Vom Leben getragen - Ajana Holz - E-Book

Vom Leben getragen E-Book

Ajana Holz

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Beschreibung

Ajana Holz ist Bestatterin mit Leib und Seele, sie versteht ihren Beruf als Lebensaufgabe. Mit ihrem bundesweit mobilen Bestattungsunternehmen DIE BARKE begleitet sie seit über 20 Jahren die Toten in ihrem Übergang und die Lebenden beim Abschied und in ihrer Trauer. In diesem Buch widmet sie sich den vielen tabuisierten Themen rund um Tod und Bestattung. Wie gehen wir als Gesellschaft mit unseren Toten um oder: Welchen Umgang lassen wir zu? Ist unser Körper "nur eine Hülle"? Und welche Folgen hat diese Annahme? Was ist alles bei einer Bestattung zu bedenken, was ist erlaubt und was nicht? Und was sollte sich daran ändern? Wie war unsere Bestattungskultur früher? Wie ist der professionelle Umgang heute? Das sind nur einige der Fragen, die in diesem Buch gestellt werden. Ajana Holz will Mut machen. Mut für den eigenen Weg beim letzten Abschied, für die ganz eigene, unvergleichliche Art, der Trauer Ausdruck zu geben. Doch auch Mut dazu, auf manche Fragen keine abschließende Antwort zu haben – und sie trotzdem zu stellen.

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© Sara Dannenbrink

Ajana Holz, geb. 1964, gründete 1999 das bundesweit mobile Bestattungsunternehmen „DIE BARKE – Bestattung und Begleitung in Frauenhänden“ aus Liebe zu den Toten und den Lebenden und wurde damit zu einer Pionierin für eine lebendige Bestattungskultur. www.die-barke.de

Ajana Holz

Vom Leben getragen

Für eine lebendige Bestattungskultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

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Projektkoordination und Lektorat: Simone Holz, Pisa; Franziska Brugger, Frankfurt am Main

Satz und Gestaltung: Walburga Fichtner, Köln

Umschlagabbildung: © Grandfailure/istockphoto.com

Bildbearbeitung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-86321-560-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

I Mit unserer Liebe für die Toten …

II Tod im Leben: Unser gesellschaftlicher Umgang

Tod hier und heute: Schwermütiges Dunkel und Schweigen?

Fern vom eigenen Zuhause: Krankenhaus, Heim, Bestattungsunternehmen …

Für die Menschenrechte der Toten: Die juristische Versachlichung

„Nur die Hülle“? Folgen der Spaltung von Körper, Geist und Seele

Übergänge angemessen begleiten

Hygienische Totenversorgung: Zwischen Notwendigkeit und Körperverletzung

„Nur nichts anmerken lassen!“ – Fehlende Anerkennung und Unterstützung im beruflichen Umgang mit Tod

III „Hebamme“ für die Toten

„Seelen-Hebamme“ und Übergangsbegleiterin

Andere Bilder: Von der Todin umarmt

Frauenkönnen und Frauenwissen um Geburt und Tod

Unser Umgang mit den Toten: Herzensberührung

Was wir von den Toten gelernt haben: Die Totenwaschung

„Was ist das: Totsein?“ Von einem sehr lebendigen Zustand

DIE BARKE: Totenschiff auf dem Totenfluss

Mobil & bundesweit: Ein anderes Netzwerk

„Ist das nicht zu schwer?“ Warum das Mütter und Pflegende selten gefragt werden

IV Für eine lebendige Bestattungs- und Trauerkultur!

Trauerfeiern: Bunte Feiern des Lebens

Abschiedsreden: Die Ehre, aus dem Leben von ZeitzeugInnen erzählen zu dürfen

Alte Traditionen werden wieder lebendig: Hausaufbahrung und Totenwache

Mitten im Leben: Vom Abschied zu Hause

Praktische Tipps für die Hausaufbahrung

Trauer: Die Kraft, die uns hilft, weiterzuleben

40 Tage nach dem Tod: Eine erste Schwelle

Das Glück in tiefster Trauer: Warum sich Lachen und Weinen nah sind

V Von den sehr schweren Abschieden

Plötzlich, unerwartet und viel zu früh …

Von Trauernden lernen

Wenn Kinder sterben: Die tiefe Weisheit der Mütter

Begraben: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ (Maria Montessori)

Wie Kinder trauern: Was die Großen von den Kleinen lernen können

Pränataldiagnostik: Entscheidung über das Leben vor der Geburt

VI Mit der Todin tanzen: Eine andere Kultur

Mexiko: Das bunte Fest für die Toten

Die Vernichtung der Weisen Frauen: An unseren Wurzeln beschnitten

Auf den Schultern der AhnInnen

Was heißt hier: Schamanin? Ein Teil meiner Geschichte

Die Toten sind mit uns

VII Wie will ich bestattet werden?

Wichtige Informationen für die erste Zeit nach dem Tod

Bestattungsablauf: Die kostbare Zeit zwischen Tod und Bestattung

Organspende

Vorsorge

Vollmachten und Verfügungen

Rechtliches: Darf ich … einen Sarg selber bauen? …

Weitere Anregungen zum Selbstgestalten

Wünsche-Fragebogen für die Bestattungsplanung

VIII Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis

I  Mit unserer Liebe für die Toten …

… ehren wir das Leben.

Das ist ein Satz, eine der vielen Essenzen aus den Erfahrungen meines Bestatterinnen-Daseins.

Warum schreibe ich dieses Buch? Ich bin Bestatterin1 mit Leib und Seele. Ich bin auch „Seelen-Hebamme“ und Übergangsbegleiterin. Das ist meine Berufung und meine Lebensaufgabe.

