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Vimalakirti lautet der Name eines buddhistischen Laienanhängers, der so hoch verwirklicht war, dass er sogar den Bodhisattva der Weisheit „besiegte“. Im vorliegenden Sutra erkrankt er – aber nur, um seinen Besuchern den Dharma darlegen zu können. Dieser Erzählrahmen bildet den Hintergrund, auf dem mit viel Witz und Lebendigkeit, Tiefgang und unglaublichen Wundern die Ideale des Mahayana nahe gebracht werden: Leerheit, Nicht-Dualität und aktives Mitgefühl zum Wohl aller Wesen. Grundlage für diese Ausgabe ist eine alte Übersetzung aus dem Japanischen von Jakob Fischer, die unter Berücksichtigung verschiedener anderer Übersetzungen überarbeitet und mit ausführlichen Anmerkungen versehen wurde. Zum besseren Verständnis des Sutras und seiner Hintergründe enthält dieser Band auch eine umfassende Einführung sowie ein Glossar.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Neubearbeitung der Übersetzung
von Jakob Fischer und Takezō Yokota
aus dem Japanischen und Chinesischen
durch
Monika Dräger in Zusammenarbeit mit Michael Peterssen
unter Einbeziehung von anderen Übersetzungen
des Sūtras ins Englische und Französische
Hinweise zur Schreibweise und Aussprache
Vorwort
Einführung
Handlung des Stūras und Kapitelübersicht
Name, Entstehungszeit und Historizität
Übersetzungen und Kommentare
Vimalakīrti und die Lehrinhalte des Mahāyāna
Die Mādhyamaka-Schule
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Die zwei Wahrheiten oder Wirklichkeitsebenen
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Leerheit
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Unvorstellbarkeit
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Nicht-Zweiheit und Versöhnung von Gegensätzen
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Das Nicht-Entstehen aller
dharmas
Wichtige im Sūtra vorkommende Themen
Buddhaländer
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War Vimalakīrti wirklich ein Laie?
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Geschick bei der Wahl der Mittel – die siebte Vollkommenheit
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Vimalakīrtis Krankheit
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Die schlechten Erfahrungen der Śrāvakas und Bodhisattvas
Abschließende Bemerkung
Vimalakīrti – das Sūtra von der unvorstellbaren Befreiung
Im Lande des Buddha
Die Lehrmethode der Befreiung
Die Schüler des Buddha bewundern Vimalakīrti
Die Bodhisattvas bewundern Vimalakīrti
Mañjuśrīs Krankenbesuch bei Vimalakīrti
Die Wunder
Über die Wesen
Der Weg des Buddha
Das Tor zur Nicht-Zweiheit
Der Buddha Gandhakūa
Über das Handeln eines Bodhisattvas
Das Schauen des Buddha Akobhya
Lobpreis und Nutzen dieses Sūtras
Die Übergabe des Sūtras
Anmerkungen
Glossar
Literaturverzeichnis
Buddhistische Fachbegriffe und Namen sind im vorliegenden Buch meist in Sanskrit (Skt.) angegeben, außer es handelt sich um einen Pāli-Text oder der Zusammenhang legt es nahe. Da die Aussprache nicht immer dem Deutschen entspricht, geben wir im Anschluss einen Überblick über die verwendete wissenschaftliche Umschrift. Alle Begriffe mit oder ś sind Sanskrit, da das Pāli über keine sch-Laute verfügt.
In den Anmerkungen sind anstelle der vollständigen Literaturangaben in der Regel nur Autor oder – falls mehrere Bücher desselben Autors verwendet wurden – Autor und Titel angegeben. Die vollständigen Angaben und benutzte Abkürzungen sind im Literaturverzeichnis zu finden.
Ausspracheregeln im Überblick
(Ein Akzent auf einem Vokal bedeutet, dass diese Silbe die Betonung trägt.)
Bei , h, , , , , h (bei einem Punkt unter dem jeweiligen Buchstaben) ist die Zunge gegen den Gaumen zu pressen.
Doppelkonsonanten sind immer doppelt zu sprechen, etwa wie in „Brotteig“.
Die heilige Lehre von Vimalakīrti strahlt unter den Juwelen der buddhistischen Mahāyāna-Schriften hervor.1
Der Vimalakīrti-Nirdeśa („Die Lehre von Vimalakīrti“)ist eine der wichtigsten buddhistischen Schriften. Er wird von Mahāyāna-Buddhisten in Indien, Zentralasien, China, Japan und Südostasien seit Jahrhunderten rezitiert, studiert und verehrt.2 Er ist ein Quell der Inspiration, des Humors, der Schönheit und Freude sowie tiefgründiger Dharma-Belehrungen. Er lädt uns in eine Welt voller unglaublicher Wunder ein, wie sie in manchen Mahāyāna-Sūtras zu finden sind, und vermittelt uns dabei die Lehre des Mādhyamaka (Mittlerer Weg). Zentrale Begriffe sind Leerheit und Nicht-Zweiheit.
Ein wesentlicher Teil des Sūtras ist die Begegnung zwischen Vimalakīrti (der als Laienanhänger des Buddha in Erscheinung tritt, aber in Wirklichkeit ein hoch entwickelter Bodhisattva ist) und Mañjuśrī, dem Bodhisattva der Weisheit. Die beiden diskutieren zentrale Fragen der Lehre – man hat fast den Eindruck, dass sie sich ein freundschaftliches „Rededuell“ liefern. Durch Paradoxien geht es dabei häufig an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens und darüber hinaus: Gerade, wenn man denkt, endlich etwas verstanden zu haben, wird im nächsten (Halb-) Satz wieder alles zerpflückt. Letzten Endes lässt sich die tiefgründige Lehre der Nicht-Zweiheit nicht in Worten ausdrücken – was uns Vimalakīrti mit seinem berühmten Schweigen vermittelt.
Jakob Fischer und Takezō Yokota stellten in den 40er Jahren die bislang einzige Übersetzung des Vimalakīrti-Nirdeśa ins Deutsche fertig, wofür ihnen großer Dank gebührt. Ihre Übertragung beruht auf einer Übersetzung ins Japanische von Kawase Kōzyun (ca. 1940) und diese wiederum auf einer Übersetzung ins Chinesische von Kumārajīva (406).
Die Übersetzung wurde ursprünglich vom Nippon-Deutschen Kulturverein Niigata herausgegeben und ist bei der Druckerei Hokuseido in Tokio erschienen. Am 19. Mai 1944 zerstörten Brandbomben die gerade gedruckten Exemplare bis auf wenige Bände und erst 1969 wurde in Deutschland eine zweite Auflage gedruckt. Als ich im Jahre 2000 mit einer Überarbeitung des Sūtras begann, war diese zweite Auflage schon lange vergriffen und ein Neudruck schien nicht in Sicht.
Meine Bearbeitung war ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen, sondern als Hörspielbearbeitung für den internen Gebrauch, und hatte zunächst das Ziel, einige recht christlich eingefärbte Begriffe wie z.B. „Teufel“, „Sünde“ und „ Erlösung“ zu ersetzen sowie teilweise das Deutsch mehr der heutigen Zeit anzupassen. Im Lauf der Arbeit und beim Vergleich mit den englischen Versionen von Luk und Thurman stellte sich allerdings heraus, dass es sinnvoller erschien, eine weit umfassendere Überarbeitung vorzunehmen. Hier nur ein kleines Beispiel für die Gründe. Fischer und Yokota haben immer das Wort „ Gesetz“ benutzt, wo es in der ursprünglichen Sanskrit-Version wahrscheinlich dharma geheißen hat. Dharma hat nun verschiedene Bedeutungen, z.B. „Lehre“, „Wahrheit“, „Realität“. Wenn es im Plural als dharmas verwandt wird, können aber auch „ kleinste Teile“ oder „ Phänomene“ damit gemeint sein. Bei der stets gleichen Übersetzung als „ Gesetz“ handelt es sich keineswegs um einen Fehler von Fischer und Yokota, da auch im Chinesischen (und dadurch später im Japanischen) dharma immer mit dem gleichen Wort übersetzt wurde. Für ein besseres Verständnis des Textes schien es aber angemessen, die einzelnen Bedeutungen von dharma wieder zu differenzieren.
Ich habe schließlich das gesamte Sūtra Satz für Satz mit der englischen Version von Luk verglichen, welche ebenfalls auf die chinesische Vorlage von Kumārajīva zurückgeht. In Zweifelsfällen habe ich die englische Version von Thurman hinzugezogen, welche eine Übersetzung aus dem Tibetischen ist. Einige wenige Textstellen habe ich auch mit der Übersetzung von Lamotte verglichen, die ebenfalls auf der Übertragung aus dem Tibetischen basiert. (Lamotte übersetzte ins Französische, die von mir benutzte Übersetzung ins Englische stammt von Sara Boin.) Die Übersetzung von Watson (auch auf der chinesischen Version von Kumārajīva basierend) sowie der 1999 in Lhasa entdeckte Sanskrit-Text lagen mir erst 2007 vor, sodass sie kaum in meine Überarbeitung einflossen. Wesentliche Änderungen gegenüber der ursprünglichen Version von Fischer habe ich markiert und den ursprünglichen Text sowie die entsprechenden Passagen der anderen Übersetzungen in der Originalsprache als Anmerkungen ans Ende des Textes gestellt. Wenn es um Erläuterungen zum direkten Textverständnis geht, hat die Anmerkungszahl zusätzlich ein Sternchen. Doch sind die meisten Begriffe im Glossar ausführlicher erklärt.
