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Das Werk erzählt die Geschichte der Begleitung meiner herzkranken Tochter, die mit nur einem "halben Herzen" zur Welt kam und nach mehreren operativen Eingriffen entschied, diese Welt mit siebeneinhalb Monaten wieder zu verlassen. Ich zeige mit unserer Geschichte, wie einzigartig eine chronische Krankheit - in diesem Fall das Hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) - verlaufen kann und was es bedeutet, das eigene Kind gehen zu lassen. Die Erzählung gibt einen Einblick in die Höhen und Tiefen des Alltags einer Mutter, die ihr erstes Kind nach der Geburt in die Hände von Ärzt*innen geben musste und von diesem Tag an eine ganz andere Normalität erlebte - zwischen Klinik, zu Hause und Kinderarzt. Es ist eine Erklärung der eigenen Gefühle und Umstände, die vielen Nahe- oder Außenstehenden verborgen blieben. Darin wird aufgezeigt, welche Bedeutung (un-)ausgesprochene Wörter haben können und dass zwischenmenschliche Kommunikation nicht nur verbinden, sondern auch Mauern errichten kann. Bekannte, eigentlich vertraute Beziehungen werden auf die Probe gestellt. Die Autorin geht auch darauf ein, wie und dass Trauer erlebbar wird - als Ausnahmesituation für Betroffene und Angehörige. Ziel ist es, eigene und andere Blicke und Meinungen zu relativieren oder zu überdenken. Gleichzeitig wirft dieses Werk auch einen Blick auf eine allgemeinere Ebene. Es beleuchtet den Wert von Bindungen, die Menschen eingehen und wie diese aufrechterhalten oder - nämlich durch den Tod eines geliebten Menschen - brüchig werden. Die Autorin klärt, was es bedeutet, zu verstehen und warum Verstehen nie selbstverständlich mit Verständnis einhergeht. Und auch wenn die vorliegende Geschichte kein "Happy End" hatte, so möchte sie Mut machen, um den Mut nicht zu verlieren. Das Buch adressiert andere Betroffene, die ein schwer oder chronisch krankes Kind haben und im Lesen Ähnlichkeiten oder Unterschiede in ihrem Alltag erkennen. Insbesondere werden auch diejenigen angesprochen, die den Verlust eines (nahestehenden) Kindes ertragen müssen. Daneben werden enge Verwandte und Nahestehende von Betroffenen angesprochen, die mit solchen Situationen oft nur schwer umzugehen wissen.
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Seitenzahl: 198
Romy Hofmann
Vom Leben verletzt
Wie das Dasein meiner herzkranken Tochter meine Wirklichkeit bewegt - Eine Geschichte vom Leben und Ruhe finden
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 - Mit ganzem halben Herzen
Leonie - Unser Löwenherz
Zwischen Klinik, zu Hause und Kinderarzt
Bindung & Halt
Kapitel 2 - Die Blicke erweitern
Sprache - Ein machtvolles Werkzeug
Abgrenzung & Annäherung
Vom „Bildungswert“ des Lebens
Verstehen und Verständnis
Kapitel 3 - Zeit und Veränderung
Gehen lassen und Ruhe finden
Sterben und der Tod
Trauer - Ein Wort und so viele dahinter
Trauerarbeit als Suche nach Sinn
Hilfe
Kapitel 4 - Gedanken zum Ende des Buchs
Neue Aufgaben
Eine neue Normalität herstellen
Impressum neobooks
Liebe Leser*innen,
Kapitel 1 - Mit ganzem halben Herzen
Leonie - Unser Löwenherz
Zwischen Klinik, zu Hause und Kinderarzt
Bindung & Halt
Kapitel 2 - Die Blicke erweitern
Sprache - Ein machtvolles Werkzeug
Abgrenzung & Annäherung
Vom „Bildungswert“ des Lebens
Verstehen und Verständnis
Kapitel 3 - Zeit und Veränderung
Gehen lassen und Ruhe finden
Sterben und der Tod
Trauer - Ein Wort und so viele dahinter
Trauerarbeit als Suche nach Sinn
Hilfe
Kapitel 4 - Gedanken zum Ende des Buchs
Neue Aufgaben
Eine neue Normalität herstellen
Das Herz ist ein in unserer Welt sehr häufig gebrauchtes Symbol, das für Liebe und Verbindung steht. Herzlich, herzensgut - auch sprachliche Abwandlungen deuten auf dessen innige positive Wirkung und Kraft. Das Herz ist der (symbolische) Mittelpunkt unseres Körpers. Als zentrales Organ versorgt es uns ein ganzes Leben lang; ist auch aktiv, wenn wir es nicht merken; es schlägt, wenn wir schlafen; immer tätig. Das Herz wurde auch für mich zu einem sehr lebendigen Bild. Leonie füllt das meine mit unzähligen Erinnerungen und Gedanken, macht es vollständig. Und auch halbe Herzen können stark und lebendig sein. Kurz und ohne auf medizinische Details einzugehen möchte ich Leonies besonderes Herz und Besonderheiten in unserem Alltag mit ihr schildern und damit einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen ihre Krankheit greifbar wird.
Selten hören Menschen von der Krankheit „Hypoplastisches Linksherzsyndrom“ (HLHS). Dieser angeborene Herzfehler, bei dem die linke Herzseite verkümmert entwickelt ist, ist einer der schwersten, der Patient*innen ihr ganzes Leben lang begleitet. Wenn man davon ausgeht, dass in Deutschland 1% aller Neugeborenen mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt kommen - damit eine der häufigsten Fehlbildungen darstellen - und HLHS davon wiederum etwas mehr als 1% ausmacht, mag das zwar wenig klingen, aber die Bedeutung, die Anstrengung, das Leiden und die Höhen und Tiefen eines von (vor) der Geburt an bestimmten Lebens mit dieser Krankheit ist damit letztlich nur auf eine Zahl und einen Begriff minimiert. Patient*innen mit HLHS können nur palliativ behandelt und niemals je geheilt werden. Ein Mensch muss, einfach gesprochen, mit nur einem halben Herz und einem geänderten Herz-Lungen-Kreislauf überleben, der in normalerweise drei Operationen herbeigeführt wird. Was all das bedeutet, können wohl Eltern und Angehörige sowie Patient*innen selbst am besten wiedergeben; vielleicht auch gerade nicht, weil Sprache dabei oft an ihre Grenzen gerät. Selbst mit dem Wort Krankheit empfinde ich eine unzureichende Beschreibung dieses Umstands, da er wohl stark mit Husten oder Schnupfen konnotiert ist. Als „Hypoplast“ ist man, in meinen Augen, krank, aber irgendwie ganz anders krank; eben nicht nur leicht angeschlagen, sondern unheilbar krank. Als „Hypoplast“ gilt man als chronisch krank, teilweise schwer behindert. Denn von Geburt an verläuft das Leben ganz anders. Chronisch krank zu sein: Dafür gibt es vielleicht einen Lexikon-Eintrag, doch abertausende von Geschichten. Wir kannten die Diagnose HLHS bei Leonie bereits in der 18. Schwangerschaftswoche, doch kaum etwas hätte diese unbeschwerte Zeit trüben können; solange wie Leonie in meinem Bauch war, war sie gut versorgt. Ich bin überzeugt davon, dass mein vorgeburtlicher Umgang mit Leonies Krankheit ihr ein zusätzliches Stück Stärke geschenkt hat. Natürlich gab es Momente, in denen ich betrübt war, Tränen vergoss, am Telefon mit meinem Vater ein paar Sekunden, Minuten Stille herrschte, weil ich versuchte mich und die Unfassbarkeit irgendwie zu beherrschen. Ich hatte eine „Stärke-Kerze“ für Leonie gekauft, die ich täglich, oft morgens in ruhigen Stunden anzündete; davor saß eine kleine meditierende Figur. Ich habe stets versucht, Leonie Kraft zu übertragen, ihr und mir Mut zu machen - in Worten und Berührungen. Ich finde, wir haben das auf eine ganz besondere Art geschafft. So verliefen auch die vielen Ultraschallkontrollen nicht unbedingt beängstigend; die Ärzte machten uns immer wieder und vielleicht auch mehr Hoffnung, dass sich das Herz doch noch stärker entwickle und die linke unterentwickelte Herzhälfte mitwachse. Dass eine Untersuchung über Ultraschall aber weder einen Zustand so festhalten noch die Lebenswirklichkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibs diagnostizieren kann, haben wir später eingesehen.
Meine Tochter kam mit diesem Herzfehler zur Welt, wurde mit nur einer Lebenswoche das erste Mal am offenen Herzen operiert; mit viereinhalb Monaten ein zweites Mal. Dazwischen fanden gefühlt unzählige Herzkatheter und monatelange Krankenhausaufenthalte statt. Über die Hälfte ihres Lebens verbrachten wir in der Klinik. Ich lernte Abläufe und Stationen, Ärzt*innen und Personal kennen und „Kardiologie“ wurde zu einer Herzensangelegenheit. Trotzdem ist dieser Ort für mich nie zu so etwas wie einer zweiten oder dritten Heimat geworden. Dass diese Krankheit auch in den ersten Lebensmonaten tödlich enden kann, hatte ich mir eigentlich während der Zeit nie ausgemalt. Schließlich werden ja Kinder mit planmäßig drei Operationen auf ein Leben mit einem halben Herz vorbereitet. Es sei ein Leben mit Einschränkungen, aber Patient*innen könnten ein gutes Leben führen. Ja, es war eine gewisse Naivität, eine notwendige Abgrenzung von all den Strapazen, die man sich im Vorfeld schon anlesen und anhören, ansehen und an sich heranlassen konnte. Doch neben der Aufgabe, das erste Kind auf die Welt zu bringen und für es da zu sein, stand eine zweite große, die ich als ein Fertigwerden mit der Krankheit bezeichnen würde. Es standen sich zwei Welten gegenüber, eine normale - Mutter bzw. Eltern sein, ein Kind zu stillen, zu wickeln, zu beruhigen, … - und eine andere normale - Klinikaufenthalte, das eigene Kind nicht im Arm halten zu können, weil es über Schläuche mit Maschinen verbunden war, die ein Überleben garantieren sollten. Ich nahm vieles anfangs einfach so hin. Ich fügte mich den Routinen auf einer Intensivstation. Ich war für meine Tochter da, so viel es ging. Vielleicht war dieser Umgang gerade richtig. Manchmal habe ich immer noch Zweifel daran. Wie naiv ich doch war, wie vorsichtig auch. Aber: es war ein intuitiver Umgang, der keineswegs auch nur annähernd falsch war. Leonie und ich stellten uns aufeinander ein, wir bauten eine Beziehung auf, auch wenn sie nicht zu Hause in einer vertrauten Umgebung begann. Wir mussten uns regelrecht gegen Maschinen, viele unbekannte Menschen, die Leonie als Patientin, nicht als zu liebendes Kind sahen, gegen schmerzvolle Eingriffe und Angriffe menschlicher wie maschineller Art durchsetzen. Das kostete jeden Einzelnen unserer kleinen neuen Familie viel Nerven und Überwindung.
Die ersten vier Wochen nach Leonies Geburt verbrachten wir, ja auf den Tag genau, in der Klinik. Wie ich diese Zeit rückblickend empfand? Die Neuheit, das Ungewohnte an der Situation waren zunächst noch sehr bestimmend und vereinnahmend. Ich tat vieles, was ich tun musste, mir gesagt wurde. Zeit für Rückbildung und Ruhe war weniger gegeben bzw. nahm ich sie mir nicht in dem Maße, in dem es normal gewesen wäre. Über Normalität zerbrach ich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht den Kopf. Der nicht nur körperliche, sondern auch psychische Stress sorgte dann auch dafür, dass mein Körper anzeigte, es sei ihm gerade zu viel, Milchstau und Brustentzündung mit Fieber, höllische Nackenschmerzen, die mich nachts schlaflos und glauben machten, ich hätte eine unheilbare Entzündung im ganzen Körper. Zu viert bzw. zu acht - vier Säuglinge und bis zu vier Mütter - in einem Raum auf der Kinderkardiologischen Station, überwacht von Monitoren und den Eintritten der Schwestern, die abwechselnd Windeln, Milchflaschen und Medikamente brachten. Gelegen, also passend, ging wohl nur selten die Tür auf und zu. Ebenso selten wie alle Kinder gleichzeitig ruhig und zufrieden waren. Die Station, auf die man mit seinem Kind nach der Intensivstation verlegt wurde, nannte sich umgangssprachlich „Normalstation“, aber normal war ein Tag dort keineswegs. Es gab daneben auch sehr heilvolle, wenn auch aufregende Momente: der erste „Ausgang“ mit Leonie im Kinderwagen. Sie hatte die ersten drei Wochen ihres Lebens nie ihre Umwelt draußen kennengelernt. Gelb gestrichene Klinikzimmer, sauber gefilterte und regulierte Luft durch die Klimaanlage auf der Intensivstation, Licht und Schatten, die durch die Jalousien reguliert wurden, wiederkehrende Stimmen des Personals und Pieptöne der Maschinen. Daneben ein Lächeln, ein Grinsen aus Leonies Gesicht. Und später der Entlassungsbericht. Trotz der Überforderung und Panik, die ich an diesem Tag empfand, gab es wohl nichts Schöneres, mit Leonie nach Hause zu fahren und uns dort langsam einzurichten.