Schon mit zwölf Jahren wollte ich Hebamme werden. Mich interessierte sehr früh alles, was mit Schwangerschaft und Geburt zu tun hatte – diesem ersten großen Übergang ins Leben – und mit den ganz Kleinen, den neu in diese Welt Hineingeborenen. Ich wollte auf jeden Fall Kinder. Heute habe ich eine Tochter und einen Sohn, zwei wunderbare Menschen, die ich sehr liebe und schätze, und ich bin tatsächlich eine „Hebamme“ geworden – wenn auch ganz anders, als gedacht. Offensichtlich sollte ich zuerst meine eigenen Erfahrungen mit Übergängen machen und dann bei einem anderen Übergang begleiten. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Mein Weg führte mich unter anderem zu einem Leben als freie Künstlerin, Geburtsbegleiterin (Doula), Aktivistin für Naturschutz, für Frauenräume und für ein respektvolles Zusammenleben mit allem Lebendigen auf dieser Erde. Einige Jahre begleitete ich Frauen bei Lebensübergängen und leitete zusammen mit anderen ein Notrufzentrum für Frauen.

Ich lernte, die Welt nicht nur aus der ökologischen, sondern nun auch aus einer feministischen Perspektive zu sehen: mit Liebe für mich selbst und der Hochachtung für andere Frauen, für die Natur und die Erde. Die großen Übergänge bei der Geburt meiner Kinder und das Leben mit ihnen sowie die Krise einer lebensbedrohlichen Krankheit lehrten mich viel über Leben und Tod.

Im Jahre 1993 begann ich eine dreijährige schamanische Ausbildung, die bis heute eine wesentliche Grundlage meines Lebens und Wirkens in der Welt ist. Darüber werde ich später im Buch noch ausführlicher erzählen. In dieser Zeit erkrankten eine Mitschülerin und eine meiner Lehrerinnen an Krebs. Ich durfte beide Frauen bei ihrem Umgang mit dieser Krankheit erleben – oder genauer gesagt: bei ihrem Umgang mit den Zuständen und Veränderungen in ihren Körpern. Ich durfte erleben, wie die beiden jeweils von einem Netz von Freundinnen auf diesem Weg begleitet wurden und wie alle Beteiligten dabei bis über alle Grenzen hinaus herausgefordert und gleichzeitig reich beschenkt wurden. Kurz hintereinander war ich auf zwei Beerdigungen, die sehr besonders waren und von vielen Frauen getragen wurden. Das Glück, eine große Gemeinschaft um sich zu haben, die unterstützt und mitträgt, einander den Rücken freihält für das Wesentliche und tatkräftig mit begleitet, ist bis heute für die meisten Menschen, nicht nur in schweren Situationen, die Ausnahme.

Während der Ausbildungszeit erlebte ich noch eine dritte Beerdigungszeremonie. Bei dieser wurde eine Frauenstatue aus Holz sanft in ein kleines Holzboot gelegt und wir bildeten eine Passage, einen Weg der Seelenbegleitung, einen Übergang. So wurden wir die Ufer des Flusses. Zum ersten Mal saß ich am Totenfluss, aber das wurde mir erst sehr viel später klar. Als ich dort saß, direkt bei dem kleinen Boot, in dem die Dame gebettet lag, spürte ich mit einem Mal sehr stark: Hier gehöre ich hin, das ist mein Platz, das ist meine Aufgabe. In diesem Moment war sie geboren: die „Seelen-Hebamme“, die schamanische Übergangsbegleiterin. Und von da an wusste ich: Dieser Aufgabe bin ich verpflichtet. Jedoch sollte es noch Jahre dauern, bis ich dieser Verpflichtung nachkommen konnte, denn kurz nach der klaren Erkenntnis, dass ich Bestatterin werden muss, um wieder einen anderen Umgang mit Tod und den Toten in diese Kultur und zurück ins Leben zu bringen, wurde ich selbst schwer krank und war dem Sterben ganz nahe.2

Es war klar, dass ich mich nicht mehr allein um die Kinder kümmern konnte – und das war völlig undenkbar für mich. Da mussten mir erst Außenstehende gut zureden und mich darin unterstützen, dass ich Hilfe brauchte und dass es in Ordnung ist, mich in dieser Situation nicht mehr um die Kinder kümmern zu können. Es gibt wohl nur wenige Mütter in dieser Gesellschaft, die nicht immer wieder Schuldgefühle haben, obwohl sie so viel geben. „Rabenmutter“ ist eine rein deutsche Wortschöpfung und ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür, dass immer noch die Hauptverantwortung für das Wohl der Kinder auf den Schultern ihrer Mütter liegt. Ich hätte sehr gern mehr der kostbaren und unwiederbringlichen Zeit mit meinen Kindern verbracht. Zum Glück fanden meine Kinder und ich gemeinsam eine Lösung. Sie waren damals zwölf und acht Jahre alt und zogen zu ihren noch jungen Großeltern, die sich über ein Leben mit ihren Enkelkindern freuten. Die Kinder und ich haben uns seitdem so oft es ging gegenseitig besucht.

Zunächst ging ich für eine Auszeit nach Cornwall in Südengland, meine geliebte zweite Heimat. Das war in vielerlei Hinsicht lebensnotwendig: Zum ersten Mal in meinem Leben eine Zeit, in der ich nur für mich selbst verantwortlich war und mich nur um mich selbst kümmern durfte in dieser weiten, wilden Küstenlandschaft am Atlantik. Und es war eine sehr besondere Lehrzeit. Dort erzählte ich einer Frau, dass ich von Herzen gerne Bestatterin werden wollte und was das für mich bedeutete. Sie sagte ganz einfach: „Oh, you are a soul midwife!“

Ja, das bin ich. „Seelen-Hebamme“. Kein Wort trifft es besser.

In Cornwall besuchte ich auch eine Frau, die ein Bestattungsunternehmen nur für Frauen eröffnet hatte: Martha’s Funerals. Sie sagte mir, dass es viele Frauen gibt, für die es sehr wichtig ist, nach ihrem Tod nur von Frauen versorgt und nackt gesehen zu werden. Scham und Gewalterfahrungen oder beleidigende Bemerkungen über ihre Körper, all das sind gute Gründe für Frauen, sich zu wünschen, nach ihrem Tod Sexismus nicht (mehr) hilflos ausgesetzt zu sein. Der Wunsch, von Frauen bestattet zu werden, käme von den Frauen selbst, erzählte sie – und das wurde mir seither auch immer wieder von Frauen und ihren Angehörigen3 bestätigt. Nach der Gründung meines eigenen Bestattungsunternehmens war für mich jedoch schnell klar, dass ein liebevoller und achtsamer Umgang für alle Geschlechter notwendig ist – für die Toten genauso wie für die Lebenden – und auch dringend gewünscht wird, denn das ist leider noch lange nicht selbstverständlich. Gleichzeitig ist meinen heutigen Mitarbeiterinnen und mir die Bedeutung von liebevollem Schutz für verstorbene Frauen und Kinder schon immer bewusst und daher ein besonderes Herzensanliegen.

