Vladimir Tod hat Blut geleckt (Band 1) - Heather Brewer - E-Book

Vladimir Tod hat Blut geleckt (Band 1) E-Book

Heather Brewer

4,4

Beschreibung

Bissfeste Unterhaltung der etwas anderen Art! In dieser Fantasy-Reihe hat Vladimir Tod mit ganz normalen Teenager-Problemen wie Schule und erster Liebe zu kämpfen – und ganz nebenbei muss er vor seinen Mitschülern verbergen, dass er in Wirklichkeit ein Halbvampir ist. Vlad hat das bissige Etwas! Wenn er sich aufregt, fährt er die Zähne aus. Wenn er nicht schlafen kann, macht er sich einen Becher Blut warm. Wenn er nicht zur Schule kommt, dann weil ihm Untote an die Gurgel wollen ... Klingt schräg? Willkommen im Leben von Vladimir Tod, Halbvampir! "Vladimir Tod hat Blut geleckt" ist der erste Band der Vladimir Tod-Pentalogie.

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Für meinen Ehemann, Paul – Stephen King weiß, warum.  

WO IST DER JUNGE?

Ein Zweig schlug John Craig ins Gesicht und riss ihm die Haut auf, doch er lief weiter. Auch die spitzen Kiefernnadeln unter seinen nackten Füßen beachtete er nicht. Hinter sich hörte er die Schritte des Mannes wie ein Echo seiner eigenen.

Er kam näher.

Ein am Boden liegender Ast brachte John zum Stolpern und er fiel vornüber. Wie in Zeitlupe näherte sich sein Gesicht dem laubbedeckten Boden. Kalte Luft peitschte über seine Haut. Sein Herzschlag wummerte ihm in den Ohren. Die Schritte des Mannes wurden schneller und im selben Moment, als Johns Wange auf der Erde aufschlug, griff der Fremde ihm ins Haar und zog seinen Kopf mit einem Ruck zurück. John schrie: »Was wollen Sie von mir?« Doch sein Angreifer antwortete nicht.

John schlug verzweifelt um sich, aber seine Hände wurden mühelos abgefangen und hinter seinem Rücken gefesselt. Eine Hand, die in einem glänzend schwarzen Lederhandschuh steckte, tauchte in seinem Sichtfeld auf und hielt ihm eine Seite aus der Bathory Gazette vor die Nase. Wieder riss der Fremde an seinen Haaren. »Wo ist er?«

Auf dem Zeitungsfetzen war ein unscharfes Foto zu sehen, das John sofort erkannte. Der Mann deutete auf einen etwa dreizehnjährigen Jungen in der Mitte des Bildes, der irgendwie nervös wirkte, so als fühle er sich nicht wohl. Um den Jungen herum standen ein paar seiner Klassenkameraden und John selbst. Die Bildunterschrift unter dem Foto lautete: Von links nach rechts: Kelly Anbrock, Carrie Anderson, Henry McMillan, Lehrer John Craig, Vladimir Tod, Edgar Poe, Mike Brennan.

Darüber prangte die dicke Schlagzeile: Debattierclub startet siegessicher in die Regionalmeisterschaften.

Tränen liefen John über die Wangen, doch anstatt auf die Frage zu antworten, schüttelte er nur den Kopf.

Etwas Warmes, Glitschiges rann ihm die Stirn hinunter. Der Wald rings um ihn färbte sich rot, als es seine Brillengläser erreichte. Er schrie um Hilfe, bis seine Lunge brannte, doch niemand hörte ihn.

»Wo ist der Junge? Wo ist Vlad?«

John wand sich im Griff des Fremden. Das Gesicht des Mannes war seinem jetzt ganz nah. Kalter Atem streifte seinen Nacken und irgendetwas Scharfes ritzte seine Haut.

»Sag es mir oder du stirbst.«

John öffnete den Mund, aber es war zu spät, um jetzt noch zu lügen. Der Mann biss zu. Spitze Zähne durchstießen Johns Haut und bohrten sich tief in seinen Hals.

HALLOWEEN

Vlad drehte den Kopf zur Seite und betrachtete mit einem zufriedenen Schmunzeln sein Spiegelbild. Henry würde sich nicht mehr einkriegen, wenn er Vlads Kostüm sah. Schon als er am letzten Wochenende den albernen Nylonumhang und das Plastikgebiss bei Stop&Shop gekauft hatte, wusste er, dass Henry und er sich den ganzen Abend über sein Kostüm schlapplachen würden. Er strich sich das schwarze Haar aus den Augen und steckte die Plastikzähne in den Mund. Sie passten perfekt über seine eigenen Eckzähne, die trotz des üppigen Abendessens leicht über die übrigen hinausragten.