Es erschien mir wichtig, meine Änderungen für die Leserinnen und Leser durch Anmerkungen nachvollziehbar zu machen, da unterschiedliche Übersetzungen teilweise mit einer unterschiedlichen Auslegung der Lehre verbunden sein können und ich praktisch eine „ Mischung“ verschiedener Übersetzungen erstellt habe. Gleichzeitig entstand daraus zwar kein vollständiger, aber ein interessanter und aufschlussreicher Übersetzungsvergleich, der einen Geschmack davon vermittelt, wie interpretativ Übersetzungen letztlich häufig sind. Der Vergleich macht manche Stellen auch verständlicher und erweitert die Perspektive. Außerdem möchte ich betonen, dass ich nicht „Buddhologie“ oder ein ähnliches Fach studiert habe, sondern mich ausschließlich auf meine Kenntnis und Erfahrung mit buddhistischen Texten berufen kann bzw. fragliche Textstellen mit Dh. Āryadeva, einem erfahrenen Buddhisten, besprochen habe. Wie bereits erwähnt war ursprünglich auch keine Veröffentlichung als Buchform vorgesehen.
Im Jahr 2005 hat der Angkor-Verlag (www.angkor-verlag.de) erfreulicherweise einen überarbeiteten Nachdruck der Übersetzung von Fischer und Yokota herausgegeben. Wir danken dem Erben Sylvanus Fischer und dem Angkor-Verlag für die freundliche Erlaubnis, die von mir erstellte Überarbeitung veröffentlichen zu dürfen, und ich hoffe, dass beide Versionen einander ergänzen werden.
Das Sanskrit-Original des Vimalakīrti-Nirdeśa galt lange als verschollen, aber 1999 wurde in Lhasa ein Sanskrit-Text entdeckt und es bleibt zu hoffen, dass eines Tages eine deutsche Übersetzung direkt aus dem Sanskrit erscheinen wird. Dank der Arbeit von Fischer und Yokota ist es uns möglich, dieses wunderbare Sūtra auf Deutsch zu lesen. Ich hoffe, durch meine Arbeit zum besseren Verständnis beigetragen zu haben und entschuldige mich für alle Fehler, die ich möglicherweise dabei gemacht haben sollte.
Der Bodhisattva-Weg steht sowohl Frauen als auch Männern offen. Im Text ist in der Regel von dem Bodhisattva die Rede. Wir hatten verschiedene Varianten diskutiert, die es Frauen evt. erleichtern könnten, sich angesprochen zu fühlen (z.B. das neutralere Plural zu benutzen). Ich habe mich dann aber doch entschieden, die ursprünglichen Formulierungen beizubehalten, unter anderem auch, weil Sangharakshita in seinem Kommentar bei einer Textstelle explizit darauf verweist, warum in diesem Fall der Singular und nicht der Plural benutzt wurde.3 Ich denke, es spricht allerdings nichts dagegen, z.B. bei Lesungen des Sūtras, die entsprechenden Textstellen in die weibliche Form oder in den Plural zu setzen.
Bei der vorliegenden Überarbeitung haben viele Menschen geholfen, z.B. beim Scannen, beim Korrekturlesen, beim Entwerfen von Titelbildern und mit fachlichem Rat. Es ist leider hier nicht möglich, sie alle aufzuzählen, aber ich möchte ihnen allen herzlich danken. Ganz besonderer Dank gebührt Bhante Sangharakshita für seinen hervorragenden Kommentar zum Vimalakīrti-Nirdeśa und all denjenigen, die das Sūtra in der Vergangenheit verfasst, tradiert und kommentiert haben. Außerdem möchte ich Dh. Kulaprabhā danken, die im Jahr 2000 das Retreat über dieses Sūtra leitete, auf dem die Idee zu einer Bearbeitung entstand, sowie bei Dh. Nāgadākinī dafür, dass sie mir die Überarbeitung anvertraut, viele wertvolle Anregungen gegeben und wiederholt verschiedene Versionen Korrektur gelesen hat. Dr. Alexander Berzin danke ich für seine Hilfe bei Sanskrit-Begriffen sowie Dh. Āryamaitrī, Dietmar Becker und Tara Dorn für ihre Anregungen und Korrekturvorschläge. Dh. Dharmaākīni danke ich für das Design des Umschlags und meinem Bruder Stephan Vierhaus für seine Hilfe bei allen möglichen satztechnischen Fragen. Mein Mann Christian Dräger (Sherab Yönten) hat nicht nur für die Einführung hilfreiche Verbesserungsvorschläge gemacht, sondern mich auch, vor allem in den letzten Monaten vor der Veröffentlichung, liebevoll und geduldig unterstützt. Aber mein größter Dank geht an Dh. Āryadeva, den ich bei dharmischen Fragen stets um Rat fragen konnte – ohne ihn wäre die hier vorliegende Überarbeitung nicht möglich gewesen.
Möge die Arbeit von Jakob Fischer und Takezō Yokota sowie der Beitrag all der genannten Menschen zu der vorliegenden Überarbeitung zum Nutzen vieler sein.
Monika Dräger
Berlin, Frühjahr 2008
So viele Atome es geben mag,
In den Milliarden Welten,
So oft verneige ich mich in Ehrfurcht
Vor allen Buddhas der Drei Zeiten,
Vor der Vollkommenen Lehre
Und vor der ausgezeichneten Gemeinschaft.
Lobpreisend grüße ich alle Schreine
Und Orte, wo die Bodhisattvas waren.
Ich verbeuge mich tief vor den weisen Lehrern
Und allen, die respektvoll zu grüßen sind.4
Der Vimalakīrti-Nirdeśa wurde vor ca. 2000 Jahren verfasst. Auch wenn man ihn sicher ohne weitere Erläuterungen lesen und davon inspiriert werden kann, wird die Fülle der darin enthaltenen Themen und seine Symbolik ohne einige Hintergrundinformationen den Leserinnen und Lesern nur schwer zugänglich sein. Ich habe daher in der vorliegenden Einführung sowohl einige Informationen zur Entstehung und Bedeutung des Textes, zu seiner Beziehung zur buddhistischen Philosophie (hierbei insbesondere zur Mādhyamaka-Schule) und einige Reflexionen zu wichtigen im Sūtra vorkommenden Themen zusammengetragen. Dabei habe ich mich im Wesentlichen auf die Einführungen zu den Übersetzungen von Fischer und Yokota, Thurman, Luk, Lamotte und Watson sowie auf die Kommentare von Sangharakshita (The Inconceivable Emancipation) und Low gestützt.5 Ohne sie und natürlich insbesondere all diejenigen, die das Sūtra in der Vergangenheit verfasst, tradiert und kommentiert haben, hätte ich so etwas überhaupt nicht verfassen können.
Ich werde in dieser Einführung – wie auch schon andere vor mir – versuchen, etwas in Worte zu fassen, was sich letztlich nicht mit Worten ausdrücken lässt. Einige der Inhalte, die hier behandelt werden, gehen über das alltägliche auf Vorstellungen beruhende Denken hinaus und können auch nur von jenen erfasst werden, die über dieses Denken hinausgehen können. Darüber zu schreiben ist eine große Verantwortung, derer ich mir allzu bewusst bin. Deshalb hoffe ich, mit meinen Ausführungen aus Unkenntnis keine größeren Fehler begangen zu haben, sondern zum Verständnis des Textes beizutragen.
Der Vimalakīrti-Nirdeśa nimmt unter den Mahāyāna-Sūtras6 eine Sonderstellung ein, zum einen wegen seiner Schönheit und humorvollen Darstellung, zum anderen weil die „Hauptperson“ nicht der Buddha oder ein transzendenter Bodhisattva ist, sondern ein so genannter Haushälter oder Laienanhänger. Es wird aber ziemlich schnell deutlich, dass Vimalakīrtis Fähigkeiten keineswegs „laienhaft“ sind, sondern dass er ein hoch verwirklichter Bodhisattva ist.
Der Vimalakīrti-Nirdeśa behandelt zentrale Fragen wie: Was ist ein Bodhisattva? Wie handelt er oder sie? Wer kann den Mahāyāna-Weg beschreiten und ein Bodhisattva werden? Wie kann er nicht nur sich selber befreien, sondern auch anderen dabei helfen? Welche Methoden verwendet er dabei? Was passiert, wenn man Lehren zu wörtlich nimmt, wenn sie nicht mehr Mittel zum Zweck sind, sondern zum Selbstzweck werden?
Im Wesentlichen aber geht es um eines: um Befreiung – daher lautet auch einer der Untertitel des Textes „Lehre von der unvorstellbaren Befreiung“. Befreiung ist im Buddhismus ein zentraler Begriff – genauer gesagt ist sie der Dreh- und Angelpunkt. Der Buddha hat den Dharma gelehrt, um den Menschen zu ermöglichen, sich vom Leiden zu befreien, das aufgrund ihrer Unwissenheit entsteht. Er hat dabei viele verschiedene Formulierungen gewählt. Die wohl grundlegendste ist die Lehre von den vier edlen Wahrheiten7. Aber auch Themen wie Nicht-Zweiheit oder Unvorstellbarkeit wurden gelehrt, nicht weil sie philosophisch so interessant sind, sondern weil sie auf dem Weg zur Befreiung von praktischem Nutzen sind.
Unser gewöhnliches Denken ist von Vorstellungen und durch Gegensätze geprägt (dualistisches Denken). Das Sūtra will uns jenseits dieses Denkens führen, damit wir zu einer unvorstellbaren, unbegreifbaren Wahrheit gelangen. Damit bringt es unseren Verstand an seine Grenzen und darüber hinaus. Das vorstellungsfreie Erkennen von Leerheit und Nicht-Zweiheit8 soll uns zur „unvorstellbaren Befreiung“ führen.
Aber was passiert, wenn der Bodhisattva alle Wesen als leer ansieht – wie kann er dann großes Mitgefühl für sie entwickeln? Und wie sollen die Buddhas und Bodhisattvas eine Lehre vermitteln, die „unvorstellbar“ ist – ganz zu schweigen von „in Worte fassen“? Sangharakshita schreibt dazu:
Sogar sie können den Dharma nicht wirklich mit Worten lehren. Stattdessen verdeutlichen sie ihn durch ihre Handlungen, und zwar insbesondere durch magische Handlungen.9
Daher führt uns der Vimalakīrti-Nirdeśa in eine Welt der Wunder. Die vom Buddha und von Vimalakīrti vollbrachten Wunder haben mehrere „Funktionen“, z.B. verdeutlichen sie die Relativität von Raum (z.B. mit den kilometerhohen Löwenthronen), Zeit und sogar des Geschlechts (wenn Śāriputra in ein Mädchen und wieder zurück verwandelt wird).10 Sie vermitteln etwas, das sich nicht mit Worten ausdrücken lässt. Wunder sprechen eine andere „Sprache“ und „… sind dazu da, die tief verwurzelten Vorurteile der Schüler bezüglich Möglichkeit und Unmöglichkeit zu erschüttern und sie für die Botschaft der Unvorstellbarkeit empfänglich zu machen.“11
Wir als moderne Leserinnen und Leser werden diesen Wundern wahrscheinlich eher skeptisch gegenüberstehen. Dann dürfen wir sie getrost als mythische Schilderung oder auch als Allegorien betrachten. Thurman schreibt, dass es sogar zwischen den eher traditionellen und modernen Gelehrten eine Übereinstimmung dahingehend gibt, dass „ die Ereignisse in den Schriften allegorisch sind, wobei die Frage, ob es sich um lebende oder literarische Allegorien handelt, beiseite gelassen wird“.12 Welche Sicht auch immer Sie bezüglich der Wunder einnehmen, wenn Sie es zulassen, dann wird Sie der Vimalakīrti-Nirdeśa in diese Welt der Wunder entführen:
Wenn wir es zulassen, ganz in ein Mahāyāna-Sūtra einzutauchen, dann werden wir zu einem Teil des Sūtras. Wir gesellen uns zur großen Versammlung, fühlen uns ganz dazugehörig und nehmen an den Ereignissen des Sūtras teil, während diese ihren Lauf nehmen.13
Kapitelübersicht
In Kapitel 1 befindet sich Buddha Śākyamuni mit einer großen Versammlung von śrāvakas, Bodhisattvas und devas im Āmravāna-Hain. Die guten Eigenschaften der Bodhisattvas werden dargestellt und gelobt. Gerade als der Buddha den Dharma lehrt, kommt aus der nahe gelegenen Stadt Vaiśālī ein junger Mann namens Ratnakūa zusammen mit fünfhundert anderen Söhnen reicher Leute zu ihm. Jeder von ihnen schenkt dem Buddha einen mit kostbaren Kleinodien geschmückten Schirm. Mit Hilfe seiner übernatürlichen Kraft verwandelt der Buddha diese Schirme in einen einzigen Riesenschirm, der so groß ist, dass er die ganze Galaxie überspannt und man jede Welt und jedes einzelne Wesen darin reflektiert sieht. Ratnakūta preist den Buddha mit wundervollen Versen (Skt. gāthā) und fragt ihn dann, wie man zur Reinheit des Buddhalandes gelangen könne. Der Buddha antwortet, dass das Buddhaland der Bodhisattvas in jedem einzelnen Wesen liegt. „Wenn die Bodhisattvas wünschen, das Reine Land zu erreichen, dann müssen sie Herz und Geist läutern und wenn Herz und Geist geläutert werden, wird auch das Buddhaland rein.“ Śāriputra fragt sich daraufhin, ob etwa das Herz des Buddha unrein war, da diese Welt doch so unrein ist. Der Buddha erkennt diesen Gedanken und antwortet, dass die Welt in Wirklichkeit immer rein ist, aber die Wesen diese Reinheit aufgrund ihrer spirituellen Verblendung nicht sehen können. Weil Śāriputra dies immer noch nicht glauben kann, zeigt ihm der Buddha die Reinheit der Welt. Nach diesem Wunder entsteht in vielen der Anwesenden das Verlangen nach der höchsten Erleuchtung oder sie erlangen verschiedene Stufen der Verwirklichung.
In Kapitel 2 wechselt die Szene nach Vaiśālī. Dort lebt Vimalakīrti, der zwar äußerlich wie ein Laie lebt – anscheinend genauso wie andere auch, mit Frau, Kindern, Schmuck usw. Anhand der Schilderung seiner Eigenschaften erkennt man aber, dass er ein hoch verwirklichter Bodhisattva ist. Er benutzt sein Geschick bei der Wahl der Mittel14, um zum Wohl aller Lebewesen zu wirken und wird von allen Bewohnern der Stadt aufgrund seiner guten Eigenschaften verehrt. Als weiteren Ausdruck seines Geschicks bei der Wahl der Mittel wird er krank und Tausende besuchen ihn, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Er benutzt diese Gelegenheit, um über die Unzulänglichkeiten des Körpers zu sprechen und ermutigt die Anwesenden, nicht nach einem menschlichen Körper, sondern lieber nach dem Körper des tathāgata zu streben.
In Kapitel 3 und 4 fragt sich Vimalakīrti, warum der Buddha niemanden schickt, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Aufgrund seiner übernatürlichen Wahrnehmungsfähigkeit kann der Buddha diesen Gedanken erkennen und bittet erst Śāriputra und nach ihm weitere seiner zehn Hauptschüler (śrāvakas) und mehrere Bodhisattvas, zu Vimalakīrti zu gehen. Aber einer nach dem anderen sagt, er würde lieber nicht gehen und schildert als Begründung jeweils eine Begebenheit, bei der Vimalakīrti gravierende Mängel ihres Verständnisses oder ihrer Dharma-Übung aufgezeigt und sie damit beschämt hat.
In Kapitel 5 erklärt sich Mañjuśrī, der Bodhisattva der Weisheit, schließlich bereit, zu Vimalakīrti zu gehen. Gefolgt von einer großen Menge śrāvakas und Bodhisattvas, die sich das Treffen dieser beiden weisen Männer nicht entgehen lassen wollen, macht er sich auf den Weg nach Vaiśālī. Vimalakīrti bereitet derweil sein Haus auf ihre Ankunft vor, indem er es auf wundersame Weise leer macht, sodass alle problemlos Platz haben. Gleich nach der Ankunft kommt es zu einem heftigen dialektischen „Schlagabtausch“ über die Natur von Leerheit und Befreiung. Danach fragt Mañjuśrī Vimalakīrti nach der Natur seiner Krankheit, der mit den berühmten Sätzen antwortet: „Weil alle Wesen krank sind, bin auch ich krank. … Die Krankheit eines Bodhisattvas wird einzig und allein durch das große Mitgefühl verursacht.“ Außerdem erläutert er, wie ein kranker Bodhisattva seinen Geist kontrollieren soll und wie ein Bodhisattva einen anderen, der krank ist, trösten soll.
In Kapitel 6 sorgt sich Śāriputra, wo die anwesenden Mönche und Bodhisattvas sitzen sollen. Vimalakīrti, der seine Gedanken lesen kann, fragt ihn, ob er wegen des Dharmas oder wegen eines Sitzes gekommen sei. Er zaubert dann aus einem entfernten Buddhaland zweiunddreißigtausend Löwenthrone herbei, die mehrere tausend Kilometer hoch sind und wundersamerweise trotzdem alle in sein Haus passen. Die höher entwickelten Bodhisattvas können problemlos darauf Platz nehmen, die śrāvakas und die noch nicht so weit entwickelten Bodhisattvas nur mit Hilfe. Vimalakīrti demonstriert mit diesem Wunder die Relativität von Raum und Zeit und erzählt von weiteren Wunder, die ein Bodhisattva, der die unvorstellbare Befreiung erreicht hat, bewirken kann.