Später besuchte ich auch noch Green Undertakings, ein Bestattungsunternehmen, das ökologisch verträgliche Bestattungen in Naturschutzgebieten anbietet. Die Toten werden dort nur in ein Leintuch gehüllt auf eine Bastmatte gelegt und begraben. Ein Naturgrab ohne Grabmal und sichtbare Grabzeichen. Auch das gefiel mir sehr – und ist bis heute in Deutschland undenkbar.4

Zurück in Deutschland suchte ich eine Möglichkeit, Bestatterin zu werden und bei einem Bestattungsunternehmen zu lernen.5 Mir wurde offen misstrauisch begegnet, weil ich eine Frau bin: „Die Drecksarbeit mit den Leichen ist doch keine Arbeit für Frauen!“6 Und weil ich etwas lernen wollte, das der damaligen Überzeugung nach doch kein Mensch freiwillig gerne tun würde: sich um die Toten kümmern. Das war mein erster Einblick in die Bestattungs(un)kultur dieses Landes. Ich habe später noch sehr viel mehr erfahren müssen über den „professionellen“ Umgang mit toten Menschen. Eine Folge der Trennung von Leben und Tod beziehungsweise der starken Verdrängung von Sterben und Tod aus unserem alltäglichen Leben – ein gesamtgesellschaftliches Problem, für das wir alle die Verantwortung tragen.

Die Notwendigkeit einer Veränderung in der deutschen Bestattungskultur wurde für mich immer deutlicher. In kaum einem anderen Land (in Europa) ist Tod so ein Tabuthema, so angstbesetzt und so ins schwermütige Dunkel verdrängt wie hier. Ich glaube, fast nirgendwo sonst sind Menschen so stark von ihren Toten abgeschnitten, herrscht so viel Angst vor der Berührung mit toten Körpern, solch eine Angst vor dem Verfall. Kaum irgendwo sonst darf darüber so wenig geredet werden und schon gar nicht gescherzt …

Nach einigen Rückschlägen fand ich schließlich eine Bestatterin, bei der ich lernen durfte. Zu dieser Zeit waren Bestatterinnen noch sehr selten. Ich bin bis heute sehr dankbar, dass ich mit ihr meine ersten Toten versorgen durfte.

Am 31. Oktober 1999, am großen Fest- und Gedenktag für die Toten, konnten wir dann endlich DIE BARKE – Bestattung & Begleitung in Frauenhänden gründen, das erste mobile, bundesweite Bestattungsunternehmen. Den benötigten Gründungskredit hatten meine damalige Geschäftspartnerin und ich innerhalb von nur drei Monaten aus Kleinbürgschaften und Privatdarlehen zusammen – und das alles ausschließlich von Frauen!

Mit meiner Krankheit lernte ich mit den Jahren zu leben und bin inzwischen glücklicherweise ganz gesund, aber ohne eine so umfassende Unterstützung für mich und meine Kinder hätte ich mich niemals mit der BARKE auf den Weg machen können, um vielen Menschen in diesem Land einen heilsamen Umgang mit Tod und Trauer zu ermöglichen, die Toten liebevoll zu begleiten und unsere Bestattungskultur wieder lebendig zu machen. Mittlerweile fahren meine Mitarbeiterinnen und ich in unserem weinroten Bestattungsbus (Rot ist die Farbe des Lebens) seit über 20 Jahren quer durch dieses schöne Land und begleiten die Toten bei ihrem Übergang und die Lebenden in Trauer beim Abschied von ihren Lieben.

Wir versorgen nicht nur die Toten, wir begleiten sie auch. Denn genau das wird in unserer Kultur schon sehr lange nicht mehr gemacht. Ob wir es unsere „Seele“ nennen oder „Essenz“ unseres Wesens oder einfach unsere Körper: Die Toten werden hier bei uns nicht mehr angemessen begleitet. Doch mein Herzenswissen und das alte Wissen vieler auf dieser Erde sagen mir, dass alle in wichtigen Übergängen gut begleitet gehören, so auch im Tod. Dabei spielt es tatsächlich keine Rolle, ob wir an ein Leben nach dem Tod glauben, ob wir in irgendeiner Form religiös oder spirituell sind oder nicht. Das ist ein einfaches, elementares Lebensgesetz. Ein Gesetz der Würde.

Die unselige Trennung von Körper, Geist und Seele, von Mensch und Natur hat so viel Leid und Zerstörung geschaffen, so viele von ihren Körpern und vom Leben entfremdet, im Glauben, alles kontrollieren zu können. Aber so ist Lebendigkeit nicht.

Wir sind Erde. – Das werde ich immer und immer wieder sagen und schreiben: Wir sind Erde.

Doch später mehr zu meiner, unserer Philosophie, unserer Sicht auf das Leben und zurück zur Einleitung dieses Buches: Wie gehen wir als Gesellschaft mit unseren Toten um? Oder: Welchen Umgang lassen wir zu? Ist unser Körper „nur eine Hülle“? Und welche Folgen hat diese Annahme? Wie geht das, in ganz Deutschland mobil zu bestatten und überall hinzufahren? Was ist alles bei einer Bestattung zu bedenken? Was ist erlaubt und was nicht? Wie war unsere Bestattungskultur früher, was ist bezeichnend für die heutige Kultur hier und anderswo? Wie ist der professionelle Umgang heute? Was hilft in tiefster Trauer?