Vor nicht mal einer Stunde hatte Tante Nelly ihm noch zwei riesige Steaks warm gemacht, bis das Blut nur so aus dem rohen Fleisch triefte. Er hatte sich ganz schön zusammenreißen müssen, um die Steaks nicht einfach in die Hand zu nehmen und seine Zähne reinzuhauen. Aber Tante Nelly legte nun mal Wert auf gute Tischmanieren. Also hatte er, so schwer es ihm auch fiel, die Steaks artig in mittelgroße Bissen geschnitten und gierig den Saft herausgesogen, um anschließend das labbrige, fade Fleisch wieder auf den Teller fallen zu lassen.

Jetzt nahm er das falsche Gebiss aus dem Mund und betastete die scharfen Spitzen seiner Eckzähne. »Tante Nelly, du solltest mir wohl besser ein Fresspaket fertig machen.«

»Du hast doch gerade gegessen«, antwortete eine fröhliche Stimme vom Fuß der Treppe. »Aber na ja, Vorsicht ist besser als Nachsicht. Um wie viel Uhr wollte Henry denn kommen?«

»Dürfte jeden Moment hier sein.« Nach einem letzten zufriedenen Blick auf sein Kostüm wandte Vlad sich vom Spiegel ab. Die alten Bodendielen knarrten unter seinen Sneakers. Er küsste seine Fingerspitzen und drückte sie auf das gerahmte Bild auf seiner Kommode. Auf dem Foto saß seine Mutter elegant auf der Ecke eines alten viktorianischen Sofas und hinter ihr stand sein Vater, die blassen Hände auf ihre Schultern gelegt. Beide lächelten in die Kamera und Vlad lächelte unwillkürlich zurück. Er zog die oberste Schublade auf und stopfte sich zehn Dollar aus seiner Geheimkiste in die Hosentasche. Die Partys, auf denen er mit Henry bisher gewesen war, hatten ihn vor allem eins gelehrt: Sei auf alles vorbereitet!

Vlad ging aus seinem Zimmer und die Treppe hinunter. Unten stand Tante Nelly und hielt ihm eine mit Frischhaltefolie bedeckte Suppentasse hin. Er sah den dickflüssigen, dunkelroten Inhalt durch die Folie und leckte sich die Lippen. »Hast du es kurz in die Mikrowelle gestellt? Warm schmeckt’s noch besser.«

»Wird schon warm genug sein.« Sie reichte ihm die Tasse und ihre Augen weiteten sich entsetzt, als Vlad einfach seine Zähne in die Folie schlug und anfing zu schlürfen.

»Nimm doch einen Löffel! Du kleckerst noch den ganzen Teppich voll und ich hab ihn gerade erst reinigen lassen. Bei dem Teppich und deinen ganzen T-Shirts muss der Mann in der Reinigung langsam denken, dass wir entweder außergewöhnlich unfallanfällig oder Axtmörder sind! Und sei ein bisschen sparsam mit dem Fresspaket für heute Abend, MrMitternachtssnack, ja? Es sind nur noch zwei übrig. Ich sollte morgen wohl besser noch ein paar Blutkonserven aus dem Krankenhaus besorgen, damit es für den Rest der Woche reicht.«

»Kannst du dann diesmal Null positiv mitbringen? Das mag ich am liebsten.« Sie nickte und Vlad grinste, bevor er an ihr vorbei in die Küche fegte. Dort löffelte er sich gerade den letzten dicken Klumpen halbgefrorenes Blut in den Mund, als es an der Tür klingelte. Er schluckte hastig, stellte die Tasse ab und warf die Frischhaltefolie in den Sondermülleimer unter der Spüle. Dann schob er sich das Plastikgebiss über die schrumpfenden Eckzähne. Ganz leise schlich er sich an der Wand entlang und spähte um die Ecke zur Haustür, wo seine Tante gerade Henry zur Begrüßung umarmte.

Mit gespreizten Armen und flatterndem Umgang sprang Vlad aus seinem Versteck hervor. »Ichh wärrrdä dirrr das Bluuuut aussaugään!«

Henry krümmte sich vor Lachen. Als er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass er sich aufrichten konnte, schlug er Vlad begeistert auf die Schulter. »Super Kostüm, Mann! Und jetzt guck dir mal meins an. Ich sag dir, du kippst aus den Latschen.« Henry stemmte in einer Art Supermann-Pose die Hände in die Hüften und drehte dann den Kopf zur Seite. Vlad klappte die Kinnlade runter, als er zwei kleine Löcher in Henrys Hals sah.

