] aber noch denken kann, klagt sie. Klagt um das Söhnchen, um ihren Jungen, ‚сынок‘, um ‚Лëвушка‘, Ljowuschka, sie seufzt und ächzt und jammert und weint und schluchzt und würgt seinen Namen: Лëвушка. ‚Лëвушка, мой, Ljowuschka, meiner. (Gorelik 2021: 38ff.)

Im kreativen Prozess des Schreibens wird der zensurierende Türsteher für Worte – so der Titel eines Essays von Gorelik (2020), der implizit die psychoanalytische Dimension des Sprachwechsels zum Ausdruck bringt –, der für die Fehlerlosigkeit ihres deutschsprachigen Textes sorgt, quasi überlistet, sodass fremdsprachliche Einsprengsel Platz greifen können; mit Kristeva (1978: 88) gesprochen dringen semiotische Elemente in die symbolische Normsprache ein. Derer gibt es im Text sehr viele, es sind über vierhundert,4 Großteils russische, aber auch jiddische und einige wenige englische und schwäbische Wörter und Wendungen. Ihre Funktion besteht neben der Stärkung von Authentizität und der Charakterisierung der Sprecherfiguren in erster Linie darin, im Text Affekträume zu öffnen sowie im Familiengedächtnis teils verdrängte Erinnerungen aufzurufen.

In diesem autofiktionalen Roman erinnert sich das erzählende Ich – so wie Gorelik ist sie Schriftstellerin und Mutter – an die Zeit, als sie als Elfjährige mit ihrer Familie aus Leningrad nach Deutschland auswandert und in einem schwäbischen Asylwerberheim landet. Die Identitätskrise der Familienmitglieder wird nicht nur auf Heimatverlust und Entwurzelung zurückgeführt, sondern auch auf den schmerzhaften beruflichen und damit auch sozialen Abstieg, den die Auswanderung mit sich bringt. Im Kapitel „Verstaubte Diplome“ wird eindrücklich von den Demütigungen der Mutter am deutschen Arbeitsmarkt erzählt:

Was sind wir denn hier, nichts? […] Ich finde in unserer Sprache keine Worte, um zu sagen: Du bist das Gegenteil von Nichts. […] Sie meldet sich auf eine Zeitungsannonce hin, die nach einer Putzkraft sucht. […] Wie war es für sie, die beinahe fünfzigjährige Ingenieurin, die Universität mit Summa cum laude abgeschlossen, in einer fremden Sprache irgendwo anzurufen, um zu fragen, ob sie vielleicht ein fremdes Haus putzen darf? (Gorelik 2021: 201–211)

Die Frustration über die eigene Ausweglosigkeit kompensieren die Eltern, indem sie alle Energie auf den beruflichen Werdegang der Tochter setzen. Dass sie letztendlich „nur“ Schriftstellerin wird, enttäuscht die Eltern.

„Das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie auf, in der Sprache, die mir am besten gehorcht.“ (Gorelik 2021: 31), heißt es relativ zu Beginn im Roman. Es ist die deutsche Sprache, die sich die Protagonistin im Zuge ihrer Integration und als „Streberin“ in der Schule sehr rasch aneignet. Sie wird allerdings im Erzählen angereichert mit russischen Wörtern, Wendungen, Partikeln etc., denn im Deutschen „geht mir die Hälfte verloren, vor allem die Hälfte Gefühl“ (Gorelik 2021: 135), wie die Protagonistin meint. Immer wieder werden im Text die Schwierigkeiten, aber auch Potentiale einer mehrsprachigen Identität reflektiert. So heißt es an einer Stelle:

Ich weiß nicht, wie viel zwischen den Sprachen verloren geht, wie viele zarte Andeutungen ich übermale, wie viele Fragen hindurchrieseln zwischen den lateinischen Buchstaben. (Gorelik 2021: 289)

Um diese Leerräume zwischen den Sprachen möglichst klein zu halten, setzt die Autorin und mit ihr die Erzählerin russische Elemente ein. Es ist ihre russische Muttersprache, die eng mit Emotionen verknüpft ist, die sie „liebt, wie ein Kind“ (Gorelik 2021: 244), die „mehr Platz für Zärtlichkeiten“ (Gorelik 2021: 10) gibt, die niemals pathetisch oder übertrieben klingt (vgl. Gorelik 2021: 309). Es können Einzelwörter, wie „Babuschka“ (Gorelik 2021: 72), „Babulja“ (Gorelik 2021: 25) oder „Djeduschka“ (Gorelik 2021: 86) sein, die häufig die Funktion von Mnemolexemen haben; es können einzelne Partikel sein, wie die im Russischen typische Partikel nu, („Ну, пошли! – Nu, lass uns gehen!“, Gorelik 2021: 89), Sprichwörter oder ganze Sätze – immer eröffnen die russischen Sprachelemente Affekträume im Text, die dem rein deutschsprachigen Erzählen bzw. durch die Beschränkung auf eine direkte Übersetzung ins Deutsche verschlossen blieben. Die als Schriftstellerin bereits aufgrund ihrer Profession überdurchschnittlich sprachbewusste Erzählerin vergleicht ihre Erst- und ihre Zweitsprache und wechselt ihren Gebrauch wie „Register“, die situationsspezifisch über ein jeweils größeres Ausdruckspotential verfügen. Dies wird beispielsweise in Bezug auf die Kindererziehung deutlich: