Vincent und das Großartigste Hotel der Welt - Lisa Nicol - E-Book

Vincent und das Großartigste Hotel der Welt E-Book

Lisa Nicol

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Beschreibung

Jeder hat ein wenig Großartigkeit verdient Wie Eiskugeln in der Waffel häufen sich in Vincents gewöhnlichem Leben die Überraschungen, als er zum Schuhputzer des Großartigsten Hotels der Welt gemacht wird. Wilder und fantastischer als jede afrikanische Savanne, Disneyland und Shangri-La zusammen lässt The Grand die aberwitzigsten Träume wahr werden. Doch Träume können überraschende Wendungen nehmen und bald ist Vincent hin- und hergerissen zwischen richtig und falsch, Freundschaft und Familie und den verlockendsten Wünschen. Und das, weil er plötzlich in die Zukunft schauen kann – was nicht immer ein Segen ist. Achtung: Dieses Buch enthält wahnsinnig süße Taschenhunde, Gäste, die auf Lamas reiten oder mit Jetpacks fliegen, Schokoladenbrunnen und Schuhe, die Bach spielen!

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Seitenzahl: 210

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Lisa Nicol

Vincent und das großartigste Hotel der Welt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Kate, Paul, Jacob & Liam

Bevor wir anfangen …

Gebt mir nur einen Moment, damit ich etwas über Momente sagen kann …

Nicht alle Momente in der Zeit sind gleich. Es gibt welche, die alles verändern, die dich auf einen völlig anderen Kurs bringen und dein Leben für immer verwandeln. Momente, nach denen du nicht mehr der- oder dieselbe bist.

Mit einem solchen Moment beginnt diese Geschichte.

Auf den ersten Blick kommen diese Momente ganz gewöhnlich daher. Erst in der Rückschau, wenn dein Gesicht voller Runzeln ist und unabsichtliches Pupsen zum Alltag gehört, erkennst du, wie MONUMENTAL ein bestimmter Moment war.

So ist er, der MONUMENTALE Moment.

Meist ist er schon um die Ecke, bevor du begreifst, dass alle anderen wichtigen Momente wie mit Leuchtpfeilen auf diesen einen deuten.

Ihr, meine modernen Leser, habt hingegen längst begriffen, dass jemand mit Namen Vincent in diesem speziellen Moment eine ganz entscheidende Rolle spielt.

Und damit liegt ihr völlig richtig.

Aber er war nicht allein. Ich muss noch zwei weitere Personen vorstellen, die auf immer mit diesem Moment in der Zeit verbunden sind. Die Welten dieser beiden Personen wurden nicht nur erschüttert, sondern völlig umgekrempelt, sodass sie am Ende ähnlich weit voneinander entfernt waren wie das Leben eines Schmetterlings von dem der Raupe. (Wobei ich mich frage, ob ein Schmetterling sich daran erinnert, jemals eine Raupe gewesen zu sein. Sicher lässt sich nur sagen, dass wir das niemals wissen werden. Das Leben ist eben voller Rätsel.)

Darf ich vorstellen: Vincent

Vincent lebte in einer ganz gewöhnlichen Stadt namens Barry. Der Name sagt schon alles. Die Art, wie er einem aus dem Mund kullert und wie eine Bleikugel auf die Zehen fällt.

Barry.

Barry stand bestimmt niemals auf einer Liste letzter Wünsche. Oder auf einem T-Shirt von der Sorte I ♥ New York oder London oder Paris. Nach Barry kam man nur, um es auf dem Weg zum Großartigsten Hotel der Welt möglichst schnell hinter sich zu lassen. Vincent und seine Familie wohnten in der Standard Street, gleich unterhalb der Parr Street. Ihr Haus war gewöhnlich. Seine Kleidung war gewöhnlich. Und auch seine Haare waren gewöhnlich. (Ich muss euch wohl kaum sagen, dass sie braun waren.) Er war von durchschnittlicher Größe und hatte keine besonderen Merkmale – nicht mal Sommersprossen. Mit einem Wort, Vincent war so gewöhnlich, dass er nur dann zur Kenntnis genommen wurde, wenn man ihn mit jemand anderem verwechselte.

