Vom Leben verstoßen - Barbara Cartland - E-Book

Vom Leben verstoßen E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Gretna, ist ein Kind der Liebe, da ihre Eltern heimlich heirateten mussten und von der Gesellschaft verstoßen wurden. Ihre Mutter Lady Rosemary, Tochter des Earl von Ledbury heiratetet ihre Liebe in Gretna Green, um den Häschern ihres Vaters zu entkommen, der sie mit einem älteren Adeligen verheiraten wollte. Sie wurden von der Familie verstoßen und die Familie lebte in Armut auf dem Land. Nach dem Tod ihrer Eltern und aus dem Haus vertrieben, versucht die sehr junge und bildhübsche Gretna zu einer Freundin des Hauses, Maria Fitzherbert, nach London zu reisen, da sie von ihr Hilfe erhofft. Auf ihrer Reise trifft sie auf den Marquis von Stade, und wird ihm als die Nichte einer Bäuerin vorgestellt, so dass ihre Herkunft nicht bekannt wird. Der Marquis ist sehr von ihr eingenommen, es stellt sich jedoch heraus, dass er ihrer Freundin, der Mistress Fitzherbert, nicht gut gesonnen ist. Er ist ein Freund des Prinzen von Wales und Maria Fitzherber ist dessen Mätresse, oder Gerüchten nach, seine heimliche Ehefrau. Bei Maria angekommen lebt Gretna sich bald ein und nimmt mit Maria und dem Prinzen an vielen Bällen und gesellschaftlichen Ereignissen teil. Dort trifft sie auch den Marquis von Stade wieder, der sie sogleich erkennt jedoch seinen Unwillen Marias gegenüber nicht verheimlicht. Gretna bleibt ihrer Freundin treu und versagt sich, ihre Gefühle dem Marquis gegenüber einzugestehen. Gretna trifft auch auf Lord Wroxhall, der ein Komplott gegen Maria plant. Wird es Gretna möglich sein, Maria und den Prinzen vor dem Komplott zu bewahren? Wird sie es heil überstehen und wird sie ihre eigene wahre Liebe finden und nicht mehr ein einsames Leben führen müssen?

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1

Die Postkutsche war zügig vorangekommen, seit sie Hartley Wintney verlassen hatte.

Die frischen Pferde schienen zu spüren, dass es eine mehrstündige Verspätung aufzuholen galt. In halsbrecherischem Tempo galoppierten sie die schmale, an Windungen reiche Straße entlang.

Doch so lebhaft und ausgeruht das Gespann war, so erschöpft und müde wirkte der Fahrer.

Das Starkbier in der Schenke der Pferdewechselstation war zu süffig gewesen, und in der Nacht zuvor hatte ein schmerzender Zahn ihn um den nötigen Schlaf gebracht.

Der Fahrer gähnte laut, und sein Begleiter, ein furchtsamer, dürrer kleiner Mann mit dicken Brillengläsern, sah ihn besorgt an.

Wieder gähnte der Kutscher. Er schien die scharfe Kurve nicht zu bemerken, auf die das Gespann, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, zu jagte.

Was dann folgte, war eine Sache von Sekunden.

Die Kutsche erreichte den Felsvorsprung, dem die Straße mit einem scharfen Knick auswich. Die Pferde wurden sich wohl im letzten Moment der Gefahr bewusst. Doch obgleich sie instinktiv das Tempo verlangsamten, vermochten sie nicht mehr auf das Kabriolett zu reagieren, das plötzlich hinter der Wegbiegung auftauchte und rasend schnell auf sie zukam.

Radspeichen, die im Sonnenlicht blitzten, ein gelbschwarz lackierter Wagenkasten, glänzend das Fell der beiden prächtigen Rotfüchse, deren Mähnen im Wind wehten, blinkendes Silbergeschirr. Sekundenlang das Bild der beiden Gentlemen auf dem Sitz des Kabrioletts. Der schräg aufgesetzte Biberhut des Mannes, der die Leine hielt.

Der kleine Postkutschenbegleiter stieß einen erschreckten Schrei aus.