Das sind nur einige der Themen, über die ich in diesem Buch berichten werde. Es ist mir ein Herzensanliegen, viele Menschen möglichst umfassend über verschiedene Bestattungsmöglichkeiten und individuell unterstützende Abschiedswege zu informieren. Dieses Buch ist eine Grundlage für das Formulieren der ganz persönlichen Wünsche und das Finden des eigenen Weges beim Abschied – für sich selbst und beim Abschied von anderen. Und dieses Buch soll dabei helfen, viel von der Angst zu verlieren vor dem immer noch großen Tabuthema Tod. Dabei sterben jedes Jahr allein in Deutschland etwa 950.000 Menschen7 – mit seit Jahren steigender Tendenz. Das sind durchschnittlich etwa 2.600 Menschen pro Tag. Die meisten davon sterben eines natürlichen Todes. Diese alltägliche Tatsache ist wohl kaum jemandem wirklich bewusst.

Wenn wir gerufen werden, dann kümmern sich meine Mitarbeiterinnen (meine Kolleginnen, die ich auch meine Mit-Bestatterinnen nenne) und ich meistens zusammen mit den Angehörigen um die toten Menschen und wir dürfen so immer weiter lernen vom Wunder dieses Übergangs. Von der Lebendigkeit und der Liebe, die sich im Tod entfaltet. Von der Kraft der Trauer. Vom Geheimnis dieses Zustands: Totsein. Was ist das? Wann ist das? Eine befreundete Geburtshebamme sagte einmal zu mir: „Je öfter ich Geburten begleite, desto weniger weiß ich, was Geburt wirklich bedeutet.“

So geht es mir mit Tod. In dem Eingeständnis, dass ich bei Weitem nicht alles über ein so großes Ereignis wissen kann, liegt Respekt und tiefe Achtung vor diesem unaufhaltsamen, unerbittlichen Übergang, dessen Geheimnis sich uns wohl nie ganz erklären wird. Es ist eine schöne, anstrengende, herausfordernde, niemals eintönige Arbeit, denn sie spielt sich mitten im Leben ab. Und bei den beiden großen Übergängen ist das Leben ganz stark spürbar: Geburt und Tod – Geburt ins Leben und Geburt hinaus aus diesem Leben.

Ich mag es, wie die Lebenden sich zeigen in dieser Zeit. Offen, verletzlich und ganz sie selbst. Oft nehmen wir in dieser kostbaren Zeit zwischen Tod und Bestattung die Trauernden „an die Hand“, nehmen ihnen die Angst vor dem Abschied und dem nahen Kontakt mit ihren Toten. Wir ermutigen sie, auf viele Arten in Berührung zu gehen: ihre Toten zu berühren, sich von ihrer Ausstrahlung berühren zu lassen und die starken Gefühle der Trauer zuzulassen – berührbar zu sein. Weil wir aus Erfahrung wissen, auf welche unglaubliche Weise dies helfen kann. Das beeindruckt sogar uns selbst immer wieder tief.

Als Begleiterinnen sind wir da und geben Halt, wo es nötig und wo es gewünscht ist. Und genauso ziehen wir uns zurück und geben dem Alleinsein den nötigen Raum. Wir unterstützen die Menschen darin, das selbst tun zu können, was jetzt und in dieser Situation wichtig für sie ist. Und dies ist immer einzigartig.

Einige Geschichten von berührenden Abschieden werde ich in diesem Buch erzählen. Und ein paar Geschichten werden sogar von Angehörigen selbst erzählt.

Mein Wirken beinhaltet immer auch die Arbeit daran, den scheinbaren Gegensatz zwischen Leben und Tod ein wenig aufzulösen. Tod gehört nicht nur zum Leben, Tod gehört ins Leben. Zurück.

Die Besinnung auf die alten, fast vergessenen Traditionen wie Totenwaschung, Hausaufbahrung und Totenwache ist dabei ein wesentlicher Teil. Ich mag es, wie die Toten noch einmal in ihrem ganzen Sein „aufleuchten“, wenn wir sie liebevoll versorgt und gebettet haben …

Es ist sehr schön, ein Fest des Lebens mitzugestalten, wie es den Verstorbenen gebührt. Ich will jedes Mal von Herzen einen geschützten Raum schaffen für die, die gehen. – Und einen geschützten Raum für die, die gehen lassen.

Und dieser Schutz kann in (fast) jedem tatsächlichen Raum möglich werden. Denn auch in ganz unterschiedlichen Räumen und an verschiedenen Orten kann auf vielfältigste Weise Abschied genommen werden, nicht nur zu Hause.

Auf vielen Ebenen Raum geben und den Raum halten8, das sind zwei von unseren wesentlichen Aufgaben. Um uns wieder zu erinnern. Den Impulsen zu trauen und zu tun, was das Herz oder die Intuition, die innere Stimme uns sagt. Denn das bringt uns auf den eigenen Weg.

Dafür braucht es Zeit, ermutigende Anregung und Begleitung, die Schutz und Sicherheit gibt – und manchmal Stille und Langsamkeit. Kleinere Kinder stellen oft die Fragen, die sich Erwachsene nicht zu fragen trauen, und helfen – mit ihrer meist unbeschwerten Unbefangenheit – uns Älteren, innezuhalten und eine andere Wahrnehmung zuzulassen.

Dies ist ein Buch, in dem ich gerade auch den vielen unausgesprochenen Fragen zu Tod und Bestattung Raum geben will. Und ich will Mut machen.

Mut für den eigenen Weg beim letzten Abschied, für die ganz eigene unvergleichliche Art, wie jede und jeder von uns der Trauer Ausdruck gibt. Und auch Mut dazu, auf manche Fragen keine abschließende Antwort zu haben. Und sie trotzdem zu stellen.

Ich möchte dabei helfen, die Angst davor zu verlieren, sich von geliebten verstorbenen Menschen berühren zu lassen, indem wir sie ein Stück auf ihrem Weg – bei ihrem Übergang – hinaus aus diesem Leben begleiten. Und ich will einen Einblick geben in die Geschenke, die in der Erfahrung eines gut begleiteten Abschieds für uns alle liegen können.

