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Ein Blitz, ein Baum, ein Volk: Was Schreinermeister Lehnert in seiner kleinen Werkstatt aus dem Holz eines 250 Jahre alten Walnussbaums zaubert, der bei einem Unwetter am Quellteich des Blutbaches vom Himmelsfeuer geteilt wurde, erwacht auf magische Weise zu neuem Leben. Eigentlich wollte er durch den Verkauf seiner kunstvoll gedrechselten Flaschenwächter nur die magere Rente aufbessern, doch der Meister ahnt nicht, dass er mit den Jahren ein ganzes Volk von Flaschenhütern gründet, die in Restaurants arbeiten, südenglische Pubs unsicher machen und in Kellergewölben umhergeistern. Obgleich ihre Existenz zwischen Baum und Borke sich durch das versierte Handwerk ihres Schöpfers in ein aufregendes Leben nebst köstlichsten Buketts edelster Tropfen verwandelt hat, sind Pepe, José und all die anderen fortwährend rastlos auf der Suche nach ihresgleichen und geraten dabei von einem Abenteuer ins nächste. Es ist die fantastische Geschichte einer Freundschaft von Flaschenhütern: Die Erzählung ist im Weserbergland in Niedersachsen angesiedelt, Mittelpunkt ist Hameln. Aber nicht nur dort sind sie unterwegs, denn die Flaschenstopfen kommen rum in Deutschland, ihre Wege führen sogar nach Frankreich und Südengland, wo es zu einer dramatischen Begegnung mit den Rolling Stones und Marianne Faithfull kommt...
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Ihr seid mehr, viele mehr. Findet euch. Findet uns.
Für Anke, Entdeckerin und Retterin eines Volkes.
DONNER UND D’OMMA
AUF DEM TROCKENEN
EIN HÖLLENRITT
UNSICHTBARE BANDE
AB DIE POST
FLUCHT AUS BARTH
LINIE 10
PÜNKTLICH ZUGESTELLT
DIE BANDE DES BUKETTS
ABGESTÜRZT
KONFERENZ DER EICHHÖRNCHEN
BEI DEN ROLLING STONES
MADAME KREISCH
AUF DEM SAUMUR -CHAMPIGNY
50 PFENNIGE
KELLER GEISTER
ALLEIN IM KARTON
SCHWARZ VOR AUGEN
DER TREPPENSTURZ
FISH’N’ CHIPS
IM SPUNDLOCH VEREINT
IM PUB VON ALVEDISTON
„SIE HABEN POST“
KAROLIN MITK
IN CHAMPAGNERLAUNE
TAUSENDMAL UND ÖFTER
KÖPFE MIT CHARAKTER
Der Himmel zürnte laut und bedrohlich, so als wolle er Mutter Erde dem Untergang weihen und in ewige Finsternis tauchen. Blitze stachen aus schweren, grauen Wolken hundertfach hervor und zeichneten Feuer der Angst über den Dörfern und Städten, den Feldern und Wäldern des Weserberglandes.
Die Kühe und Schweine waren von den Bauern rechtzeitig in die Stallungen gerettet worden, die Pferde in den Boxen wieherten und schnaubten wie von Sinnen.
Das fröhliche Hundegebell von den Höfen war einem armseligen Winseln gewichen.
Die Tiere des Waldes hatten sich in Tälern und Senken versammelt, um den größten Gefahren zu entgehen, die Vögel waren bis weit in das grüne Dickicht von Tannen und Fichten geflohen.
Die Fachwerkhäuser der Hamelner Altstadt duckten sich, so gut sie konnten, vor Petrus’ Unbilden, und die backsteinernen Bauernhäuser draußen auf dem Lande taten es ihnen gleich. Allein die Glockentürme der Gotteshäuser hatten den Mut, sich stolz und aufrecht der überirdischen Bedrohung zu stellen. Der Sturm peitschte immer neuen Regen über die Region. Bäche wurden zu Flüssen, Flüsse zu reißenden Strömen, und die Weser quoll an zu einem Junihochwasser, das bis heute in bitterer Erinnerung bleiben sollte. An diesem denkwürdigen 7. Juni des Jahres 1961 spürten die Menschen keinen Sommer noch Hoffnung darauf; sie verloren sich kauernd in ihren Häusern und Kellern, in gebührendem Abstand zu den Fenstern und Türen, die ihnen nichts als einen Ausblick in den Rachen des Teufels boten. Donner und Blitze lieferten sich allem Anschein nach schwere Gefechte und machten doch nur wieder gemeinsame Sache.
Das Überraschende an diesem schauderhaften Allegro war, dass es sich nicht allein auf diesen einen Tag beschränkte. Zwischen dem 2. und dem 8. Juni geriet die Luft über Südniedersachsen mehrmals in größtmögliche Wallung. Vermutlich hatte dort oben, über den Köpfen der verängstigten Menschen, jemand verflucht schlechte Laune, und keiner derer, die das Schauspiel mit weit aufgerissenen Augen verfolgten, wollte natürlich blitzartig diese Welt verlassen, was zehn Menschen trotzdem nicht gelang. Sie wurden vom elysischen Feuer erschlagen, neun weitere ertranken in mächtigen Flüssen des Harzvorlandes. Eine Tragödie.
Nun begab es sich, dass ein letzter mächtiger Blitz an ebenjenem Mittwochabend sich auftat, mit all seiner zerstörerischen, räuberischen Kraft im Süntelwald zwischen Bad Münder und Hessisch Oldendorf einzuschlagen.
Mit seinem höllischen Gebaren teilte das himmlische Feuer einen 250 Jahre alten Walnussbaum, der in viele Stücke zerbarst. Dieser einzigartige Nussbaum, um einige Jahre älter als seine Artgenossen im Weserbergland, die mit höchstens 200 Jahren schon zu den Greisen ihresgleichen gehören, reckte sich direkt an der Blutbachquelle stehend stolz und mit gewaltigem Stammumfang Richtung Sternenzelt. 1711 – Goethe war noch nicht geboren und die lieblichen Melodien Mozarts sollten sich erst Jahrzehnte später wie Samt und Seide über das Land decken – war dieser Wunderbaum dem Umstand eines allzu vergesslichen Eichhörnchens zu verdanken, das sich am sauberen Quell des Blutbachs labte und eine Walnuss zum Zwecke des Wintervorrates im dortigen Boden verbarg. Doch das Hörnchen Eich kehrte nie zurück zu diesem Ort, aus Gründen, die nicht einmal aus den Sternen zu deuten wären, die mit ihrem Leuchten diesem köstlichen Augenblick beiwohnten, und so mühte sich aus der vergessenen Frucht ein Sprössling und war von einem gut gemeinten Schicksal beschützt, um groß und stark werden zu können. Das zarte Grün wuchs heran. In den ersten Jahren rang es nach Licht, weil die umstehenden Bäume, allesamt anderer Art und Beschaffenheit, bereits alt und hoch waren und sich am wärmenden Sonnenlicht wohlgetan hatten, während der Jüngling ein darbendes Schattendasein führte und jeden noch so ärmlichen Sonnenstrahl wie ein Fest der Sinne zu nutzen wusste und musste. Aus dieser Bescheidenheit und der Geduld des Walnussbaumes erwuchs eine unbändige Kraft. Der Zögling des vergesslichen Eichhörnchens von 1711 wurde ein stolzer Baum und ein zäher Bursche. Wilde Stürme, klirrende Kälte, quälende Trockenheit, Kriege und Revolutionen konnten ihm keinen Schaden zufügen. Jahr um Jahr schenkte der Walnussbaum seinem Stamm einen neuen Ring, wie ein auf ewig verliebter Ehemann, der an jedem Morgen, an dem sich der Hochzeitstag jährt, seiner Angebeteten einen Ring überreicht – zum Zeichen seiner Liebe und Treue.