Und auch in Vincents Familie war niemand bemerkenswert. Sie bestand aus Obstpflückern, Kartenabreißern und Fabrikarbeitern, die sich, so gut es ging, durchs Leben schlugen. So wie wir anderen auch. Aber natürlich ist niemand mehr wirklich gewöhnlich, nachdem man ihn erst einmal kennengelernt hat. Und schon gar nicht nach DIESEMMOMENT.

Darf ich vorstellen: Florence

Es lässt sich kaum ein ungewöhnlicheres Mädchen denken als Florence. Sie wohnte im Großartigsten Hotel der Welt. Ihr voller Name war – wie könnte es anders sein – großartig. Er lautete Florence Vivienne Delilah Everest Wainwright-Cunningham die Dritte. Ihre Garderobe war großartig: milchblaue Samtröcke, Spitzenoberteile, mit Perlen und Federn bestickte, handgenähte Blazer. Und türkisfarbene Stiefel, die beim Gehen blinkten und Bach spielten.

Natürlich war auch ihre Familie großartig. Groß an Größe, an Erfindergeist und Talent, gingen aus ihr großartige Erfinder, Künstler, Spione und Forschungsreisende hervor.

Ihre Tante Violet zum Beispiel war eine berühmte Jazzsängerin, und ihr Onkel Earl der erste Mensch, der von der Kante des Universums sprang. Neunundzwanzig Wainwright-Cunninghams hatten es ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft. Und dann war da das Hotel ihrer Eltern! Das Großartigste Hotel der Welt, das es natürlich schon wegen seiner schieren Größe ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hatte, wie selbst ein Spatzenhirn bereits aus dem Namen folgern kann. (Wisst ihr eigentlich, dass im Guinness-Buch der Rekorde auch das Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet ist? Kein Witz. Nur ein weiteres erheiterndes Welträtsel.)

Aber weiter im Text. Mein Co-Autor hat mir soeben das »Gib-Gas«-Signal gegeben, es ist also höchste Zeit, dass wir unseren Geschichtenwagen endlich auf den Weg und auf Trab bringen. Doch einen weiteren Moment wird er mir wohl gestatten, damit ich ihn vorstellen kann. Schließlich sind in unseren Tagen Co-Autoren so selten wie Rap ohne Schimpfwörter. Deshalb schätze ich mich ja auch so glücklich, einen zu haben.

Zunächst einmal sind sie sehr nützlich. Wenn ich zum Beispiel beschließe, noch vor drei Uhr nachmittags ein Nickerchen zu machen, dann flüstert mein Co-Autor mir ins Ohr, dass nur Leute mit Windeln um diese Tageszeit schlafen, und bringt mich damit an den Schreibtisch zurück. Und zwar rasch! Er macht mich auch darauf aufmerksam, wenn ich grottenschlechte Witze erzähle – seine Wortwahl, nicht meine. Oder wenn ich alles durcheinanderbringe. Er ist sozusagen der (höchst liebenswerte) Stock, und ich bin die mit Bonbons gefüllte Piñata. Soll heißen, die fallen nicht einfach so vom Himmel. Angeblich gibt es viele Autoren, die keinen Stock brauchen (wie ich höre, gehen die meisten im Morgengrauen zum Joggen), zu denen, moderne Leser, gehöre ich allerdings nicht. Ich wüsste echt nicht, was ich ohne ihn täte. Mein Co-Autor hilft mir nicht nur, die Geschichte zu erzählen; in vielerlei Hinsicht ist er die Geschichte.

Klar wie Kloßbrühe, ich weiß, doch sobald die Sache Fahrt aufnimmt, werdet ihr verstehen, was ich damit meine. Glaubt mir. Dafür wird er schon sorgen.

Sollen wir?

Kapitel 1

Dieser Moment

Und so begab ER sich.

Auf einem geschäftigen Markt, in einer geschäftigen Straße.

Florence und Rupert, der Empfangschef des Hotels, waren auf der Suche nach einem Schuhputzer für ihre Hotelgäste, denn die hatten nicht die Absicht, diese Aufgabe selbst zu erledigen.