1

Wenn ich in diesem Buch über Angehörige eines Geschlechts schreibe, dann benenne ich es auch so. Meines Erachtens sind alle derzeit gebräuchlichen Genderformen Kompromisslösungen. Da ich mich für eine Form entscheiden musste, verwende ich für die geschlechtergerechte Sprache in diesem Buch fortan das große Binnen-I, wenn es um alle Geschlechter geht (wie z. B. in BestatterInnen). Mir ist bewusst, dass sich bei keiner Genderform alle gleichwertig angesprochen fühlen, und ich weiß um die vielen Geschlechter, die es jenseits der momentan noch sehr festgelegten Norm der Polarität männlich-weiblich gibt. Mir ist ebenso bewusst, dass alles Weibliche (nicht nur) sprachlich untergeordnet wird.

2

Heute weiß ich, dass dies auf der ganzen Welt auch als Teil der Initiation von SchamanInnen gilt. Die Bezeichnung „SchamanInnen“ ist jedoch aus einem anderen Kulturkreis. In unserem Kulturkreis hießen wir früher unter anderem Weise Frauen, Heilerinnen, Kräuterkundige …

Sage-femme

(Weise Frau) heißt auch heute noch auf Französisch: Hebamme. Die Bezeichnung „Hexe“ wurde zum todbringenden Schimpfwort. Über diese Verfolgung und ihre verheerenden Folgen bis heute lernen wir in Schule und Bildungswesen so gut wie nichts (siehe

Kapitel VI

: Die Vernichtung der Weisen Frauen: An unseren Wurzeln beschnitten).

3

Angehörige sind für mich alle, die sich den Verstorbenen zugehörig oder verbunden fühlen: nicht nur die gesetzlich legitimierten Verwandten und die Familie, sondern auch die Wahlverwandten, die Wahlfamilie, die Freundinnen und Freunde.

4

In Deutschland gibt es mittlerweile zwar die Waldbestattungen unter Bäumen außerhalb von Friedhöfen, aber ausschließlich für Urnen. (Z. B. über Firmen wie Ruheforst oder FriedWald. Es gibt aber auch andere – teilweise auch kleine lokale – Anbieter und manchmal kann dadurch ein näher liegender Bestattungswald gefunden werden.)

5

Erst seit 2007 gibt es hierzulande den staatlich anerkannten Ausbildungsberuf der Bestattungsfachkraft.

6

Zitat eines jungen Bestattungsunternehmers

7

Sterbefälle im Jahr 2018. Statistisches Bundesamt,

www.destatis.de

(08.03.2020)

8

„Halten ist eine äußerst bewegliche Handlung; einer Art energetischem Muskeltraining vergleichbar, jenseits von Starre und Fest-halten.“ Ute Manan Schiran:

Am Küstensaum der Zeit – Gedanken zu einer sinnlich-spirituellen Praxis jenseits bestehender religiöser/säkularer Systeme/2 Essays

. München, 2008, S. 39

II Tod im Leben: Unser gesellschaftlicher Umgang

In diesem Buch geht es nicht so sehr um die großen philosophischen oder religiösen Fragen über ein mögliches „Leben nach dem Tod“ oder darüber, ob und wie es nach dem Tod weitergeht. Für mich bleibt dies ein Geheimnis, dessen Komplexität ich nicht erfassen kann. Und das ist auch gut so.

Mir geht es sehr konkret um diesen wesentlichen, unwiderruflichen und einzigartigen Zeitraum zwischen Tod und Bestattung, um den derzeit üblichen Umgang mit den toten Menschen und um den Umgang mit Trauernden. Das alles meine ich mit Bestattungskultur.

Wenn wir uns anschauen wollen, wie hier und heute mit Tod und Bestattung umgegangen wird, dann müssen wir uns speziell auf Deutschland konzentrieren. Denn es braucht zunächst noch nicht einmal den Blick über Europa hinaus, um große Unterschiede festzustellen – so scheint etwa in England, Italien oder Holland der Umgang mit den Verstorbenen um einiges angstfreier als hierzulande zu sein. Tote werden unter anderem in Italien ganz selbstverständlich geküsst und geherzt. Dort ist die Angst vor dem obskuren „Leichengift“ (das definitiv nicht existiert, aber darüber später mehr in diesem Buch) nicht so verbreitet wie hier, wo wir immer noch von Menschen gefragt werden, ob es wirklich ungefährlich sei, ihre Toten zu berühren. In England und Holland ist es vielerorts auch heute noch üblich und ganz selbstverständlich, die Verstorbenen offen zu Hause aufzubahren und dort Abschied zu nehmen. Warum ist das bei uns hier nicht (mehr) so?

Tod hier und heute: Schwermütiges Dunkel und Schweigen?

Es scheint, dass fast nirgends sonst das Thema Tod so tabuisiert ist wie hier bei uns. Woher kommt es, dieses Schweigen? Woher kommt die Angst, über den eigenen Tod oder den unserer Lieben zu reden oder sogar nur darüber nachzudenken? Woher kommt die Schwere, die unvermeidlich scheint, sobald es um Tod und Bestattung geht? Dieses Dunkle, das häufig noch im Äußeren auf unseren Friedhöfen zu finden ist: bedrückend düstere Trauerhallen, dunkle Friedhofskapellen und manchmal schäbig-schmutzige Aufbahrungsräume, schwarze Tücher auf dem Sargwagen und dunkle Särge …