250 Jahre, das sind über 90 000 Tage und Nächte voller Sonne und Dunkelheit, das sind über zwei Millionen Stunden voller Wärme und Schatten. Der Baum wurde älter als andere seiner Art, schöner und kräftiger noch dazu, und es ist beileibe nicht ausgeschlossen, dass es die seltsam melancholische Magie an der Blutbachquelle tief im Süntelwald oberhalb von Hessisch Oldendorf war, die diesem Wunder der Natur besonderen Ausdruck verlieh.
Über 900 Jahre lagen zwischen den blutigen Kämpfen der Franken und Sachsen, die sich auf dem Dachtelfeld unweit des Hohensteins die Köpfe einschlugen, und dem Auferstehen der mystischen Walnuss. Als im Jahre 782 Kriegsgeschrei durch den Wald tönte, kamen Hunderte zu Tode, die in die dunklen Schluchten des Hohensteins stürzten oder auf dem Feld erschlagen wurden. Ihr Blut tränkte den Waldboden, färbte das sich talwärts schlängelnde Bächlein rot und gab ihm hernach seinen Namen: Blutbach.
Die in Stein gefasste Quelle eint die schreckliche Geschichte und die sprossende Hoffnung. Das Blut im Bach ist nichts weniger als eine sagenhafte Erzählung, aber sie mahnt nicht allein vor der Torheit und dem Gebrüll des kriegerischen Wahnsinns, sondern deutet mit unerschütterlichem Frieden darauf hin, dass aus blutrotem Fluss ein klarer Quell der Zuversicht sprießen kann.
Der magische Walnussbaum hätte keinen besseren Untergrund finden können, um seine Wurzeln tief in das Erdreich zu schieben. Ach, wie gut war es doch, dass das Eichhörnchen, das einst seinen Durst an der Quelle zu stillen suchte, einer vorübergehenden Vergesslichkeit anheimfiel und die Frucht vergaß, die es vergraben hatte. Es war die Geburtsstunde nicht allein eines Baumes, sondern eines neuen Volkes, dem Volk der Flaschenverschlüsse. Doch Wunder wie diese brauchen bisweilen Zeit, viel Zeit sogar, und es musste erst ein mürrischer Blitz zur Erde stoßen, um dem blühenden Leben dieser im Stamm des Baumes eingesperrten guten Geister die Freiheit zu verschaffen, dem Schreinermeister Lehnert in seiner Werkstatt im kleinen Dorf Pötzen Gestalt verlieh.
Sechs Tage nach dem verheerenden Gewitter über dem Weserland machte sich der Meister mit seinem Hund Fridolin auf, um einen Spaziergang zu unternehmen und ein gutes Stück Holz aus dem Wald zu holen, das er benötigte, um seinem Handwerk eine neue Aufgabe zu verleihen. Er wanderte den Ramsnackenweg entlang, beständig ansteigend, aber nicht besonders anstrengend, bis hinauf zum Plateau. Er genoss die frische Luft, atmete sie tief und bewusst; mit den Gewittern war die sommerliche Schwüle zunächst einmal hinfortgeschoben worden. Der Weg führte den Meister über den Höhenzug zu den sogenannten Moosköpfen, die gegenüber dem Hohensteinmassiv fast senkrecht hinaufragen. Er setzte den Weg direkt am Waldrand fort und erreichte nach einigen Minuten die Südwehe, von der sich ihm ein atemberaubender Blick ins Tal bot. Fridolin, sein quirliger Terrier, interessierte sich weniger für den Ausblick als vielmehr für das, was er unter Steinen und in schier undurchdringbaren Dickichten zu finden erhoffte.
Es waren wohl kaum Würste und Knochen, die er dort erwartete, aber wohl etwas anderes Leckeres. Meister Lehnert ließ ihn gewähren, aber wenn es ihm zu bunt wurde, pfiff er nur ein einziges Mal, und schon sprang sein treuer Freund hervor, um mit ihm ein weiteres Stück des Weges zurückzulegen, aber nicht für lange, denn er verschwand gerne und war neugierig.
Die beiden verließen das Gebiet des Steilhanges und drangen ins Tal. An der Blutbachquelle angekommen, traute Meister Lehnert seinen Augen nicht: Dort, wo er an kalten Oktobertagen Walnüsse gesammelt und mit nach Hause genommen hatte, wo er sie in einem Kartoffelnetz an einem Balken in seiner Werkstatt zum Trocknen befestigte, lag der Walnussbaum, vom Blitz zugrunde gerichtet. „Oh, schau dir dieses Malheur an“, sagte der Meister zu seinem Hund, ohne eine Antwort von Fridolin zu erwarten. Hund und Meister schüttelten beide mit dem Kopf, aber wohl aus anderen Gründen. Meister Lehnert jedenfalls blickte fassungslos auf den gespaltenen Baum, der ihm viele Jahre köstliche Erntefreuden bereitet hatte.
Der Stumpf steckte unvermindert im Boden, die Walnuss war nicht etwa entwurzelt worden, aber doch zerstört auf ewig. Der Baum sah aus wie ein überdimensionaler, abgebrochener Bleistift. Bis etwa zwei Meter über dem Boden waren Stamm und Krone gefällt und wild durcheinander verteilt worden. Meister Lehnert nahm ein Stück des harten Holzes in die Hand, stellte sodann seinen rechten Fuß auf einen dicken Ast, stützte sich mit dem Ellbogen auf seinem rechten Knie ab und sann, sich am Kinn kraulend, über die Zeit nach. Nach einer Weile wachte er aus dem Tagtraum auf. Fridolin war verschwunden. Meister Lehnert pfiff, wie er immer pfiff, wenn sein treuer Freund abhandengekommen war. Kaum war der Ton in den Weiten des Waldes verklungen, stand der Terrier auch schon neben seinem Herrn.
