Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Virulente Geschichten, ...alles gegann mit einem Satz
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 84
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Carina Wanowski (VHS Wehr)
Vorwort
Petra Gabriel
Victors Geheimnis
Fatima Zobeidi-Weber
Mitten im Leben
Elena Schellhorn
Was wäre wenn: jetzt oder nie
Anna-Lena Weber
Goldene Hochzeit
Heike Scheidhauer
Auf dem Weg
Kerstin Ott
Er, es, sie
Barbara Kammerer
Der leere Fleck - Corona sei Dank
Renate Griesser
Der goldene Elephant
Katja Hagemann
Von der Freiheit
Kerstin Ott
Von der Magd zum Geist
Nina Karle
Irma sitzt im Zug
Katharina Koch
Die Autorinnen
„Schreiben heißt, sich selber lesen“
Max Frisch
Unsere Volkshochschule ist ein kleines, aber feines Zentrum der Erwachsenenbildung. Sie orientiert sich an den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner Wehrs und ist gut mit Einrichtungen und Vereinen der Stadt und des Umlandes vernetzt. Unsere VHS ist ein Ort des Lernens und der Begegnung. Wir sind weltoffen und zugleich fest mit Wehr verbunden. Lebenslanges Lernen, Neugier, Vielfalt und Innovation sind für uns genauso wichtig wie Tradition und Heimatverbundenheit im besten Sinne des Wortes.
Die Corona-Krise als Chance neue Wege zu gehen: Lieber digital als isoliert!
Unter dem Stichwort „Erweiterte Lernwelten“ beschäftigten wir uns besonders ab dem Frühjahr 2020 intensiv damit, wie wir unseren Teilnehmenden in dieser besonderen Zeit Alternativen zum Präsenzunterricht bieten können. Doch welche Kurse sind online möglich? Schließlich lebt unsere Volkshochschule von den Begegnungen und Anleitungen im Kurs. Nicht umsonst ist unsere VHS stolz auf die zahlreichen treuen Kursleitenden und Teilnehmenden, in deren Kurse Freundschaften entstehen.
Begegnung in den virtuellen Raum zu verlegen, war die besondere Herausforderung. Wichtig war uns vor allem, den Kontakt zwischen unserer Volkshochschule, unseren Kursleitungen und den Teilnehmenden nicht abreißen zu lassen. Ebenso wollten wir durch die regelmäßigen Kurstermine dazu beitragen, dem Alltag, der sich für viele Menschen durch Home-Office oder Kurzarbeit verändert, Struktur zu geben.
Das Projekt der Online-Schreibwerkstatt zeigte sich als ideales erstes Projekt im digitalen Bereich. Ein halbes Jahr später entstand sogar ein zweiter Kurs, der genauso erfolgreich stattfand. Um Texte schreiben zu können, braucht es meist einen ruhigen Moment, um die Texte zu optimieren und zu besprechen, braucht es eine funktionierende Gruppe und für den ersten Satz braucht es die Anleitung einer erfahrenen Schriftstellerin. In diesen beiden Fällen passten alle Voraussetzungen zusammen und es entstand daraus ein schönes „Denkmal“, an diese besondere Zeit!
Dass diese Projekte so erfolgreich liefen und daraus dieses Buch als 2. Ausgabe entsteht, macht unsere Volkshochschule nur noch stolzer! Unser herzliches Dankeschön gilt in erster Linie den Autorinnen, deren Engagement dazu beigetragen hat, dieses Buch zu veröffentlichen sowie der Schriftstellerin Petra Gabriel.
Wehr, Juli 2021
Carina Wanowski
Leiterin der Volkshochschule Wehr
Werte Lesende,
sieben und vier – zwei Kurse, einer mit sieben, der zweite mit vier Teilnehmerinnen: Abenteuer im Kopf sind also immer aufs Neue möglich, egal, wie widrig die äußeren Umstände auch sein mögen. Das haben jene Frauen eindrucksvoll bewiesen, die sich mit mir in der VHS-Schreibwerkstatt für „Virulente Geschichten“ online und ohne Erfolgsgarantie auf den Weg nach Fantasien gemacht haben. Alle hatten den Mut, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen und sich auf eine Achterbahnfahrt zwischen Selbstzweifeln und Enthusiasmus einzulassen. Die Autorinnen der Geschichten, die sich in diesem Buch finden, stammen aus drei Generationen, zwischen der jüngsten und der ältesten liegen rund 50 Jahre. Jede ist auf ihre ganz eigene Art mit den Zweifeln, der Verunsicherung, aber auch der Freude am Fabulieren umgegangen, wie diese Anthologie zeigt. Es sind erstaunliche, überraschende und wunderbare Geschichten entstanden.
