Vierfleck oder Das Glück - Katharina Geiser - E-Book

Vierfleck oder Das Glück E-Book

Katharina Geiser

4,9

Beschreibung

Die Geschichte einer schillernden Viererbeziehung, die zeigt, dass die Voraussetzung für unser Glück oft nichts anderes ist als unsere Ahnungslosigkeit. Dies ist die Geschichte eines Mannes, der einiges gewinnt und alles verliert. Eugen Esslinger, Sohn eines Miederwarenfabrikanten, lebt zunächst von seinem ererbten Vermögen, ist homosexuell und heiratet Mila Rauch, mit der er drei Kinder hat. Deren Vater aber ist er nicht. Seine Frau hat eine lebenslange Beziehung mit dem berühmten Indologen Heinrich Zimmer. Dieser ist mit Christiane von Hofmannsthal, der Tochter des großen Dichters, verheiratet. Auch wenn Eugen Esslinger hinter allen anderen verschwindet, steht er in diesem Roman im Mittelpunkt, als ein Mensch, der viel liebt, der früh verlernt, sich zu behaupten, und der in seinem Leben wie in den Leben derer, mit denen er es teilt, selten mehr ist als eine Nebenfigur. Und der in dem einen entscheidenden Moment nicht da ist, um jemanden zu retten …Es sind vier Jahrzehnte deutscher Geschichte (1900-1944), die in diesem Roman lebendig werden, vor allem, und das ist die große Kunst seiner Autorin, in den Details, abseits der Hauptsachen und der Hauptfiguren. Katharina Geiser macht das Lebensgefühl jener Jahre spürbar, und sie erzählt diese Geschichte so heiter, dass es schmerzt.

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© 2015 Jung und Jung, Salzburg und Wien Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung nach einer Fotografie der Lovers’ Lane in Ann Arbor Druck: Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal ISBN 978-3-99027-065-3

KATHARINA GEISER

Vierfleck oder Das Glück

Roman

für Eugen Esslinger

Legt sich das Glück in dein Nest, so kannst du es behutsam überallhin mit dir herumtragen, es fallenlassen, ausbrüten oder auch hart kochen, schälen und aufessen, mit Salz, Senf oder Zucker.

Eben hat Eugen die beiden Kinder bemerkt, die kühn an der Bugspitze des Kursschiffs herumturnen und deren Jacken dünner sind, als es seinerzeit Nachthemden waren. Blondes, unruhiges Haar haben das Mädchen und sein jüngerer Bruder, Gischt flieht den Schiffsrumpf, und die Wellenkämme sind aus Katzengold. Zwei Schwäne bewegen sich aufeinander zu, ein Ufer entfernt sich, während das andere näher rückt, dort schaukeln drei Fischerboote. Hier hat die Mutter sich Kopfhörer aufgesetzt und dämmert mit geschlossenen Augen vor sich hin, und scheinbar ist niemand zugegen, der zu Hilfe eilen könnte, falls eines der Kinder das Gleichgewicht verlieren sollte, sobald es auf noch höher gelegene Metallvorsprünge steigt und sich weit über die Reling vorbeugt, viel zu weit. Wie in diesem Augenblick. Aber auf Eugen ist Verlass.

1907

Jetzt hat der Himmel die Farbe von Sardinen. Aale und Zeppeline, oben und unten. Oder sehr nahe beieinander. Es ist Winter.

Eugen steht in unvertrauter Umgebung an einem Fenster und blickt auf den See. Eine ölige Stille liegt in der frühen Stunde. Auf der Fensterbank des Nachbarhauses steht eine Flasche Apfelwein oder Bier, andere Länder, andere Sitten, schau an, der Winterlaube Zier. Eine Krähe und bald noch eine zweite torkeln über den Dachfirst, Spatzen sind durch Vorfenster und Fenster zu hören, Rinnsale von Schwitzwasser irren über die Glasscheiben. Auf einer fernen Hügelkuppe liegt ein letzter, von Wäldern gesäumter Schneefleck, schön rechteckig und einladend. Wie ein unbeschriebenes Blatt. Aus dieser Entfernung ist es aber nicht größer als ein Daumennagel.

Mit einem Taschenmesser putzt Eugen sich jeden Morgen die Fingernägel, öffnet Briefe, schält Früchte, spitzt Bleistifte an. Seine Hände sind die Hände eines Miederwarenfabrikantensohns. Das Messer hat einen perlmuttbesetzten Schaft und eine goldene Klinge. Manchmal stößt Eugen es in einen Stapel Zeitungen oder in eine Schnecke, zweimal, fünf-, siebenmal.

Mit einem ähnlichen Messer, so hat der Biologe am Vorabend bemerkt, während er die Apfelschalenspirale unter Eugens Hand auffing, hätte mancher Arzt noch vor wenigen Jahren Luftröhrenschnitte vorgenommen.

Eugen sah in die grauen Augen seines Gastgebers.

Kleines Fest der Sinne gefällig, Monsieur?

Dieser Ort scheint ganz schön auf der Höhe der Zeit zu sein. Und doch ist es manchmal besser, etwas nicht zu berühren, als es zu berühren.

Eugen könnte einige Tage beim Biologen Blum und dessen Familie wohnen bleiben. Seine Frau werde für eine Diät aus Nüssen, Milch und eingemachten Äpfeln sorgen, sofern dies der Wunsch seines Gastes sei, so Blum. Aber eine Nacht reicht, ganz nach Plan will Eugen heute die Kur in der anderen Seegemeinde antreten. Auch darum, weil man ohne festen Wohnsitz einen Anker in den Zeitläuften benötigt.

Als er sich vom Fenster abwendet, haben vor seiner Zimmertür die Kinder des Biologen die Flurdielen auf und ab zu hüpfen begonnen, sie hüpfen, quietschen, glucksen, hüpfen. Das will ausgehalten sein. Das hält Eugen aus, denn er braucht sich nur Maxi zu vergegenwärtigen, Maxi mit baumelnden Zwillingskirschen an den abstehenden Ohren, seiner Zahnlücke und den zerkratzten, braunen Beinen. Maxis Glöckchenlachen. Doch damit ist auf der Stelle auch die Unruhe da und bemächtigt sich Eugens Körper. Flüchtig auf der Hut, schreibt er in sein kleinformatiges Notizheft. Anschließend wäscht er sich das Gesicht, tupft es mit einem nach Landluft duftenden Tuch trocken, streicht sich über Kinn- und Oberlippenbart und betrachtet das hochanständige Blumenmuster auf dem Wasserkrug. Und muss an Karlsbad denken, sieht sich erneut im Dampf- und Moorbad, wie er die Seife aufbricht – die versiegelte Umhüllung mit dem Löwen und dessen im Wasser schwebender Rute.