„Weißt du was, Fridolin? Ich werde diesen herrlichen Baum ehren und preisen, indem ich sein Holz für mein Handwerk verwende.“ Meister Lehnert griff nach dem Stück eines dickeren Astes, das er soeben noch tragen konnte, und machte sich auf den Heimweg nach Pötzen.
Es war schon weit nach Mitternacht, als aus der kleinen Werkstatt im Hinterhof eines Backsteinhauses an der Haddesser Straße Klopf-, Sirr- und Sägegeräusche in die Juninacht drangen. Meister Lehnert hatte das kleine Fenster geöffnet, um frische Luft einzulassen. Er bearbeitete das Holz, das er von seinem Spaziergang mitgebracht hatte, mit Akribie und Freude. Es war nicht groß, denn er war ja zu Fuß dort gewesen und musste es nach Hause schleppen. Die Möglichkeiten, daraus etwas Kunstvolles oder Praktisches werden zu lassen, waren also eingeschränkt. Aber der Meister, dem Genuss eines französischen Rotweines, den er sich von seinem Schwager im Médoc ganz in der Nähe der Stadt Bordeaux regelmäßig zukommen ließ, nicht abgeneigt, war ein begnadeter Tischler und überdies ein Mann mit vielen Ideen. Manchmal kamen ihm mehr Geistesblitze in den Sinn, als ihm lieb war, weshalb er sich seit einigen Jahren schon eines kleinen, in schwarzes Leder gehüllten Notizblocks bediente, um sie festzuhalten für einfallslose Stunden, in denen die Hände des Handwerkers arbeiten wollten, das Gehirn aber nicht.
Das Dorf schlief tief, nur Meister Lehnert war hellwach. „Mein lieber Fridolin, ich glaube, das wird was, das wird was …“, hörte der Terrier seinen Herrn und Gebieter gegen zwei Uhr in der Frühe sagen, und er hörte es nicht zum ersten Mal. Meister Lehnert hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diesen Satz zum festen Ritual eines neu entstehenden Werkes zu machen, was ihm selbst nicht bewusst war, und auch jetzt, weit nach Geisterstunde, in der sich der Dienstag unmerklich in einen Mittwoch gewandelt hatte, zeichnete sich ab, dass er zufrieden sein würde mit dem Ergebnis seiner Arbeit.
Er arbeitete nach alter Väter Sitte noch mit einer manuellen Drehbank, um zu drechseln. Hübsch verzierte Stäbe für Treppengeländer und Knöpfe entstanden auf diese Weise ebenso wie Stuhl- und Tischbeine oder Bettpfosten. So stand der Pötzer auch nebenberuflich noch in Lohn und Brot für ein ortsansässiges Möbelunternehmen. Auf diese Weise konnte er seine bescheidene Rente etwas aufbessern. Am meisten Freude bereitete ihm jedoch stets das Herausarbeiten von Fabelwesen, Tieren und Gesichtern, und auch in dieser Nacht hatte er sich dazu entschlossen, denn wenn erst Herbst und Winter kämen, dann würde er auf Handwerker- und Weihnachtsmärkten wieder ein paar Mark damit verdienen können. Sein Notizblock lag aufgeschlagen neben ihm auf einem Hocker. Mehrmals nahm der Meister ihn auf, blickte hinein, legte ihn wieder ab und drechselte weiter. Fast liebkosend fühlte er über das Holz, blies Späne hinfort, die zu Boden fielen wie Schneeflocken zur Weihnachtszeit. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals, bis schließlich zwei wohlgeformte Kugeln entstanden waren. Der Meister befestigte sie auf einem Metallring, nahm noch einen Schluck Rotwein und begab sich zu Bett.
Am nächsten Morgen machte ihm seine Frau Hildegard Kaffee. „Du hast aber lange gearbeitet. Meine Güte, die ganze Nachbarschaft muss dich gehört haben“, sagte sie nicht besonders vorwurfsvoll, stellte ihm den Becher Kaffee vor die Nase und strich ihm über die Wange. Er lächelte und fragte seine Hildegard, ob sie ihm nach dem Frühstück in seine Werkstatt folgen wolle, dann werde er ihr zeigen, was er fertiggebracht habe. „Natürlich, gerne“, sagte sie, schnitt eine Scheibe Brot ab und bestrich sie mit Butter und Erdbeermarmelade.
Zwanzig Minuten später gingen die beiden hinüber in sein heiliges Reich. Der Meister zeigte seiner Frau die beiden Holzkugeln auf den Metallringen.
„Schau, das hier werden Flaschenverschlüsse. Unter dem Metallring werde ich Korken befestigen“, erklärte er ihr.
Hildegard staunte.
„Tolle Idee, mein tapferes Meisterlein. Aber weißt du, was? Die Kugeln brauchen Gesichter. Und Kleidung!“, fügte sie noch hinzu und nahm sie sodann mit hinauf in ihr Nähzimmer unter dem Dach ihres kleinen Hauses.
Am Abend – der Meister hatte sich und seiner lieben Gattin einen guten Roten aus Bordeaux ins Glas geschüttet – überraschte ihn seine Hildegard mit dem Ergebnis ihrer Arbeit. „Wie gefallen sie dir?“, fragte sie ihren Mann.
Er nahm einen Schluck Wein und erblickte zwei seltsam lebendig wirkende Gesichter. Er lächelte, nahm noch einen Schluck und köpfte dann eine dicke Zigarre, die er sich in aller Ruhe mit einem Streichholz anzündete.
„Nun sag schon! Was meinst du?“, fragte Hildegard ihn erneut, ungeduldig und erwartungsvoll.
Der Meister zog am Stumpen; Rauch quoll aus Mund und Nase und stieg langsam auf. „Das ist toll. Die sehen richtig lebendig aus. Wenn ich damit auf den Herbstmarkt gehe, um sie zu verkaufen, das wird was, das wird was …“, sagte er in seiner gewohnten Art und Weise. Fridolin, neben dem Tisch in der Wohnküche sitzend, machte zweimal „wuff“.
Hildegard erklärte ihrem Mann, dass sie bei den nächsten Spaziergängen mitkommen werde, um ihm zu helfen, das Holz des alten Walnussbaumes von der Blutbachquelle bis nach Pötzen in seine Werkstatt zu tragen. Meister Lehnert freute sich und versprach, mit ihr eine ganze Familie an Flaschenverschlüssen zu gründen. Genügend Korken habe er schließlich zur Verfügung. Und Metallringe könne ihm sein Freund Karl fertigen, ein Schlossermeister aus Höfingen.
„Wie bist du denn auf diese beiden Gesichter gekommen?“, fragte er Hildegard.