Für mich waren diese beiden Online-Schreibwerkstätten ebenfalls ein Abenteuer. Ich wusste anfangs nicht, ob es virtuell gelingen kann, nicht nur den Kopf, sondern auch den Bauch, die Intuition auf diesem Weg mitzunehmen. Meine Mitreisenden haben es mir mit ihrem Talent und ihrer schöpferischen Begeisterung leicht gemacht. Die Begegnung mit ihnen, die Geschichten, die sie am Ende schrieben, haben auch mich bereichert. Danke dafür. Denn die Erzählungen machen Mut, zeigen, dass es viele Wege und dazu noch sehr individuelle in die Welt der Kreativität gibt.
Danke auch der Volkshochschule Wehr dafür, dass sich sich bereit erklärt hat, als Herausgeberin für die vorliegende Anthologie zu fungieren. Mitarbeiterin Fatima Zobeidi-Weber, darüber hinaus eine der Teilnehmerinnen der ersten Schreibwerkstatt, hat dazu entscheidende Impulse und Hilfestellungen beigesteuert; durch ihre Initiative ist nicht nur der Kurs zustande gekommen, ohne sie und ihr Engagement, gäbe es auch dieses Buch nicht. Die Idee, eine Anthologie aus den dabei entstandenen Kurzgeschichten zu gestalten, kam aus der Runde der Teilnehmerinnen. Für die nun erschienene, zweite Ausgabe haben sich Fatima Zobeidi-Weber und Co-Autorin Kerstin Ott zu einer konzertierten Produktions-Aktion zusammengefunden. Und das, finde ich, ist ebenfalls eine wunderbare Geschichte.
Petra Gabriel
Sein Magen rebellierte, doch er versuchte an etwas Anderes zu denken. Wütend hatte Selma die Tür zugeschlagen und ihm noch im Hinausgehen zugerufen: „Immer denkst du nur an deine Karriere, was ist nur aus dir geworden? Eiskalt bist du! Ich sehe dich nicht mehr lachen.“
Ausgerechnet vor diesem alles entscheidenden Meeting, bei dem es darum gehen würde, ob seine Story über das Flüchtlingslager Moria es auf die Titelseite des renommierten Hamburger Wochenmagazins schaffen würde, in dessen innersten Kreis vorzudringen Clark endlich geschafft hatte, machte sie ihm eine solche Szene. Wochenlang hatte er recherchiert, war vor Ort gewesen, hatte dem Elend, das sich dort abspielte, ins Gesicht gesehen. Aber die Bilder, die er dort machen konnte, waren es wert gewesen. Die Welt sollte nicht weiter die Augen verschließen können vor dieser menschlichen Tragödie.
Doch jetzt gab es nur noch ein Thema: „Corona, Corona, Corona“. So ein dämlicher Grippe-Virus machte ihm nun einen Strich durch die Rechnung. War es zynisch, so zu denken, so wie Selma es ihm in letzter Zeit immer öfter vorgeworfen hatte? Sei’s drum! Derartigen Ärger auf nüchternen Magen konnte Clark jedenfalls nicht gebrauchen. Die drei Tassen Kaffee machten sich schon auf unangenehme Weise bemerkbar.
Das Klingeln seines Telefons unterbrach Clarks Grübeleien. „Dirk Preis“ stand auf dem Display. Dirk? Sein alter Kumpel aus Studienzeiten? Wie lange hatten sie nichts voneinander gehört? Dirk lebte mittlerweile mit seiner Frau Ute und den zwei Kindern in Bochum, hatte als Redakteur für die Westfälische Rundschau sein Auskommen, und Clark hatte sich insgeheim des Öfteren über dieses spießige Leben mit Doppelhaushälfte und Wohnmobil unterm Carport lustig gemacht. Halbglatze und ein aussichtsloser Kampf gegen den Bierbauch … Warum Ute sich ausgerechnet für Dirk entschieden hatte?
Was er wohl wollte? Clark konnte seine Neugier kaum bezähmen.