Obwohl sich hier langsam glücklicherweise ein Kulturwandel bemerkbar macht und immer mehr TrauerrednerInnen und PfarrerInnen die Abschiednehmenden bei Trauerfeiern miteinbeziehen, findet sich bei den meisten Bestattungen noch überwiegend schwermütige Musik, die selten wirklich unterstützend „trägt“ und selten die Lieblingsmusik der Verstorbenen war, sondern eher eine Trauermusik ist, die die Abschiednehmenden meist noch mehr bedrückt. Die üblichen Trauerreden enthalten wenig Anekdoten, über die alle auch lachen können, obwohl diese Seite doch genauso zum Leben und zu der Persönlichkeit der meisten Verstorbenen dazugehört hat und das gemeinsame Lachen – neben den Tränen – sehr verbindend wirken kann. Die so wichtigen letzten Worte über die Verstorbenen werden meist nur von PfarrerInnen oder professionellen TrauerrednerInnen gesprochen und sind leider noch zu oft schmerzlich unpersönlich, distanziert und damit wenig tröstlich, berührend oder lebendig. Zu selten bekommen die Menschen, mit denen die Verstorbenen im Leben auf unterschiedlichste Weise verbunden waren, den Raum und die Unterstützung, auf der Trauerfeier zu sprechen. Helle, farbenfrohe und freundliche Gestaltungen der Abschiedsräume und Trauerhallen sind noch außergewöhnlich und nur manchmal bei aufgeschlossenen Bestattungsunternehmen und Friedhöfen (und ganz selten in Kliniken oder anderen Einrichtungen) zu finden. Viele haben Angst, dass zu „Fröhliches“ bei Bestattungen befremdlich oder gar als „pietätlos“ (= würdelos) empfunden werden könnte. Manche trauen sich kaum, von einer „schönen“ Trauerfeier zu sprechen, auch wenn sie es tatsächlich war, als wäre „schön“ dafür ein ganz und gar unpassendes Wort. Und um bei einer Trauerfeier, beim Abschied von den Verstorbenen, lachen zu dürfen, brauchen manche fast schon eine „Erlaubnis“, als wäre auch das absolut unvereinbar: die Trauer und das Schöne, der Schmerz und das Glückliche im Leben – obwohl Beerdigungen und Trauerfeiern Teil unseres Lebens sind und doch immer etwas aus dem Leben der Verstorbenen widerspiegeln sollten.

In England und den skandinavischen Ländern gibt es zum Beispiel richtig lustige und fröhliche Kinderbücher zum Thema Tod, die ich gerne auf Vorträgen, zu denen wir immer wieder eingeladen werden, zusammen mit anderen Büchern vorstelle (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis). Da hören wir dann manchmal, diese Kinderbücher würden das Thema nicht ernst genug nehmen. Ich finde, hierzulande wird das Thema einerseits viel zu ernst genommen und andererseits leider überhaupt nicht in dem Umfang, wie es tatsächlich notwendig wäre.

Diese Art von bestimmten, kulturell als richtig deklarierten „Betroffenheitsgefühlen“, die künstlich erzeugt werden, verhindert oft, dass wahrgenommen werden kann, was tatsächlich passiert, wenn ein Mensch stirbt, und wie wir uns wirklich damit fühlen. Und wie viele Fragen wir dazu haben …

Bei der offensichtlichen Trauer fehlen dann vielen die Worte und Gesten des Mitgefühls, ein unterstützender und angemessener Umgang, der die Trauernden nicht alleine lässt und dennoch ihre Grenzen wahrt. Es fehlen ausreichend Möglichkeiten, die eigene Trauer miteinander zu teilen. Zu selten ist die Gelegenheit, diesen Umgang in unserem alltäglichen Leben zu erfahren und natürlicherweise schon von klein auf zu lernen. Er ist nicht mehr (und noch nicht wieder) ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur. Glücklicherweise gibt es inzwischen zu Trauer aber schon viel Literatur und Angebote (siehe Kapitel VIII: Literatur- und Medienempfehlungen, Adressen, Quellenverzeichnis).

Es ist offensichtlich für die meisten Menschen immer noch schwer, sich darüber bewusst zu sein, dass wir alle eines Tages sterben werden und dass ein Sterben spätestens zwischen 80 und 90 Jahren für die meisten von uns sehr wahrscheinlich ist. Nur sehr wenige von uns werden älter. Es kann nicht darum gehen, Sterben um jeden Preis zu verhindern. Wer will schon wirklich unsterblich sein? Es geht wohl eher darum, wie wir ein „gutes“ Sterben am Ende eines Lebens ermöglichen, also ein Sterben, bei dem die Sterbenden entsprechend einfühlsam und respektvoll begleitet und ihre Wünsche und Bedürfnisse selbstverständlich mit einbezogen werden. Hier gibt es schon seit Längerem immer mehr Angebote: ambulante Hospizdienste und -vereine, Hospizhäuser und Palliativstationen in Kliniken sowie ambulante Palliativ-Care-Teams, die sich am Ende eines Lebens, sei es durch Alter oder durch Krankheit, genau darum kümmern und meist auch sehr gerne Angehörige in dieser letzten Zeit einladen, sie begleiten und unterstützen.

Natürlich sind wir alle traurig, wenn Menschen sterben, mit denen uns etwas im Leben verbunden hat. Trauer ist ein ganz natürliches und wichtiges Gefühl, über das ich später im Buch noch viel schreiben werde. Trauer bekommt jedoch gerade durch die heute noch weitverbreitete Verdrängung von Tod leider oft zu wenig Raum. Auf Beerdigungen tragen die Menschen in der Regel Schwarz. Schwarz ist (nicht nur) in diesem Land die traditionelle und kulturelle Trauerfarbe. Damit soll der Respekt vor den Toten und den Trauernden gezeigt werden, deshalb tragen auch wir Bestatterinnen bei der BARKE meistens dunkle oder schwarze Kleidung, außer Farbe ist erwünscht. Für die meisten Menschen ist es aber selbst dann undenkbar, bunte oder helle Kleidung auf einer Trauerfeier zu tragen, wenn die Verstorbenen sich das zu Lebzeiten ausdrücklich so gewünscht haben.

Schwarz ist an sich natürlich überhaupt nichts Düsteres oder Negatives. Und ich persönlich mag Schwarz gerne: die Sternenschwärze der Nacht oder glänzender Obsidian oder schwarze Kleidung – und ich trage sie deshalb auch gerne bei Bestattungen. Unter vielem anderen symbolisiert Schwarz für mich Klarheit und Schutz, die ursprünglichste aller Farben. In vielen sehr frühen Kulturen finden sich die drei Urfarben Schwarz, Weiß und Rot in Wandmalereien oder auf Töpferware und kultischen Alltagsgegenständen, als die Bereiche Kunst, Alltag und Spiritualität, für mich sehr offensichtlich, noch nicht getrennt gelebt und empfunden wurden. Sie stehen für mich unter anderem für die Junge Frau, die Reife Frau und die Weise Alte oder auch für den Anfang/den Neubeginn, die Mitte des Lebens, das Lebensende. Schwarz symbolisiert häufig den Ursprung allen Lebens, das Nichts, aus dem alles geboren wurde, und steht gleichzeitig für Tod als zum Beginn dazugehörend – der Lebenskreis, in den auch alles am Ende wieder hineingeboren wird: zwei Geburten, die nicht voneinander getrennt zu fühlen und zu erleben sind – die Geburt hinein ins Leben und die Geburt hinaus aus diesem Leben. Von daher ist Schwarz eigentlich eine sehr passende Farbe für Trauer. Schwarz ist auch das Weltall, der unendliche Raum. Die Unendlichkeit, in der wir leben und sterben – gut aufgehoben in der Endlichkeit und der Gleichzeitigkeit9 im weiten schwarzen Raum, dem ständig sich wandelnden Kreislauf des Lebens, in dem wir uns im Großen und im Kleinen immer bewegen.