An genau diesem Morgen war Vincents Großvater gestorben. Er hatte so gut wie nichts besessen; das Einzige, was er hinterließ, war eine Schuhputzkiste. Er hatte Vincent immer erzählt, dass diese Schuhputzkiste Zauberkraft besaß. »Hat mich um die ganze Welt und zurück gebracht, diese Kiste. Hätte niemals deine Großmutter kennengelernt, wenn dieses gewöhnlich erscheinende Schuhputzzeug nicht gewesen wäre. Und dann, mein lieber Vincent, gäbe es auch dich nicht. Du hättest nie die Chance bekommen, dich dieses wunderbaren Lebens zu erfreuen. Also! Wie lässt sich das anders erklären als durch Zauberkraft?«

Nicht viele Leute würden Vincents Leben als wunderbar bezeichnen, doch so war Vincents Familie. Sie freuten sich an den kleinen Dingen. Es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Große Dinge gab es nicht. Weder große Ereignisse noch Abenteuer oder Auszeichnungen. Zumindest nicht bis zu DIESEMMOMENT.

»Hier«, sagte Vincents Vater und überreichte ihm die Schuhputzkiste. »Pa hätte gewollt, dass du sie bekommst. Es würde ihn glücklich machen.«

Er gab Vincent auch noch einen niedrigen Schemel aus Holz – genau die richtige Höhe, um Schuhe zu putzen –, dazu die verbeulte Kiste mit einer Fußstütze auf dem Deckel.

Vincent war begeistert! Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals eine solche Überraschung erlebt hatte. Einfach so, aus heiterem Himmel. Er konnte es überhaupt nicht erwarten, sie auszuprobieren, um zu sehen, ob ein bisschen von Opas Zauberkraft auch auf ihn abfärbte. Natürlich war er traurig, dass sein Großvater gestorben war. Doch Opa hatte ihm mehr als einmal erzählt, dass er genug habe und fünfundachtzig ein stattliches Alter sei. Er sagte, wenn man die eigene Hose nicht mehr hochziehen oder ein schönes Curry mit Bier und ein bisschen Nachtisch genießen kann, ohne dafür büßen zu müssen, dann hätte man keinen Spaß mehr am Leben und solle sich besser vom Acker machen.

Also gab Vincent seinem sonderbar kalten Opa einen Kuss, umarmte ihn und zog mit der neuen, alten Schuhputzkiste los zum Markt unweit des Bahnhofs. Unterwegs überlegte Vincent die ganze Zeit, was er sich von seinem ersten selbst verdienten Schuhputzgeld kaufen würde. Auf jeden Fall eine dicke, fette Tüte Salz-und-Essig-Chips. Und dazu einen dieser blauen Sportdrinks, die eher so aussehen wie das Zeug, das man zum Saubermachen in die Kloschüssel sprüht. Oder vielleicht könnte er ins Kino gehen! Er war noch nie im Kino gewesen.

Am Ziel angelangt, beschloss Vincent, direkt neben dem Eingang zum Bahnhof Stellung zu beziehen, dort, wo der Markt begann. Auf diese Weise, so überlegte er, könnte er sowohl die Marktbesucher als auch die Reisenden als Kunden gewinnen. Gleich darauf entdeckte er ein stilles Eckchen neben dem Snack-Automaten, der, wie es der Zufall wollte, Salz-und-Essig-Chips und Sportdrinks im Angebot hatte. Ist hier vielleicht schon Zauberkraft im Spiel?, fragte sich Vincent. Er setzte sich auf den Schemel und stellte die Kiste vor sich hin. Dann arrangierte er die Bürste und ein paar Tuben Schuhwichse sorgfältig neben der Fußstütze. So würden die Leute gleich sehen, dass er ein Schuhputzjunge war.

Vincent war SO aufgeregt.

Er konnte noch gar nicht glauben, dass er jetzt einen Job hatte … praktisch ein eigenes Unternehmen! Keines der Kinder in der Schule hatte so etwas. Vermutlich war er der einzige elfjährige Unternehmer in Barry.

