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Die 10-jährige Viola lebt mit ihrer 4 Jahre älteren Schwester Lara und ihren Eltern im Ruhrgebiet. Sie erkundet die Welt mit ihrem Freund Oskar, malt gerne, ist viel in den Wäldern im Bochumer Norden unterwegs. Zu Hause muss Viola ihren Stand in der Familie erkunden und sich abgrenzen gegenüber Lara. Alltagskonflikte löst sie mit Hilfe der Engel. Es ist Hilfe zur Selbsthilfe. Mal ist es ihre Oma, mal Oskar, mal ist es Viola selbst, die eine Lösung findet.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Die 10-jährige Viola lebt mit ihrer 4 Jahre älteren Schwester Lara und ihren Eltern im Ruhrgebiet. Sie erkundet die Welt mit ihrem Freund Oskar, malt gerne, ist viel in den Wäldern im Bochumer Norden unterwegs. Zu Hause muss Viola ihren Stand in der Familie erkunden und sich abgrenzen gegenüber Lara. Alltagskonflikte löst sie mit Hilfe der Engel. Es ist Hilfe zur Selbsthilfe. Mal ist es ihre Oma, mal Oskar, mal ist es Viola selbst, die eine Lösung findet.
Pe Sturm wurde 1962 in Bochum geboren und ist der Stadt treu geblieben. Nach dem Abitur zog es ihn in die Bochumer Kultur-Politik als Veranstalter: Selbstbestimmtes Lernen und die Rettung von Haus Kemnade waren seine Schwerpunkte bevor er zunächst Telefonseelsorger wurde und später Astrologie studierte. 2001 lernte er bereits auf einem Seminar mit Hannelore H Dietrich seinen Schutzengel Rudolf kennen. Hieraus entwickelte sich die Idee zum Buch.
Gabriel Die erste Begegnung
Uriel Viola in Not
Arielle Viola sieht Gespenster
Raphael Viola will besser sein
Gabriel Viola sucht ihren Schutzengel
Michael Viola kommt einem Geheimnis auf die Spur
Yvonne Ein Tier in der Familie
Danksagungen
In Erinnerung an Elisa
„Ist doch malle!“, rufe ich wütend und reiße das Blatt vom Zeichenblock, zerknülle es und schlage die Kugel vom Tisch. Das Papier tickt auf dem Rand des Papierkorbs auf, fliegt im Bogen unter das Bett und bleibt neben den anderen Kugeln liegen.
„Ich kann das nicht. So sieht doch kein Gesicht aus!“ Ich wende mich wieder meinem PC zu, aber Wikipedia und Snapchat helfen mir heute leider nicht weiter. Na ja, vielleicht ist ja jemand bei WhatsApp, der schlauer ist. Ich tippe: „Hilfe! Wie male ich eine Nase?“
Mein bester Freund Oskar antwortet sofort. „Keine Ahnung, aber sehen wir uns morgen nach der Schule?“
Meine ältere Schwester Lara schreibt: „Mal Blumen!“
Das ist wieder typisch für sie. Ich drücke auf den Ausschalter des Rechners und habe zu nichts mehr Lust, weder zum Zähneputzen, schon gar nicht zum Malen, und zum Fernsehen auch nicht. Papa hätte gesagt: „Ich hab den Kaffee auf. Jetzt hilft nur noch beten.“
Der Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Mama betet manchmal ein Tischgebet. Es geht ungefähr so: Gott, von dem wir alles haben, wir danken dir für deine Gaben. Wie geht es noch mal weiter? Ach ja. Du speisest uns, weil du uns liebst, nun segne auch, was du uns gibst. Oder so ähnlich. Beten kann mir womöglich helfen.