In Kapitel 7 erklärt Vimalakīrti, wie ein Bodhisattva alle Wesen betrachten soll (z.B. wie ein Zauberer das von ihm hervorgezauberte Phantom). Mañjuśrī fragt darauf: „Wenn ein Bodhisattva alle Wesen derartig betrachtet, wie kann er dann die große Liebe üben? “, was Vimalakīrti ihm anhand von wunderschönen Beispielen erklärt. Am Ende seiner Ausführungen erscheint ein himmlisches Mädchen und überschüttet die Anwesenden mit Blumen, die wundersamerweise von den Bodhisattvas abfallen, aber an den śrāvakas (und damit auch an Śāriputra) kleben bleiben, so sehr sie sich auch bemühen, diese abzustreifen. Es folgt ein Dialog zwischen Śāriputra und dem Mädchen, in dem dieses ihr tiefes Verständnis des Dharmas offenbart und acht wunderbare, schwer erreichbare Dinge15 aufzählt, die es in Vimalakīrtis Haus gibt. Dann fragt Śāriputra das Mädchen, warum es denn seine weibliche Gestalt nicht in eine männliche verwandle. Das Mädchen antwortet, dass alle Dinge nicht wirklich eine Gestalt haben und verwandelt daraufhin Śāriputra in eine weibliche Gestalt und sich selber in Śāriputra – und wieder zurück.
In Kapitel 8 erklärt Vimalakīrti, wie ein Bodhisattva dem Weg des Buddha folgt, und erläutert Mañjuśrī, worum es sich bei den Samen der Buddhaschaft handelt. Beide benutzen dazu Paradoxien, z.B.: „Wenn der Bodhisattva dem falschen Weg folgt, dann folgt er dem Weg des Buddha.“ Dann fragt ein Bodhisattva Vimalakīrti nach seiner Familie, der wiederum mit wunderschönen Versen erklärt, wie die Familie eines Bodhisattvas aussieht: „Prajñāpāramitā, die Vollendung der Weisheit, ist seine Mutter und upāya, Geschick bei der Wahl Mittel zur Befreiung, sein Vater; die Freude, den Dharma zu hören, ist sein Weib; das Herz der Liebe und des Mitgefühls ist seine Tochter; der Besitz eines guten Willens und der Wahrheitsliebe ist sein Sohn; absolute Leerheit ist sein Haus …“
In Kapitel 9 fragt Vimalakīrti die Bodhisattvas, wie man in die Lehre der Nicht-Zweiheit eintreten kann. Gut dreißig Bodhisattvas geben tiefgründige Erklärungen zu diesem Thema. Als Mañjuśrī an der Reihe ist, antwortet dieser, dass seine Vorredner gut gesprochen haben, aber ihre Erklärungen immer noch dualistisch sind, weil man Nicht-Zweiheit nicht mit Worten erklären kann. Schließlich wird auch Vimalakīrti um eine Erklärung gebeten: Er schweigt. Dies ist das berühmte donnergleiche Schweigen von Vimalakīrti.
In Kapitel 10 macht sich Śāriputra wieder einmal Sorgen, diesmal über das Essen. Vimalakīrti erkennt seine Gedanken und lässt einen Bodhisattva erscheinen, den er in das Land des Buddha Gandhakūta schickt. In diesem Land setzt sich alles aus Wohlgerüchen zusammen. Von dort bringt der Bodhisattva etwas Speise mit. Er wird von neun Millionen Bodhisattvas dieses Landes begleitet, die gerne die sahā-Welt des Buddha Śākyamuni kennen lernen möchten. Der Duft der Speise erfüllt die ganze Stadt, sodass der Führer der Licchavis mit vierundachtzigtausend Mann und verschiedene Götter zu Vimalakīrti kommen. Sie alle bekommen von der Speise zu essen, welche wundersamerweise nicht weniger wird. Auf eine Frage von Vimalakīrti erklären die Bodhisattvas aus dem Land des Buddha Gandhakūta, dass ihr Buddha den Dharma mit Hilfe von Duft lehrt. Auf ihre Rückfrage hin erklärt Vimalakīrti, wie Buddha Śākyamuni den Dharma vermittelt.
In Kapitel 11 versetzt Vimalakīrti die ganze Versammlung aus seinem Haus zum Buddha in den Āmravāna-Hain. Ānanda bemerkt den Wohlgeruch, den die Neuankömmlinge verbreiten und ihm wird der Grund dafür erklärt. Außerdem erfährt er, dass mit dieser Speise das Werk eines Buddhas vollbracht werden kann. Der Buddha erläutert weiter, dass verschiedene Buddhas den Dharma mit unterschiedlichen Mitteln lehren, dass aber das Ergebnis bei allen das Gleiche ist. Auf die Bitte der Bodhisattvas aus dem Land des Wohlgeruchs hin erklärt er ihnen die Lehre von der erschöpfbaren und unerschöpfbaren Befreiung. Danach kehren diese Bodhisattvas erfreut in ihr Buddhaland zurück.
In Kapitel 12 erklärt Vimalakīrti, wie er sich den Buddha vorstellt. Śāriputra fragt daraufhin, woher Vimalakīrti stammt, und der Buddha erklärt, dass Vimalkīrti aus dem Land Abhirati des Buddha Akobhya kommt. Die Anwesenden wünschen sich, dieses Land zu sehen, woraufhin Vimalakīrti es mit seiner rechten Hand herbeiholt. Daraufhin erwacht in unzähligen Menschen das Verlangen, in dieser herrlichen Welt wiedergeboren zu werden, und Buddha prophezeit ihnen, dass es so sein werde. Angesichts dieser Wunder hebt Śāriputra die Verdienste hervor, die jemand erlangt, der dieses Sūtra hört, beschützt und verbreitet.
In Kapitel 13 meldet sich der König der Götter, Āakra-Devānām-Indra, zu Wort, der auch unter den Anwesenden weilt. Er preist die Lehrrede und verspricht, diejenigen zu schützen, die sie lesen, aufnehmen und üben. Der Buddha erläutert dann, wie verdienstvoll es ist, dieses Sūtra zu lesen und zu üben – verdienstvoller als unzählbare Buddhas in unzählbaren Buddhaländern zu verehren. Die Verehrung des Dharmas sei die höchste Form der Verehrung, und der Buddha erzählt, wie er selber in einem vorherigen Leben bei einem früheren Buddha geübt habe und von diesem eine Belehrung über die Verehrung des Dharmas erhalten habe.
In Kapitel 14 übergibt der Buddha dieses Sūtra Maitreya, dem zukünftigen Buddha, damit künftige Generationen davon profitieren können. Er erläutert die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Bodhisattvas. Maitreya, die anderen anwesenden Bodhisattvas und die vier Himmelswächter versprechen diejenigen zu schützen, die das Sūtra lehren. Als auch Ānanda aufgefordert wird das Sūtra zu verbreiten, fragt dieser nach dem Namen des Sūtras und der Buddha gibt dem Sūtra mehrere Namen.
Der Titel des Textes lautet Vimalakīrti-Nirdeśa-Sūtra oder nur Vimalakīrti-Nirdeśa. „ Vimalakīrti“ ist ein Eigenname, der sich zusammensetzt aus:
So bedeutet Vimalakīrti „der den reinen Ruhm hat“ und nirdeśa Beschreibung, Bezeichnung, Predigt, Lehre. Die wörtliche Übersetzung des vollständigen Titels lautet also ungefähr: „Die Lehre desjenigen, der den reinen Ruhm besitzt“.
Nur die chinesischen Übersetzungen (und dadurch auch die Übersetzungen aus dem Chinesischen) bezeichnen den Text außerdem als „Sūtra“ (chin. ching). Sowohl in der erst vor kurzem entdeckten Sanskrit-Version, der Übersetzung ins Tibetische als auch in alten indischen Referenzen auf den Text wird der Begriff Sūtra nicht benutzt, sondern die Bezeichnung örya-Vimalakīrti-Nirdeśa („Die heilige Lehre von Vimalakīrti“).16
Sūtra bedeutet wörtlich „Faden“ oder „Schnur“. Die Bezeichnung Sūtra wird für Texte verwendet, die (nach dem traditionellen Verständnis) direkt auf Lehrreden des Buddha zurückgehen, oder wenn die Belehrung von anderen gegeben wurde, entweder durch den Buddha inspiriert oder von ihm nachträglich autorisiert wurden. Der Hauptlehrende ist im Vimalakīrti-Nirdeśa tatsächlich nicht der Buddha, sondern Vimalakīrti. Aber der Buddha lehrt sowohl am Anfang als auch am Ende des Textes und „adoptiert“ sozusagen im letzten Kapitel die Lehrrede und gibt ihr mehrere Namen. Daher gibt es sicherlich auch gute Gründe, den Text Sūtra zu nennen.17
Für den Vimalakīrti-Nirdeśa gibt es verschiedene weitere Titel,18 von denen einige im letzten Kapitel des Textes genannt werden:
Lehre von der unvorstellbaren Befreiung
(
acintyavimoka
) bzw.