Der Kopf des Fahrers ruckte hoch. Entsetzen auch auf seinem Gesicht. Dann stemmte er wild die Beine gegen das Fußbrett und zerrte an den Zügeln.

Zu spät.

Die Pferde wichen zwar nach rechts aus, doch der Zusammenstoß wurde nur durch die Geistesgegenwart des Fahrers auf dem Zweispänner vermieden. In einem geschickten Manöver lenkte er seinen Wagen aus der Bahn.

Räder rieben mit durchdringendem Kreischen aneinander, dann war das Kabrio an der Kutsche vorbei.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde die Kutsche wie eine hölzerne Arche an dem Felsen zerschellen, doch dann stellte sie sich auf die beiden linken Räder und streifte das steinerne Hindernis nur. Aber Sekunden später verlor sie das Gleichgewicht und kippte um, während die Pferde sich in wilder Panik aufbäumten und sich heillos in das Geschirr verwickelten.

Sekundenlang herrschte völliges Chaos.

Eine Frauenstimme schrie, Flüche ertönten, Pferde wieherten schrill und Lederzeug zerriss knirschend.

Dann ertönte eine befehlsgewohnte Stimme: »Kümmert euch um die Pferde, ihr Dummköpfe!« Der Kutscher rappelte sich mühsam vom Boden auf und lief zu dem Gespann, gefolgt von dem Pferdeknecht, der sich, mit dem Ausdruck höchster Fassungslosigkeit auf dem verschlafenen Mondgesicht, aus dem Straßengraben gearbeitet hatte.

Der spindeldürre Begleitmann kletterte vom Kutschbock und schüttelte immer wieder stumm den Kopf. Dann fand er die Sprache wieder und stotterte:

»Da-das ist ja furchtbar, mein Gott, f-furchtbar!«

»Ganz meine Meinung, Sir«, sagte der Gentleman mit verächtlichem Spott in der Stimme. »Ihr Fahrer ist entweder ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger! Wie kann jemand mit einem solchen Tempo in diese unübersichtliche Kurve hineinjagen! Aber Vorwürfe und Beschuldigungen bringen uns jetzt nicht weiter. Ich schlage vor, Sie helfen den Passagieren aus der Kutsche.«

Der Begleitmann nickte eifrig und wandte sich dem Wagen zu.

Inzwischen hatten der Kutscher und der Pferdeknecht die Tiere beruhigt. Nun, da der Moment der Panik vorüber war, zeigte es sich, dass die Lage nicht so verzweifelt war, wie sie zunächst ausgesehen hatte.

Die Kutsche lag halb auf der Seite. Das rechte Hinterrad war völlig zu Bruch gegangen. Ansonsten schien das Ganze noch glimpflich abgegangen zu sein.

In dem herabgelassenen Fenster der Kutsche zeigte sich ein Gesicht, und eine sanfte kleine Stimme fragte ein wenig atemlos:

»Was ist geschehen?«

Das Gesicht war hinreißend. Zart, edelgeschnitten und herzförmig, mit einer schmalen Stupsnase, schön geschwungenen roten Lippen und zwei ausdrucksvollen blauen Augen. Eingerahmt wurde es von einer Fülle goldener Locken, die unter dem leicht in den Nacken gerutschten Strohhut hervorquollen.

»Erlauben Sie, Madam!«

Der junge Gentleman, der neben dem Fahrer des Zweispänners gesessen hatte, war abgestiegen und hinzugetreten. Er trug ein Paar Wildlederhosen und einen eleganten blauen Samtrock. Mit einer leichten Verbeugung zog er den hoch kronigen Hut. Seine Linke drückte den Türgriff nach unten.

»Oh, einen Augenblick, bitte«, kam es aus der Kutsche. »Bei uns hier drinnen herrscht ein ziemliches Durcheinander.«

Das schöne Gesicht verschwand, und während es dem jungen Gentleman gelang, unter Aufbietung seiner ganzen Kraft den Wagenschlag zu öffnen, erschien in dem Türviereck die Gestalt einer Lady, die das genaue Gegenteil der zauberhaften Erscheinung von vorhin war.