»Is’ nicht dein Ernst!« Er trat einen Schritt näher, um Henrys Bissspuren zu begutachten. Perfekt. Vlad hatte erst ein einziges Mal einen echten Vampirbiss bei einem Menschen gesehen und Henrys Werk kam dem Original ziemlich nahe. »Wie hast du das denn hingekriegt?«

»Mit rosa Knete und Himbeermarmelade.«

»Kernlos?«

»Was denkst du denn? Ich will doch keine Kerne in meiner Wunde, bah. Nachher entzündet sich das noch.«

Tante Nelly warf Vlad einen besorgten Blick über den Brillenrand zu. »Hast du auch genug gegessen?«

Vlad nickte, stopfte sich eine Tube Sunblocker in die Hosentasche und wandte sich zur Tür. »Die Party geht bis Mitternacht.«

Nelly streckte die Hand aus. »Den brauchst du ja wohl nicht. Und außerdem will ich, dass ihr um elf wieder hier seid.«

»Elf?« Manchmal konnte Nelly echt verdammt überfürsorglich sein. Vlad verdrehte die Augen, kramte die Tube wieder aus der Tasche und klatschte sie Nelly in die Hand. »Aber so früh muss noch keiner nach Hause und außerdem soll es um Mitternacht irgendeine ganz tolle Überraschung geben.«

Nelly sah prüfend zu Henry hinüber, der eilig nickte. »Das dürfen wir nicht verpassen.«

»Na ja …« Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe und seufzte nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich. »In Ordnung, aber bleibt zusammen, und wenn du Hunger bekommst, Vlad, ruf mich auf meinem Handy an. Ich bin heute Abend bei Deb.«

Henry stieß Vlad den Ellbogen in die Seite. »Ich hab vorhin noch mit Matthew telefoniert. Der sagt, Meredith kommt auch.«

Vlad warf seinem Freund einen Blick zu, der förmlich »Halt die Klappe!« schrie. Dann zogen sie los, der Vampir und sein Opfer. Nelly gab ihnen noch ein hinterhergerufenes »Seid vorsichtig, ihr zwei!« mit auf den Weg.

Abgesehen von der künstlichen Bisswunde war Henry angezogen wie immer, schäbige Sneakers inklusive. Er grinste Vlad verschwörerisch an. »Ganz große Sache um Mitternacht, hm?«

Vlad zuckte mit den Schultern und zog seinen Umhang zurecht. »Mann, ich bin schließlich eine Kreatur der Finsternis. Und da will sie, dass ich um elf zu Hause bin? Also echt. Warum bringt sie mich nicht gleich persönlich zu der Party und gibt mir noch einen Abschiedskuss?«

»Ach komm, stell dich nicht so an. Immerhin eine, die dich küsst.«

Vlad wurde langsamer. »Musst du gerade sagen.«

Henry zuckte mit den Schultern. »Ich hab schon ’nen ganzen Haufen Mädels geküsst.«

»Deine Mom zählt nicht, du Depp.« Sie bogen in die Elm Street ein und am Ende der Straße konnte Vlad schon die vielen Autos sehen, die vor Matthews Haus hielten. Eine ganze Schar von Leuten pilgerte auf das Haus zu und Vlad spürte, wie ihm eine nervöse Anspannung in die Muskeln kroch. Die Scheinwerfer eines der Autos streiften sie und Vlad war vorübergehend blind.

Henry hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und schien beim Gehen interessiert den Bürgersteig zu betrachten. »Schon klar. Ich rede hier von Carrie Anderson zum Beispiel, oder Stephanie Brawn.«

»Stephanie knutscht ja auch mit jedem.«

»Weiß ich.« Henry grinste wieder. »Aber ihre Schwester ist echt süß.«

Vlad hob eine Augenbraue und unterdrückte ein Kichern. »Alter, das ist ja widerlich. Die ist doch gerade erst zwölf geworden!«

»Na und?« Henry grinste noch immer.

»Und du wirst in zwei Monaten vierzehn. Das ist widerlich. Fertig.« Vlad schüttelte den Kopf und sah auf seinen rechten Schuh hinunter, wo einer seiner Zehen durch einen Riss lugte.