„Och, ich weiß nicht. Einfach so. Ein bisschen Wolle, ein bisschen Filz. Ich habe genommen, was halt so da war in meiner Nähstube. Daraus sind dann eben blaue Pagenmütze und ein rotes Kopftuch geworden. Die Haare sind aus Kaninchenfell. Die nächsten Figuren werden bestimmt ganz anders aussehen“, sagte sie und betrachtete zufrieden das Ergebnis ihres Schaffens.
D’Omma und Pepe blickten regungslos zu ihren Schöpfern.
Helios lachte mal wieder ausgeprägt milchig durch die beiden großen Schaufenster am Kirchplatz, Ecke Lange Straße, in etwa so, als wenn das Glas unter einem grauen Star litt und schleunigst von einem Augenarzt untersucht werden müsste. Ein strahlendes Antlitz hatte das Sonnenlicht hier immer nur für kurze Zeit, meistens erst im Frühsommer nach Pfingsten, wenn der alte Herr, dem das Trödelgeschäft gehörte, die Fenster von einem griesgrämigen Putzer mit Dreitagebart, dessen Zigarettenkippe im linken Mundwinkel angewachsen zu sein schien, reinigen ließ. Niemals streifenfrei natürlich, dafür hätte sich der ruppige Mittfünfziger ja Mühe geben müssen, aber wenigstens ließ das Ergebnis halbwegs ungehinderte Blicke von vorbeieilenden Passanten in die Auslagen zu. Manche waren es wert, manche nicht.
Die gehäkelten Topflappen im Siebzigerjahre-Tapetenmusterdesign waren es definitiv nicht.
Fast halb acht morgens. Die Fasthalbachtuhrsonne blinzelte behutsam ums Eck. Pepe gähnte aus verschlafenen Augen in den muffigen Verkaufsraum. Gut geruht hatte er nicht, weil Mister Ramsch, wie Pepe den Inhaber des Ladens bezeichnete, am vergangenen Dienstag auf die wahnwitzige Idee gekommen war, einen Uhrmacher mit der Reparatur der Standuhr im hinteren Teil des Zimmers zu beauftragen. Seitdem plusterte sich die historische Zeitmaschine alle halbe Stunde auf und spielte „Big Ben“ für Arme. Ein Gong zu jeder halben Stunde, bis zu zwölf Gongs zur vollen. Pepe sah müde aus, und er fürchtete um seine Ruhe für alle Zeiten. Keine Nacht mehr, in der er durchschlafen konnte. Keine süßen Träume von einem goldgelben Sauternes, dessen Bukett seine Augen glänzen lassen würde. Ein Château Lagardan wäre ihm gerade recht zur Morgenstunde, fruchtig wie ein reifer Pfirsich, vielleicht sogar mit einem bescheidenen Anflug von Firne, aber noch nicht über den besten Punkt hinaus. Oder gar ein Château d’Yquem? Üppig goldfarben, fulminant honiglich und mindestens fünfzehn Jahre tief unten in einem geheimnisvollen Keller gelagert, o ja, das würde Pepe die erste Stunde des Tages versüßen.
Stattdessen das stete Tick-Tick-Tick und ein bigbenniges Gong-Gong.
Gong. Halb acht. Die Minuten zogen sich wie Kaugummi am Korken.
Pepe war verzweifelt. Wie lange sollte das noch so gehen? Wie lange vermochte die tote Zeit in Gestalt der omnipräsenten Standuhr ihm das Hoffen und Bangen auf eine ungewisse Zukunft rauben? Ob großer Châteauneuf à la Château de Beaucastel oder kleiner Müller-Thurgau aus dem Frankenland; in diesen harten Zeiten war’s ihm fast schon egal. Seinethalben würde ihn auch eine Buddel fiesen Rums in einer ranzigen Rotlichtbar auf Sankt Pauli retten, nur raus hier, raus aus der staubigen Einöde des Trödels von Mister Ramsch, die ihm wie eine große Wüste vorkam. So trocken war sein Korken schon geworden, und nur sein Sinn für Humor ließ seine Hoffnung auf eine goldene Zukunft als Page eines großen Château nicht sterben. Menschen, ja, Menschen, die in dieses öde Loch von Laden kamen, mitten im beschaulichen Städtchen Hessisch Oldendorf, das ganz und gar unhessisch war und die niedersächsisch kühle Zurückhaltung bisweilen bis zur Perfektion trieb, die fanden das Geschäft toll. Die hatten auch gut reden, sie mussten ja nicht monatelang auf eine bessere Zukunft wartend ausharren. Sie kauften oder kauften nicht und verließen den Laden nach einiger Zeit, um entweder noch einmal zurückzukehren oder es sein zu lassen. Doch Pepe blieb – blieb liegen, weil ihn niemand beachtete, und präsentierte sich in bestmöglicher Manier, wenn jemand Interesse an ihm bekundete. Präsentation war alles! Oft kam das nicht vor. Ein ganz kleines bisschen seines Schicksals mag in Gottes Hand gelegen haben, doch ein großes Stück davon lag im Auge seiner Betrachter.
„Guten Morgen, Pepe.“
José sah erholt aus. Das Ticken der Standuhr und die nächtlichen Gongschläge störten ihn nie.
„Guten Morgen, José. Gut geschlafen?“, begrüßte Pepe seinen Freund.
„Ja. Aber du nicht“, antwortete José.
„Nein, und ich frage mich, wie du bei diesem Lärm auch nur ein Auge zudrücken kannst. Sag mir, wie das geht.“
Pepe klang ungewohnt bitter. Nie hatte er José Vorwürfe gemacht, nicht ein einziges Mal in über vierzig Jahren. Er hatte allen Grund, ihm, José, ewig dankbar zu sein, denn der hatte es bei einer Party Anfang der Siebzigerjahre geschafft, ihn aus den Fängen einer fiesen Gesellschaft und von einer Wodka-Flasche zu befreien. Ein ekelhaftes Zeug war das gewesen. Wie Wasser sah es aus, wie Teer roch es. Pepe war, damals noch jung an Jahren, dem Delirium knapp entgangen.
„Och, weißt du, ich schlafe einfach gut ein, wenn ich mir vorstelle, einen Riesling zu …“
José unterbrach. Draußen stand der alte Herr vor seinem Laden. Er fingerte den Schlüssel aus seinem braun karierten, verschlissenen Jackett, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn zweimal nach links. Klack-klack.
Die Tür sprang auf, das Glöckchen über dem Rahmen bimmelte, als wenn an Heiligabend der Weihnachtsmann sich ankündigte. Der Mann trat herein, schloss die Tür, das Schellen der Glocke versank in den Fluten des Nichts in diesem Raum. Leise räuspernd schritt er durch sein Geschäft bis nach hinten, stellte seine abgewetzte Aktentasche aus dunkelbraunem Leder auf den gläsernen Verkaufstresen, legte seinen Hut daneben. Er schob den grünen, schweren Vorhang zur Seite, der den Verkaufsraum von einer kleinen Küche teilte, und setzte einen Kaffee auf.