Dick, rundlich, mit rotem Gesicht und braunen, verweinten Augen, hievte sie sich schwerfällig in die Höhe und rief, nachdem sie mit Unterstützung des Gentlemans endlich festen Boden unter den Füßen gewonnen hatte, schnaufend:

»Ich habe diesen verflixten Kutschen noch nie getraut und werde das auch in Zukunft so halten.«

Der Gentleman gab ihren Arm frei und blickte über die Schulter ins Wageninnere. Offensichtlich hatte die dicke Lady den Unfall ohne nennenswerten Schaden überstanden, und keine Pflicht der Nächstenliebe verbot es ihm, nach dem elfenhaften Wesen Ausschau zu halten, das sein höchstes Interesse geweckt hatte.

Der Gentleman, der den Zweispänner fuhr und den Kutscher zu den Pferden geschickt hatte, saß immer noch auf seinem Sitz und beobachtete die Szene mit einem fast unmerklichen Lächeln um den Mund und einem forschenden Ausdruck in den harten dunklen Augen.

Die engelhafte Erscheinung tauchte wieder auf.

»Alles in Ordnung?« fragte sie besorgt.

Damit meinte sie nicht den jungen Galan, der mit ausgestreckten Armen darauf wartete, ihr aus der Kutsche zu helfen. Ganz offensichtlich bezog sich ihre Frage auf die dicke Lady, die nun mitten auf der Straße stand.

»Völlig in Ordnung. Danke, Liebes. Obwohl ich den Eindruck habe, dass meine sämtlichen Rippen gebrochen sind und ich am ganzen Körper voller Prellungen und blauer Flecke bin.«

Die Elfe lachte. Dann ergriff sie die ihr dargebotene Hand. Sie schien zu Boden zu schweben, leicht wie eine Vogelfeder.

»Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie nicht verletzt sind, Madam?« fragte ihr Helfer besorgt und hielt ihre Hand länger als notwendig in der seinen.

»Ganz sicher, danke sehr«, war die Antwort. »Aber ich fürchte, unser Mitreisender ist böse dran. Wir sind nämlich alle auf ihn gefallen, als die Kutsche plötzlich umkippte. «

Sie wandte sich um und schenkte dem älteren Mann, der - eine kleine Reisetasche in der Hand - aus dem Wageninneren kletterte, ein liebreizendes Lächeln.

»Ein Wunder, dass wir noch alle am Leben sind!« stieß die dicke Frau schnaufend hervor. »Die ganze Zeit habe ich mich schon darüber beklagt, dass wir zu schnell gefahren sind, und niemand wird mir das Gegenteil einreden können!«

»Sie haben zweifellos recht, Madam«, bemerkte der Gentleman auf dem Zweispänner. »Und ich möchte Sie bitten, das in London zu Protokoll zu geben. Ihr Kutscher trägt allein die Schuld an dem Unfall.«

»Und woher habe ich die Gewissheit, dass Sie nicht ebenfalls schuld daran sind, Sir?« fragte die Lady, die offensichtlich entschlossen war, sich weder einschüchtern noch sich die Meinung anderer Leute aufdrängen zu lassen.

»Wir sollten uns Ihnen endlich vorstellen«, sagte der junge Galan, der ihr aus der Kutsche geholfen hatte und nun mühsam seine Augen von der Erscheinung löste. »Ich bin Sir Harry Carrington, zu Ihren Diensten, Ladys. Und das ist der Marquis von Stade, einer der bekanntesten Sportfahrer des Landes.«

Die dicke Lady machte einen Knicks.

»Glauben Sie mir, Mylord, ich wollte Ihnen keineswegs zu nahetreten.«

»Und Ihr Name?« fragte der Galan die Elfe voller Eifer.

»Mein Name ist Gretna...« begann sie, wurde jedoch von der dicken Lady am Weiterreden gehindert.