Die regelmäßigen Untersuchungen und Impfungen beim Kinderarzt begleiteten unseren Alltag genauso wie die Medikamentengaben, unruhige Nächte, täglich penible Einträge in Leonies „Tagebuch“ zum Stillen, Wickeln, Wiegen und ihren Aktivitäten. Auch wenn Ängste oder Sorgen dabei gar nicht immer meine Begleiterinnen waren und meine Gedanken bestimmten, war es doch keine ruhige und entspannte Zeit. Kaum blieben mir ruhige Stunden für mich. Natürlich ist auch das Leben mit dem ersten gesunden Kind nicht immer nur entspannt und bleibt die Mutter auch einmal im Schlafanzug und ohne die Haare gewaschen zu haben. Doch diese innere Gewissheit, bald wieder in die Normalität zurückzukehren, wird schon bald die aufgebrachten Meereswellen beruhigen und eine gewisse Gelassenheit herbeiführen. Nie habe ich mich an die Besuche beim Kardiologen gewöhnt, weil es eine so derart angespannte und unangenehme Situation war: Ich sah mein Kind nicht gern leiden, schreien, sich aufregen. Jede Berührung, jeder Ultraschall waren für Leonie eine Qual. Mir brach es das Herz. Auch die Metaphern der Ärzte, mit denen sie Leonies Zustand beschrieben, waren da wenig bestärkend. Ihr Herz sei ein rohes Ei; es bliebe einRitt auf der Rasierklinge. Sprache kann sehr starke Emotionen auslösen, ohne dass man solche Bilder bis ins Kleinste aufspaltet und interpretiert. Die Worte und Diagnosen der Ärzte haben oft gesessen, mich getroffen. Und doch, zu Hause zu sein, mit Leonie „nichts“ zu tun, ihr und mir Ruhe zu schenken, sie zu beruhigen, ihr die Welt im Kleinen zu erklären, spazieren zu gehen - das überwand gefühlt so viele Steine und Berge.
Nach genau zwei Monaten zu Hause wurden wir wieder in der Klinik zur Herzkatheter-Untersuchung aufgenommen. Eine Routine-Untersuchung zur Vorbereitung der zweiten Operation, eigentlich, mit Aussicht auf Entlassung nach drei Tagen. Letztlich verbrachten wir die folgenden drei Monate durchgehend in der Klinik. Das Kuriose dabei war: Wir ließen uns eine Parkgenehmigung der Klinik ausstellen, um als Dauerpatienten, die auch in der Klinik bzw. dem Ronald-McDonald-Haus schliefen, für ein geringeres Entgelt in der Nähe parken zu dürfen. Eine Schwester kam - es war irgendwann im Dezember - zu uns um uns die Bescheinigung für die Behörde auszuhändigen. Ein Blick auf das Datum machte uns zunächst etwas stutzig: bis dahin waren es drei volle Monate! Sollten wir denn nach einer Routineuntersuchung so lang im Krankenhaus bleiben? „Keine Angst, die haben wir nur erstmal bis dahin ausgestellt. Das heißt nicht, dass Sie so lang hierbleiben“. Ok, ich glaubte auch nicht wirklich daran. Dass aber das Datum exakt (!) stimmte und wir also bis zum wirklich letzten auf diesem Zettel angegebenen Tag in der Klinik blieben, gleichte doch im Nachhinein irgendwie einem Wunder. Wenn auch keinem, das wir uns gewünscht hätten.