Der Duft erfüllte den Laden binnen weniger Minuten. Pepes weinrote Nase vernahm den Geruch mit besonderem Wohlwollen.
Pepe und José schauten zur kleinen Küche. Mister Ramsch kam heraus, eine Tasse Kaffee in der Hand haltend. Er blickte um sich und schritt zum schweren Stubenschrank aus dunklem Holz, der so klobig war, dass ihm noch nie – Pepe und José hatten es jedenfalls nicht feststellen können – auch nur ein Fünkchen Interesse irgendeines Kunden entgegenschwappte. Immerhin verrichtete das grundsolide Möbel seinen Dienst als Präsentationsfläche. In den Vitrinen standen Weingläser, altes Porzellan, Aschenbecher. Auf der Schrankplatte herrschte ein heilloses Durcheinander. Von Warenpräsentation verstand der Besitzer des Lädchens nichts. Sein leerer Blick traf die beiden für einen Moment und blieb an ihnen haften. Sie äugten gelangweilt und starr zurück. Er schlürfte seinen Kaffee in aller Gemütsruhe, drehte sich wie in Zeitlupe um und ging wieder in die Küche, um die leere Tasse erneut zu füllen.
„José, es muss endlich etwas passieren. Wir müssen raus aus diesem Muff. Wir liegen schon viel zu lange auf dem Trockenen“, sagte Pepe und war sich der Doppeldeutigkeit seiner Worte sehr wohl bewusst. Auf dem Trockenen. Wie zwei Schiffe, die an Land gezogen und vergessen worden waren. Wie zwei, die einst die Freiheit mit sich führten wie einen kostbaren Schatz und nun angekettet waren an einem Ort, von dem sie die Freiheit durch zwei große Fenster zwar betrachten konnten, sie aber nicht erreichten. Sie waren Flaschenverschlüsse, ausgestattet mit echtem Kork einer spanischen Eiche. Gewissermaßen die Hüter des Buketts! Ihre Bestimmung lag darin, den Wein nach dem Öffnen der Flasche vor allzu grober Oxidation zu schützen. Ihm seinen Ausdruck belassen, Geschmack und Qualität so lange wie möglich vor dem Sauerstoff schützen – es war schon so lange her, dass sie diese Aufgabe wahrnehmen durften.
José schaute nachdenklich zu seinem Freund, dessen mahnende Worte in ihm das Verlangen nach einem dekadenten Tropfen geweckt hatten. „Ja, raus hier, nur raus“, antwortete er. Und es schien zunächst so, als wenn dieser Tag ein gutes Ende für sie beide nehmen sollte.
Die Standuhr schlug neunmal. Eine Frau, Mitte vierzig und schick gekleidet, eilte auf hohen Absätzen am Geschäft vorbei. José, der sich hübsche Frauen gerne anschaute, blickte ihr interessiert hinterher, bis der Winkel zu spitz wurde und er sie nicht mehr sehen konnte. Er senkte etwas seinen Kopf und betrachtete noch einen Moment lang die Eingangstür. Plötzlich sah er im Augenwinkel einen Schatten huschen. Die Frau war wehenden Mantels zurückgekehrt und trat herein. Ihr blondes Haar leuchtete in der Morgensonne wie pures Gold.
„Guten Morgen!“, rief sie fröhlich in den Raum hinein.
Keine Antwort.
„Hallo! Ist wer da? Guten Morgen“, sagte sie abermals und noch etwas lauter.
Im hinteren Zimmer klapperte Geschirr, der Händler hüstelte, Stuhlbeine schrammten über den Fußboden, die Holzdielen knarrten. „Morgen. Was kann ich für Sie tun?“, fragte er ohne besonders großes Interesse, aber doch so, dass ein Anflug von Freundlichkeit in seinem Tonfall lag (oder man ihn guten Willens wenigstens vermuten durfte …).
„Ich suche eine Kleinigkeit als Geschenk. Es sollte etwas Originelles für einen Weinliebhaber sein“, erklärte sie.
Der alte Mann blickte ratlos in die Runde. „Tja …“ Mehr als tja hatte er gerade nicht zu sagen. Tja klang nach „weiß nicht“. Pepe konnte es nicht fassen. Was für ein mieser Verkäufer! „José, José! Wie kann er uns vergessen? Das ist unsere Chance. Los, beeil dich!“
Die Frau und der Händler standen auf der anderen Seite des Raumes und überlegten gemeinsam. José, der mit seinem Gefährten auf einem Silbertablett neben einer italienischen Olivenölkaraffe lag, fing an, sich hin- und herzurollen. Er tat es Pepe nach. Mehr als das war nicht möglich, denn die Lebensgeister der beiden Freunde schwanden mit jedem Tag ohne Wein oder Öl. In Zeiten, in denen sie ihre Aufgabe als gute Geister einer Weinflasche wahrnehmen konnten, vollführten sie ein wahres Flaschenhopping, erlebten Abenteuer in Gewölben, Kellern und Wohnzimmern, machten die Nächte zu Tagen, wenn die Menschen längst mit schweren Köpfen im Bett verschwunden waren und schnarchten, und sie hassten es, wenn sie als Verschluss eines Weißweins über Tage in einem Kühlschrank verbringen mussten, denn nach dem Schließen der Tür löschte sich das Licht automatisch.
Sie waren jetzt seit über sieben Monaten auf dem Trockenen, über sechs davon eingeschlossen in einer Vitrine, die sie nicht alleine öffnen konnten, sonst wären sie ja längst über alle Berge. Jetzt lagen sie steif auf dem Tablett. Ihr Kork war während dieser Zeit hart geworden, ihr Bewegungsspielraum aus diesem Grund auf ein Minimum beschränkt. Aber die Aussicht auf eine bessere Zukunft ließ augenblicklich ungeahnte Kräfte frei werden.
José und Pepe rollten auf dem Tablett vor und zurück. Dabei versuchten sie, die Ölkaraffe neben sich ins Wanken zu bringen. Sie war schmal, trug jedoch einen breiten Verschluss aus Kristallglas. Das machte die Sache einfacher als geahnt, denn ihr Schwerpunkt lag hoch.
„Eins, zwei, eins, zwei …“ Pepe zählte leise mit. José wiegte sich im Takt mit seinem Freund. Sie prallten ein ums andere Mal gegen das Glas der Karaffe, bis sie endlich zu schwanken begann und schließlich fiel. Im selben Moment, in dem das Gefäß splitterte, fuhr ein schwerer Lastwagen vor dem Geschäft die Straße entlang. Der Händler und seine Kundin blickten erschrocken zum Schrank. „Ach, so was. Immer dieser Schwerlastverkehr. Irgendwann stürzt das ganze Haus ein.“ Der Ladenbesitzer schüttelte den Kopf.