»Mein Name ist Merrywater, wenn es Eurer Lordschaft beliebt. Mrs. Merrywater von Brambridge Farm in der Nähe von Winchester. Und dies ist meine Nichte, die mit mir nach London reist. Aber nun sollten wir uns auf den Weg zum nächsten Dorf machen, wenn Sie, Gentlemen, nichts dagegen haben. Ich denke, es wird eine Zeitlang dauern, bis das Rad der Kutsche repariert ist. Und hier auf der Straße können wir ja wohl nicht darauf warten.«

»Aber das können wir keineswegs zulassen«, rief Sir Harry. »Der Weg ins Dorf ist viel zu weit, und ich bin sicher, wir finden eine passendere Lösung des Problems, nicht wahr, Julien?«

Er warf dem Marquis einen flehenden Blick zu, und Lord Stade, immer noch dieses leicht zynische Lächeln um die Lippen, erwiderte verbindlich:

»Zweifellos. Wenn die Ladys mir erlauben, sie nach Stade Hall zu kutschieren, das nur wenige Meilen von hier entfernt ist, werde ich meinen Schmied beauftragen, sich um die Reparatur des Rades zu kümmern.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Euer Lordschaft«, sagte Mrs. Merrywater, »aber meine Nichte und ich werden ganz gewiss auch mit dem Dorfgasthof zufrieden sein.«

»Oh, aber warum denn?« sagte die Nichte. »Ich meine, wir sollten die liebenswürdige Einladung nicht abschlagen. Es kann Stunden dauern, bis die Kutsche zur Weiterfahrt bereit ist.«

»Das ist sehr vernünftig«, stimmte Sir Harry zu.

Der Marquis deutete mit dem Peitschenstiel auf die beiden anderen Mitfahrer, die dem Austausch der Artigkeiten aufmerksam gefolgt waren.

»Wenn Sie, Gentlemen, einen Fußmarsch von einer halben Meile nicht scheuen, treffen Sie auf eine kleine Herberge. Richten Sie dem Wirt aus, dass ich Sie schicke, und er wird Sie bestens bedienen.«

»Danke, Mylord.«

Der ältere Mann mit der Reisetasche, der aussah wie ein Schulmeister, und der dürre kleine Beifahrer nahmen den Vorschlag freudig an, obwohl sie nicht ohne eine Spur von Neid die beiden Ladys beobachteten, denen Sir Harry in den Zweispänner half.

Die beiden Damen bildeten ein seltsames Paar, und es war nicht einfach zu glauben, dass sie miteinander verwandt sein sollten.

Zu sehr unterschieden sich Mrs. Merrywater mit ihrer fast schon ein wenig unförmigen Figur, dem fleischigen, roten Gesicht einer Bauersfrau und das schlanke, grazile Mädchen mit den schönen, edlen Zügen und dem goldfarbenen Haar voneinander.

Die Kleidung der beiden verriet allerdings die gleiche Armut. Der Umhang des Mädchens war aus einem groben, einfachen Stoff gearbeitet. Und auch der schmucklose Hut, den sie hastig auf ihre Lockenflut drückte, zeigte deutlich, dass sie mit irdischen Gütern nicht gesegnet war.

Vielleicht ist sie auf dem Weg nach London, um dort eine Stellung als Hausmädchen anzutreten, oder sie hat irgendwo eine Beschäftigung als Gouvernante gefunden, dachte Sir Harry bei sich. Was immer es sein mochte, es war eine Schande, dass jemand so Hübsches gezwungen war, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Der Zweispänner war ohne Frage für hohe Geschwindigkeiten gebaut worden und daher ganz und gar nicht für die Personenbeförderung gedacht. So war der Rücksitz sehr schmal und eng. Dennoch weigerte sich Mrs. Merrywater entschieden, neben dem Marquis auf dem Kutschbock Platz zu nehmen.

»Ich werde hinten sitzen!« erklärte sie kategorisch. »Und Sie, Gentlemen, bleiben dort, wo Sie gesessen haben, als sie unseren Unfall verursachten!«

»Aber, aber, Mrs. Merrywater«, widersprach ihr Harry, »das sollten Sie nicht sagen. Es war ohne Zweifel Ihr Fahrer, der den Unfall verursachte, nicht wir!«

»Nun, das mag ja alles sein«, entgegnete Mrs. Merrywater ungerührt. »Auf jedem Fall werden wir diese Sitzordnung einnehmen!«

Es blieb Sir Harry nichts anderes übrig, als nachzugeben. Offensichtlich hatte er sie nicht neben dem Marquis platzieren wollen, weil der Platz auf dem Bock bequemer war, sondern weil ihn nach der Nähe der bezaubernden Nichte verlangte.