Auch wenn man es nicht für möglich gehalten hätte, wurde Henrys Grinsen noch breiter. »Aber sie ist nett.«

»Ob dich ein Mädchen küsst oder nicht, hat nichts damit zu tun, wie nett sie ist.« Weiter vorn konnte Vlad ein zartblaues Oberteil und ein Paar Engelsflügel in Matthews Haustür verschwinden sehen. Meredith. Er hatte gehört, wie sie gestern in der dritten Stunde erzählt hatte, was sie anziehen wollte. Das war der Moment gewesen, in dem er beschlossen hatte, die Einladung doch anzunehmen – besser spät als nie.

»Womit denn dann, Einstein?«

Vlad blieb abrupt stehen. Henry ging auch nicht weiter und legte den Kopf schräg, ein neugieriges Funkeln in den Augen. Vlad verkündete: »Mädchen, die hinter den Fahrradständern mit einem rummachen, sind nicht nett.«

»Wann hab ich dir denn erzählt, dass das hinter den Fahrradständern war?« Henry runzelte die Stirn, griff Vlad bei der Schulter und senkte die Stimme, damit keiner sie hörte. »Mann, du sollst meine Gedanken nicht lesen, verdammt! Ich hasse es, wenn du das machst.«

Vlad zuckte mit den Schultern und ging weiter.

Plötzlich stieß Henry ihm den Ellbogen in die Seite und deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe verkleideter Kinder ein Stück weiter die Straße rauf, die beim Süßigkeitensammeln fette Beute gemacht zu haben schienen. »Lust auf was zu naschen?«

»Besser nicht. Nelly ist immer noch stinksauer wegen letztem Jahr.« Vlad schob die Hände in die Taschen und blickte zwischen seinem besten Freund und den Kindern auf dem Bürgersteig hin und her. »Du weißt schon, diese kleinen Heulsusen, die gleich zu ihren Eltern gerannt sind und gepetzt haben, sie wären von einem Vampir angegriffen worden. Und dieser bescheuerte Officer Thompson hat meine Tante mit tausend Fragen gelöchert. Wenn irgendwer die Wahrheit rausfindet … was ich bin …«

»Ach, komm schon.« Henry hatte sich vor ihn gestellt und versperrte Vlad die Sicht auf die Viertklässler, die sich langsam entfernten. Zwei von ihnen gingen als irgendwelche Superhelden. Der dritte trug den gleichen Umhang wie Vlad. »Das wird bestimmt witzig. Und überhaupt, wenn du nicht mitmachst … sag ich Meredith, dass du in sie verknallt bist.« Henry drehte ihm den Rücken zu, schlang die Arme um sich selbst und fing an, Kussgeräusche zu machen.

Vlad kochte vor Wut. »Lass den Mist, Mann.«

Henrys Grinsen ließ vermuten, dass er sich nicht so ohne Weiteres um den Spaß bringen lassen würde. Vlad schüttelte den Kopf und gab schließlich nach. »Aber wenn wir erwischt werden, bist du mir echt was schuldig.«

Henry strahlte. »Wow, und das ganz ohne die Superkräfte, mit denen die besten Freunde der Untoten normalerweise ausgestattet sind.«

Henry trat zur Seite und Vlad lief an ihm vorbei, dann duckte er sich hinter die hohen Büsche am Straßenrand. So leise er konnte, rannte er ein Stück, bis er seinen kostümierten Opfern einen halben Häuserblock voraus war. Dann kletterte er den rauen Stamm einer alten Eiche hinauf und schob sich vorsichtig auf einem langen, dicken Ast nach außen. Dort wartete er auf die Viertklässler, während Henry sich im Gebüsch versteckt hielt. Er konnte Henrys zufriedenen Blick auf sich spüren und unterdrückte ein Kichern.

Als die Superhelden und ihr Vampirkumpel, von denen jeder einen dick ausgebeulten Kissenbezug voller Süßigkeiten in der Hand hatte, sich dem Baum näherten, spuckte Vlad sein Plastikgebiss aus und stopfte es in die Hosentasche. Er ließ seiner Fantasie ein wenig freien Lauf und dachte an ganze Flüsse voller Blut und an Hunger, der danach schrie, gestillt zu werden. Er fuhr mit der Zungenspitze über seine Eckzähne, die jetzt wieder hervortraten, und beugte sich nach vorn, bis seine Füße den Ast nicht mehr berührten. Der Wind wehte ihm die Haare aus dem Gesicht, als er sich tiefer sinken ließ. Er konzentrierte sich vollkommen auf seinen Körper und brachte ihn nur durch Willenskraft dazu, sich langsam vorwärtszubewegen. Mit ausgebreiteten Armen und gebleckten Zähnen stieß er ein leises, kehliges Knurren aus, während er auf die Jungen zuschwebte, bis er genau über ihren Köpfen in der Luft hing. Dann brüllte er los.