„Aber sehen Sie doch. Das ist genau das, was ich brauche“, strahlte die Frau über ihr ganzes schönes Antlitz und ging auf den Schrank zu, auf dem Pepe und José ihrer Hoffnungsträgerin in die Freiheit auf einem silbernen Tablett serviert wurden. „Die sind ja toll.“ Sie nahm Pepe in die Hand, drehte ihn, legte ihn wieder zurück. Dann nahm sie sich José vor, ergötzte sich an seiner Räubervisage. Er blickte ohne mit der Wimper zu zucken zurück. Er hatte ja auch keine Wimpern.
„Nein, der nicht. Ich nehme den hier.“ Die Frau nahm Pepe und fragte nach dem Preis. Zwei Euro.
Sie kramte in ihrem Portemonnaie. José, der wieder auf dem Tablett abgelegt worden war, erschrak. Pepe warf seinem Freund einen verzweifelten Blick vom Kassentresen herüber. Dann wurde er in graues Papier eingewickelt und in einer Plastiktüte verstaut.
„Auf Wiedersehen.“
„Wiedersehen.“
Die Frau verschwand. Pepe war fort. José blieb allein zurück.
***
Es war Abend geworden, gleich sechs Uhr. José lag seit diesem Vorfall wie in Schockstarre. Fast schien es, dass alles Leben aus ihm gewichen sei, alle Hoffnung zerfallen in einem einzigen Moment. Die Standuhr schlug sechsmal. Big Bens Gruß zum Feierabend. Der Händler streifte seine Jacke über, griff zur Aktentasche, setzte seinen Hut auf und verließ den Laden. Die Tür fiel ins Schloss, Mister Ramsch drehte den Schlüssel wieder zweimal, diesmal nach rechts, und ging fort. José sah, wie die Stadt Hessisch Oldendorf müde wurde, die Rollos heruntergelassen wurden und die Hausfassaden zu gähnen begannen. Er war erschöpft. Einige Stunden war er jetzt von seinem Freund getrennt und sah keinen Ausweg aus dieser Misere. Was für ein hundsmiserabler Tag …
Pepe war an eine Flasche billigen Supermarktweins angebunden wie Old Shatterhand an den Marterpfahl. Die Reise in der Plastiktüte hatte er unbeschadet überstanden. Den ganzen Tag lang hatte er darin verbracht und darauf gewartet, was passiert. Von Zeit zu Zeit hatte ihn die Frau herausgeholt und ihren Arbeitskollegen gezeigt. Dass sich Bankkaufleute über ihn lustig machten anstatt wahre Freude zu empfinden, störte ihn nicht; Bankkaufleute waren seiner Meinung nach kein Ausbund verschwenderischer Fantasie, höchstens wenn es darum ging, Aktienfonds falsch zu bewerten und sicher geglaubtes Geld in den Brunnen der ewigen Verdammnis zu befördern. Jetzt war es Abend, die Frau war von der Arbeit zurückgekehrt, hatte sich geduscht (wenigstens der Anblick ihres wohlgeformten Busens, den Pepe für einen Moment lang sehen konnte, stimmte ihn ein wenig fröhlicher) und schick gemacht. Das geblümte Kleid mit dem tiefen Ausschnitt stand ihr gut. Die rot geschminkten Lippen sahen verführerisch aus. Wäre José jetzt hier, würde er kaum an sich halten können. Wie mochte es seinem Freund ergehen? Pepes Traurigkeit lag wie ein schwarzer Schleier über diesem Abend. Er war festgebunden an einem halbtrockenen Kabinett, Rivaner, Pfalz, Schraubverschluss. Er hasste diese Situation. Er hasste diesen Wein. Er hasste diesen Abend. Und er hasste vor allem Schraubverschlüsse.
„Herzlichen Glückwunsch. Alles Gute zu deinem Ehrentag.“ Kaum war Pepe dem Geburtstagskind überreicht worden, machte er auch schon die Runde in den Händen der Partygäste. „Der ist ja toll. Wo hast du den denn her?“ Schwitzige Finger betatschten ihn; sie rochen nach billiger Bowle und kaltem Bier. Pepe verzog trotzdem keine Miene und ließ die Prozedur über sich ergehen. Nun, nach einer zwanzigminütigen Fahrt, war er also in einem Hause, in dem ein Nullachtfünfzehn-Kabinett als exzellentes Tröpfchen galt. Ihm wurde übel. Wegen des Weines. Und wegen der Menschen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er Furcht. Ihn ängstigte es, seinen Freund José nie wieder sehen zu können. Ohnmacht überfiel ihn. Wie würde es José ergehen? Würde auch er eine neue Zukunft haben oder in der Einöde des kleinen Ladens die Gongschläge des kleinen Big Ben zählen und sie mit denen der Marienkirche vergleichen, bis ihn ein Holzwurm zugrunde richten würde? Pepes fröhliches Herz trug schwer an tiefer Verzweiflung.
José hatte schlecht geschlafen, fühlte sich miserabel. Der coole José, ein Häufchen Elend mit grünem Piratentuch, Augenklappe und Stumpen. Er hatte keine Ahnung davon, wie es nun weitergehen sollte. Er hatte es selbst nicht in der Hand. Er konnte auf einen Kunden hoffen, einen Weinkenner, der ihn als Sammlerstück betrachtete und ihm zu Hause ab und zu das große Glück bescheren würde, ihn auf einen Château Margaux zu setzen. Aber welcher Kunde, der ein solch edles Stöffchen Premier Grand Cru Classé trinkt, würde sich in dieses miese Antiquitätenloch verirren? Noch dazu ist ein großer Bordeaux nicht viel wert, wenn der beste Freund ihn nicht mit genießen kann. Wo war Pepe? José musste immerzu an ihn denken. Die nächtliche Grübelei hatte ihn nicht schlafen lassen, doch nun, als die ersten Amseln von den Dachfirsten sangen und die Sonne jungfräuliche Strahlen über das Stadtviertel warf, nickte er erschöpft ein und träumte von alten Zeiten in Frankreich, wie es Pepe die Nacht über am leise säuselnden Bachlauf im fernen Hachmühlen getan hatte.
***
Frankreich Anfang des neuen Jahrtausends. Pepe und José hatten einen Thekenjob in einer Bar irgendwo im Nirgendwo des Beaujolais. Die Auberge Des Douglas war damals ihr Zuhause, nichts Edles, mit einer verwitterten Hausfassade, die zum Fürchten aussah, aber doch eine Adresse des guten Geschmacks. Die beiden Flaschenhüter durften gute Rotweine vor allzu viel Oxidation beschützen. Sie hatten ihre Aufgaben stets mit Zufriedenheit erfüllt. Im Grunde ein Traumjob.