Hingegen hat die heute noch mit Tod verbundene Düsternis jüngere historische Ursprünge. Die Geschichte dieses Landes ist geprägt von Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung. Im Mittelalter wurde die Bevölkerung Jahrhunderte lang immer wieder mit brutaler Gewalt unterdrückt, ihres Landes enteignet und, trotz aller Widerstände, unter die Herrschaft von Klerus, Adel und Bürgertum gezwungen.10 In der frühen Neuzeit, bezeichnenderweise der Zeit der Renaissance und des Humanismus, gipfelte diese Unterdrückung schließlich in der weitreichenden Verfolgung und Vernichtung von hauptsächlich Frauen (Weisen Frauen, Heilerinnen, Hebammen, Kräuterkundigen … den Ärztinnen des Volkes) unter dem Namen „Hexenverfolgung“.11 Noch im 18. Jahrhundert wurden die letzten Frauen in diesem Land öffentlich verbrannt.12 Es gibt noch viel zu wenig ernsthafte Aufarbeitung der Ermordung der unzählbaren Frauen über 300 Jahre hinweg. Ihre Zahl lässt sich nicht mehr genau beziffern, aber im Verhältnis zur damals viel geringeren Bevölkerungsdichte müssen es wohl viele gewesen sein. Für mich kommt in vielen aktuellen Forschungsberichten, von denen es im Übrigen nicht gerade viele gibt, ganz offensichtlich ein Hang zur systemimmanenten Verharmlosung und Relativierung zum Ausdruck, wie das auch heute noch bei Femiziden (dem Mord an Frauen, weil sie Frauen sind) und anderen Gewalttaten gegen Frauen leider der Fall ist. Es gibt Quellen, die davon berichten, dass in Norwegen große Teile der weiblichen Bevölkerung mancherorts ausgerottet13 und in Frankreich „[g]anze weibliche Linien […] ausgelöscht“14 wurden: „Deutschland war neben der Schweiz jenes Land, in dem die Hexenverfolgungen aufkamen und ihr Epizentrum hatten“15 – hier hat in manchen Dörfern nach den Hexenprozessen nur noch eine einzige Frau überlebt.16

Der Höhepunkt dieser Verfolgung, der übrigens nach unterschiedlichen Schätzungen neben 75 bis 90 Prozent Frauen auch Männer zum Opfer fielen, fand also nicht, wie viele meinen, im „finsteren Mittelalter“ statt, das im Übrigen bei Weitem noch nicht so finster war – und die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten gingen dabei häufig Hand in Hand und sehr systematisch vor.17 Doch darüber später im Buch mehr.

Es folgte das Zeitalter des Kolonialismus, in dem die Kolonialherren überall auf der Welt unzähligen Völkermord an UreinwohnerInnen verübten beziehungsweise die Befehle für den systematischen Mord erteilten, wie zum Beispiel von deutscher Seite aus der Genozid an den Nama und Herero in Namibia, der bis heute noch nicht in aller Konsequenz von Deutschland anerkannt wurde. Bei diesen auf absolut grausame Weise verübten Genoziden überall auf der Welt sind Millionen Menschen ermordet worden18 und sie sind bis heute nicht annähernd aufgearbeitet oder angemessen anerkannt. Das ist ein sehr großes, schweres Thema, dem ich in diesem Buch sicher nicht gerecht werden kann – und über das die ganze Menschheit hoffentlich einmal gemeinsam wird trauern können. Das wünsche ich mir jedenfalls …

Allein im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege mit unzähligen Toten und Schwerverwundeten, nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter allen anderen Menschen, die aber die meisten Kriegsdenkmäler nicht erwähnen. Auch heute noch leiden und sterben vor allem die ganz „normalen“ Menschen („Zivilbevölkerung“ genannt) in den Kriegen dieser Welt, an denen auch deutsche Unternehmen viel verdienen … Und schließlich gab es noch die Zeit des Nationalsozialismus, in der etwa sechs Millionen jüdische Menschen ermordet wurden. Dazu kommen die nichtjüdischen Toten und Verfolgten: russische und andere Kriegsgefangene, polnische Menschen, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, homosexuelle Menschen, Menschen mit sogenannter Behinderung und zahlreiche weitere.

Am Beispiel der Vergangenheit dieses Landes, in dem wir jetzt leben, wird überaus deutlich, welche weitreichenden Auswirkungen Kolonialismus, Krieg, Faschismus, Rassismus, Frauenhass und die daraus resultierende Gewalt haben und welche Folgen bis heute jeder Hass auf diejenigen hat, die zum Beispiel als „anders“ oder „fremd“ erklärt werden.19

Die Verfolgung und Ermordung unzähliger Menschen gehört zu unserer Geschichte und muss mit einbezogen werden, um einen Teil des schweren Umgangs mit Tod in diesem Land zu erklären. Die letzten Überlebenden der Verfolgung aus unserer nahen Vergangenheit leben noch unter uns. Genauso wie die letzten Täter und die letzten Überlebenden der Kriegsjahre, die all die Grausamkeiten des Krieges noch miterlebt haben. Viele waren als Kind auf der Flucht und haben Schreckliches erlebt und mit ansehen müssen. Etliche Frauen haben (nicht nur im Krieg) Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt überlebt und ihr ganzes Leben zu vergessen versucht – bis sie manchmal im Alter tatsächlich alles vergaßen. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls schon oft bei der Bestattungsbegleitung, wenn ich dabei die Lebensgeschichte so mancher alten Frau von den Angehörigen erfuhr.20

Die Nachkriegszeit war eine Zeit, in der über „diese Dinge“ in der Regel nicht gesprochen wurde. Die meisten versuchten, die schlimmen Kriegserlebnisse zu vergessen, oder haben sie verdrängt, um zu überleben. Manche sind Kinder von den Verbrechern, die so viele Menschen ermorden ließen oder es in den Lagern persönlich getan haben. Manche sind Kinder, deren ganze Familien in den Lagern ermordet wurden. Soldaten kamen an Körper und Seele verwundet nach Hause.