Die Superhelden ließen vor Schreck ihre Kissenbezüge fallen und stoben in einem Gewirr von Umhängen und panischem Geschrei auseinander. Nur der Vampir rührte sich nicht vom Fleck und starrte einen Augenblick, der wie eine Ewigkeit schien, voller Grauen zu Vlad hinauf. Vlad schrie noch einmal und der Junge schrie mit, bevor er endlich seine Süßigkeitentasche fallen ließ. Aber er blieb immer noch wie angewurzelt stehen. Vlad begann sich zu fragen, ob er sich überhaupt jemals vom Acker machen würde.

Vlad konnte das Herz des Jungen gegen dessen Rippen hämmern hören. Wie Donner hallte das Geräusch in seinem Kopf wider. Er hörte das Rauschen des Blutes und fühlte die aufsteigende Panik des Jungen, als wäre es sein eigener Körper. Vlad blinzelte und sah sich im nächsten Moment selbst, wie er zu dem Jungen hinunterschwebte. Sein Umhang flatterte dramatisch hinter ihm im Wind und seine scharfen weißen Zähne leuchteten im Licht der Straßenlaterne.

Er war wirklich nahe daran, sich in die Hose zu pinkeln, aber was würden Mark und Todd sagen, wenn sie das herausbekamen? Andererseits konnte es ihm ja auch ziemlich egal sein, was die beiden dachten. Diese Blödmänner hatten sich schließlich ohne ihn aus dem Staub gemacht. Wenn sie am nächsten Tag erfahren würden, dass er tot war, würden sie sich hundsmiserabel fühlen, und das zu Recht!

Vlad blinzelte abermals, kniff dabei fest die Augen zu und öffnete sie dann wieder. Seine Füße setzten vor dem Jungen auf dem Bürgersteig auf. Er hatte die Gedanken des kleinen Möchtegern-Vampirs gelesen, ohne dass er es überhaupt beabsichtigt hatte. Vlad beugte sich vor und raunte dem Jungen zu: »Vielleicht solltest du jetzt abhauen.« Das schienen die magischen Worte zu sein, die die Füße des Jungen, die bis dahin wie auf dem Bürgersteig festgeklebt gewesen waren, in Bewegung brachten. Der Junge schoss an ihm vorbei und das Trappeln seiner Schritte wurde langsam leiser, als er die Straße in die Richtung hinunterrannte, in die auch seine Freunde verschwunden waren.

Henry brach lauthals lachend aus dem Gebüsch hervor und schnappte sich einen der Kissenbezüge vom Gehsteig. »Hast du sein Gesicht gesehen? Ich dachte echt, der macht sich in die Hose!« Er fischte eine Packung Erdnussbutterkonfekt aus dem Beutel und riss die orangefarbene Folie auf. Dann stopfte er sich ein Stück in den Mund und hielt Vlad die Packung hin.

Vlad nahm sich eine der süßen Schokoleckereien und biss hinein, was seine Eckzähne beleidigt in sich zusammenschrumpfen ließ. Die Schokolade schmolz auf seiner Zunge, aber im Moment konnte er dem Ganzen nicht viel abgewinnen.

Henry war schon vorgerannt und rief Vlad über die Schulter zu, dass er sich beeilen sollte. Vlad hob den Süßigkeitenbeutel des kleinen Vampirs auf und holte Henry schließlich an der Verandatreppe vor Matthews Haus ein. Musik drang aus der offenen Tür und von drinnen fielen bunte tanzende Lichtpunkte auf den Verandaboden. Matthews Mutter begrüßte sie überschwänglich. »Rein mit euch, ihr finsteren Gestalten! Die Party ist schon im Gange und es geht voll ab hier drin!«

Vlad und Henry wechselten einen Blick. Mann, war das immer peinlich, wenn Erwachsene versuchten, sich cool zu geben. Kommentarlos gingen sie ins Haus. Die Wohnzimmermöbel waren an die Wände geschoben und in der Mitte des Raums hing eine Discokugel an der Decke. Hin und wieder zischte es und eine Nebelwolke wallte über den Fußboden. Vlad zählte zwanzig seiner Schulkameraden, bevor er seinen Versuch aufgab, herauszufinden, wie viele Leute da waren. Vorher hatte er aber bereits Meredith ausfindig gemacht, die am anderen Ende des Raums an der Bowleschüssel stand und mit ein paar Freundinnen kichernd die Köpfe zusammensteckte.