Die Auberge Des Douglas teilte sich in Bar und Restaurantbereich. Meistens waren Pepe und José auf den Flaschenhälsen im Barbereich zu finden, doch von Zeit zu Zeit hatten sie das Glück, auch als Stopfen für Spitzen-Saumurs, Wunder-Burgunder und Corbières-Weine auf einer Anrichte im Restaurant zu dienen. Nicht selten geschah es, dass sie mehr Aufmerksamkeit erhielten als die Weine selbst. Die Patronin des Hauses wusste das ganz genau. Nachts, wenn der Maître seine Küche wieder auf Vordermann gebracht hatte, starrte er durch dicke Brillengläser auf die beiden, amüsierte sich und nahm noch einen Schluck Wein.
Dann verabschiedete er sich von ihnen, als wenn er sie verstehen würde, zog seine Jacke und knatterte mit der Zigarette im Mundwinkel auf einem abgehalfterten Mofa durch die Dunkelheit davon. Das waren glückliche Stunden.
Die Glocke über der Eingangstür rasselte. José wachte aus seinen Träumen auf. Der Trödelhändler kam herein, die Tür fiel ins Schloss. Er räusperte sich. Es war Viertel vor neun. José blickte um sich. Er war noch etwas benebelt von seinen Träumen. Für einen Augenblick glaubte er, auch das Verschwinden von seinem treuen Kumpel Pepe nur geträumt zu haben, doch dort, wo er bis gestern Morgen gelegen hatte, war nichts, nichts, nur eine verschwundene Hoffnung und das zerkratzte Holz der alten Anrichte. Er blickte entgeistert auf den leer gewordenen Platz.
Es schlug neun Uhr. Big Bens Töne waren geradewegs verklungen, als ein Mann das Geschäft betrat. Er war, so schätzte José, wohl etwas über 70 Jahre alt und der erste Kunde an diesem Morgen. Er hatte einen Stoffbeutel in der Hand, ziemlich zerlumpt und löchrig, hielt ihn nicht an den Trageschlaufen, sondern knüllte die obere Hälfte zusammen, sodass José erkannte, dass sich darin nicht viel befinden konnte. Der Mann hieß Müller.
„Ach, Herr Müller. Ich grüße Sie. Was verschafft mir die Ehre?“
„Ich habe was für Sie“, sagte Müller. „Habe ich in meiner alten Partykeller-Bar gefunden.“ Er kramte einen Flaschenverschluss heraus.
„Das ist ja ein Zufall. Noch gestern habe ich einen ähnlichen verkauft. Einen habe ich, hier!“
Mister Ramsch kam zu José herüber, nahm ihn in die Hand und zeigte ihn seinem Kunden.
„Na, passt ja. Ich will für den hier nichts haben. Ich miste gerade aus und bin froh, wenn das Zeugs aus dem Haus kommt. Ich weiß auch gar nicht, wie es das Teil in meinen Haushalt geschafft hat“, sagte Müller, legte den Flaschenverschluss auf den Verkaufstresen und empfahl sich.
„Auf Wiedersehen, der Herr.“ Der Händler legte den neuen Burschen neben José und ging nach hinten in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen.
„Tag.“
„Sag bloß, du kannst sprechen?“, fragte José verdutzt seinen neuen Mitbewohner in der verstaubten WG.
„Du doch auch“, antwortete der Neuling.
„Ja …“ José schaute den gerade Angekommenen mit prüfendem Blick an. Der neue Mitstreiter an seiner Seite, der sich als Freund erst noch beweisen würde, hatte eine Kopfbedeckung nach Art chinesischer Reisbauern, einen ebenso roten Zinken wie er, und grau meliertes Wollhaar fiel in seine Stirn. „Mein lieber Herr Gesangverein, du hast aber einen verdammt langen Hals.“
„Ja, aber mein Korken ist nicht größer als deiner“, antwortete Langhals – so stellte er sich seinem verdutzten Gegenüber vor.
„Ich bin José. Herzlich willkommen in der Tristesse. Wir sind ohne Zweifel aus demselben Holz geschnitzt. 250 Jahre alte Walnuss aus dem Blutbachtal. Zum Leben erweckt durch einen Blitz in der Mittsommernacht und durch das beherzte Handwerk eines Tischlers.“
„Ja, ist wohl so. Es gibt schlimmere Schicksale“, sagte Langhals. „Wie lange bist du schon hier?“
„Über sieben Monate. Und seit gestern leider allein, weil mein bester Freund Pepe verkauft wurde.“
„Wieso allein? Ich bin doch jetzt da!“, entgegnete Langhals unbekümmert.
„Äh … ja, sicher …“, sagte José.
Es war zu viel geschehen in den vergangenen 24 Stunden, mehr, als er sich das in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Sieben Monate lang war nichts Außergewöhnliches passiert.
Dann nahm ihm das Schicksal, das es sonst immer so gut mit ihm meinte, seinen besten Freund und brachte ihm schon einen Tag später einen neuen Begleiter seines Stammes, der ohnehin nicht besonders groß war, weder im Weserbergland und schon gar nicht weltweit.
Die beiden schwiegen sich an. Zehn Sekunden, zwanzig. Eine Minute.
„Man kommt echt nicht zu Wort hier.“ Langhals scherzte.
José sah ihn an. „Du bist wohl ein Witzbold?“
„Ja.“
Pause.
„Mir gefällt’s hier. Gut, dass ich dich an diesem Ort getroffen habe.“ Er blickte zu seinem neuen Partner. Hätte José die Stirn in Falten legen können, hätte er es jetzt getan, aber er konnte es nicht, er war schließlich aus Holz. Genau genommen hatte er nicht mal eine Stirn. Um Langhals nicht in falschen Hoffnungen schwelgen zu lassen, rückte José sogleich mit der Sprache heraus.
„Du, Langhals, es ist echt nett von dir. Aber ich habe die hochgradige Langeweile in diesem dösigen Laden satt. Ich verbringe nämlich schon über sieben lange Monate hier, was unter anderem damit zu tun hat, dass ich und mein Freund Pepe über sechs Monate in der abschließbaren Vitrine dort drüben wie in einem Knast verbringen mussten.“ Er zeigte auf ein Möbel, das an der Wand auf der anderen Seite des Geschäftes stand. „Und als der alte Herr endlich auf die Idee gekommen ist, uns auf diesem silbernen Tablett zu präsentieren, waren unsere Korken so trocken geworden, dass wir nicht in der Lage waren, um zu fliehen.“
Langhals hörte José andächtig zu. „Wer ist Pepe?“
„Pepe ist mein allerbester Freund. Aber er ist fort.“
„Wo ist er hin?“ Er bemerkte, dass José unsicher war.