Ich stelle mir unter Gott einen gutmütigen, fröhlichen Mann mit weißem Bart vor, der über den Wolken wohnt. Ich weiß, dass das wahrscheinlich nicht stimmt, aber irgendwie muss ich ja beginnen. Ich lege mich aufs Bett, schließe die Augen und denke ganz fest an ein weißes Gewand, wallende Locken und einen ungeheuer langen Bart. Das Bild ändert sich, ich sehe etwas Grünes, blaue Blumen auf einer Wiese, gelbe Narzissen und rote Tulpen. Ich vernehme Vogelgezwitscher, nicht laut und fordernd wie am Morgen, sondern verhaltener, eher wie „Hallo Kumpel, auch noch wach?“ Es dämmert auf der Wiese und ich höre auch das Plätschern eines kleinen Wasserfalls von einem Bach, aber sehen kann ich den nicht.
*
Plötzlich ruft eine Männerstimme: „Guten Abend, Viola, du hast mich gerufen. Nun bin ich hier, um dir zu helfen.“
Ich zucke zusammen und blicke auf blonde, halblange Locken und ein Gewand aus dicker, weißer Wolle mit einem roten Überwurf. Sein Gesicht überrascht mich. Ich muss zweimal hinschauen, um einen Mann zu sehen, und dennoch bin ich mir nicht sicher. Aber bei dieser doch eher tiefen Stimme muss es ein Mann sein.
„Du bist aber jetzt nicht Gott, oder?“, frage ich vorsichtig und weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll.
Das Wesen vor mir grinst. „Nein, Gott bin ich nicht, aber ich arbeite mit ihm zusammen. Ich heiße Gabriel, bin ein Erzengel und helfe allen Menschen, die malen lernen wollen. Du möchtest ein Gesicht mit einer Nase malen, die so aussieht, als ob sie riechen könnte, stimmts? Und Ohren, die genauso lebensecht wirken.“
Ich betrachte mein Gegenüber sehr genau. Gabriel – also doch ein Mann. Wenn mir schon mal ein Engel begegnet, dann muss ich die Chance nutzen, um ihn später malen zu können. Gabriel ist ungefähr so groß wie Papa, vielleicht ein bisschen größer. Seine gewellten Haare schimmern in der Sonne rötlich. Sein Gesicht wirkt so wie bei den Jungs in meiner Klasse, irgendwie zart, also ganz ohne Bartstoppeln und so. Er hat blaue Augen, eine zierliche Nase, ein spitzes Kinn und einen kleinen Mund mit eher dünnen Lippen. Eine Kordel in Hüfthöhe hält den Überwurf, der auch über seiner linken Schulter liegt. Die Flügel sehe ich erst, als er sich zur Seite dreht. Sie sind überraschend klein und ragen zwischen den Schulterblättern aus der Kleidung heraus. Es würde mich echt wundern, wenn er mit diesen Winzflügeln fliegen kann. Überrascht bin ich auch, dass er so jung aussieht, weil er doch schon mindestens tausend Jahre oder noch älter sein muss. Er wirkt so alt wie Onkel Daniel, der jüngere Bruder meines Papas. Seine Füße sind nicht sichtbar. Läuft er barfuß oder trägt er Flugschuhe? Taucher tragen schließlich auch Flossen. Jedenfalls weiß er genau, was ich mir wünsche.