Sūtra von der unvorstellbaren Befreiung.
Dieser Titel wird (in einigen Variationen) sowohl bei den Übersetzungen ins Chinesische als auch bei denen ins Tibetische verwendet.
Der Titel
Versöhnung von Gegensätzen
19
findet sich nur in der tibetischen Übersetzung.
Einführung in die Lehre aller Buddha-Eigenschaften
bezieht sich auf
Kapitel 10
.
Entstehungszeit und Historizität
Der Vimalakīrti-Nirdeśa zählt zu den ältesten Mahāyāna-Texten. Die genaue Entstehungszeit ist unbekannt. Nach Meinung einiger moderner Autoren liegt die Entstehungszeit der Basistexte der Prajñāpāramitā-Sūtras ungefähr zwischen 200 v.u.Z. und 100 u.Z. Lamotte nimmt an, dass der Vimalakīrti-Nirdeśa spätestens im 2. Jahrhundert u.Z. entstanden ist.20
Aus traditioneller Sicht wurden dagegen alle Sūtras schon vom Buddha zu seinen Lebzeiten gelehrt. Einige Lehren wurden allerdings danach verborgen, da die Schüler noch nicht in der Lage waren, sie zu verstehen. Wichtige Mahāyāna-Texte wurden zuerst von Nāgārjuna (ca. 2. Jh. u.Z.) und weitere von Asaga (ca. 4. Jh. u.Z.) entdeckt. Der Legende nach erhielt Nāgārjuna die Prajñāpāramitā-Sūtras von den nāgas21, und Asaga erhielt – nachdem er Mitgefühl entwickelt hatte – die Lehren vom zukünftigen Buddha Maitreya. Die Lehren Nāgārjunas betonen insbesondere Leerheit, diejenigen von Asaga bodhicitta.Das Sūtra selber verlegt die Handlung in die Zeit des Buddha. Man gewinnt den Eindruck, dass Vimalakīrti eine historische Persönlichkeit sei, der vorher im Land des Buddha Akobhya gelebt hat (s. Kapitel 12). Aber gleichzeitig „erweckt (das Sūtra) nicht den Anschein, dass es im Einklang mit der historischen Wirklichkeit sei oder gar mit unseren konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit“22. Wie wir später sehen werden, ist gerade Relativität, unter anderem auch von Raum und Zeit, ein wichtiges Thema im Sūtra.
Es bleibt also uns überlassen, ob wir Vimalakīrti als historische Persönlichkeit ansehen, der zur Zeit des Buddha gelebt und mit ihm gesprochen hat, oder ob wir ihn (nur) als Hauptfigur in einem Sūtra betrachten, das später von einem erleuchteten Schüler des Buddha (und damit durch dessen Inspiration) verfasst wurde.
Der Vimalakīrti-Nirdeśa wurde achtmal ins Chinesische (davon sind nur drei Texte vollständig erhalten) und dreimal ins Tibetische (hiervon ist nur ein Text vollständig erhalten) sowie in mehrere andere Sprachen übersetzt.23
Das Sanskrit-Original des Vimalakīrti-Nirdeśa galt lange als verschollen, aber 1999 wurde in Lhasa ein Sanskrit-Text entdeckt, der wahrscheinlich aus dem 11.-13. Jahrhundert stammt. Der Text wurde 2004 in transliterierter Form herausgegeben.24
Die Übersetzungen ins Chinesische und Tibetische datieren früher als die in Lhasa gefundene Sanskrit-Version (d.h. die Übersetzungen erfolgten wahrscheinlich aus früheren Sanskrit-Texten). Die vollständig erhaltenen chinesischen Übersetzungen erfolgten durch:
Zhiqian (Tschī-k’ein) (223-228),
Kumārajīva (406), seine Übersetzung ist die populärste chinesische Übersetzung und auch Grundlage der Übersetzungen ins Japanische und in die meisten westliche Sprachen,
Hsüan-tsang (Xuánzàng) (650), seine Übersetzung gilt als die genaueste.
Die Übersetzung ins Tibetische durch Chos nyid tshul khrims (Dharmatāśīla) erfolgte Ende des 8. Jahrhunderts. Übersetzungen ins Englische, Französische und Deutsche:
Jakob Fischer und Takezō Yokota ins
Deutsche
(1944) auf der Grundlage der chinesischen Übersetzung von Kumārajīva und dem japanischen Manuskript von Kawase Kōzyun (ca. 1940er Jahre). Diese Übersetzung ins Deutsche ist die Grundlage der vorliegenden Neubearbeitung.
Etienne Lamotte ins
Französische
(1962), 1976 Übertragung seiner Übersetzung ins
Englische
durch Sara Boin; Grundlage: die tibetische Übersetzung und alle drei chinesischen Versionen.
Charles Luk ins
Englische
(1972); Grundlage: chinesische Übersetzung von Kumārajīva.
Robert A. Thurman ins
Englische
(1976); Grundlage: tibetische Übersetzung.
Burton Watson ins
Englische
(1996); Grundlage: chinesische Übersetzung von Kumārajīva.
Richard Robinson ins
Englische
(unveröffentlicht); Grundlage: chinesische Übersetzung von Kumārajīva.
Es gibt zahlreiche Kommentare25 zum Vimalakīrti-Nirdeśa, u.a. von Kumārajīva, der großen Einfluss auf die chinesische Literatur gehabt haben soll, und von dem großen japanischen Prinzen Shōtoku (547-622).
Von den Einführungen und Erklärungen westlicher Autoren kann ich für ausführlichere wissenschaftliche Erklärungen und zum philosophischen Hintergrund insbesondere die Einführung von Lamotte empfehlen, zum philosophischen Hintergrund die von Thurman (der meiner Meinung nach besser lesbar ist), und im Hinblick auf die Bedeutung dieses Sūtras für das spirituelle Leben den ausführlichen Kommentar von Sangharakshita The Inconceivable Emancipation.
Wie oben erwähnt ist der Vimalkīrti-Nirdeśa ein frühes Mahāyāna-Sūtra. Es steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den (älteren) Hīnayāna-Lehren. Das wird u.a. dadurch deutlich, dass die Hīnayāna-Anhänger im Sūtra öfter schlecht wegkommen oder gar – auf witzige Art – lächerlich gemacht werden.26 Um das zu verstehen, muss man sich die Entwicklung des Buddhismus vor Augen führen.27
In den frühen Schulen des Buddhismus – später von Vertretern des Mahāyāna (großes Fahrzeug) manchmal abwertend als Hīnayāna (kleines Fahrzeug) bezeichnet – waren (und sind immer noch) grundlegende Lehrinhalte u.a. das Abhängige Entstehen (pratītyasamutpāda) und davon abgeleitet die Kette Abhängigen Entstehens und die vier edlen Wahrheiten. Die vier edlen Wahrheiten erklären 1) das Leiden, 2) die Ursache des Leidens, 3) die Befreiung vom Leiden und 4) den Weg, der zur Befreiung vom Leiden führt (nämlich den edlen achtfältigen Pfad). Ein weiterer wichtiger Lehrinhalt ist die Lehraussage über die drei Merkmale alles Seienden (tri-lakaa): Alles Bedingte ist 1) unbeständig (anitya, Pāli anicca), 2) leidvoll (dukha, Pāli dukkha) und 3) ohne festes Selbst (anātman, Pāli anatta). Das Ziel des spirituellen Lebens bestand darin, selber Freiheit vom Leiden zu erreichen und der Weg dorthin war ein Weg des Sich-Reinigens28, um einen Zustand zu erreichen, der vollkommen anders ist als der, in dem wir jetzt sind.
Die ursprünglichen Schüler des Buddha werden als śrāvakas (Hörer) bezeichnet, und das höchste Ziel des frühen Buddhismus war es, Befreiung zu erlangen und damit ein arhat (Pāli arahat) zu werden. Die meisten Menschen, die zur Zeit des Buddha ernsthaft die völlige Befreiung vom Leiden in diesem Leben anstrebten, „gingen in die Hauslosigkeit“, d.h. sie verließen ihr Haus, ihre Familie, ihren sozialen Status usw. und schlossen sich der Mönchs- oder Nonnengemeinschaft an. In den frühen buddhistischen Schriften werden aber durchaus auch Laien, so genannte Haushälter (upāsakas und upāsikās)29 erwähnt, die hohe Verwirklichungsstufen er reicht hatten (z.B. König Bimbisāra, Anāthapiika und Visākhā)30. Dennoch setzte sich im Laufe der Jahrhunderte die Sicht durch, dass man nur als Mönch (und vielleicht noch als Nonne) ernsthaft praktizieren könne. Laien konnten durch ihre Unterstützung der Ordinierten „Verdienste“ erwerben. Die Laien hofften sich durch diese Verdienste eine gute Wiedergeburt zu sichern, um dann vielleicht in einem späteren Leben als Mönch oder Nonne nach der Lehre üben zu können.