Henry stieß ihn an und sagte etwas, aber Vlad konnte ihn wegen der lauten Musik nicht verstehen. Er nickte bloß und sah zu, wie Henry in der Menge verschwand. Plötzlich allein, suchte Vlad sich ein Plätzchen auf dem Sofa und wartete darauf, dass Henry zurückkam. Bill Jensen und Tom Gaiber drängelten sich in Richtung Haustür durch. Vlad zog den Kopf ein und hoffte, dass sie ihn nicht bemerken würden. Da sah Bill ihn direkt an und zog Tom so heftig am Ärmel, dass der stolperte und beinahe auf Vlads Schoß landete. »Ach nee, guck dir mal den Freak an.«

Tom feixte. »Hübsches Kostüm, Grufti-Boy.«

Vlad stierte ihn finster an und drehte sich dann weg. »Hübscher Mundgeruch, du Arsch.«

Matthews Mom stand derweil an der Tür und beobachtete mit teilnahmsvollem Blick, was sich da zwischen den dreien abspielte. Vlad wünschte, sie würde woanders hingucken, aber nein, sie verfolgte weiterhin aufmerksam, wie der arme schmächtige, blasse Außenseiter gehänselt wurde. Hoffentlich war sie wenigstens so vernünftig, dass sie nicht noch versuchte, ihn zu trösten, sobald die anderen weg waren, oder – schlimmer noch – bevor sie weg waren. Zu Vlads Erleichterung gingen Bill und Tom weiter zur Tür. Doch Bill, der einen letzten Treffer landen wollte, drehte sich in der Tür noch einmal um und schrie, so laut er konnte: »Bis später, Bleichgesicht!«

Ein heißer Blitz durchzuckte Vlad und einen Moment lang war er versucht, seinem Instinkt einfach zu folgen. Er spürte, wie seine Eckzähne wuchsen und gegen sein Plastikgebiss drückten. Vlad presste die Lippen aufeinander und wartete eine Weile, bis er sicher war, dass Bill und Tom sich verzogen hatten. Dann ging er raus auf die Veranda und streckte sich. Er wusste, dass es ein paar Minuten dauern würde, bis sein Hunger wieder abgeebbt war.

Die kühle Stille auf der Veranda, die um das ganze Haus lief, war eine willkommene Abwechslung zum Lärm der Party. Bills und Toms Pöbeleien hatten bei Vlad ein unangenehmes, hohles Gefühl zurückgelassen, gegen das normalerweise nur ein paar Stunden zu Hause und ein gepflegter Kampf gegen einen Haufen Oberbösewichter halfen – selbstverständlich im Namen der gesamten Menschheit. Da konnten die Leute noch so viele Theorien über den Zusammenhang zwischen Videospielen und Jugendkriminalität aufstellen, Vlad war sich jedenfalls ziemlich sicher, dass Bill und Tom bessere Menschen wären, wenn sie ein bisschen mehr Zeit vor ihrer Playstation verbringen würden – zumindest würden sie ihn so lange in Ruhe lassen.

Er ließ sich auf die Hollywoodschaukel fallen und lauschte eine Weile der Musik, die durch die offene Tür drang. Die Vorstellung, dass er Meredith fragen könnte, ob sie mit ihm zum Schulball gehen würde, war absolut hirnrissig. Mädchen wie Meredith Brookstone gingen nicht mit Jungen wie Vladimir Tod aus.

Außerdem würde er echt Schwierigkeiten haben, ihr einen regulären Knutschfleck zu verpassen.

Seine Zähne schrumpften wieder ein wenig, und als er aufstand, hörte er durch das offene Küchenfenster Merediths niedliches Kichern. »Fragst du mich etwa gerade, ob ich mit dir ausgehen will?«

Vlads Herz sank ihm bis in den Bauch, quetschte sich dann weiter sein Bein hinunter und flutschte mit einem Plopp aus dem Loch in seinem Schuh, bevor es auf dem Boden landete und zerbrach. So jedenfalls fühlte es sich an.

Er schlich zum Fenster und hielt den Atem an, als er vorsichtig um die Ecke spähte.

Henry saß auf der Küchentheke und ließ die Füße baumeln. Dann lehnte er sich nach vorn und flüsterte Meredith etwas zu, die sich ihr weiches braunes Haar hinter beide Ohren gestrichen hatte. Ihr Mund war zu einem Schmollen verzogen, während sie ihm zuhörte. Vlad gab sich alle Mühe, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, aber als er sah, wie Henrys Lippen sich nur Zentimeter von Merediths hübschem Ohr entfernt bewegten, sackte seine Stimmungskurve in Eifersuchtsabgründe, die er sich nie zugetraut hätte.