Gefühlt verlängerten sich diese drei Monate um das Doppelte oder Dreifache - gern würde ich diese Zeitspanne in Stunden oder Minuten ausdrücken, um nur annährend die tatsächlich gefühlte Dauer mit sämtlichen Höhen und Tiefen zu verdeutlichen - durch die zwei Wochen, die Leonie nach ihrer zweiten Operation mit viereinhalb Monaten an der Herz-Lungen-Maschine (ECMO) am Leben gehalten wurde. Ungern erinnere ich mich an diese Zeit, vielmehr wohl unvollständig. Oft stand ich an Leonies Bett, streichelte ihr Köpfchen und legte meine Hand auf ihren Brustkorb um sie zu beruhigen, um ihre Atmung zu begleiten und ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam pendelte sich ihre Atmung ein, sie atmete einige Züge selbst und brauchte in dem Moment die Unterstützung der Maschine - „Teufels“- oder „Höllenmaschine“, wie ich sie nannte - nicht. Leonie macht das wirklich gut, denke ich erfreut. Ihr Atem wurde wieder unregelmäßiger, sie ließ sich von der künstlichen Beatmung helfen. Gleich empfand ich wieder eine Unruhe, ich hoffte aber, sie überträgt sich nicht auf Leonie. Was ich wollte, war Ruhe ausstrahlen und ihr Kraft geben. Diese Momente dauerten zwar gemessen nicht lang, und doch fühlte ich durch die Addition von Anstrengung und Erleichterung Stunden verstreichen. Es waren Stunden, bis hin zu Tagen, die so und ähnlich verliefen, angereichert mit Gesprächen zwischen Schwestern, Ärzt*innen und Eltern, kleinen Freudenmomenten, genauso wie Rückschlägen. Dazu zählten auch die zwei Versuche, Leonie von dieser ECMO zu befreien, die aber nicht erfolgreich waren. Es waren Leonies Zeichen uns zu sagen, dass sie noch zu schwach war, vielleicht auch schon, dass ihr Herz gar nicht mehr genug Kraft hatte, um den Lebensaufgaben allein gerecht zu werden. Wie enttäuscht ich war - ohne aber wirklich auf Leonie zu hören. Ich war zu sehr davon überzeugt, dass es doch normal weitergehen konnte. Aber normal war dieser Zustand, waren diese Umstände schon nicht mehr. Ich hielt an Leonie fest. Nach außen hin schien es wohl so, als ob in der Zeit nichts voranging. Entsprechend erreichten uns so merkwürdig anmutende Fragen von Außenstehenden wie „Wisst ihr schon, wann ihr wieder zu Hause seid?“; so, als wäre der Bus an einer Haltestelle und müsse ja seinen Fahrplan erfüllen und unverzüglich weiterfahren oder Ersatz schicken. Dass es aber an einem oder zwei Tagen auch mal nicht offensichtlich vorangehen konnte, das war - verständlicherweise - zunächst gar nicht denkbar für Andere. Schließlich wollte ich ja auch, dass es Neuigkeiten gibt, wenn ich früh zu Leonie auf die Intensivstation kam und gleich eine Schwester nach Auffälligkeiten in der Nacht und dem geplanten Vorgehen am Tag befragte. Dass sich aber Leonie nicht äußerlich-offensichtlich verwandelte, ihre Narben nicht auf einmal sichtbar verheilten, sondern sie innen drin so viel vollbrachte, ihr Körper metaphorisch gesprochen Arbeit für ein Jahr vor sich hatte, welche innerhalb von einem Monat zu verrichten anstand, das war vielleicht wirklich nur Ärzt*innen bewusst. Oft erzählten mir Schwestern, dass es Leonie ja bereits besser ging, dass sie beispielsweise nachts nicht mehr so unruhig war. Das waren für mich echte Fortschritte. Und im gleichen Moment wusste ich doch, dass ich nie auch nur alle Details erfahren würde, weil man in so einer Verfassung, wie ich es war, wahrscheinlich gar nicht in der Lage wäre, die Fakten zu ertragen. Weiterhin lernte ich in der Zeit, dass auch Ärzt*innen sich irren können. Sie können nicht in den Menschen schauen und vorhersagen, was mit einer Operation tatsächlich verändert wird, welchen Verlauf sie nimmt. „Tempo und Richtung bestimmt das Kind“ war ein oft von ihnen geäußerter und in meinen Ohren erklingender Satz. Wie viel Wahrheit doch dahinter steckt.