In Karlsbad, überlegt Eugen, könnte er eine Familie gründen, in Karlsbad hätte er alle Annehmlichkeiten. Und die Wintermonate ließen sich im Süden, etwa in Sestri Levante, verbringen, wo niemand etwas von einem Paragraphen wüsste. Nur die passende Frau fehlt noch, fehlt nach wie vor. Das muss sich ändern. Jedenfalls darf es keine sein, die ihn erziehen will. Bloß das nicht.

1906

Wieder einmal fasst er Vorsätze. Erstens eine Ausbildung, zweitens soll dem unbedingten Trieb Freude folgen und dem Streben die Tat. Anderen ist das schließlich auch schon gelungen! Abgesehen von der Scala und von Tensis treuer Gesellschaft ist Mailand nämlich nicht mehr zum Aushalten. Eugen hat es satt, im Spiegel seine schmalen Lippen und die angespannten Nasenlöcher zu betrachten. Satt hat er auch seine andauernde Abgeschlagenheit, die sich wie ein einziger Ton im Lochband einer Drehorgel ausnimmt, aufreibend ist das, weil er ein sehr feines Ohr hat. Auch deshalb ist Eugen ein Bewunderer von Maria Barrientos. Die Kurzatmigkeit, die Magenschmerzen und die immer wieder aufflammenden Hautausschläge will er fortan nicht mehr einfach hinnehmen. Und weil dem Streben die Tat folgen muss, und zwar ab sofort, raucht er Zigaretten (gegen die Atemnot), gegen die Magenschmerzen trinkt er körperwarmen Hafer-Kakao, Fleur d’oranger wird von nun an immer griffbereit sein, und zuweilen will er sich tagelang ausschließlich von Milch ernähren. Leider war die Rippenkreppwäsche ein Reinfall, darum setzt Eugen jetzt all seine Hoffnung auf die neue Bauchbinde. Doch wie seine Ausbildung aussehen soll, kann er sich noch nicht so ganz vorstellen, genau genommen überhaupt nicht. Als erstes verkauft er seine residenza, danach nimmt er eine weitere Reise durch Italien in Angriff; Stiefel hinunter und wieder hinauf, hin und her. Die Enttäuschungen lassen nicht auf sich warten.

Also fährt Eugen im Sommer nordwärts. In Zermatt kauft er sich eine Bergsteigerausrüstung, das Beste vom Besten. Höhenluft dürfte auch seinem Fingerkuppenekzem gut tun, der Haut überhaupt. Keifend gelbgrüne und sattorange Flechten flecken den Granit, als Eugen oberhalb von Zermatt mit Pickel und Steigeisen unterwegs ist. Er nimmt es gemütlich. In nahezu festlicher Laune erwidert er die Grüße der Wandersleute, die ihn überholen oder ihm entgegenkommen. Auf kahlem, geschichtetem Fels winden sich Arven neben aufrecht wachsenden Lärchen. Drollig fette Murmeltiere pfeifen, und ein Adler oder Geier äugt von oben, kreist lange, zieht ab. Edelweiß lockt zu abschüssigen Stellen. Wo steckt man sich ein Büschelchen davon hin? An einem Tümpel auf halbem Weg zur Berghütte verfolgt Eugen den Flug von Libellen. Hier trifft er auf den Biologen, der Biologe auf ihn.

Schillebolde, französisch demoiselles, finden sich versteinert schon im Jura, im Miozän und im Bernstein, beginnt der Biologe. Auch der Fachmann weiß nur wenig. Allein durch ihre Flugweise können wir immerhin die großen von den kleinen Arten unterscheiden. Die kleinen Libellenarten gaukeln wie Schmetterlinge in hüpfendem Flug, die großen hingegen sind an ihrer schneidigen, gleichsam erregten Flugweise zu erkennen. Und ist Ihnen bekannt, verehrter Wandervogel, dass Libellen mühelos rückwärts fliegen können? Als einzige Insekten vollführen sie ein perfektes horizontales Staccato.

Tannenspitzengrün steht vor einem satten Augusthimmel. Kleine Lichter springen über das Wasserkräuseln. Und plötzlich ist der Vorhang für Goldpippau und Teufelskralle aufgezogen.

Eugen hätte sich nie träumen lassen, eines schönen Tages das Matterhorn zu bezwingen. Aber er tut es. Über den Hörnligrat. Mit fünfunddreißig Jahren. Der Biologe kann es bezeugen.

Später ruht Eugen sich im Grand Hôtel Victoria auf seinen Lorbeeren aus. Und wenige Wochen darauf steht er auch noch auf der Zugspitze, wieder mit feuchten Augen, arg entkräftet, aber stolz. Stolz – kein schlechtes Gefühl.

1904

Drei Mokkatassen klirren.

Kaum kriegt der Bengel ein Stück Kuchenrand, wird er schon unverschämt!

Die gellende Stimme der Mutter versetzt Eugen einen Stich, immer noch. Der von klein auf gefürchtete Ton. Sich nur nichts anmerken lassen, möglichst Ruhe bewahren. Eugen sieht, wie Maxi die Tränen in die Augen schießen. Dabei hat der kleine Junge ihn bloß etwas gefragt. Warum er (sein Onkel) keine Kinder habe, hat Maxi wissen wollen. Doch derartige Fragen darf man am Vespertisch der Mutter (der Großmutter) keinesfalls stellen. Maxi wagt jetzt nicht einmal, die Tränen abzuwischen. Stattdessen sitzt er mit steifem Rücken, unnatürlich langem Hals und am weißen Tischtuch festgefrorenen Händchen da. Emma (Eugens Lieblingsschwester) steckt die gestärkte, gerollte Serviette in einen gepunzten Ring.

Schau mich an, wenn ich mit dir rede, Emma!, fährt die Mutter fort. Es ist höchste Zeit, dass du deinem Balg nicht nur den Hintern versohlst, sondern ihn endlich auch zum Kindergefängnis führst!

Da streicht Eugen Maxi rasch übers struppige, vergeblich gebürstete Haar. Ich brauche keine eigenen Kinder, ich hab ja dich, flüstert er.