Fragen zu stellen, schadet bestimmt nicht, daher wende ich mich, neugierig, wie ich bin, sofort an ihn: „Ja, genau. Kannst du mir echt dabei helfen?“
Gabriel lächelt. „Auf jeden Fall, Viola. Ich kann dir helfen, Gesichter zu malen, die ganz echt wirken. Und jeder, der deine Bilder sieht, wird denken, dass diese Gesichter sehen, hören, riechen und schmecken können.“
„Das wäre echt krass, wenn ich so gut malen könnte. Ich hab ja schon viel von Engeln gehört, aber was ist denn ein Erzengel?“
„Wir Engel sind die Boten Gottes. Die Gläubigen haben uns Namen und eine Rangordnung gegeben, damit sie uns unterscheiden können. Ich werde Erzengel Gabriel genannt. Meine Aufgabe ist es, allen Menschen zu helfen, die malen, musizieren, tanzen oder ein Handwerk erlernen möchten.“
Ich nicke und überlege. Rangordnung klingt wie Hackordnung auf dem Hühnerhof. „Okay, habe ich verstanden. Und wie machst du das? Kannst du zaubern?“
„Nein, liebe Viola, zaubern kann ich nicht. Aber wenn du es dir von Herzen wünschst und bereit bist, ganz fleißig zu üben, dann helfe ich dir, und du wirst es schaffen.“
Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie das funktionieren soll, aber mir ist jede Hilfe recht. „Ja, klar will ich es. Total gern, und ich werde so lange üben, bis ich wunde Finger kriege.“
„Dass du fleißig üben wirst, davon hast du mich bereits überzeugt, aber blutige Finger solltest du lieber nicht bekommen, das wäre doch blöd“, sagt Gabriel. „Das Malen soll doch Freude in dein Leben bringen.“
Ich nicke und frage: „Und wie kannst du mir helfen?“
Jetzt schaut mir Gabriel ganz tief in die Augen. Es sieht unheimlich und merkwürdig bedrohlich aus, wie sein Kopf immer näher kommt, seine kleinen Flügel die Sonne verdecken und dabei große Schatten auf die Lichtung werfen. „Ich helfe dir, indem ich mit dir überlege, wer oder was dir helfen kann. Zuallererst gilt die Regel: Vertraue dir selbst. Du malst jetzt schon die schönsten Blumen, weil du Talent hast.“
„Findest du?“
„Ja, es ist deine Begabung. Jedes Kind kann etwas besonders gut. Manche können toll basteln, manche weit springen, genau beobachten oder Blockflöte spielen. In jedem Kind schlummert etwas Besonderes. Es ist ganz wichtig, dass das Talent, das in dir steckt, nicht verkümmert, sondern vollständig zum Leben erweckt wird – von dir selbst.“
„Stimmt, mein bester Freund, der Oskar, kann unheimlich toll freihändig Fahrrad fahren.“
„Dann ist Oskar sportlich begabt. Er könnte Einrad üben oder Kunststücke auf besonderen Fahrrädern lernen, um später mal im Zirkus aufzutreten.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich erzähle es ihm morgen in der Schule.“
„Sollen wir jetzt mal zusammen überlegen, was dir helfen könnte? Oder an wen du dich um Unterstützung wenden kannst? Fällt dir jemand ein, der richtig gut malen kann?“
Erst fallen mir Namen von Malern ein. Ich habe von einem Rembrandt, Picasso und van Gogh gehört, doch ich weiß, dass die schon gestorben sind. Aber klar ist, dass meine Oma Rita früher wunderschöne Bilder gemalt hat. Meine Mama sagt immer, ich hätte das von ihr geerbt. Leider malt Oma nicht mehr.
„Warum malt deine Oma denn nicht mehr?“, will Gabriel wissen.
„Kannst du meine Gedanken lesen?“, frage ich erstaunt.
Gabriel schmunzelt nur.
„Meine Mama hat mal erzählt, Oma hätte keine Zeit mehr gehabt und deswegen aufgehört.“
„Meinst du, deine Oma hätte jetzt vielleicht wieder Zeit?“
„Hm, ich glaube schon. Sie arbeitet zwar ziemlich viel im Garten, aber sie sitzt auch oft vor dem Fernseher, wenn wir sie besuchen.“
„Hast du deine Oma noch nie gefragt, ob sie dir mal hilft, ein Gesicht zu malen?“
Daran gedacht habe ich schon mal, aber irgendwie fehlt mir der Mut, darum druckse ich herum. „Oma hat doch schon so lange nicht mehr gemalt“, sage ich. „Vielleicht will sie es nicht mehr. Sie hat ja Zeit, aber sie malt und zeichnet trotzdem nicht. Darum habe ich mich nie getraut, sie zu fragen. Sie hat so schöne Bilder an der Wand. Mama hat auch ganz viele Bilder von ihr.“
Eigentlich echt schade, denke ich jetzt so bei mir und gucke wohl etwas gequält, denn Gabriel sieht mich aufmunternd an.