„Hey Dirk“, Clark versuchte seiner Stimme einen beiläufigen Tonfall zu verleihen, Dirk sollte ihm seine Aufregung nicht anmerken. „Lange nichts von dir gehört. Habe auch schon öfter daran gedacht, dich anzurufen. Aber du weißt ja, in meinem Job… einfach zu viel Stress. Bin gerade erst von einer Recherchereise von der Insel Lesbos wiedergekommen. Wir arbeiten da gerade an einer Story über …“
„Halte dich fest!“, unterbrach ihn Dirk, „Victor ist wieder da!“
„Was heißt das? Victor ist wieder da? Victor lebt?“, Clark gab es auf, die Fassung bewahren zu wollen. „Erzähl schon!“
Während er mit angehaltenem Atem Dirks Bericht lauschte, zogen lang vergessen geglaubte Bilder an ihm vorbei.
Unzertrennlich waren sie gewesen, die drei Freunde: Victor, der, obwohl ein charismatischer Sonnyboy, der größte Idealist von allen gewesen war – Clark hatte ihn insgeheim um diese Kombination aus Leichtigkeit und Tiefgründigkeit beneidet, die ihm stets alle Türen zu öffnen schien. Dann war da der ruhige zuverlässige Dirk und schließlich er selbst, den Freunde und Kollegen als zielstrebig, erfolgreich und gutaussehend bezeichnen würden – keine Ahnung hatten sie, wie hart er an diesem makellosen Image gearbeitet hatte. Gemeinsam waren sie während ihres Studiums durch Dick und Dünn gegangen, hatten sich nächtelang die Köpfe heißgeredet über Politik und Weltgeschehen, darüber, wie man ein erfolgreicher Journalist wird und über Frauen. Und natürlich über Ute ...
Doch dann war Victor spurlos verschwunden. Ja, er selbst hatte Victor zu dieser gemeinsamen Reise in den lateinamerikanischen Dschungel überredet. „Das ist kein Kindergarten“, hatte Victor eingewandt, als Clark ihm voller Begeisterung von seiner Idee erzählte. „Mit diesen Typen ist nicht zu spaßen.“ Doch Clark hatte nicht lockergelassen, bis Victor schließlich einwilligte.
Sogar das Geld für die Reise hatte er Victor gegeben, weil der wie immer abgebrannt war. Gut, das war nicht ganz uneigennützig gewesen. Schließlich verfügte Victor über die entscheidenden Kontakte. Ganz nah waren sie den Rebellen gekommen ...
Doch war er deshalb schuld an der Katastrophe? Die Rebellen hatten nur Victor zu dem Treffen mit dem obersten Rebellenführer zugelassen, hatten ihn abgeholt und mit verbundenen Augen zu dem Geheimversteck des Anführers gebracht.
Währenddessen war Clark im Camp geblieben und schoss die Bilder, mit denen er später so erfolgreich geworden war. Aber Victor war von diesem Treffen niemals zurückgekehrt und blieb verschwunden.
Viele Jahre hatte Clark unter den Schuldgefühlen gelitten, Victor zu dieser Reise gedrängt zu haben und darunter, dass er mit der Story über den verschwundenen Freund als Journalist groß rausgekommen war. Zu immer mehr Leistung hatte er sich selbst angetrieben, wie um sich zu beweisen, dass er seinen Erfolg auch wirklich verdiente. Selma hatte schon recht: er war auf keinem guten Weg …
„Clark, bist du noch dran?“, tönte Dirks Stimme aus dem Telefon und riss Clark aus seiner Erstarrung.
„Du hast die ganze Zeit über gewusst, wo Victor steckt?“, schrie Clark nun ins Telefon.
„Nein, das wusste ich nicht. Nur, dass er von Deutschland aus die Guerilla unterstützt hat und da in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt war. Irgendwas mit Drogen oder Waffen. Jedenfalls musste er untertauchen, sonst wäre er wohl ziemlich sicher in den Knast gewandert.“
So also war es gewesen und Dirk hatte die ganze Zeit Bescheid gewusst. Von wegen Entführung! Abgehauen war Victor und Dirk hatte ihm auch noch Geld dafür gegeben!
„Ich muss von hier verschwinden“, hatte Victor damals vor der Abreise zu Dirk gesagt. „Ich bin da in eine Sache verwickelt… Es ist besser, wenn du mir keine Fragen stellst. Und du darfst auf keinen Fall ein Wort darüber verlieren. Zu niemandem!“ „Und bitte: pass gut auf Ute auf.“
Dirk hatte dichtgehalten, all die Jahre lang. Wohl aus Angst, sein beschauliches Leben mit Ute auf‘s Spiel zu setzen. Ute und Victor, das wäre zwar sowieso nicht gutgegangen, aber dennoch …