Henry sah zum Fenster herüber. Vlad duckte sich, aber es war zu spät – Henry hatte ihn gesehen. Sekunden später war Henry auf der Veranda. »Das war nicht so, wie es aussah.«

Vlad hatte eigentlich vorgehabt, sich lässig zu geben, um sich das letzte Fünkchen Würde zu bewahren, das er noch hatte, so als wäre ihm das alles total egal. Stattdessen klang seine Stimme schrill und in seinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. »Das war echt ’ne blöde Idee. Ich glaub, ich geh nach Hause.«

»Jetzt schon? Aber was ist denn mit Meredith?«

Vlad zuckte mit den Schultern und war schon an der Verandatreppe. »Sah aus, als wäre sie in ziemlich guten Händen.«

Henry machte einen Satz hinter ihm her, fasste Vlad an der Schulter und zwang ihn, stehen zu bleiben. »Du hast das total falsch verstanden, ich hab versucht, euch beide für den Ball zu verkuppeln.« Er sah Vlad an. »Du glaubst mir doch?«

Natürlich glaubte Vlad ihm. Aber die Tatsache, dass Henry der Mädchenschwarm der gesamten Junior Highschool war, machte das Ganze nicht unbedingt leichter. Manchmal konnten die sehnsüchtigen Seufzer, die ihren Weg durch die Schulflure begleiteten, echt ganz schön nervig werden. Aber trotzdem … es war immer noch Henry. Wenn Vlad irgendwem vertrauen konnte, dann ja wohl ihm.

Vlad rang sich ein Lächeln ab. »Klar glaub ich dir.« Er ging weiter die kleine Treppe hinunter. Henry blieb ihm dicht auf den Fersen.

»Hast du das von MrCraig gehört?«, wechselte Henry das Thema.

»Was, ist der immer noch krank? Mann, noch eine Ladung von Snelgroves Impro-Stunden ertrag ich nicht.«

Henrys Schritte verlangsamten sich. »Die anderen haben gesagt, er wurde vermisst gemeldet.«

»Im Ernst?« Vlad blieb ebenfalls stehen und ließ die Neuigkeit einen Moment sacken. Er musste all seine Willenskraft aufbringen, um weiterzugehen und die Bilder von all dem aus seinem Kopf zu verbannen, was mit MrCraig passiert sein könnte. »Weiß denn irgendwer was Genaueres?«

Henry hatte seinen Kopfkissenbezug nicht mehr dabei, aber seine Hosentaschen waren ganz ausgebeult vor lauter Süßigkeiten. »Nicht so richtig. Es heißt, er sei einfach mir nichts, dir nichts verschwunden.«

»Komisch.«

»Ja, total.« Henrys ernster Gesichtsausdruck wich seinem gewohnten Grinsen. »Hey, hast du Stephanies Schwester da drin gesehen? Sieht heute echt niedlich aus.«

Vlad schüttelte den Kopf und bog um die Ecke, um sich auf den Heimweg zu machen. »Mann, Henry. Ehrlich. Die ist zwölf.«

DER GEHEIME DACHBODEN

Vlad wälzte sich vom Bett und rieb sich die Augen. Vorsichtig, um nicht über Henry zu stolpern, der noch in seinem Schlafsack auf dem Fußboden schnarchte, tapste er aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Dann ging er in die Bibliothek. Aus dem ersten Bücherregal griff er sich Theorie und Praxis der Telepathie und ging damit nach unten, wo ihn der Duft von kühlem Blut und gebratenem Speck empfing. Mmm … Das Frühstück für einen guten Start in den Tag. Tante Nelly stand am Herd und drehte sich um, als Vlad an dem langen Holztisch Platz nahm. »Guten Morgen, Sonnenschein.«

Vlad blinzelte zu ihr auf. »Morgen, Schwefelsäure.«

»Wie bitte?«

»Na ja, findest du es nicht ein bisschen unpassend, einen Vampir ›Sonnenschein‹ zu nennen?«

»Oh, entschuldige.« Sie stellte ein Glas voll kühler, dunkelroter Flüssigkeit vor ihn auf den Tisch, das er mit einem Zug leerte. Nelly deutete auf sein Buch. »Ist irgendwas passiert?«

Vlad wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, sodass eine dicke sattrote Spur darauf zurückblieb. »Ja, irgendwie schon. Ich hab gestern Abend die Gedanken von jemandem gelesen. Von jemandem, den ich nicht mal kannte.«

Nelly setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und schlürfte ihren Kaffee. »Ich dachte, du kannst nur Henrys Gedanken lesen.«

»Das dachte ich auch.« Er kratzte sich am Kinn und schlug das Buch auf einer Seite auf, die von lauter gelben Haftnotizzetteln bedeckt war.