Aber Mrs. Merrywater erwies sich als eine sehr selbstbewusste und resolute Lady, die sich von einem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen ließ.

Sir Harry stieg also zu dem Marquis auf den Bock und begnügte sich damit, immer wieder den Kopf zu wenden, um das süße, herzförmige Gesichtchen, das von dem hässlichen Strohhut fast völlig verdeckt wurde, aus der ‚Ferne‘ zu bewundern.

Gretna setzte zu einer Bemerkung an, doch die energische Mrs. Merrywater legte den Finger auf die Lippen und gebot ihr zu schweigen.

Achselzuckend wandte das Mädchen sich ab und widmete sich der Betrachtung der Landschaft, während der Zweispänner die Straße zurückfuhr, die sie vor kurzer Zeit erst gekommen waren.

Etwa nach einer Meile bog das Gefährt in eine breite, von mächtigen Eichen gesäumte Allee ein. Sie fuhren unter einem prachtvollen Eisentor hindurch und genossen die angenehme Kühle, die unter dem dichten Laubdach der Bäume herrschte.

Vom Rücksitz aus vermochte Gretna Stade Hall erst zu sehen, nachdem sie ein zweites Tor passiert hatten. Es gab den Zugang zum Schlosshof frei und gewährte einen Blick auf die breite Freitreppe, die zum Portal des Hauses hinaufführte.

Gretna stieß einen Laut des Erstaunens aus, als sie des prachtvollen Gebäudes ansichtig wurde. Wie ein kostbares Juwel lag es eingebettet in eine grüne Parklandschaft. Mächtige alte Bäume bildeten den imposanten Hintergrund, während das Hirschrudel, das in ihrem Schatten äste, den überwältigenden Eindruck ein wenig milderte und dem Bild eine romantische Note verlieh.

Am Fuß des Hügels, auf dem das Schloss sich erhob, lag ein See, dessen weite Fläche golden in der Abendsonne glänzte. Die sanft zum Wasser abfallenden Wiesen vertieften die Vorstellung eines Juwels, das auf einer grünen Samtunterlage ruht.

Leider blieb Gretna kaum die Zeit, den herrlichen Anblick zu genießen, denn ein Diener mit gepuderter Perücke und goldbetresster Livree eilte herbei, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

Sir Harry geleitete sie und Mrs. Merrywater in die gewaltige, säulengeschmückte Halle.

»Eine Stärkung würde Ihnen sicher guttun«, sagte er voller Eifer. »Bist du nicht auch der Meinung, Julien? Der Unfall muss die beiden Ladys doch sehr mitgenommen haben.«

»Sorgen Sie dafür, dass den Damen im Salon unverzüglich Wein und Gebäck gereicht wird«, wandte sich der Marquis an den Butler.

Gretna glaubte aus den Worten des Hausherrn einen Unterton des Unwillens herausgehört zu haben und kam zu der Überzeugung, dass er von der Idee Sir Harrys nicht sehr angetan war.

»Und nun, Ladys«, fügte der Marquis hinzu, »wird meine Wirtschafterin Ihnen ein Zimmer zeigen, wo Sie sich ein wenig frisch machen können.«

»Das wäre sehr schön, Mylord«, antwortete Mrs. Merrywater. Sie machte einen Knicks, und Gretna folgte ihrem Beispiel., Sie stiegen die breite Treppe hinauf, an deren Ende die Wirtschafterin, eine hohe, achtunggebietende Gestalt in schwarzer, raschelnder Seide, mit unter der Brust verschränkten Händen auf sie wartete.

Ein einziger Blick schien ihr zu genügen, sich über Mrs. Merrywaters Stand klarzuwerden. Mit einem leichten Naserümpfen wandte sie sich um und ging den beiden Frauen in ein riesiges Schlafzimmer voraus.