1902

Die Moral ist ein nervöses Tier und frisst Eugen aus der Hand, leckt, beißt ihn wund, nicht nur in Berlin. Hier in Berlin aber hat Freund Frieder ihm irgendwann einen Stadtplan gegeben, auf dem alle wichtigen Treffpunkte blau angestrichen waren, fast achtzig an der Zahl, darunter das Voo-Doo an der Skalitzer Straße, das Café Fritz an der Neuen Grünstraße und das Café Nordstern an der Linienstraße (dem Kellner Erich sei dort Beachtung zu schenken, hatte Freund Frieder gesagt), das Hollandaise unter dem Hochbahnbogen der Bülowstraße, Köhlers Festsäle, wobei die Jours der Gleichgesinnten nur am Donnerstag, Samstag und Sonntag stattfänden, bestimmte Badeanstalten, gewisse Orte im Tiergarten, nicht zu vergessen den Bootsverleih am Neuen See, oder jener Abschnitt am Planufer, wo nach Einbruch der Dämmerung die Soldaten auf und ab gehen. Nur in London hat Eugen eine noch größere Anzahl Soldaten gesehen, die Umarmungen feilboten.

Zwar war er mit der Vorstellung nach England gereist, dass sich dort sein Traum nach einer Frau erfüllen müsste. Vornehm und gebildet, und wenn ungebildet, dann zumindest wohlerzogen, so hatte Eugen das britische Weib erwartet, nicht unpreußisch, nur irgendwie freier, sozusagen entblößter. Die Londonerinnen indes machten auf ihn einen kolossal aristokratisch-konservativen Eindruck. Keine einzige sah ihm ins Gesicht. Einmal stieß Eugen fast mit einem Korbhändler zusammen, als er sich nach einem einfachen Weib umsah, das auf einem Eselskarren fröhlich war. Doch im gehobenen Londoner Milieu schien es keine leidenschaftlichen Menschen zu geben. Selbst vor Englischlehrerinnen wurde Eugen gewarnt. Eine Lady aus ehrbarer Familie werde einem alleinstehenden Herrn niemals Stunden erteilen, bekam er von einem Buchhändler zu hören, ein Weib hingegen, welches dieser Regel keine Beachtung schenke, gehöre mit Sicherheit dem niederen Volk an und spreche demzufolge ein miserables Englisch. Eugen konnte das nicht glauben. Aber er sah dann tatsächlich in die leeren Augen einer hochgeschossenen und kinnfliehenden Miss, die sich für ausreichend bright and handsome hielt, Schüler zu empfangen. Nach dieser Lektion wusste er, dass in London das Kraut nicht wuchs, welches er suchte. Keine einzige Vokabel mochte er mehr lernen, keine Zeitung beim Zeitungsjungen mehr kaufen, und schließlich zog es ihn weg, erst zur Küste, dann zurück aufs Festland.

Vierzehn Tage später steigt Eugen in Berlin in einem Athletenklub ab. Man trifft sich in einer Wirtschaft, in einem nach hinten gelegenen engen Raum, der nach Öl, Metall und Schweiß der Kohleschipper oder Schmiede (oder was auch immer) riecht. In schwarzem Trikot heben diese kraftstrotzenden Männer Eisenstangen und Hanteln oder sie ringen miteinander. Manche von ihnen haben einen tätowierten Oberkörper. Andere Männer, deren Aufmachung deutlich mit derjenigen der Turner kontrastiert, sitzen an einem Tisch an der Fensterseite des Raums und haben äußerst wache Sinne für die Körperspiele der Athleten. Indem die Herren die Sparbüchse auf dem Tisch füttern, spendieren sie ihnen Selters, Limonade, Leberwurstbrote und Bier. Oder Zigaretten aus roten Saffianlederetuis, die mit einem Goldblitzchen aufklicken. Dank Freund Frieder kennt Eugen auch Berlins Spezialität: die exklusiven Bälle, die im Winterhalbjahr da und dort stattfinden. Jeweils ab elf Uhr abends geben sich ein paar hundert Männer ein Stelldichein. Der Ballveranstalter waltet nach einer strengen Regel: Es werden nur ihm bekannte Männer sowie Begleiter der ihm bekannten Männer eingelassen. Auf sein Zeichen hin werden die am schönsten Kostümierten mit donnerndem Tusch willkommen geheißen und durch den Saal geleitet. Selbstgefertigte Toiletten werden vorgeführt, ziemlich kostbar, oft ziemlich geschmacklos. Seit Eugen in Wien den großen Alexander Girardi auf der Bühne gesehen hat, trägt auch er einen vanillegelben Strohhut mit kornblumenblauem Seidenband. Und natürlich italienische Schuhe. Bei diesen Tanzveranstaltungen stellt Eugen sich jeweils zu Anfang erst einmal in Nischen oder lehnt beobachtend an Säulen. Als überzeugter Ästhet hat er für zwirbel- oder vollbärtige Typen, die als Frauen auftreten, gar nichts übrig. Er mag es auch nicht, wenn sich jemand derart weibisch gibt, wie ein Weib es niemals ist.

Aber wenn dann irgendwo, anderswo, wo auch immer, so ein kleiner, dicker, gottvoller Sachse daherkommt! Oder eine Madame, die ihm stundenlang Himmlisches gewährt. Wie jene in Gent. Leider fiel sie Eugen ansonsten und überhaupt ziemlich lästig. Auf Dauer wird es ihm eben schwer, den Kavalier zu spielen, er kann dabei einfach nicht zu sich selber kommen. Madame ging sogar so weit, sich am darauf folgenden Morgen (bereits um halb neun!) unter geistlosem Reden ans Flicken ihrer Haarbänder zu machen, während er das Frühstück kaum erwarten konnte. Da sah Eugen sich genötigt, nach exzellentem Milchkaffee, Rührei und Käsebrot flugs weiterzuziehen.

1906

Die Kopula findet zum Teil im Flug, teils auf Bäumen, Sträuchern oder im Gras statt. Ihre Dauer schwankt bei den einzelnen Gruppen und Arten zwischen wenigen Sekunden und einer halben Stunde, erklärt der Biologe, als Eugen sich nach weiteren Einzelheiten der Libellen erkundigt.

Man hat sich an einen Felsen gehockt, die Männer starren gemeinsam in die sinkende Sonne und sprechen in die kühle, reine Alpenluft.