Nelly betrachtete ihn nachdenklich. »Vladimir … du hast doch nicht …?«

Vlad überflog die Seite und hörte Nelly nur mit einem Ohr zu. Als ihm klar wurde, worauf sie hinauswollte, klappte ihm die Kinnlade runter. »Nein! Ich würde doch nie mit Absicht irgendjemanden beißen!«

»Bis auf Henry, meinst du wohl.« Nelly trank noch einen Schluck und beäugte ihn über ihre Brille hinweg.

Vlad verdrehte die Augen und zog das Buch näher zu sich hin. »Tante Nelly, ich war damals acht Jahre alt! Können wir das nicht endlich mal zu den Akten legen?«

»Na ja, du hast bisher immer gesagt, dass du Henrys Gedanken nur lesen kannst, weil du etwas von seinem Blut getrunken hast. Also wenn du dieser anderen Person kein Blut abgezapft hast, wie erklärst du dir dann, dass du ihre Gedanken lesen konntest?« Ihr Tonfall war ruhig, aber sie wählte ihre Worte mit Bedacht.

Vlad beugte sich über das Buch und ging seine unzähligen Notizen und Thesen und flüchtig hingekritzelten Gedanken zum Thema Telepathie durch. »Keine Ahnung. Aber es gibt ja auch nicht gerade so was wie eine Encyclopedia Vampirica, in der man solche Sachen nachschlagen könnte. Bisher habe ich nur ein paar Vermutungen, das ist alles.«

Nelly schob einige klebrige Rosinenbrötchen zu ihm rüber und häufte sich selbst knusprigen Frühstücksspeck, Rühreier und Toast auf den Teller. Vlad nahm sich eins der süßen Brötchen und ließ es auf seinen Teller fallen, während Nelly sein Glas mit neuem Blut füllte, das er für seinen Start in den Tag brauchen würde. Nelly hatte sich nie sehr zimperlich angestellt, was Vlads Ernährungsgewohnheiten anging. Sie war ausgebildete Krankenschwester und ging jedesmal ein erhebliches Risiko ein, wenn sie im Krankenhaus Blut für ihn stibitzte. Nelly knabberte an ihrem Speck und sah ihn erwartungsvoll an. »Und, was war das für eine Überraschung um Mitternacht?«

»Keine Ahnung. Wir sind vorher gegangen.« Vlad zuckte mit den Schultern. Dann dachte er an seinen Übernachtungsgast und fragte: »Ist es in Ordnung, wenn Henry heute auch noch mal hier schläft? Seine Eltern kommen sowieso nicht vor Montagnachmittag zurück.«

»Solange ihr Jungs mir morgen früh brav in die Schule geht.«

Als hätte ihn die bloße Erwähnung seines Namens aus dem Schlaf gerissen, kam Henry die Treppe hinuntergepoltert und stürmte nun mit einer Frisur, die vom Schlafen in alle Richtungen abstand, und einem ausgeruhten Grinsen in die Küche. Tante Nelly stellte ihm einen leeren Teller hin, aß ihren Speck auf und drückte Vlad einen Kuss auf die Stirn. »Bis später, ihr zwei. Ich hab eine lange Schicht vor mir.«

Vlad fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines Glases. »Ach, Nelly, wir arbeiten in Geschichte gerade an so einem Stammbaumprojekt. Könntest du mir da vielleicht helfen?«

Nelly wuschelte Henry auf dem Weg zur Tür durchs Haar. »Hast du schon mal auf dem Dachboden nachgesehen? Ich weiß, dass deine Eltern da oben ein paar Fotoalben hatten. Die sind dir bestimmt eine größere Hilfe als ich.« Vlad starrte ihr entgeistert hinterher. Nelly seufzte. »Also wirklich, Vladimir, jetzt lebst du schon seit drei Jahren in diesem Haus und weißt immer noch nichts von dem geheimen Dachboden? Liebe Güte, die Tür dahin ist nur einen halben Meter von deinem Bett entfernt. Und ich dachte immer, Vampire hätten irgendein übersinnliches Gespür für solche Dinge.«

Vlad hob die Schultern und nahm sich noch ein Rosinenbrötchen. »Meinst du nicht, wenn ich irgendwelche übersinnlichen Kräfte hätte, wäre ich besser in Mathe?«