Vincent ordnete seine Bürste und die Tuben neu, damit sie optimal zur Geltung kamen. Mit den Fingern und ein wenig Spucke strich er sein gewöhnliches braunes Haar zurecht. Und während er dasaß und auf Kundschaft wartete, fielen ihm zum ersten Mal die Schuhe der Passanten auf. Die hätten ein bisschen Wichse dringend nötig! Ich hoffe, der geht nicht so zur Arbeit! Diese Stöckelschuhe sind ganz schön wackelig! Hoffentlich stürzt sie nicht, die Arme … der müssen ja ganz schön die Füße wehtun. Es müsste doch möglich sein, solche Schuhe bequemer zu machen.

Sofort hatte er ein paar Ideen für neue, komfortablere Schuhdesigns im Kopf. Und in genau diesem Moment begann Vincents Liebe zu den Schuhen. (Entschuldigung, aber dieser Moment ist nicht DER Moment, von dem ich vorhin sprach. Zu DEM kommen wir gleich. Mein Co-Autor hat mich nur eben darauf hingewiesen, dass ich den Kuddelmuddel mit den Momenten klären müsste, denn sonst würde selbst ein begabter, findiger Leser nicht mehr durchblicken.)

Bald darauf kam Vincents erster Kunde. Ein dicker Mann mit einem großen, perfekt gerundeten Bauch, so als hätte er einen Hüpfball verschluckt. Vermutlich konnte er die eigenen Schuhe überhaupt nicht sehen, geschweige denn putzen.

»Wie viel kostet eine Runde, Junge?«, fragte der dicke Mann.

»Äh, hmm.« Vincent hatte sich bisher keine Gedanken gemacht, wie viel er verlangen wollte. Er zögerte. »Wie wär’s mit einem Dollar?«

»Da will ich aber vorher sehen, wie gut du bist. Wenn ich zufrieden bin, zahle ich dir einen Dollar, wenn nicht, gibt’s weniger.«

Vincent war einverstanden. Er brauchte die Übung ebenso dringend wie den Dollar. Der dicke Mann stellte einen Schuh auf das Podest. Vincent suchte herum, fand die schwarze Schuhwichse und legte los. Nachdem er ordentlich nachpoliert hatte, inspizierte er noch einmal beide Schuhe, ob er auch keine Stelle übersehen hatte.

»Gut«, sagte er. »Ich glaube, jetzt sind sie fertig.«

Der dicke Mann hielt sich an dem Snack-Automaten fest und hob vorsichtig einen Fuß, um Vincents Arbeit zu begutachten.

»Sehr schön!«, erklärte er lächelnd, während sein drittes Kinn im vierten verschwand und das vierte im fünften. »Sehen aus wie neu!«

Vincent spürte ein wunderbares Prickeln im ganzen Körper.

»Hier.« Der dicke Mann zog zwei Dollarmünzen aus der Hosentasche und warf sie Vincent zu. Funkelnd wirbelten sie durch die Luft und landeten – Pling! Pling! – auf dem Gehsteig.

Vincent bedankte sich und sammelte sie ein. Er konnte sein Glück kaum fassen. Das war bereits die Hälfte eines Sportdrinks!

Es dauerte nicht lange, bis der zweite Kunde kam und gleich darauf ein weiterer. Doch eine Stunde später, nachdem sich die Masse der Pendler durch die Bahnhofssperre gedrängt hatte, ließ der Kundenstrom allmählich nach.

Vincent wollte gerade seine Tuben neu ordnen, als Florence und Rupert, der Empfangschef des Hotels, auftauchten. (Sollte sich jemand fragen, was der Empfangschef eines Luxushotels zu tun hat, so sei gesagt, dass er den Gästen zu helfen und ihre Probleme zu lösen hat. Beispielsweise um drei Uhr früh ein Taxi finden oder dreitausend rosa Rosenblütenblätter und achtzig Liter Yakmilch auftreiben, weil irgendein vornehmer Pinkel darin baden will.)

»Wie wär’s mit ihm?«, fragte Rupert und deutete auf Vincent.

»Na ja, er hat eine Bürste und Wichse, nichts Großartiges, aber fürs Großartige sind schließlich wir zuständig. Also kein Problem«, sagte Florence.

»Genau, genau, genau!«, bestätigte Rupert mit Nachdruck.

Florence ging auf Vincent zu.