So häufig man kopulierende Paare auch sehe, führt der Biologe aus, so selten gelinge es, die Tiere im Stadium der Kopulation zu konservieren. Nur ausnahmsweise trenne sich ein Libellenpaar bei der Abtötung nicht und könne in dieser Stellung genadelt und gespannt werden. Andere frisch gefangene Tiere werfe der Sammler in siebzigprozentigen Alkohol, den man erneuern müsse, sobald er sich trübe. Das Anlegen einer Alkoholsammlung sei von ganz besonderem Nutzen. Viele Farben, die bei den luftgetrockneten Tieren verschwinden oder sich verändern würden, hielten sich bei den Alkoholtieren vorzüglich. Ferner habe die Alkoholsammlung den Vorzug, dass man die Genitalien jederzeit untersuchen könne, während man die getrockneten Libellen erst umständlich aufweichen müsse, was auch zu einer Verletzung der feinen Chitinteile führen könne. Ja, Männchen und Weibchen seien oft sehr verschieden gefärbt, erstere hell und lebhaft, die anderen düster und eintönig. Bei manchen Libellenarten fänden sich am Hinterleib farbige Hautsekrete, so zum Beispiel bei den männlichen Exemplaren des Plattbauchs, wo diese Ausscheidung als puderartiger Belag von himmelblauer Farbe zu erkennen sei. Dessen Bedeutung sei den Wissenschaftlern aber noch ein Rätsel.

1905

Jemand bewegt die Fäden. Jemand schickt den Wind auf Maxis Stirn. Jemand hat Maxis guten Onkel mit Anderssein geschlagen, Hypochondrie gab’s obendrauf. Jemand ist Kuss, Zunge, Spucke und Blut in einem, ist der Harz ebenso wie der Tau oder der Stich ins Herz. Jemand bestimmt über Störche und Stöckchen. Jemand sorgt für einen hungrigen oder einen satten Bauch. Jemand hat die Farben erfunden (wozu nur, wozu?). Jemand hat Maxi einen Onkel geschenkt, der mit ihm redet, lacht, schnitzt und Fadenspiele macht. Blätterkränze auch. Jemand bringt diesen guten Onkel auf die Idee, Zwillingskirschen an die etwas auffälligen Kinderohren seines Neffen zu hängen. Jemand verteilt Wünsche und erfüllt sie nicht. Jemand hat aus Maxis Großmutter eine Hexe gemacht, die mit keinem Besen fliegen kann. Jemand malt den Ziegen immer neue Muster aufs Fell und den Fischen Silber auf die Schuppen. Jemand wählt sich Maxi aus, als er an einem sonnigen Herbsttag am Ufer der Isar, auf der Praterinsel, nach einem Stück Baumrinde fischt, groß und klein genug, um daraus ein Schiff zu werkeln, einen Handelsdampfer, der jenem ähnlich sehen soll, den sein guter Onkel für ihn gezeichnet hat, während er von der weiten Welt erzählte, die von Neapel oder von Genua oder Marseille oder Hamburg oder Kristiania aus zu erreichen sei.

Während Maxi sich am Ufer verliert, sitzt Eugen ein Stück weiter weg auf einem Baumstrunk. Seine Lektüre macht ihn taub für alles andere.

1900

In Paris macht Eugen als erstes eine Fahrt mit der nur wenige Wochen alten Metro. Ein öffentliches Verkehrsmittel im Untergrund – dieses Paris!

Andererseits kann es einen missmutig stimmen, wenn man gesundheitlich etwas angeschlagen ist, ausgerechnet in diesen Tagen kündigt sich eine Erkältung an. Deshalb trägt Eugen über dem Netzleibchen noch ein Unterjäckchen, und vor dem Schlafengehen schlüpft er zusätzlich in ein drittes Trikot. Unseligerweise gibt es in seinem Hotelbett Wanzen. Wie soll man sich da abhärten können?!

Für die Weltausstellung, derentwegen er ja eigentlich hier ist, fühlt Eugen sich momentan auch nicht sonderlich gewappnet, geht natürlich aber hin. Unaufhörlich ziehen Tausende von Menschen an einem vorüber. Überflüssig kommt man sich da vor, wie ein mit einem einzigen Tritt aus der Welt zu Schaffender. Doch in einer aufleuchtenden Sekunde, unter der riesigen gläsernen Kuppel der Festhalle, wird Eugen mit einem Mal klar, dass er wiederum jenes Tausend voll macht, das jeden anderen Besucher umgibt. Jetzt kann er sich die ganze Sache ein wenig genauer betrachten.

Die Länderpavillons längs der Seine bilden insgesamt eine eher lähmende Attraktion, Palais reiht sich an Palais. Es gefällt Eugen aber, dass etwas Pompöses nicht unbedingt für die Ewigkeit gebaut werden muss, sechs Monate genügen durchaus. Auch die elektrische Beleuchtung in allen Räumen ist schön. Das Lichtspektakel besteht sogar des Nachts fort, wenn Straßen und Fassaden illuminiert sind, was ähnlich erregend wirkt wie gewisse stereoskopische Bilder in einem Kaiserpanorama. Im Elektrizitätspalast könnte Eugen viel Technisches lernen, will er aber nicht. Stattdessen studiert er das Alte Paris so ausgiebig, bis Nacken und Hacken ihn schmerzen. Le Village Suisse, die mit Bergen, Kirchen und Kühen, Ziegen und Hühnern, Chalets und Riegelhäusern, Trachtenmädchen und Sennen bestückte Schweizer Landschaft am Ende des Ausstellungsgeländes, wurde säuberlich ausgetüftelt. So viel muss man zugeben. Selbst ein Wasserfall und ein akkurat im Zopfmuster angelegter Misthaufen fehlen nicht. Alles wirkt restlos unverdorben und beschaulich, ob Ferkel am Wassertrog, Spinnerin, äpfelndes Pferd oder die Tellskapelle en minature. Unverdorben und wohlanständig. Dies alles macht einen ganz flau. Überhaupt die Details. Bei der Volkstanzgruppe vor dem persischen Pavillon reichen die Röcke der im Kreis wirbelnden Frauen knapp übers Knie. Doch mit Wadenfleisch alleine ist nicht viel anzufangen. Unmittelbar neben dem Eiffelturm steht der Tempel der modernen Frau. Eugen lässt dieses grazil wirkende Schlösschen links liegen, er hat schon öfters in komplizierte Weiberseelen geblickt. Verlockend wäre ein Pendant, eine Kultstätte für den aufgeschlossenen Mann. Gibt es natürlich nicht. Dafür trifft er auf einen rollenden Gehsteig, dem eine glänzende Zukunft beschieden sein könnte, da man damit bequem eine Stadt erkunden kann. Im großartigen Grand Palais ist es hingegen ganz in Ordnung, im eigenen Tempo unterwegs zu sein. Hier findet Eugen das, was diese Parisreise lohnenswert macht, den Diskus werfenden Jüngling etwa, dem er über den perfekt modellierten Marmorrücken streichen kann. Und dann ist da noch Manets Frühstück im Grünen. Stück im Grünen. Ein Stück Glück. Plötzlich steht Eugen allein vor dem Bild und stellt fest, dass der Leinwand feinste Gerüche entströmen, Schleierlingwürziges, Müdgeflogenes.