Das Mahāyāna entstand31 in Abgrenzung zum Hīnayāna und steht für das Ziel, alle fühlenden Wesen aus Sasāra zu befreien und für den Weg (und das Ideal) des Bodhisattvas. Die oben erwähnten grundlegenden Lehren blieben zwar erhalten, wurden allerdings erweitert, genauer ausgearbeitet oder anders betont.
Die Anhänger des Mahāyāna-Buddhismus streben nicht nur die Befreiung für sich alleine an, denn ihre Übung führt sie zu der Erkenntnis, dass alle Wesen genauso leiden wie sie selber. Dadurch entwickeln sie großes Mitgefühl unterschiedslos für alle Wesen und wünschen sich, alle Wesen von ihren Leiden zu befreien. So wollen sie „ vollkommene“ Erleuchtung erlangen, um dann (und auch schon auf dem Weg dorthin) möglichst vielen anderen Wesen helfen zu können.
Wesentliche Schritte auf dem Weg des Bodhisattvas sind die Entwicklung von bodhicitta (der Wunsch oder Wille, Erleuchtung zum Wohl aller Wesen zu erreichen), das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde und die Übung der Vollkommenheiten (pāramitās). Das Ziel ist also nicht nur auf die eigene Befreiung aus dem Rad der Geburten ausgerichtet, welche durch Auslöschen aller Befleckungen oder Triebe (āsrava) und Leidenschaften (kleśa) erreicht wird, indem man „erkennt, wie die Dinge sind“ (Pāli yathābhūta-ñānadassana). Der Bodhisattva strebt vielmehr eine umfassendere Befreiung an, die vollkommene Erleuchtung, die auch als Verbindung von höchster Weisheit (prajñā) und größtem Mitgefühl (karunā) beschrieben wird.
Außerdem wird im Gegensatz zum Hīnayāna weniger Wert auf das mönchische Leben gelegt. Auch Laien können den Bodhisattva-Weg beschreiten.32 Alle Menschen, ja sogar alle Wesen haben Buddhanatur, also das Potenzial, Buddhaschaft zu erlangen und die Fähigkeit, den Wunsch nach Erleuchtung in sich zu erwecken. Z.B. heißt es in Kapitel 14 des Vimalakīrti-Nirdeśa: „Wenn in Zukunft Frauen und Männer von edler Gesinnung oder Götter, Drachengötter, Dämonen, gandharvas und rākasas usw. Verlangen nach der höchsten Erleuchtung hegen und an der Lehre des Großen Fahrzeugs Gefallen finden …“
Im frühen Buddhismus bestand der einzige Unterschied zwischen der Erleuchtung des Buddha und der seiner Schüler (also der arhats) nur darin, wie sie erlangt wurde: der Buddha erlangte sie ohne fremde Hilfe, aber seine Schüler mit Hilfe des Buddha, und zwar durch das Hören seiner Lehre, daher die Bezeichnung śrāvaka (Hörer). Laut der Lehre des Mahāyāna dagegen hat ein arhat nur Befreiung (vimukti, Pāli vimutti) erreicht, der Buddha hingegen vollkommene Erleuchtung (samyak-sabodhi). Sangharakshita schreibt dazu allerdings:
Aber natürlich ist die ganze Unterscheidung zwischen samyak-sabodhi und Arhatschaft nur künstlich, insofern sie eine Funktion der historischen Entwicklung des Mahāyāna ist.33
Die wesentlichen Inhalte des Vimalakīrti-Nirdeśa zählen zu den Prajñāpāramitā- (Vollendung der Weisheit)-Lehren, die sich mit Leerheit befassen. Der Vimalakīrti-Nirdeśa diente, wie beispielsweise auch die Prajñāpāramitā-Sūtras, als Grundlage für die Schule des Mittleren Weges (Mādhyamaka) von Nāgārjuna.34
Die Mādhyamaka-Schule ist eine der großen Mahāyāna-Schulen des buddhistisch-philosophischen Denkens, die sich in Indien entwickelten. Entsprechend der Lehre des Mādhyamaka sind alle Dinge leer von einer „Eigen-Natur“ („Selbst-Natur“) oder einer „Essenz“. Das bedeutet, dass alle Phänomene keine ihnen innewohnende, unabhängige Existenz haben – unabhängig von den Bedingungen, die zu ihrem Entstehen geführt haben oder auch unabhängig vom Geist, der sie wahrnimmt.
Mādhyamaka ist das Zurückweisen zwei extremer Philosophien und stellt daher den „mittleren Weg“ zwischen Eternalismus (Ewigkeitsglaube, die Sicht, dass etwas ewig und unveränderlich ist) und Nihilismus (die Behauptung, dass alle Dinge eigentlich schon zerstört sind oder nicht-existent gemacht wurden). Das ist Nihilismus im Sinne der indischen Philosophie und mag sich vielleicht etwas vom westlichen philosophischen Nihilismus unterscheiden.35
Viele Gelehrte haben den Mittleren Weg dahingehend missverstanden, dass er zum Nihilismus führe. Insofern ist ein richtiges Verständnis des Leerheitsbegriffs entscheidend, um Missverständnissen vorzubeugen:
Das Wort wurde sorgfältig gewählt und bedeutet nicht „Nichts“. Deshalb sagt uns die Gleichsetzung von „Materie“ mit „ Leerheit“ etwas über den Zustand der Materie, aber sie besagt nicht, dass die Materie überhaupt nicht existieren würde.36
Also negiert (die Aussage) „Materie ist Leerheit“ Materie nicht als relatives Phänomen; sie negiert nur jegliche falsche Auffassung von Materie als etwas Letztendlichem, als etwas, das irgendein unabhängiges, substantielles Wesen oder einen letztendlich wahren Status hätte.37
Thurman folgert daher, dass diese Gleichsetzung in Wirklichkeit das Gegenmittel zum Nihilismus sei.
Aus der Sicht, dass alle Phänomene in Abhängigkeit voneinander entstehen bzw. aus der Erkenntnis ihrer Leerheit, folgt die Nicht-Dualität (Nicht-Zweiheit, s.u.) aller Phänomene. Und daraus folgt wiederum, dass wir mit unserem durch dualistisches Denken geprägten Geist die Wirklichkeit, d.h. die Leerheit aller Dinge, nicht erkennen können, sie ist „ unvorstellbar“ (s.u.).
Im Vimalakīrti-Nirdeśa sind die zwei Wahrheiten meines Wissens kein explizites Thema. Sie sind allerdings für das Verständnis der folgenden Erklärungen wichtig, weil es sonst zu fatalen Missverständnissen kommen kann.
Die meisten, vielleicht sogar alle, buddhistischen Schulen akzeptieren, dass es zwei Wahrheiten (bzw. Wirklichkeitsebenen) gibt, nämlich die relative (konventionelle) Wahrheit und die absolute (letztendliche, im höchsten Sinne gültige) Wahrheit.38 „Relativ“ und „ absolut“ heißt allerdings nicht, dass die „ absolute Wahrheit“ wahrer ist als die „relative“. Tatsächlich sind beide Wahrheiten wahr. Allerdings können wir mit unserem normalen Geist nur die konventionelle Wirklichkeitsebene wahrnehmen. Nach den Lehren des Mahāyāna kann ein Bodhisattva, wenn er z.B. in Leerheitsmeditation vertieft ist, die im höchsten Sinne gültige Wirklichkeitsebene erfahren – wenn er aus der Meditation herauskommt, nimmt er allerdings lediglich wieder die relative Wirklichkeitsebene wahr. Nur ein Buddha kann beide Ebenen bzw. Wahrheiten gleichzeitig wahrnehmen.
In den folgenden Erklärungen, wie auch bei allen Diskussionen über Themen wie Leerheit usw., ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, über welche der beiden Wahrheiten man gerade spricht, also welche Betrachtungsweise man gerade einnimmt. Sagt man z.B.: „Alles ist leer, deshalb gibt es keine dharmas,39 keine Wesen und auch keine Buddhas und Bodhisattvas“, ohne zu erwähnen, dass das der Blickwinkel der letztendlichen Wirklichkeitsebene ist, kann das katastrophale Folgen haben. Man könnte z.B. denken: „ Wenn es in Wirklichkeit gar nichts gibt, wozu soll ich dann ethisch handeln, Mitgefühl entwickeln oder mich um andere kümmern?“ Einige Menschen denken vielleicht: „Es hat ja sowieso alles keinen Sinn.“ Andere, denen die Vorstellung von Buddhas und Bodhisattvas eine Quelle der Inspiration und Hilfe war, mögen jetzt denken: „ Es gibt überhaupt keine Buddhas und Bodhisattvas“, was sie womöglich verzweifeln lässt.