»Entschuldigung«, begann sie. »Ich bin vom Hotel oben in den Bergen. Wir suchen jemanden, der den Sommer über die Schuhe unserer Gäste putzt. Da ist am meisten los. Hättest du vielleicht Interesse?«

Vincent stand auf.

»I-I-Ich? … J-J-Ja, hätte ich«, stammelte er, während seine Gedanken bereits zu dem Hotel in den Bergen flogen, von dem er schon so viel gehört hatte. Kann nicht sein … Das ist doch nicht möglich, oder?

»Was für ein Glück, dass wir dich so schnell gefunden haben. Ich dachte, wir bräuchten den ganzen Morgen dazu. Ich bin übrigens Florence.«

»Vincent.«

»Freut mich.« Florence streckte ihm die Hand entgegen. Doch Vincent, noch immer in einem Zustand milden Schocks, ließ sie in der Luft hängen.

»Hier ist unsere Adresse«, sagte Florence und gab ihm eine Visitenkarte. »Könntest du vielleicht morgen schon anfangen?«

Vincent sagte nichts. Stattdessen las er vier Mal, was auf der Karte stand. Nur um vierfach sicherzugehen, dass das, was da stand, auch wirklich da stand.

Das Großartigste Hotel der Welt

1708 Mountain View Road

Mount Mandalay

Mabombo Ranges

Offenbar tat es das. Eine andere Erklärung gab es nicht. Endlich dämmerte es Vincent, dass er tatsächlich eingeladen war, im Großartigsten Hotel der Welt Schuhe zu putzen!

Florence war an solche Reaktionen gewöhnt. Geduldig wartete sie, bis Vincent sich so weit erholt hatte, dass er antworten konnte. Beim Warten tippte sie leise mit der Fußspitze auf, während ihr türkisfarbener Stiefel Bachs Cellosuite Nr. 1 in G-Dur spielte – eine Melodie, die das Herz erhebt, als wäre es ein Heißluftballon. Jedes Mal wenn die Stiefelspitze den Gehweg berührte, blinkten an den Rändern kleine Lichter wie Sterne.

Vincent sah auf die musikalischen, türkisfarbenen Stiefel hinunter. »Bach?«

»Ja!«, erwiderte Florence verblüfft, aber nun umso sicherer, dass sie den richtigen Schuhputzer für das Großartigste Hotel der Welt ausgesucht hatte. »Wäre … morgen zu früh?«

Vincent schüttelte den Kopf.

»Perfekt. Jeder, der für unser Hotel arbeitet, darf es zunächst als Gast kennenlernen. Für einen Tag und eine Nacht. Hier ist ein Brief für deine Eltern, in dem alles erklärt wird.«

Florence gab Vincent einen Umschlag. »Ich hoffe, sie lassen dich kommen. Es ist die schnellste Methode, um zu sehen, wie es läuft bei uns im The Grand. Großartigkeit begreift man am besten, wenn man sie selbst erlebt. Die Einführung für die Gäste beginnt um 10 Uhr in der Lobby. Man erwartet dich dort.«

»Okay«, krächzte er. Aufregung und Verblüffung drückten ihm auf den Kehlkopf, sodass er quiekte wie ein Flughund.

Vincent konnte es kaum glauben.

Er würde nicht nur im Großartigsten Hotel der Welt arbeiten. Morgen wäre er dort sogar zu Gast! Eine Überraschung häufte sich auf die nächste, wie die Eiskugeln in einer Waffel. Und der Schnuppertag im The Grand wäre sicher die oberste Kugel! Triefend vor heißer, salziger Karamellsoße und bestreut mit Nüssen und Schokoraspeln. Vincent war sicher, dass Charlie sich genauso gefühlt haben musste, als er die letzte Goldene Eintrittskarte fand.

Er sah Florence und dem Empfangschef nach, wie sie in der Menge verschwanden. Dann packte er zusammen und rannte nach Hause. Eine Tüte Kartoffelchips und ein blauer Sportdrink konnten unmöglich mit dem Großartigsten Hotel der Welt mithalten! Gab es einen besseren Beweis für die Zauberkraft, von der sein Opa gesprochen hatte? Anders konnte Vincent sich das alles nicht erklären.