„Wenn du deine Oma nicht fragen willst – wer fällt dir sonst ein?“
Ich grübele. „Nele aus meiner Klasse hat es echt drauf, aber die ist voll eingebildet. Sonst gibt es vielleicht Zeichenkurse auf YouTube.“
„Persönlich kennst du sonst niemanden?“
Ich schüttle den Kopf, dass meine Locken fliegen. „Nicht so richtig.“ Wenn Engel Boten Gottes sind und Gott alles weiß, dann hat Gabriel bestimmt viel mehr Wissen als ich. In mir keimt eine kleine Hoffnung auf. „Dann frage ich einfach doch mal Oma Rita. – Du, Gabriel?“
„Ja, Viola?“
„Wenn ich mir mal wieder etwas nicht zutraue, kann ich dich dann noch mal hier auf der Wiese treffen?“
Der Erzengel schaut wieder freundlich und sagt: „Ich bin bei dir. Ich bin auch dein Engel. Immer wenn du Fragen hast oder dir das Vertrauen fehlt, andere um Rat zu fragen, dann kannst du mich rufen. Ich werde zu dir kommen. Das kann auf der Traumwiese sein, aber auch in deinen Gedanken, wenn du wach bist. Du musst ganz fest an mich denken und vielleicht ein kleines Gebet sprechen, so wie du es heute getan hast.“
Da spüre ich, wie mir ein großer Stein vom Herzen fällt, und ich freue mich riesig. „Danke, Gabriel, das ist total lieb von dir.“
Gabriels Augen strahlen. Er erhebt sich von der Wiese und breitet seine Flügel aus, die dabei immer größer werden. Er schlägt kräftig mit ihnen, während er die ersten Meter senkrecht nach oben steigt. „Ich wünsche dir die Kraft und den Mut, deine Oma zu fragen, Viola!“, ruft er. „Aber nun muss ich dir auf Wiedersehen sagen.“
Bevor er sich endgültig in die Luft schwingt und hinter den Wolken verschwindet, winke ich ihm schnell noch hinterher.
*
Am nächsten Morgen donnert es heftig in meinem Traum, aber in Wirklichkeit ist es Papa, der die Rollläden in meinem Zimmer hochzieht.
„Hey, Löckchen! Gestern warst du ja schlecht drauf. Aber heute geht es dir wieder besser, wie’s scheint, hm? Hast du was Schönes geträumt? Du strahlst so.“
„Echt? Du, Papa, ich möchte Oma Rita besuchen. Kann ich heute nach der Schule mit dem Fahrrad zu ihr fahren?“
Papa überlegt kurz. „Da wird sie sich freuen. Ich rufe sie an und schicke dir eine SMS, wenn es für sie okay ist.“
„Danke, Papa.“ Ich schmeiße die Bettdecke zur Seite, springe hoch, stelle mich auf das Bett und umarme und küsse ihn.
Papa sieht total überrascht aus. „Was gibt es denn Wichtiges?“
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und flüstere Papa ganz leise ins Ohr: „Überraschung.“
Papa grinst. „Okay, dann lass ich mich mal überraschen.“
*
Ich darf zwar mein Handy mit in die Schule nehmen, es aber nur im Notfall benutzen. Sonst gibt es echt Ärger. Immer wenn Frau Dümpel sich zur Tafel wendet, tue ich so, als ob ich in meiner Tasche nach etwas suche. Ich muss an diesem Tag oft nach einem Anspitzer oder Stift kramen, bis ich endlich die erhoffte Nachricht erhalte.
*
Schon von Weitem sehe ich die lebensgroßen, bunt lackierten Gartenfiguren aus Gips am Eingang stehen. Frau Meier ist klein, rund und überwiegend blau. Sie trägt einen Strohhut, wenn die ersten warmen Sonnenstrahlen den Winter vertrieben haben. Ihr gegenüber steht die schlanke Frau Schmidt. Sie hat eine Pfeife im Mund und schaut in die Ferne. Die Namen habe ich ihnen mal gegeben. Frau Schmidt ist in rote Kreise gehüllt, hat orange Beine und grüne Brüste – ein echter Hingucker. Sie sind alt geworden und schon leicht verwittert. An manchen Stellen bröckelt die Oberfläche ab, aber die Farben und Formen schimmern noch durch. Frau Meier ist aus blauen und grünen Kugeln zusammengesetzt. Weit hinten im Garten steht noch Frau Müller. Sie ist eine Eigenbrötlerin und immer allein. So fühlt sie sich am wohlsten.