Auf der relativen Wirklichkeitsebene gibt es sehr wohl Dinge, Menschen usw. – auch wenn sie auf der letztendlichen Ebene nicht so existieren, wie wir denken. Wir können z.B. diese Dinge und Menschen wahrnehmen, sie können Funktionen erfüllen (z.B. kann man aus einer Tasse trinken), und Handlungen, die von mir oder anderen Menschen ausgeführt werden, haben Folgen. Um es noch einmal zu betonen: Die zwei Wahrheiten sind beide wahr.
Eine der wichtigsten Lehrinhalte des Mahāyāna ist die Leerheit (śūnyatā) aller Phänomene. Die Grundlagen für diese Lehre sind schon in vielen Hīnayāna-Texten zu finden, z.B. in den Lehren über die drei Merkmale der Existenz (tri-lakaa, Pāli ti-lakkhaa), die besagen, dass alles Bedingte vergänglich (anitya), leidhaft bzw. unbefriedigend (dukha) und ohne festes, unabhängiges Selbst (anātman) ist. Letzteres wurde in den Mahāyāna-Lehren über śūnyatā erheblich ausgearbeitet und nicht nur hauptsächlich auf die persönliche Existenz, sondern auf alle dharmas40 bezogen. Die Lehre von śūnyatā wurde insbesondere in den Prajñāpāramitā-Texten (zu denen z.B. auch das Herz-Sūtra oder die Vollendung der Weisheit in achttausend Versen zählt) dargestellt. Die tiefe Einsicht in bzw. Verwirklichung von Leerheit ist so wesentlich, weil nur sie zu prajñā (Weisheit, Erkenntnis) führt. Man könnte auch sagen, dass im Mahāyāna die Verwirklichung von Leerheit und prajñā gleichbedeutend sind.
Für śūnyatā gibt es mehrere Definitionen. Vereinfachend kann man sagen, dass alle Dinge – da sie aus einem Netz von Bedingungen entstanden sind – nicht fest oder unwandelbar sind und auch kein bleibendes Selbst haben. Sie sind abhängig, nicht nur von der Vielzahl der Bedingungen, sondern z.B. auch von ihren Teilen und Benennungen. Daher sind sie leer von einer eigenen oder unabhängigen Existenz, einem festen, unwandelbaren Kern oder von irgendwelchen innewohnenden Charakteristika, durch die sie beschrieben werden könnten. Häufig wird sogar gesagt, die Phänomene seien bloß geistige Konstrukte. Es wäre aber völlig falsch, Leerheit so zu verstehen, als ob gar nichts da wäre. Denn das Konzept der Leerheit überwindet gerade, wie oben erwähnt, den Gegensatz zwischen Nihilismus und Eternalismus.
Um ein einfaches Beispiel zu benutzen: An einer Tasse ist nichts, was sie letztendlich zu einer „ Tasse“ macht. Sie ist aus Bedingungen entstanden und wird entsprechend auch wieder vergehen. Wenn z.B. der Henkel oder ein Stückchen vom Rand abbricht, dann würden wir sie wahrscheinlich immer noch als Tasse ansehen. Aber ab wann ist es für uns keine Tasse mehr? Außerdem ist dieser Gegenstand nur für uns eine Tasse – weil wir ihre Funktion und Bezeichnung kennen. Für eine Ameise kann sie dagegen ein „Berg“ oder ein „Hindernis“ sein – sie würde also eine Tasse anders „benennen“. Nun könnten wir argumentieren: „Nun gut, aber es ist trotzdem irgendetwas Materielles da.“ Aber wenn wir sie eingehender betrachten, nämlich auch ihre atomare und subatomare Ebene, dann ist die Tasse gar nicht so „fest“, wie sie erscheint. Wie die moderne Physik uns gelehrt hat, sind die kleinsten Teile, aus denen sich unsere Welt zusammensetzt, nicht die Atome, sondern „Etwas“, das – je nach Betrachtungsweise – mal als Teilchen, mal als Energiewelle erscheint bzw. bezeichnet wird. Hiermit nähert sich die moderne Physik der buddhistischen Lehre an, welche seit über 2000 Jahren sagt, dass die höchste Weisheit (und damit das letztendliche Wissen über Leerheit) nicht mit Worten oder Vorstellungen erfasst werden kann, sondern darüber hinausgeht.
Aber auch ein Buddha oder hoch verwirklichter Bodhisattva, der erkannt hat, dass diese Tasse keine letztendliche Existenz hat, wird, wenn er Tee trinken möchte, ohne Probleme einfach „die Tasse“ nehmen und daraus Tee trinken. Wie oben schon erläutert, ist es wichtig, zwischen der absoluten und relativen Ebene zu unterschieden. Auf der im höchsten Sinne gültigen Ebene gibt es keine Tasse – aber auf der relativen Ebene funktionieren diese sich ständig wandelnden, unbenennbaren „ Teile, Prozesse, Bedingungen“ (welches Wort auch immer wir dafür verwenden, es wird dem wahren Sachverhalt nicht gerecht) ganz einfach als Tasse.
Ratnakūa fasst diesen komplexen Zusammenhang im ersten Kapitel des Vimalakīrti-Nirdeśa in einem seiner Lobverse an den Buddha wunderbar zusammen:
Nach deiner Lehre haben die Dinge weder Sein noch Nichtsein. Nur auf Grund der Kette Abhängigen Entstehens treten sie in Erscheinung. Weder gibt es ein Ich noch eine Tat (die daraus entspringt), noch ein Erleiden der Tat, und doch bleiben die Folgen der guten und schlechten Taten.
Wichtig bei der ganzen Diskussion über Leerheit ist, nicht der Gefahr zu unterliegen, aus Leerheit selber eine feste Größe oder ein unabhängiges „Ding“ zu machen:
Nicht durch Leerheit ist Form leer; unabhängig von Form gibt es keine Leerheit.41
Auch ist Leerheit kein Attribut der Dinge:
Leerheit ist nicht ein besonderes Merkmal oder eine Qualität, welche die Dinge besitzen, wie beispielsweise Gewicht oder Größe. … Dinge existieren nicht getrennt von Leerheit.42
Es geht also darum zu erkennen, dass alle Phänomene leer sind – und damit auch Leerheit selber leer ist (śūnyatā-śūnyatā). Es reicht allerdings nicht, das nur intellektuell zu „verstehen“. Das ist nur ein erster Schritt. Es reicht auch nicht, es sozusagen „aus dem Bauch heraus“ zu verstehen. Letztendlich muss man vollständig über das von Vorstellungen geprägte, dualistische Denken hinausgehen, die Vorstellungen loslassen und sich „an nichts mehr klammern“, wie es z.B. im Herz-Sūtra heißt, und Leerheit vorstellungsfrei erkennen bzw. verwirklichen. Das Vermitteln dieser höchsten Weisheit – einer Weisheit, die über Worte und Vorstellungen hinausgeht, ist das wesentliche Anliegen insbesondere der Prajñāpāramitā-Sūtras, aber auch des Vimalakīrti-Nirdeśa.
Aber warum ist es so wichtig, die Leerheit aller Phänomene zu erkennen? Gemäß der Sicht des Mahāyāna führt die Erkenntnis, dass die Person leer ist, zur Befreiung vom Leiden (man wird also ein arhat). Durch die vorstellungsfreie Erkenntnis der Leerheit aller Dinge dagegen erlangt man die Allwissenheit43 eines Buddhas und ist damit in der Lage, allen Wesen auf bestmögliche Weise zu helfen. Hiermit ist auch wieder die Verbindung zu Mitgefühl und bodhicitta hergestellt: Ein Buddha verkörpert Weisheit und Mitgefühl in höchstmöglichem Maß. Nur das Erlangen der höchsten Weisheit versetzt einen Bodhisattva in die Lage, seinen Wunsch und sein Gelübde, allen Wesen zu helfen, zu verwirklichen.