Kapitel 2

Gast für einen Tag

Aufwachen, aufwachen, aufwachen, aufwachen!«

Erschrocken fuhr Vincent hoch. Es war seine siebenjährige Schwester Rose, die ihn schüttelte und ihm ins Ohr schrie.

»Ich bin wach«, knurrte Vincent. Dann drehte er sich um und vergrub das Gesicht im Kissen.

»Steh auf, Vincent! Das ist unser erster Tag im Großartigsten Hotel der Welt. Wir dürfen nicht zu spät kommen!«

Vincent setzte sich auf. »Wie viel Uhr ist es?«

»Schon halb sechs! Und ich muss mir noch die Haare waschen, die Nägel lackieren und entscheiden, was ich anziehe.«

»Du kommst nicht mit, Rose«, sagte er mit einer Mischung aus Ärger und Schläfrigkeit.

»MARILYN!«, kreischte sie.

»Dann eben Marilyn! Aber du kommst trotzdem nicht mit.«

Rose bestand darauf, Marilyn genannt zu werden. Sie hatte große Pläne für eine Karriere als Film- und Fernsehstar, und dafür wäre der Name Marilyn sicher geeigneter als Rose. Außerdem trug sie immer eine Decke als Cape um die Schultern, für den Fall, dass Fans oder die Papparazzi sie erspähten. Die »Paps«, wie Rose sie nannte, nur dass sie natürlich nicht hinter ihr her waren.

»Aber Vincent, bestimmt sind ein paar echt wichtige Filmproduzenten im Hotel abgestiegen. Ich muss ihnen nur auflauern und mich von ihnen entdecken lassen. Das wäre der große Durchbruch, auf den ich mein ganzes Leben lang gewartet habe!«, sagte sie, presste die Hände zusammen und kniff die Augen zu, als betete sie für den Weltfrieden.

»Ich gehe ins Hotel, um zu arbeiten, nicht, um jemandem aufzulauern. Und du tust das auch nicht!«

Rose hörte auf zu beten. Sie verschränkte die Arme und biss sich auf die Oberlippe. Sie schob eine dramatische Pause ein, um sich anschließend umso mehr ins Zeug zu legen: »Warum stellst du dich mir in den Weg? Womit habe ich das verdient?« Sie starrte Vincent an und geradewegs in seine Seele hinein. »Du bist ja bloß eifersüchtig!«, erklärte sie, machte eine theatralische Pirouette und stapfte mit wehendem Cape aus dem Zimmer. »Dieses Kaff ist in Ordnung für gewöhnliche Leute wie dich, Vincent, aber MANCHE von uns sind eben für Höheres bestimmt.«

Vincent rieb sich die Augen. Er betrachtete die Postkarte des Großartigsten Hotels der Welt, die er auf der Straße gefunden hatte und die jetzt an der Wand neben seinem Bett klebte. Die halbe Nacht war er wach gelegen und hatte sich vorgestellt, wie es dort wohl aussah. Er hatte schon viel über das Hotel gehört. The Grand war ein Ort, um den die Geschichten sich buchstäblich rankten. Bizarre Berichte über tanzende Schildkröten und fliegende Lamas, von denen manche schworen, sie seien wahr, und die andere als blühenden Blödsinn abtaten. Natürlich waren auch die Wainwright-Cunninghams immer für eine Geschichte gut. Und nicht alle diese Geschichten waren nett. Höfliche Leute beschrieben die Familie als »exzentrisch«, die weniger höflichen behaupteten, sie seien so verrückt wie ein Suppensandwich. Doch Vincent ließ sich davon nicht beeinflussen, er wollte sich lieber selbst ein Bild machen. Er sprang aus dem Bett und zog sich an. Er war so aufgeregt, dass die Nadel an seinem Erregungsmesser selbst die Weihnachtsmarke längst überschritten hatte.

Vincents Vater war bereits munter. Er stand am Spülstein und füllte einen Topf mit Wasser.