Im Takt mit der Musik, die aus dem Fenster bis zu mir herüberdringt, wippt eine Adlerfeder zwischen den violetten Dolden des Rhododendrons, den Azaleen und den rosa Blüten des Mandelbaums hin und her und verrät mir, dass Oma im Vorgarten arbeitet. Ein Lederstirnband, wie es Winnetou getragen hat, hält ihre graue Mähne zusammen. Als ich näherkomme, sehe ich sie mitten im Beet hocken und grüne Blätter zupfen.
Als sie das Klappern meines Rades hört, dreht sie sich um, und ihre braunen Augen blitzen mich an. Sie hat die Ärmel ihres gelben Pullovers hochgekrempelt, und an ihren schmalen Händen klebt Erde. Mit ihrer wettergegerbten Haut sieht sie aus wie die Kapitänin eines Segelschiffs.
„Oh, schon da, Viola?“, ruft sie, und ein liebevolles Lächeln breitet sich auf ihrem verschwitzten Gesicht aus.
„Hey, Oma! Zupfst du Unkraut?“
„Viola, es gibt doch kein Unkraut. Giersch wächst zwar wie verrückt, ist aber gesund und schmeckt ein bisschen wie eine Mischung aus Spinat und Petersilie. Geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich mache mir einen Kaffee und dir einen Kakao.“
Wir gehen ins Haus, und im Flur fordern mich bunt bemalte Holzknöpfe an der Wand freundlich auf, meine Jacke an ihnen aufzuhängen.
Die Musik schallt laut aus dem Wohnzimmer, aber sie kommt nicht aus dem Fernseher. Da steht ein Kasten, auf dem sich eine schwarze Scheibe dreht, und jemand singt: „Obladi, oblada …“ Die Musik klingt fröhlich und kommt mir bekannt vor. Eine Weile schaue ich zu und höre, wie Oma den Kakao in die Milch rührt.
In Richtung Küche rufe ich laut: „Was hörst du da?“
Oma kommt mit einem Tablett.
Ich deute auf den Kasten. „Ist das ein Plattenspieler?“
Oma nickt und berichtet voller Stolz: „Ja, mein alter Plattenspieler. Den habe ich gestern aus dem Keller geholt, mit all den Platten aus meiner Jugend. Vor allen Dingen sind es die Erinnerungen, die ich mit der Musik verbinde. Die Beatles habe ich mal live im Kaiserkeller in Hamburg gesehen. Im November 1960, als die noch keiner kannte. Sie spielten in einem kleinen Klub.“ Oma gerät ins Schwärmen und verdreht die Augen. „Du kennst doch die Beatles, oder?“
Ich nicke. „Papa hat sie auf CD.“ Erst jetzt fallen mir die bunten Hüllen auf, die auf dem Wohnzimmerteppich verteilt sind.
Oma folgt meinem Blick. „Das ist das Schöne an den Platten. Diese Hüllen, auf denen die Sänger zu sehen sind oder ein anderes Bild. Bei manchen Bands wie bei Pink Floyd waren es immer kleine Kunstwerke. Später habe ich mir dann auch CDs gekauft, weil es praktischer war. Aber ihr mit euren MP3-Dingern, ihr habt ja gar nichts mehr zum Gucken.“
„Ach Oma, ich kann die Musik hören und muss weder CDs noch diese Platten herumschleppen. Aber die Hüllen sind echt hübsch.“
„Sollen wir auf die Terrasse gehen oder hier im Wohnzimmer bleiben?“
Ich entscheide mich für drinnen, weil ich doch was Wichtiges mit meiner Oma zu besprechen habe und hier die schönen Bilder an der Wand hängen. Oma dreht die Musik leiser, und wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich.