Am vierten Tag seines Aufenthalts, gerade als er die Erkältung los ist, leidet Eugen an Magenbeschwerden. Bis ihm einfällt, dass er die ganze Zeit über viel zu wenig gegessen hat. Im Pavillon bleu, einem nett zusammengebosselten Jugendstilbau, gönnt er sich deshalb ein opulentes Mahl, bestellt Pot-au-feu und Merlot. Im Lauf der Mahlzeit setzt sich eine junge Dame an seinen Tisch. Das attraktive Frauenzimmer erinnert Eugen an Maria Barrientos, spricht jedoch Französisch und wird von einem nicht gerade sympathisch aussehenden Herrn begleitet, der ihr Vater sein könnte, es aber nicht ist. Die Eigenart seiner Tischnachbarin, ihren Mund bei den O-Lauten asymmetrisch zu bewegen, ist sehr reizvoll. Macht Eugen geradezu Lust auf eine Tarte des Demoiselles Tatin. Zu einem weiteren Glas Rotwein. Und nachdem er sich den teuersten Cognac genehmigt hat, stellt sich endlich eine deutliche Besserung seines Befindens ein. Mit einem winzigen Jubel unter der etwas schweren Zunge macht er sich auf den Umweg zum Hotel.

1906

Nächstens wird Eugen Esslinger Fräulein W. in Florenz wiedersehen. Er ist geradezu erleichtert, dass er seine neueste Bekanntschaft Fräulein Fanny nennen darf und ihren Familiennamen (Weinwurm) nicht aussprechen muss.

Rechtschaffen scheint Fräulein Fanny zu sein, zumindest Recht schaffen wollend. Bei Kompagnon Tensi hat er die Berlinerin kennengelernt und mit ihr zwei Nachmittagsstunden verbracht, ohne die oft hassenswerte Hast zu empfinden.

Jede Frau solle durch Bildung und Berufstätigkeit zu voller innerer Entfaltung gebracht werden, erklärte Fräulein Fanny bei ihrem ersten Rendezvous. Die Frauenbewegung betrachte den Pflichtenkreis in Ehe und Mutterschaft als ersten und nächstliegenden Beruf einer Frau, doch müsse diese primäre Aufgabe von der Gesellschaft endlich, und zwar mit großer Dringlichkeit, als vollgültige Kulturleistung anerkannt werden, wirtschaftlich und rechtlich (und so weiter und so fort). Und was die doppelte Moral angehe, die einerseits dem Manne eine in jeder Hinsicht verhängnisvolle sexuelle Freiheit gewähre (meinte Fräulein Fanny) und andererseits die Frau mit ungerechter Härte treffe, so sei diese doppelte Moral nachhaltig zu bekämpfen, mit allen denkbaren Mitteln.

Fräulein Fannys Ausführungen zwischen einer Gabel castagnaccio und einem Schluck Sodawasser hatten Hand und Fuß, ihre Wangen waren nun hübsch gerötet, Eugen hatte keine Lust, in irgendeinem Punkt zu widersprechen. Obwohl er Einwände hätte vorbringen können. Ein jeder macht schließlich seine eigenen Erfahrungen. Aber eventuell und hoffentlich würden die Phantasien von Fräulein Fanny noch in andere Richtungen führen, hatte er gedacht. Zumindest gab diese Frau sich offen, war auf interessante Weise fortschrittlich, ein zweites Treffen würde sich daher unbedingt lohnen, und danach würde er weitersehen.

Bis es so weit ist, wandert Eugen an der ligurischen Küste von einem Fischerdorf zum nächsten. Ein beschauliches Flanieren unter einem von dünnen Schleiern verhängten Himmel ist das. Das sind Schritte, mit denen Eugen dies und jenes hinter sich lassen kann. Maxi zum Beispiel. Jenes entsetzliche Unglück. Und eigenartig: In dem Augenblick, da er an seinen kleinen Neffen denkt, sind klägliche Schreie zu hören. Von unterhalb der Böschung müssen sie herkommen. In geringer Entfernung steht eine Ziege bis zum Bauch im Wasser. Eugen steigt zum Ufer hinunter und geht zunächst ratlos etwas näher. Offenbar haben die Beine der Ziege sich zwischen den Steinen verkeilt. Ist sie vielleicht auch noch trächtig? Eugen fasst Mut und sieht sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen. Er legt den Hut neben die abgestreiften Schuhe und Strümpfe und krempelt Hosenbeine und Jackenärmel hoch. Die Glasaugen der Ziege sprechen Bände. Vor den kleinen Wellen braucht er sich nicht zu fürchten. Er schichtet die Steine um, wird nass, aber das Tier rührt sich nicht vom Fleck. Beherzt packt er zu. Kaum zu glauben, dass er den warmfeuchten Kartoffelsack zu heben vermag. (Jahre später wird Eugen an diesen pochenden Ziegenbauch zurückdenken, wenn er Mücke Märchen erzählt, immer wieder dieselben werden es sein müssen.) Ächzend und hechelnd trägt er die Ziege ein rechtes Stück weit weg und stellt sie im strohigen Gras ab. Bedauerlicherweise knickt das Tier gleich mit allen vieren ein. Womöglich hat es ein gebrochenes Bein? Eugen krault den hellen Fleck zwischen den Hörnern, sucht einige saftig aussehende Pflanzen und häuft sie vor der Ziege auf. Ihr schmallippiger Mund lächelt gequält. Eugen wird unbedingt jemanden finden müssen, der sich weiter um das Tier kümmert und vielleicht sogar ein Gehör für seinen Hinweis haben wird, dass es an überhängenden Wiesen- oder Weiderändern zu folgenschweren Stürzen kommen kann. Oder sind Ziegen etwa so dumm, sich an Meerwasser satt saufen zu wollen?