»Morgen. Wenn du keine Eier möchtest, musst du dir selbst Frühstück machen. Mum war die ganze Nacht wach wegen Thom. Sie versucht, noch ein paar Mützen Schlaf zu bekommen, bevor ich losmuss.«

Thom war Vincents kleiner Bruder. Er war viereinhalb und hatte bisher noch kein einziges Wort gesprochen. Wie die Dinge lagen, würde er wohl auf eine Art Sonderschule gehen müssen. Mum und Dad taten ihr Bestes, aber Vincent sah, dass sie am Ende ihrer Kräfte waren. Ständig mussten sie mit ihm zu Arztterminen und Tests, und obwohl sie jeden Cent dafür aufwendeten, hatte ihnen bisher niemand sagen können, was Thom wirklich fehlte. Er war auch der Grund, warum Vincent erkannt hatte, dass Florence’ Stiefel Bach spielten. Klassische Musik war nämlich das Einzige, was Thom beruhigte, wenn er einen seiner schlimmen Wutausbrüche hatte. Sie konnten Stunden dauern, wenn er sich erst mal festgefahren hatte. Doch beim Klang von Bach oder Beethoven oder Strawinsky oder Schostakowitsch hörte das Geschrei sofort auf; er legte sich dann auf den Rücken – ein bisschen wie ein Seestern – und lauschte. Leider war er kein sehr ausdauernder Schläfer, und wenn Thom lange vor dem Morgengrauen aufwachte, legten Mum oder Dad die längste Symphonie auf, die sie finden konnten, und gingen zurück ins Bett. Sanft plätschernde Klaviermusik aus dem Nebenzimmer war immer ein sicheres Zeichen für eine schlechte Nacht.

»Bist du sicher, dass du es alleine schaffst, da oben im Hotel zu übernachten?«, fragte sein Vater, während er versuchte, in die großen schwarzen Arbeitsgummistiefel zu steigen und gleichzeitig den Gasherd anzumachen. »Ich würde das Angebot ja gern annehmen, dich für einen Tag zu begleiten, aber ich darf keine Schicht verpassen. Wir sparen jeden Cent, um Thom zu einem Spezialisten in der Stadt zu schicken. Und Mum kann deinen Bruder unmöglich allein lassen.«

»Kein Problem, Dad«, beruhigte ihn Vincent und bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. »Wer weiß, wenn es gut läuft, haben die vielleicht auch einen Job für dich.«

Vincents Dad arbeitete bei FishyKittys, einer Katzenfutterfabrik am Stadtrand. Alle in Barry arbeiteten dort. Und der Geruch war das Einzige, was Durchreisende von der Stadt in Erinnerung behielten. An den meisten Tagen zog spätestens ab Mittag ein ekliger Gestank durch die Stadt und hielt sich dort bis lange nach Sonnenuntergang. Der braune, stinkende Mief, den fünfhundert Kilo vergammelte Krabben und Fische abgeben, wenn sie, gemischt mit ein bisschen Soße, aufgekocht werden. Zum Glück waren die Bewohner von Barry daran gewöhnt. Wenn man etwas sein Leben lang einatmet, dann merkt man es irgendwann nicht mehr.

»Das wäre schön. Mit Sicherheit besser, als vergammelte Krabben zu schaufeln. Aber in etwa so wahrscheinlich wie Rose ohne ihr Cape.«

Womit er sagen wollte, dass dieser Fall wohl niemals eintreten würde.

Doch wenn Vincent eines wusste, dann, dass seine Eltern schlecht im Träumen waren. Seit Thoms Geburt war Träumen ein Luxusartikel, den sich keiner mehr leisten konnte, und auch Hoffnungen galten als höchst riskant.

»Ich geh jetzt besser. Bin schon spät dran. Die Eier kochen.«

Vincent setzte sich an den Küchentisch und sah dem Sand dabei zu, wie er durch die Eieruhr rieselte. Jeden Tag gab es Eier zum Frühstück. Eier waren das Einzige, was Thom aß. Alles andere landete an der Wand.

Rose kam in die Küche gestürmt und setzte sich. Sie hievte ihre ringelbestrumpften Beine mit den fluffigen Plastikschläppchen, die sie wegen ihres kleinen Absatzes besonders liebte, auf den Tisch. Vincent ignorierte sie. Als das letzte Sandkorn durch die Taille des Stundenglases gerutscht war, stand er auf und nahm den schweren Topf vom Herd. Das kochende Wasser schwappte bedrohlich.