All diese traumatischen Ereignisse hinterließen Spuren. Bei denen, die dies alles selbst erlebt hatten, aber auch bei ihren nach dem Krieg geborenen Kindern und Enkelkindern. medica mondiale ist eine feministische Frauenrechts- und Hilfsorganisation, die Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. Auf ihrer Website war im Dezember 2020 unter vielem anderen Folgendes zu diesem Thema zu lesen:

„Um das Schweigen über ihre traumatische Familiengeschichte zu beenden, spricht die in Köln lebende Regisseurin Katja Duregger seit kurzem öffentlich über das Tabuthema Kriegsvergewaltigung. Ihre Großmutter wurde 1938 von italienischen Besatzern in einem Südtiroler Bergdorf vergewaltigt. In der Folge wurde ihr Vater geboren.“21

Die Auswirkungen, die dies für so viele und über mehrere Generationen hinweg hatte und immer noch hat, reichen bis heute noch weit in unsere Gesellschaft, in unser heutiges Leben hinein. Und die Bedeutung von Vergewaltigung, die ganz gezielt als „Kriegswaffe“ benutzt wird, wurde zum ersten Mal in den 1990er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, als die furchtbaren Vergewaltigungslager im sogenannten Bosnienkrieg entdeckt wurden.

Über diese Gewalt, den Schmerz, das Entsetzen über die vielen Toten und die Trauer wurde zum damaligen Zeitpunkt und wird zu einem großen Teil bis heute nicht gesprochen. Das war und ist einfach zu überwältigend. Verdrängung war meiner Ansicht nach oft die einzige Möglichkeit, mit dem Leben in der Besatzungszeit (in der häufig weitere, bis heute tabuisierte Gewalterfahrungen für Frauen hinzukamen) irgendwie weitermachen zu können, denn es ging in diesen ersten Jahren hauptsächlich auch darum, die Trümmer der Zerstörungen des Krieges aufzuräumen, nicht zu verhungern, nicht zu erfrieren und alles Notwendige zum Leben zu beschaffen, um einfach nur zu überleben. So konnte es geschehen, dass nach dem Krieg bei vielen unerträgliche Erinnerungen wieder angerührt wurden, sobald nahestehende Menschen starben.

Ein natürlicher Tod, der zum normalen Kreislauf des Lebens gehört, konnte von all der erlebten Gewalt und den sinnlosen schrecklichen Toden so vieler Menschen überschattet werden. Die Eltern und Großeltern waren deshalb oft nicht in der Lage, einen natürlichen, unbefangenen und angstfreien Umgang mit Tod und Trauer zu vermitteln. Auf allem lastete das Schweigen. Kinder aber spüren gerade das Unausgesprochene der Erwachsenen um sie herum sehr stark. Es ist davon auszugehen, dass sie das namenlose Entsetzen spürten und die Trauer, die nicht gefühlt werden durfte und zum Schock erstarrte, den viele in sich tief vergraben hatten. Sie nahmen die bedrückende Last der niemals ganz zu verarbeitenden Erlebnisse wahr, die so viele Eltern und Großeltern in sich trugen – und so manche trugen diese Last weiter. Niemand konnte mit den Kindern darüber reden und das hat vielen natürlich Angst gemacht. Die Erwachsenen haben zu dieser Zeit sicher so manches Mal bei Bestattungen nicht nur um die jetzt gerade zu betrauernden Toten geweint, sondern auch um jene furchtbaren Erlebnisse und um die Toten, um die sie während der Kriegsjahre nicht trauern konnten – auch um jene, die sie gar nicht persönlich kannten, aber nach einem Bombenangriff auf der Straße sehen mussten …

Ähnliches erleben wir auch heute noch bei Trauerfeiern: So manche weinen und trauern bei diesen Gelegenheiten wohl noch um etwas, für das es zu einer anderen Zeit keinen Raum gab. Sehr oft erzählen uns Menschen, die wir begleiten durften, von lange zurückliegenden Abschieden, bei denen sie nicht so trauern konnten, wie es gut für sie gewesen wäre. Aber Trauer braucht Raum und Zeit – und eine angstfreie Begleitung.

Vielen Menschen fällt es auch heute noch schwer, über den eigenen Tod zu sprechen, mit ihren Kindern oder ihren Lieben über ihre Bestattungswünsche zu reden, sich ihre Bestattung überhaupt vorzustellen, selbst dann, wenn sie schon sehr alt oder sehr krank sind. Das wird auch heute noch oft vermieden, manchmal von beiden Seiten: den Jüngeren wie den Alten. Die meisten Menschen wollen sich lieber nicht damit befassen, dass sie selbst oder geliebte, nahestehende Menschen einmal sterben könnten. Indem sie Gedanken daran oder Gespräche darüber nicht zulassen, glauben sie sich vielleicht davor sicher. Etwas, das in weiter Ferne liegt oder anderen zustößt.

Ein solches Verhalten ist aber meist ein deutliches Zeichen von Angst. Und Angst vor Sterben und Tod bedingt leider auch Angst vor dem Leben.

Fern vom eigenen Zuhause: Krankenhaus, Heim, Bestattungsunternehmen …

„Wie kam es, dass das Sterben langsam immer weniger weder örtlich noch zeitlich ins Leben passt, zunächst während das Herz noch schlägt und dann, wenn es nicht mehr schlägt?“22