1908

Von nun an will Eugen bescheidener sein und sich mit einer braven Frau begnügen. Aber ein bisschen außergewöhnlich darf seine künftige Gefährtin schon sein, er will sich mit ihr ja sehen lassen. An seiner Seite, so stellt er sich vor, wird sie mit ihm im Warenhaus Wertheim und in der Galleria in Milano promenieren. Sie werden sich die Tempel von Girgenti zu Gemüte führen und sich durch die Avenue d’Albigny in Annecy kutschieren lassen. In Kopenhagen werden sie im Cosmopolite absteigen, um im dortigen Wintergarten mit seinen leider etwas dürftig geratenen Topfpalmen zu dinieren, und in Karlsbad werden sie jeden Nachmittag eine Stunde lang entweder in Pupp’s Cafésalon oder im Café Elefant zwei Plätze besetzen; zu einer der Gesundheit zuträglichen Regelmäßigkeit hat Doktor Gans ja schon längst geraten. Nur mit Frauenrechtlerinnen muss man Eugen nicht mehr kommen. Überhaupt mit keinen Theorien. Was ihn betrifft, so hat sich sein allgemeiner Wissensdrang während der letzten Jahre eher verflüchtigt. Dafür haben die schönen Künste ihn immer mehr für sich eingenommen. Also hat er sich dem Zeichnen und Malen zugewandt. Warum sollte er sich nicht eine Künstlerexistenz aufbauen? Aus ihm könnte doch noch etwas werden. Und auch seine anderen Zukunftspläne haben Gestalt angenommen: Warmherzig stellt Eugen sich seine Einzige vor, eher klug und ziemlich musikalisch. Diese drei Dinge. Ist das denn zu viel verlangt? Schließlich bringt er dafür ja auch ein Opfer. Er wird den alten Adam nämlich endlich hinter sich lassen.

1909

Aus Rotmarderhaaren werden beste Pinsel hergestellt. Eugen kauft davon ein ganzes Arsenal, als er in München weitere Malkurse belegt.

Hier, ausgerechnet in seiner Geburtsstadt, trifft Eugen auf die viel jüngere Mila, an einem Sonntagnachmittag, bei einem banalen Ball. Die Tanzveranstaltung ist Mila von ihrer Hausherrin nicht nur ans Herz gelegt, sondern richtiggehend verordnet worden. Als repräsentierendes Hausmädchen müsse Mila hin und wieder mit der guten Gesellschaft auf Tuchfühlung gehen, hat die Hausherrin bestimmt, ihr einen Geldschein zugeschoben und sie vor den eigenen Kleiderkasten geführt. Mila riss die Augen gleich zweimal auf.

Mila im geliehenen, achatblauen Kleid (schulterfrei), ungeschminkt und mit einer Welle im kurz geschnittenen, golden schimmernden Haar. Sie sieht bezaubernd knabenhaft aus. In Begleitung eines anderen Mädchens, das Eugen hinterher in nichts erinnerlich sein wird, sitzt sie am Nebentisch und schaut dem Treiben amüsiert zu. Und Eugen blickt unverwandt auf Mila. Wie sie zum Tanz aufgefordert wird, den Mann von oben bis unten mustert und zuletzt ihren Kopf schüttelt. Ihn hingegen wimmelt sie nicht ab, als er sie anspricht. Und gelächelt hat sie auf mich, gelächelt hat sie, wird er von da an gelegentlich wiederholen.

Zuneigung ist etwas Feines. Dank Eugen kann Mila ihre Stelle von einem Tag auf den anderen aufgeben. Er mietet für sie auch ein Zimmer. An der Türkenstraße in Schwabing. Sie müsse sich aber zu nichts verpflichtet fühlen, sagt Eugen, Milas unartigem Blick ausweichend.

Eugens Bewunderung wächst schnell, Milas Musikalität ist außerordentlich. Und es macht ihm nichts aus, dass dieses junge Ding im Gebrauch von Wörtern nicht gerade sattelfest ist – so ungeniert, so aufrichtig, so kühn, so unterhaltsam ist seine Freundin eben! Dass sie gelegentlich Dinge verlegt und verliert, hat auch keine Bedeutung, es lässt sich ja alles im Handumdrehen ersetzen. Endlich kann Eugen jemanden über alle Maßen beschenken, er kennt niemanden, der sich über Geschenke derart freuen kann wie Mila. Auch darum spendiert er ihr Kleider und Hüte für Konzert und Theater, aus Shantungseide, Lüstrin oder Madapolam, Tand sowie Handschuhe, feinste Häkelware bis zu den Ellbogen, voilà!

Schließlich kann Mila Eugen zum Malunterricht begleiten. Damit sie sieht, wie seriös die Ausbildung eines Malers sich ausnimmt. So schnell lässt sie sich aber nicht beeindrucken, hat sie doch schon mancherlei Begegnungen mit Künstlern und Künstlerinnen gehabt, erst in Wien, dann in München – sind nämlich allesamt auch bloß Menschen, Leute mit gewöhnlichen Bedürfnissen, von denen viele sich im Leben nur mit Ach und Krach zurechtfinden, wie sie es selbst nicht anders tat. Deshalb schlägt sie im Atelier von Franz Marc wohlgelaunt Eier für die Tempera auf, trennt Eiklar von Eigelb und zieht, möglichst nach Anleitung, Leinöl und Pigmente unter das Eigelb. Und sie soll wieder kommen, und sie kommt wieder. Und sie soll auch malen. Und wegen ihrer ungehemmten Pinselführung und ihres Sinns für Raumaufteilung spricht der Maler bald einmal von Talent.

Es gibt Luftschlösser, es gibt Pferdchen, aus Zinnober und Neapelgelb, Nachtkerzengelb und Madonnenblau. Gelb entspreche dem sanften, heiterweiblichen Prinzip. Zusammen mit dem geistigen, herbmännlichen Blau müsse es sich dem brutalen und schweren Rot stellen und es bekämpfen, legt Franz Marc dar, den Eugen schätzt, überaus. Auch weil er ihn von Ambitionen erlöst. Denn wenn Mila Talent hat, dann soll aus ihr etwas werden. Was nicht bedeutet, dass Eugens Freude am Malen und Zeichnen kleiner wird.

Die besten Malakademien in Europa stehen Mila fortan offen. Eugen reist mit ihr nach Paris, nach Ostende und Berlin, sie leben mal da, mal dort und wieder da. Beide mögen sie das Vagabundieren, machen keine großen Pläne. Bisweilen nehmen sie weitere Malkurse, Mila macht sichtbare Fortschritte. Oft gehen sie in die Oper und ins Theater, schauen sich Museen und Ausstellungen an, seine Freundin hat Nachholbedarf, das hat Eugen schnell einmal gemerkt. Auch die Weltausstellung in Brüssel will er ihr nicht vorenthalten. Mila schwelgt, ist von einem von Matisse gemalten Blumenstoff ebenso begeistert wie von einer Achterbahnfahrt. Als ein Großbrand mehrere Ausstellungsabteilungen zerstört, bezeichnet sie das bloße Stahlgerippe des belgischen Pavillons als kunstvoll, weil außerordentlich lebendig, worauf Eugen ihre Vitalität und ihre hellen Instinkte einmal mehr bewundert.