Ich habe in der Klinik begonnen, so etwas wie ein Tagebuch zu schreiben. Auch das gehörte zu den kleinen „Auszeiten“ am Krankenbett meiner Tochter. Manchmal hatte ich jedoch nicht die Kraft (Was heißt Kraft eigentlich?) den Stift in die Hand zu nehmen. Wollte der Gedanke wiederkommen, tat er das. In einem anderen Moment. Nach Leonies Tod habe ich die Seiten des kleinen Büchleins herausgetrennt, um sie in ein neues blanko Buch zu kleben und wiederum darauf zu antworten; ich habe Erfahrungen ergänzt, mit kleinen Zeichnungen und später auch Bildern gefüllt. Dabei sind ganz unterschiedliche Formate entstanden. Ich erzähle von Tagen, die ich als kleine Glücksmomente erlebt habe, zwei Monate nach dem Tod; von Symbolen, die mir unendlich Halt gaben; den Menschen, wie sie mit uns umgingen. Manchmal erscheinen selbst meine eigenen Worte und die früher gefühlten Gefühle paradox. Das ganze Leben. Ja, ich verstehe mich manchmal im Nachhinein selbst nicht. Aber das Schreiben war und ist mir immer noch eine große Hilfe.
Es gab Momente, in denen ich auch gar nicht mehr Hilfe gebrauchen und annehmen konnte. Angehörige und Freunde „meinten es gut“, wenn sie auf einen Besuch im Krankenhaus vorbeikommen wollten. Viel mehr, so ehrlich muss ich sein, haben sie oft auch nicht tun können. Aber irgendetwas stimmte daran nicht. Ich freute mich wirklich selten, wenn sich Besuch ankündigte. Wieso? Ich lebte in einem Krankenhaus. Aber nicht als Patientin, sondern Mutter meiner schwer herzkranken Tochter. Und dort lebte ich in einer sehr eigenen, einer ganz anderen Welt. Dass Freunde und Bekannte zu Besuch kamen, um Hallo zu sagen und Leonie zu sehen, das kam mir absurd vor, konnte es aber damals noch nicht angemessen einordnen. Auch wenn ich diese Metapher etwas hart finde, aber einem Besuch in einem Zoo kam die Situation manchmal gleich: ein Hallo sagen, ein Staunen, Mitleid und banale Gespräche, Fragen nach meinem und Leonies Befinden… Ich fühlte mich dabei einfach nicht wohl, sondern missverstanden. Das hatte nichts mit den Menschen zu tun. Aber schon da fand eine Abgrenzung zur „Außenwelt“ statt, da ich das Gefühl entwickelte, nicht verstanden zu sein. Die Besucher*innen konnten sich nicht in den Alltag der Klinik hineinversetzen. Mir fällt es heute noch schwer zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Ich habe noch einzelne Szenen sehr präsent - oft die sehr angenehmen als auch die sehr unangenehmen. Im Zusammensein mit meinen Eltern fühlte ich mich stets geborgen. Ich fühlte eine Last abfallen, wenn ich Leonie einmal in ihre Hände geben konnte und meine Aufmerksamkeit für einen Moment woanders sein durfte. Ich hatte das Gefühl, mich nicht doppelt sorgen zu müssen, wenn ich Leonie aus meinen in andere Hände gab. Sich verstanden zu fühlen, auch wenn einem die Worte fehlen oder gar nicht nötig sind, ist ein so seliges Gefühl, eine Wohltat sondergleichen. Wahrscheinlich haben nicht alle Menschen das schon einmal behaupten können. Verstehen findet auch auf der Handlungsebene statt. Das Gegenteil tut entsprechend richtig weh. Ab und an kam mir der Vorwurf zu Ohren, ich würde in bestimmten Situationen absichtlich „fliehen“, wenn sich Besuch angekündigt hatte. Dann war mein Mann bei Leonie und dem Besuch und ich konnte das Umfeld der Klinik einmal kurz verlassen. Aber noch einmal: Wenn ein Besuch als Hilfe angeboten und gedacht war, dann doch auch, um mich damit unterstützen zu wollen. Für mich war es eine Hilfe, dann einfach mal Pflichten in andere Hände zu übergeben und Zeit für mich zu finden. Wie auch immer das aussah. Und wenn ich mit dem Auto kurz nach Hause fuhr, mir etwas Gutes tat, indem ich einkaufen ging… Missverständnis. Aber ich konnte und wollte mich in der Lage einfach nicht rechtfertigen. Dafür hatte ich keine Kraft. Das konnte ich nicht.
Es gab einen Zeitpunkt, einen Tag, an dem ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr konnte. „Nicht mehr können“ - das wird so oft so einfach daher gesagt. Wann aber kann man denn nicht mehr? Und vor allem: Was