Wie eben erläutert ist Leerheit – und damit die Dinge selber – mit unserem gewöhnlichen Denken, d.h. unserem von Vorstellungen geprägten, dualistischen Denken, nicht zu erfassen. Hier noch einmal zwei Begründungen von Sangharakshita und Thurman:
Weil dharmas weder existieren noch nicht existieren, haben sie auch keine voneinander getrennten Eigenschaften, durch welche sie unterschieden oder erkannt werden könnten. Weil sie keine voneinander getrennten Eigenschaften haben, sind sie unvorstellbar und nicht in Worten auszudrücken.44
Vimalakīrti betont nachdrücklich das Thema der Unvorstellbarkeit, also die letztendliche Unfassbarkeit aller Dinge, seien es relative oder absolute. Damit verdeutlicht er, was aus der Anwendung von Leerheit letztlich folgt: nämlich dass der endliche, ichbezogene Geist die letztendliche Natur aller Dinge nicht einmal erfassen kann und deshalb – soweit es einen solchen Geist betrifft – die letztendliche Realität der Dinge an sich nicht fassbar ist.45
Es sind also alle Dinge, seien es relative oder absolute, letztendlich unfassbar bzw. „unvorstellbar“. Somit ist natürlich auch Befreiung oder Erleuchtung „unvorstellbar“ – daher einer der Titel des Vimalakīrti-Nirdeśa: „Unvorstellbare Befreiung“ (acintyavimoka). Vimoksa heißt Befreiung und acintya „ unvorstellbar“, „undenkbar“ oder „unfassbar“ und „in Worten nicht auszudrücken“.46
Worte können nicht mehr als den Weg zum Verständnis aufzeigen, das selbst jenseits von Worten – und jenseits aller Vorstellungen – liegt. Die verschiedenen buddhistischen Schulen haben versucht, sich diesem Verständnis auf unterschiedliche Weise anzunähern und ihre Ansätze umfassen eine große Bandbreite. An das eine Ende könnte man wahrscheinlich die Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus stellen, die dem Studium sehr hohe Bedeutung beimisst. Man muss erst ein gutes intellektuelles Verständnis von Leerheit haben (für welche es mehrere, sehr differenzierte Definitionen gibt), bevor man erfolgreich darüber meditieren kann. Am anderen Ende findet sich z.B. der Zen-Ansatz, bei dem mit Hilfe von Kōans47 versucht wird, direkt über das begriffliche und durch Vorstellungen geprägte Denken hinauszugehen (d.h. ohne vorherige intellektuelle Auseinandersetzung mit komplizierten Ansichten über Leerheit u.a.). Doch zielen beide Ansätze auf ein Verständnis und eine Befreiung jenseits aller Begriffe und Vorstellungen.
Ein anderes wichtiges und mit Leerheit und Unvorstellbarkeit verbundenes Konzept ist die Lehre von advaya, Nicht-Zweiheit oder Nicht-Dualität. Unter Nicht-Zweiheit versteht man Gegensatzlosigkeit, Unterschiedslosigkeit oder Gleichheit.
All unser Denken, Handeln und Reden beruht auf Begriffen und Vorstellungen und damit auch auf Dualität:
Wir selbst sind Geschöpfe der Dualität. Unser Bewusstsein ist dualistisch, unsere Erfahrung ist dualistisch, unsere Gedanken, Wörter und unsere Handlungen sind dualistisch; unser Verständnis und unsere Übung des Dharmas sind dualistisch. Der Dharma selbst wird in Begriffen ausgedrückt, die Gegensatzpaare darstellen: heilsam und unheilsam, weltlich und transzendent; …48
Der Yogācāra, eine Schule des Mahāyāna-Buddhismus, bietet eine Erklärung hierfür an. Er sagt, dass Vorstellungen durch kliśto-mano-vijñāna oder das „befleckte Geist-Bewusstsein“ geschaffen werden, das alles, sogar die Realität selbst, in Form von Gegensatzpaaren sieht.49
Thurman beschreibt die Folgen des „Gegensätze-Machens“ recht anschaulich:
… unser Geist ist daran gewöhnt, Gegensatzpaare wie „lang und kurz“, „hell und dunkel“ zu erzeugen. Dadurch nehmen wir an, dass es für jede endliche, abhängige, vorübergehende und relative Entität, die wir uns nur vorstellen können, auch ein Gegenteil gibt und nennen es dann unendlich, unabhängig, ewig, absolut. … Das ist recht harmlos und nützlich – bis wir beginnen, von der unbewussten Annahme auszugehen, dass da alle Namen sich auf Entitäten zu beziehen scheinen, es bei diesen ebenso sein muss. Wir beginnen dann die Idee von einem „unabhängigen Wesen“ und ähnliche Vorstellungen zu formen. Wenn wir dann diese falschen Annahmen über das letztendliche Sein an all die Dinge heften, die wir meinen wertschätzen zu müssen, dann sind wir uns der radikalen Relativität nicht voll bewusst. Daher benutzen die Lehrer des Mittleren Weges den Begriff Leerheit, um uns daran zu erinnern, dass solche falschen Annahmen trügerisch sind; das heißt, sie nutzen Leerheit, um uns von unseren falschen Vorstellungen zu befreien.50
Denn in Wirklichkeit sind alle Phänomene – seien es Dinge, Wesen oder andere Erscheinungen – voneinander abhängig, da wechselseitig bedingt. Betrachtet man Phänomene auf der letztendlichen Ebene, kann man nicht klar sagen, ob sie existieren oder nicht existieren. Der Unterschied entsteht erst durch die Betrachtungsweise, die diese Unterschiede hervorbringt. Sie haben also letztendlich keine voneinander getrennten Eigenschaften, durch die sie unterschieden werden könnten.51
Ein Beispiel soll diesen Gedankengang erläutern. Ich kann z.B. sagen: „ Dies ist ein großer Tisch und dies ist ein kleiner Tisch.“ Auf unserer alltäglichen, relativen Ebene macht es tatsächlich einen Unterschied, ob ein Tisch groß oder klein ist. Aber auf der letztendlichen Ebene sieht das völlig anders aus: Wo ist da überhaupt ein „ Tisch“ – außer einem durch unendlich viele Bedingungen erzeugten Zusammenspiel aus vielen kleinen subatomaren, sich ständig wandelnden Energiewellen oder Teilchen? Wie kann man in diesem ganzen, sich ständig verändernden „Gewimmel“ irgendetwas finden, das man als „ Tisch“ bezeichnen könnte? Und wenn ich schon diesen „Tisch“ nicht finden kann, wie kann ich ihn dann mit einem anderen „Tisch“ vergleichen, der größer oder kleiner sein soll? Genau die gleiche Untersuchung kann ich auch auf die Wörter „ groß“ und „klein“ anwenden: „Groß“ und „klein“ sind Eigenschaftsworte, um auf unserer relativen Ebene Gegenstände zu beschreiben. Aber es gibt keine „Großheit“ bzw. „Kleinheit“, die unabhängig existieren würde. Eigenschaftsworte werden Gegenständen in Abhängigkeit von bestimmten Faktoren zugeschrieben, und zwar mindestens a) vom Gegenstand oder b) vom Betrachter bzw. Bezeichner des Gegenstands. Z.B. kann ein Fahrrad, das für einen Zwölfjährigen passend ist, für einen Sechsjährigen groß, aber für einen Erwachsenen klein sein. Die Bezeichnungen sind also relativ – stehen immer in Beziehung oder im Verhältnis zu etwas anderem.
Es gibt also weder in den Eigenschaften, die den Objekten zugeschrieben werden, noch in den Objekten selbst irgendetwas ihnen Innewohnendes, wodurch sie auf der letztendlichen Ebene unterschieden werden könnten. Ebenso wie in meinem Beispiel ist es mit allen Phänomenen. Da sie also nicht unterschieden werden können, könnte man sagen, sie sind „gleich“ – treffender wäre „nicht-unterschiedlich“ oder „nicht-zwei“. Thurman schreibt dazu:
Nicht-Zweiheit … ist gleichbedeutend mit Wirklichkeit, Leerheit usw. Dabei muss man sich verdeutlichen, dass Nicht-Zweiheit nicht unbedingt Einheit bedeutet. Einheit ist nur ein Teil des Paares Einheit-Zweiheit, denn Nicht-Zweiheit bedeutet auch Nicht-Einheit. Diese Bedeutung wird verdeckt, wenn man diese nicht-duale Philosophie als „ Monismus“ bezeichnet, wie das sehr viele zeitgenössische Gelehrte getan haben.52
Fischer schrieb in einer Fußnote zu Nicht-Zweiheit:
Alles irdische Leiden entsteht aus den Gegensätzen, die man bei den Dingen aus Unkenntnis unwillkürlich voraussetzt.53
Warum führt unsere dualistische Wahrnehmung zu Leiden? Auf einer ganz alltäglichen Ebene liegt es daran, dass wir aus Gegensätzen, wie z.B. schön und hässlich, folgern: „ Das will ich haben“ und „ das will ich nicht haben“. Es führt also zu Verlangen oder Ablehnung, was entsprechend der zweiten der vier edlen Wahrheiten die Ursache des Leidens ist. Low bietet eine noch tiefer gehende Deutung in Bezug auf unser spirituelles Leben an:
Sowohl die katholische Überlieferung als auch die Hīnayāna-Überlieferung lehrt, dass wir unrein sind, dass wir uns selber reinigen müssen und dass wir in einen vollkommeneren Bereich jenseits des weltlichen eintreten können – als Belohnung für die Reinigung. Im Wesentlichen sagen beide Überlieferungen, dass es einen unreinen Zustand im Gegensatz zu einem reinen gibt, und außerdem, dass der höhere Bereich eine unabhängige Existenz besitzt. Der Himmel existiert parallel zur Erde. … Im Gegensatz dazu steht die Mahāyāna-Sicht, dass eben diese Erde der Himmel ist und unsere körperliche Existenz Nirvāna ist. … Es geht also nicht um die Frage der Reinigung, sondern darum, jenseits der Gegensätze zu unserer essentiellen Reinheit zu erwachen.54
Aber wie überwinden wir dieses dualistische Denken; wie treten wir durch das „Dharma-Tor der Nicht-Zweiheit“? Diese Frage stellt Vimalakīrti den anwesenden Bodhisattvas (und in der Zen-Tradition