Sie reisen auch in den Süden. Ein ganzes halbes Jahr verbringen sie in einem abgeschiedenen Ort oberhalb des Luganersees. Dank Mila haben sie schnell Kontakt zu jedermann. Öfters lesen sie mit den Leuten Kastanien auf oder suchen Pilze, die sie dem Koch des Hotels bringen. Sie gönnen einander einiges. Sie lesen viel. Mila malt. Landschaft im Wind. Schnee auf Palmen. Marktplatz. Begegnung. Sie verstehen einander. Sie freuen sich. Auch über die Blütenpracht der Kamelien. Unter diesen Büschen, Bäumen vielmehr, liegen im frühen Frühjahr regelrecht Blütenteppiche. In ihrem Übermut legt Mila sich auf einen. Sie ist schmal, nach wie vor ein neugieriges Kind. Eines, das auch stur und originell besserwisserisch sein kann und sich hierbei ein wenig im Ordinären verheddert. Alles gut, alles bestens.

1913

Im frühen Sommer bekommt Eugen eine Nachricht von Franz Marc. Es sei ihm noch nicht möglich, die geliehene Summe zurückzuzahlen, schreibt der Maler von München nach Brüssel. Lächerliche zwanzig Franken, an die Eugen überhaupt nicht mehr gedacht hat. Die Vorderseite der Karte zeigt zwei Pferde: ein rotes, das scheinbar zurückweicht, sowie ein angriffslustiges in kräftigem Blauton.

Franz Marc dürfte keine Ahnung davon haben, dass Mila und Eugen kürzlich klammheimlich geheiratet haben. In Brüssel, an einem Maientag, die Grünpeters sind ihre Trauzeugen gewesen. Salo und Trude Grünpeter aus dem preußischen Kattowitz, deren Bekanntschaft sie im Königlichen Museum zu Brüssel gemacht haben. Das fidele Paar war Mila aufgefallen, als Salo eben die dicke Saalluft mit der Spitze seines Spazierstocks stückweise aufspießte und dazu einen Faun gab. Trude hatte sich göttlich amüsiert, sich vor Lachen kaum mehr halten können und sich husch husch ihren Rock samt Unterröcken zwischen die Beine geschoben. Was zumindest Mila hinterher behauptet hat.

1914

Als die deutschen Truppen in Brüssel einmarschieren, steckt das Ehepaar Esslinger zunächst fest. Salo und Trude Grünpeter haben sich wohlweislich schon frühzeitig Richtung Heimat aufgemacht.

Eugen und Mila wechseln ihre Unterkunft und nehmen die Mahlzeiten in anderen als den bisher besuchten Gasthäusern ein. Um als Deutsche möglichst unerkannt zu bleiben, vermeiden sie es, in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen. Mila kann keine Fremdsprache, aber es macht ihr Spaß, wenn Eugen mit ihr bei Tisch ausschließlich Italienisch spricht und sie nur ab und zu si, si, caro! einzuwerfen braucht.

Dann kehren sie doch nach Deutschland zurück. Erst bleiben sie in München. Früher hat der Malzdunst der Brauereien über dieser Stadt gelegen. Bald entschließen sie sich für eine Bleibe in Heppenheim. Hier riecht es nach Wein.

1916

Eugen hat nicht Begeisterung gebrüllt, aber genickt hat er, hat sich ködern lassen und Kriegsanleihen gezeichnet, im lieben Deutschland daheim. Dass er selber einmal Krieger werden würde, damit hat er niemals gerechnet.

Seine Gesundheit ist gerade verflixt tadellos, als er mit fünfundvierzig Jahren aufgeboten wird. Als Ungedienter soll er mit eigenen kriegsgebrauchsverwendungsfähigen Stiefeln in den Landsturm einrücken. Pflichtbewusst bringt Eugen die Bergschuhe auf Hochglanz, mit denen er zu so manchem Abenteuer aufgebrochen ist. Zur Aufmunterung hält Mila ihm eine Illustrierte vor die Nase: Sieh mal, wohlgenährte Landsturmmänner und zufrieden aussehende Gefangene! Sie verspricht auch, alle Tage einen Rosenkranz zu beten, damit Eugen nichts geschieht. Der jedoch macht bloß eine wegwerfende Handbewegung. Denn selbst der euphorische Franz Marc ist gefallen. Der Maler mit den blauen Pferden wurde bei seinem letzten Erkundungsritt in der Nähe von Verdun erschossen. Kurz zuvor hatte man ihn von weiteren Kampfeinsätzen freigestellt, nachdem er mit einem Mal als bedeutender deutscher Gegenwartskünstler anerkannt worden war.

Es geht an die Ostfront, bis nach Weißrussland. Eugen hasst die Rolle eines Landsturmmanns so gründlich, dass er gar nicht aus dem Hassen herauskommt. Überall, wo er mit Brotsack und Maschinengewehr frierend oder schwitzend stationiert ist, gehen neben ihm Männer kaputt. Andernorts, daran muss Eugen gelegentlich auch denken, sterben jetzt Männer, die er einst in Palermo auf dem Korso sah, lachend, schwatzend, Männer, die tagsüber in den Außenboulevards von Paris an ihm vorüberstrichen und abends in den Champs Élysées zu den Theatern flanierten, Männer, die in den Kaffeehäusern von Wien um drei Uhr nachmittags über Dominosteinen saßen, Männer, die in einem Lesesaal in Brüssel sehr private Zettel schrieben, Männer, die auf schmierigen Provinzbahnhöfen in Böhmen dem Zug nachglotzten, Männer, die ihm zuwinkten hinter Amiens auf den Feldern, aufschauend von ihrer Arbeit. Viele streifen Eugens Gedächtnis, an eine Dreifingerflinkheit, einen von Schweiß nassen Nacken oder an einen Schmiss erinnert er sich, an tief liegende Augen oder an Gerüche, Pampelmuse, rohe Kartoffeln, Kampfer und andere. Jemand hatte sich Lukullus vom Paradiesbach genannt, ein galanter und gleichwohl kühner Mensch. Meister Pimpernell aus Nordfriesland dagegen gehörte zu den Scheuen; ein Nachtwächterhorn brachte sie einmal ganz unschön aus dem Konzept. Von Joseph Papanek war zu erfahren, dass er als Chefredaktor arbeitete, und tatsächlich flogen ihm allerlei Ausdrücke zu. Dann war da noch Doktor Erdmuthe, der kein Doktor gewesen sein dürfte, einen aber in keine heikle Situation manövrierte. Filou Weil besaß ein Ruderboot auf dem Zürichsee, und der Wald einer kleinen lauschigen Halbinsel nahm sie in seine kühlen Arme. Nur mit wenigen Männern tauschte Eugen in der Vergangenheit den richtigen Namen und eine Adresse aus, mit Papanek in Wien etwa oder mit Ballin aus München, mit Knappworst oder auch mit dem Biologen Blum. Ach, die Wellengänge und Kräuselungen. Die Lichtspiele. Nicht daran denken, denkt er ein übers andere Mal, weder an lautlose Wasser noch an das Freibaden am großen Wannsee, nicht an jenes aufregende Männerbad in Zürich. Vielleicht aber sollte er jetzt im Dreck, verlaust und verwanzt, ausgesetzt auf dem Feld und nahe den Sümpfen mit ihren Mücken- und Fliegenschwärmen, erst recht daran denken.