„Was macht die Schule?“
Obwohl ich diese Frage sonst grauenhaft finde, ist es dieses Mal genau die richtige.
„Eigentlich gehe ich ja gern in die Schule, aber Kunst ist im Moment voll horrormäßig. Wir haben einen megaschlimmen neuen Kunstlehrer. Und meine Klassenlehrerin Frau Dümpel hat zwar gesagt, dass ich immer zu ihr kommen kann, aber irgendwie … Also, ich habe sie auch gern, aber Papa sagt immer, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ich hab das so verstanden, dass Frau Dümpel nichts gegen einen anderen Lehrer unternehmen würde.“
„Was ist denn passiert, Viola? Erzähl mal.“ Oma trinkt einen Schluck und schaut mich auffordernd an.
Ich seufze. „Also, dieser Typ erklärt gar nichts. Aber wir sollen alles können. Und er lobt nur Nele. Wir sollen so gut malen wie sie. Dann sitze ich zu Hause und übe, aber ich kann einfach keine Gesichter malen.“
„Niemand kann ohne Anleitung auf Anhieb ein Gesicht malen“, sagt Oma entrüstet. „Da kommt es auf die Symmetrie an.“
„Was ist Sym…?“ Ich habe das Wort noch nie gehört.
„Spiegelgleichheit. Du malst einen Eierkopf und knickst ihn in der Mitte nach unten um. Die Augen liegen dann auf der geknickten Falte“, erklärt sie und malt mit den Händen ein Oval in die Luft.
„Das verstehe ich, aber Herr Wildau kann so was nicht gut erklären. Ich male unheimlich gerne, aber mittwochs wollen meine Beine nicht mal mehr die Treppe hoch. Die sind dann so schwer. Der Kunstraum ist ganz oben. Wenn ich früher da aus den Fenstern geschaut habe, wollte ich die ganze Stadt malen. Die Kirchtürme, die Hochhäuser, den alten Bismarckturm im Park, den Förderturm vom Bergbau-Museum und das Fußballstadion vom VfL. Oder die kleinen Menschen, die wie Ameisen aussahen. Aber jetzt hab ich keine Lust mehr auf den Kunstunterricht. Jede nächste Stufe auf dem Weg zum Kunstsaal erscheint mir immer höher, weil ich weiß, dass da oben der olle Wildau auf mich wartet. Er ist ein Giftzwerg mit einem bösen Blick. Der Typ mag uns gar nicht. Er ist unfreundlich zu uns und guckt griesgrämig, als ob er selbst keine Lust hätte, uns zu unterrichten. Warum ist der eigentlich Lehrer?“ Ich merke, wie ich immer zorniger werde.
„Das klingt gar nicht gut, Viola. Wie beginnt er denn den Unterricht?“ Oma schaut mich mitfühlend an.
„Als ich einmal reinkam, hat er gemotzt: ‚Setz dich nicht dahin! Nicht immer an denselben Platz. Die Welt verändert sich.‘ Ich war total erschrocken und hab ihn gefragt: ‚Wo darf ich mich denn hinsetzen?‘ – ‚Mir doch egal, aber da nicht!‘, hat er weitergeschimpft.“
Jetzt, wo ich Oma die ganze Geschichte erzähle, ist es so, als ob es gerade erst gewesen wäre. Meine Erinnerungen beamen mich ins Klassenzimmer. Ich sehe mich nach einem anderen freien Stuhl um. Oskar winkt mir zu, aber da keift Wildau schon wieder: „Nein! Viola muss selbst ihren Platz im Leben finden!“
Ganz weit hinten steht ein leerer Stuhl ohne einen Tisch dabei, und zu dem schleiche ich ganz vorsichtig hin. Am liebsten wäre ich unsichtbar. Ich ziehe den Kopf ein und fürchte schon, dass dieser Platz auch falsch ist.