„Er ist gekauft worden. Von einer Frau mit schönen Augen. Aber diese schönen Augen haben nicht erkannt, dass Pepe und ich nicht dafür geschaffen sind, getrennt zu sein. Sie hat ihn gekauft und mich liegen gelassen.“
Langhals starrte den Flaschenpiraten an. „Und nun?“
„Nun werde ich mich auf die Suche nach ihm begeben. Ich muss raus hier, aber das geht erst, wenn ich meinen Korken wieder bewegen kann. Der ist zu trocken, damit kann ich keine großen Sprünge machen. Und wenn ich es versuche, laufe ich Gefahr, dass er bricht. Das wäre das Ende.“
Als José diese Worte sprach, wirkte er nicht verzweifelt, sondern zielstrebig. Und er machte sich daran, Langhals die ganze Geschichte zu erzählen, jenen Höllentrip, der Pepe und ihn in das Geschäft in der Innenstadt gebracht hatte, und die Begebenheiten der vergangenen 24 Stunden. Langhals hörte aufmerksam zu. Er stellte wenige Fragen, ließ Josés Redeschwall mit Geduld und Interesse auf sich wirken und verstand seine Verzweiflung. Langhals wusste, dass er José helfen musste, denn sein Korken war geschmeidig, beweglich, im Training. Er konnte, wenn er wollte, durch den ganzen Laden hüpfen, rauf und runter, quer und längs, immer wieder, einfach so aus Spaß. Denn in der Kellerbar hatte er es sich gut gehen lassen. Flaschenweine, gar nicht übel, waren dort zuhauf vorhanden, manche auf ewige Zeiten vergessen worden. Und hin und wieder feierten ein paar Leute auch dort unten und setzten Langhals als Flaschenhüter für Whisky ein. Single Malt. Ziemlich gut.
„Ich helfe dir! Ich mache dich fit, damit du hier rauskommst, und ich weiß auch schon, wie.“ Das Vorhaben des Neuen klang entschlossen. José sah ihn schweigend an.
„Man kommt echt nicht zu Wort hier“, sagte Langhals wieder und kicherte. Dann schritt, pardon: natürlich hüpfte er zur Tat, und zwar im selben Augenblick, in dem der Trödelhändler die Tür öffnete, um frische Luft ins Geschäft zu lassen. Er trat vor seinen Laden und schaute die Straße hinunter. Jetzt war es fast halb vier. Langhals hüpfte zur Küche. Seine Bewegungen waren elegant. Weg war er, verschwunden hinter dem grünen dicken Vorhang, der das Hinterzimmer vom Verkaufsraum trennte. Der Händler kam wieder herein, schloss die Tür. José, wahrlich kein Kind von Traurigkeit und im Übermut früherer Tage auch schon mal über Kneipentische hüpfend, an denen noch Schnapsdrosseln saßen, blickte zum Vorhang, durch den Mister Ramsch verschwand, und bewunderte Langhals’ Mut. Aber was sollte das und wie ging es nun weiter? José war gespannt, ob Langhals den Weg auf die Kommode unbemerkt von Mister Ramsch zurückfinden würde.
Er fand ihn.
Um Punkt sechs Uhr verließ Mister Ramsch nach einem lausigen Tag mit nicht einmal zehn Euro Umsatz seinen Trödelladen. Stille. José rief ins Irgendwo des Raumes.
„Langhals?“
Keine Antwort. Erneuter Versuch.
„Langhals?“
Er hörte mehrmals hintereinander ein dumpfes Klopfen und dann eine Tür aufspringen.
„Hier bin ich.“ Kaum war die Antwort vorne im Verkaufsraum angekommen, hüpfte der Lulatsch auch schon hinter dem Vorhang hervor. „War ganz schön kalt im Kühlschrank.“ José wusste nicht, was das sollte. Langhals klärte ihn auf. „Was essen ältere Männer auf ihrem Wurstbrot? Butter! Ich habe sie aus dem Kühlschrank geholt, jetzt wird sie weich. Reines Fett, José. Das wird deinen Korken auf Vordermann bringen. Wellness in Reinform!“
Es dauerte ein bisschen, den Piraten von der Wunderwirkung zu überzeugen.
„Langhals, das ist echt nett von dir, aber …“
„Roll dich bis zur Kante, dann lass dich fallen. Da unten vor dem Schrank steht eine gepolsterte Fußbank, die kann man von oben aber nicht sehen. Vertraue mir.“
José kämpfte sich vom silbernen Tablett herunter, rollte bis zum Rand und ließ sich fallen. Einfach so. Er hatte keine andere Wahl, und ehe er sich jetzt noch mehr Gedanken machen würde, ließ er sich lieber gleich fallen. Mit einem dumpfen Geräusch traf er unten auf. Sein Korken war unversehrt.
„Gut, das hat geklappt. Jetzt rolle ich dich zur Küche. Die Butter steht schon in Heizungsnähe.“ Langhals war voller Tatendrang. José blickte skeptisch. „Und bevor du fragst: Ja, es war ein Risiko, in den Kühlschrank hineinzuspringen, als Mister Ramsch ihn geöffnet hat. Aber es ist alles gut gegangen. Warum seid ihr nicht eigentlich schon längst drauf gekommen?“
„Weil wir zu steif geworden sind. Das hätten wir nie geschafft.“ José sah mitgenommen aus. Gerade als die beiden zur Tat schreiten wollte, klingelte das Telefon.
„Ich geh ran, warte.“
Langhals hüpfte mit Verve auf einen Stuhl, um von dort auf die Ladentheke zu gelangen, wo das Telefon stand. Noch ein altes, mit Leitung, aber wenigstens nicht mehr mit Wählscheibe.
Es war kurz nach halb zwei. Die Nacht war finster, aber nicht finster genug, um den Großen Wagen am Firmament doch gut erkennen zu können. Pepe sah ihn von einem schwarzen Nierentisch aus, dessen Platte mit gold- und orangefarbenen, psychedelisch wirkenden Mustern geschmückt war.
„Auch aus den Sechzigern, wie ich“, dachte er und erinnerte sich an seine Kinderzeit, an jene glücklichen Tage, in denen er mit seinem Freund José manche Flasche behütet hatte. Jetzt lag er alleine auf dem Gabentisch. Um ihn herum die anderen Geschenke des Geburtstagskindes, das kein Kind mehr war, aber ihm wie ein Kindskopf vorkam. Blumen, Pralinen, hübsch in Folie verpackt, ein Oberhemd, die DVD „Deutschland, ein Sommermärchen“ und mehrere Flaschen Wein, der meiste davon aus dem Supermarktregal. Aus diesem Sammelsurium heraus blickte Pepe durch die geöffnete Terrassentüre in die Nacht.
Der dreibeinige Tisch stand in einer von einem unglaublich hässlichen Deckenfluter beleuchteten Ecke des Wohnzimmers. Pepe war von vielen Gästen in die Hand genommen worden, nun lag er wie leblos da, aber wenigstens vom Billiggesöff befreit, an das er wie an einen Marterpfahl gebunden hierhergekommen war.