1917

Kurz vor dem Verhungern kriegt Eugen manchmal ein Paket mit Braten, Pottkuchen, Butter, Marmelade, Trockenobst, Zigaretten, Rum oder Cynar. Mila bettet die Dinge in saubere Wäsche und beste Wollwaren. Ihr lieber Eugen soll keinesfalls leiden, darf weder nass noch schmutzig bleiben und statt der weitverbreiteten Fußlappen soll er solide und schöne Strümpfe tragen. Eugen andererseits fragt sich gelegentlich, unter welchen Umständen Mila all dies wohl aufzutreiben imstande ist.

Dann erwischt es ihn doch. Und dabei befinden sie sich schon auf dem Rückzug, und ausgerechnet beim Austreten trifft ihn ein Granatsplitter an der Schulter. Eugen fühlt sich erst einmal toter, als es nötig wäre. Er macht die Augen gar nicht mehr auf, glaubt, mit seinem eigenen Engel kämpfen zu müssen. Scharfe Töne wie aus einem Dudelsack ziehen durch ihn hindurch, schneidig auf- und abwärts. Schwerter krümmen sich zu Sicheln. Der Engel scheint zunächst klar im Vorteil zu sein. Doch allmählich rinnt aus den hauchdünnen geäderten Flügeln mehr und mehr dickes Blut, es pulsiert und vermischt sich mit dem von Eugen. In der Nacht wird er zum Verbandsplatz gebracht. Eine unbestimmte Zeit später wird er durch eine angenehme Stimme in die Realität zurückgeholt. Ein schöner Mezzosopran. Die Stimme gehört einer Krankenschwester. Sie hat breite Brauen und bergbachkalte Augen. Beugt die Schwester sich vor, so liegt auf ihrem Scheitel, dem Stück zwischen Stirn und Haube, ein irritierender Glanz.

In einem Reservelazarett nahe Kattowitz befindet er sich also. Noch nach Tagen klappt Eugen zusammen, sobald er aufzustehen versucht. Insgesamt hält er sich aber durchaus tapfer, unter den anderen Beschädigten auf einem Strohsack ruhend, umgeben von vielerlei Gerüchen und Geräuschen und trotz Wundfieber und Schmerzen. Bloß die Schwester mit den Bergbachaugen, was soll er von der nur halten? Bisweilen macht es den Anschein, sie sei die Eigentümerin des als Lazarett getarnten Gruselkabinetts. Und manchmal fürchtet Eugen sich vor allen Infektionen, die eine Verletzung höchstwahrscheinlich mit sich bringt, zumal seine Wunde nicht recht heilen will. Doch er ist auch erleichtert, keine Glieder verloren zu haben, nicht lahm, blind oder taub zu sein und hoffentlich nie wieder eine Waffe auf andere Menschen richten zu müssen.

Und plötzlich taucht Mila auf. Unerschrocken wie eh und je.

Mitten im Krieg ist sie die tausend Kilometer von Heppenheim nach Kattowitz gereist und bei Grünpeters untergeschlüpft. Trude Grünpeter handelt schnell, schreibt an Eugen, lädt ihn ein. Als seinem Ansuchen auf Ausgang stattgegeben wird, klopft er bei Salo und Trude an. Mila öffnet die Tür. Sie trägt Knickerbocker und Gamaschen, eine Jacke mit Fellkragen und Mütze, sie steht startbereit da. Ein Ganymed in Wanderstimmung. Wegen der gelungenen Überraschung legt Trude Grünpeter die Hand vor ihr Lachen. Als Mila sich gefasst hat, wendet sie ihren Kopf leicht nach links, damit ihr vorteilhaftes Profil zur Geltung kommt. Na?, sagt sie endlich. Busselst mich nicht?, fragt Eugen zurück. Weil das zwischen ihnen beiden üblich ist.

Als nächstes wird Eugen Lazarettkrankenbuchführer. Vielleicht bekommt er den Posten wegen seiner akkuraten Schrift. Oder weil er unter Kameraden und Schwestern gleichermaßen beliebt ist. Jedenfalls muss er in Oberschlesien bleiben. Und Mila bleibt auch. Aber nur so lange, bis das Lazarett abgebaut wird. Dann kehren sie endlich nach Heppenheim zurück.

Doch das Überleben ist immer nur das Eine. Vieles frisst sich in einem fort wie eine Käferlarve in einem Baum, der Baum kann noch so standhaft sein. Eugen bleibt von Bildern besessen. Manche Tiere sind die längste Zeit ihres Lebens Larven. Und Larven sind unansehnlich, geradezu abstoßend. Auch diejenigen der Libellen. Im flachen Sumpfwasser Weißrusslands lebten Millionen wimmelnder Larven. Die Mägen der geschossenen Wasservögel waren bis zum Platzen mit ihnen vollgepfropft. Billionen glitzernder Libellenflügelschläge machten die heiße Luft zittern, ihm schmerzten die Augen. Seinen linken Arm wird Eugen nie mehr erhoben halten können, ohne dabei zu zittern.

1919

Mit fast sechsundachtzig stirbt die Mutter. Etwas wie Erleichterung kommt auf. In ihren letzten Jahren ist Therese Esslinger nach und nach verblödet, sie sprach weniger, verstummte irgendwann. Doch das Böse hatte sich längst in jede Falte, auf jeden kleinsten Muskel ihres Gesichtes gesetzt. Eugen brauchte die Mutter, wenn er sie denn mal besuchte, nur flüchtig anzublicken, um ihren Hohn wahrzunehmen: Dass er es zu nichts gebracht habe und ein lächerlicher Nichtsnutz sei, einer, der sein Erbe verprasst habe und dessen einzige Leistung darin bestehe, einer dahergelaufenen Proletarierin aufgesessen zu sein.