»Autsch!«, schrie Vincent, als eine Welle heißen Wassers auf seine Hand spritzte.

»Was erwartest du? Kommt schließlich direkt vom Feuer, du Dödel!«, bemerkte Rose wenig hilfreich. Sie kämmte ihre Augenbrauen mit einer Zahnbürste und versuchte, bedrohlich zu wirken.

»Ach, echt?«, sagte Vincent sarkastisch. Er fischte ein Ei aus dem Topf, köpfte es und stellte es vor seine Schwester hin.

»Weißt du, wie viele Stimmungen ich allein mit meinen Augenbrauen ausdrücken kann?« Rose bedeckte den unteren Teil ihres Gesichts mit dem Cape und bewegte die Brauen auf und ab und hin und her wie zwei haarige, tanzwütige Raupen. »Hunderte!«, erklärte sie.

Vincent rollte mit den Augen.

Rose sah auf das perfekt gekochte Ei hinunter. »DAS ess ich nicht!«, sagte sie und schob es von sich. »Zu flüssig.«

»Wie du magst«, erwiderte Vincent. Er goss seiner Mum eine Tasse Tee auf und ging auf Zehenspitzen den Gang entlang zum Elternschlafzimmer. Thom schlief auf einer Matratze neben dem Bett. Vincent erinnerte sich noch an den Tag, als Mum und Dad nach Hause kamen und ihm seinen brandneuen Babybruder in den Arm legten. Er war ja so aufgeregt. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ein großer Bruder zu sein. Natürlich war er schon einer, nämlich der von Rose, aber Rose schien keinen Bedarf zu haben. Sie wollte alles allein machen. Und damit meine ich alles. Ihre ersten Worte waren »Ich machen!«, und so blieb es. Ich machen! Deshalb klang der Gedanke an einen kleinen Bruder, mit dem er abhängen und dem er Sachen beibringen konnte, wie das Tollste auf der Welt. Doch leider hatte Thom noch viel weniger Verwendung für einen großen Bruder als Rose. Thom schien gar nicht zu wissen, dass er einen hatte. Vincent hätte ebenso gut unsichtbar sein können.

Das war wahrscheinlich das Härteste daran.

So hart, dass Vincent es niemals aussprach.

Nicht vor anderen und auch nicht vor sich selbst.

Insgeheim hoffte er, dass die Wahrheit irgendwann verschwinden würde, wenn er sie lange genug ignorierte.

Seine Mum legte, noch halb im Schlaf, einen Finger an die Lippen. Sie sah müde aus – noch müder als sonst –, während sie über Thom hinwegstieg und hinaus in den Gang schlich.

»Keine heißen Getränke im Schlafzimmer«, flüsterte sie ungehalten, als sie nach der Tasse griff und in die Küche ging. »Du weißt doch, wie dein Bruder ist.«

Das war ein weiteres Zeichen für eine schlechte Nacht: ungehaltene Eltern.

»Füße vom Tisch, Rose«, sagte sie und stellte ihre Tasse ab.

Rose, die noch immer ihre Brauen mit der Zahnbürste bearbeitete, tat, wie ihr geheißen, und versuchte, Vincents Blick auf ihr Ei zu lenken, das nun gefährlich dicht an der Tischkante taumelte.

Vincent tat ihr den Gefallen nicht und gab vor, nichts zu bemerken.

»Nun lass dich mal anschauen«, sagte seine Mum und fasste ihr schönes, langes Haar zu einem lockeren Knoten zusammen. Sie trug ihr Haar in letzter Zeit nie mehr offen. Thom könnte es zu fassen kriegen.

Vincent stellte sich aufrecht hin und nahm die Schultern nach hinten, während sie ihn von oben bis unten musterte. Er zupfte an seinen Hemdsärmeln, die an den Ellenbogen endeten. »Die sind ein bisschen kurz.«

»Krempel sie auf, dann merkt es keiner«, schlug sie vor.

Als Vincent sich die Ärmel aufkrempelte, kam ein Krachen aus dem Schlafzimmer, wie wenn etwas Großes birst, gefolgt von einem dumpfen Klatschen.

Und dann noch mal. KLATSCH.