Dann schnarrt wieder Wildaus Stimme durch den Raum: „Holt eure Blöcke raus und zeichnet den Gipskopf hier ab.“ Das Ding steht in der Mitte des Saals. „Und achtet auf die Gesichtszüge.“
Ich wage nicht, etwas zu sagen. Da steht er plötzlich vor mir.
„Na, da hast du dir aber einen komischen Platz ausgesucht – ganz ohne Tisch. Dann sieh mal zu, wie du jetzt malen kannst.“ Und noch viel lauter, damit es alle hören können, sagt er: „Letzte Woche sah deine Hundezeichnung auch so schon eher wie eine Katze aus.“ Er hat ein Blatt in der Hand, hebt es hoch und zeigt es den anderen. „Seht her. Viola hat uns erzählt, dass sie gern malt. Aber gern malen reicht nicht, denn dieser Hund könnte niemals bellen, nur miauen.“
Alle lachen, nur Oskar und meine Freundin Lena nicht. Ich schäme mich so sehr. Ich muss mich anstrengen, damit ich nicht heule. Da dreht er sich um und lästert weiter: „Da, deine Katze. Schauen wir mal, ob du heute ein Gesicht oder eine Fratze fabrizierst.“ Er wirft mir meine Zeichnung vor die Füße.
Oskar springt auf und kommt zu mir, aber Herr Wildau stellt sich ihm in den Weg und fragt streng:
„Was willst du? Ab auf deinen Platz. Du kannst ihr auch nicht helfen, weil dein Hund wie eine Ratte aussieht.“ Und er schubst Oskar vor sich her zurück auf seinen Stuhl.
Meine Hände zittern voll. Ich lege den Block auf meine Knie und versuche, den Kopf zu zeichnen. Zitterlinien. Alles auf dem Block ist verruckelt. Mir hat noch nie jemand gezeigt, wie ich ein richtiges Gesicht zeichnen kann.
Am Ende der Stunde kommt Herr Wildau durch die Reihen immer näher. Bei Nele bleibt er stehen und sagt: „Schaut her, so kann ein Gesicht aussehen.“
Das Bild ist echt toll. Ich kann die Gesichtszüge des Gipskopfes deutlich erkennen. Und dann sieht Wildau mich an. Erst guckt er mehr durch mich hindurch, aber dann starrt er mir in die Augen. Ich schaue weg, aber aus den Augenwinkeln sehe ich seinen Schatten auf mich zukommen – und plötzlich schellt es. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich die Schulglocke so gerne gehört.
Und Herr Wildau brüllt: „Da hast du aber Glück gehabt!“ Seine Stimme bohrt sich ganz tief in meine Ohren.
Beim Erzählen steigen mir wieder die Tränen hoch.
Oma ist empört. „Das hört sich grausam an. Solche Lehrer gibt es noch? Die Typen kenne ich aus meiner Schulzeit, die zogen sogar die Jungen an den Ohren!“, ruft sie und schüttelt den Kopf.
„Der Herr Wildau ist eine Vertretung. Er ist pensioniert, aber war früher mal Lehrer. Jetzt ist er für die Frau Ritter da, weil die schwanger ist“, ergänze ich meinen Bericht.
„Komm in meine Arme“, sagt Oma sanft, als sie sich wieder beruhigt hat.
Ich krieche zu ihr und lege meinen Kopf auf ihren Schoß. Erst jetzt kann ich weinen, und Oma streichelt mir über den Kopf.
Nach drei vollgeschnieften Taschentüchern fühle ich mich wieder besser. „Du Oma, du hast doch immer so schön gemalt, auch richtige Gesichter und so.“
„Ja, das stimmt, und?“
„Würdest du mir das beibringen? So ein bisschen?“, frage ich ganz vorsichtig.
Oma überlegt eine Weile. „Hm, ich habe schon so lange nicht mehr gemalt“, beginnt sie, „aber es ist sehr schön, dass du mich fragst. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Also, wenn ich wieder ein bisschen übe, klappt es bestimmt.“