»Die Zimmermädchen werden Ihnen heißes Wasser bringen und alles, was Sie sonst noch benötigen sollten«, sagte sie und zog sich mit einem herablassenden Kopfnicken zurück.

Als sie allein waren, blickte Mrs. Merrywater sich neugierig um.

»Guter Herr im Himmel, was für ein Zimmer!« rief sie bewundernd. »Es ist Jahre her, dass ich etwas Ähnliches gesehen habe. Allein die Wandtapeten sind ein Vermögen wert.«

»Mrs. Merrywater«, ergriff Gretna das Wort, »warum haben Sie vorhin gesagt, ich wäre Ihre Nichte?«

Mrs. Merrywater nahm den Blick von den Wandtapeten und richtete ihn auf das edelgeschnittene Gesicht des Mädchens neben ihr.

»Ich hielt es für das Beste, Liebes«, antwortete sie. »Und Sie werden ihnen Ihren richtigen Namen auch nicht nennen! Nicht wahr?«

»Aber warum nicht? Der Name wird ihnen nichts sagen. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass sie ihn kennen.«

»Natürlich kennen sie ihn. Die Gesellschaft wird Ihre Mutter nicht vergessen haben, obwohl die Geschichte nun schon achtzehn Jahre zurückliegt.«

»Aber selbst wenn sie sich an die Geschichte erinnern - was spielt das für eine Rolle?« fragte Gretna.

»Was das für eine Rolle spielt? Ich werde es Ihnen sagen, mein Kind. Bevor ich meinen Tom kennenlernte, war ich jahrelang in Stellung. Ich hab’s zwar nur bis zum vierten Hausmädchen bei Lady Lansdale gebracht, aber ich habe dort gelernt, was sich schickt und was nicht. Und eines weiß ich bestimmt: Eine junge Lady von Ihrem Stand sollte nicht allein nach London reisen und unterwegs auch noch auf Abenteuer ausgehen!«

»Aber ich reise doch nicht allein, und ich bin auch nicht auf Abenteuer aus«, verteidigte sich Gretna lächelnd.

»Ich weiß, Kleines. Ich bin bei Ihnen. Aber es ist wirklich nur ein glücklicher Zufall, dass ich genau zu der Zeit zu meiner armen kranken Schwester nach St. Albans muss, wo Sie gezwungen sind, nach London umzusiedeln. Allerdings können Sie diese Dinge nicht den jungen Edelleuten erzählen. Sie würden die falschen Schlüsse daraus ziehen.«

»Aber was sollte die das schon interessieren?«

»Hören Sie mir bitte zu, Liebes. Sie wissen noch sehr wenig vom Leben. Wie sollten Sie auch! Die lange Krankheit Ihrer Mutter hat Sie von vielem ausgeschlossen. Sie kamen kaum einmal unter Menschen, lebten ruhig und sehr abgeschieden. So sind Sie siebzehn geworden, erwachsen sozusagen - aber trotzdem haben Sie noch viele Dinge zu lernen. Die erste Lektion, die Sie sich merken müssen: Traue nie einem Gentleman - vor allem dann nicht, wenn er von der Sorte ist, wie die beiden, deren Bekanntschaft wir soeben gemacht haben.«

»Was stimmt denn mit ihnen nicht?« fragte Gretna verwundert.

»Nun, ich glaube, von dem Marquis schon einiges gehört zu haben«, erwiderte Mrs. Merrywater und krauste nachdenklich die Stirn. »Und was ich gehört habe, ist nicht dazu angetan, ihm besonders zu vertrauen. Und was den anderen betrifft, diesen Sir Harry oder wie er sich nennt, kann ich nur sagen, dass ich seinesgleichen zur Genüge kenne. Diese Leute lassen nichts anbrennen, sind für jeden Spaß zu haben, der nicht auf ihre Kosten geht. Und ein hübsches Mädchen ist immer ein willkommener Zeitvertreib für sie.«

Gretna lachte belustigt auf.

»O Mrs. Merrywater, Sie sind goldig. Ich bin sicher, die beiden Gentlemen sind nicht halb so schlimm, wie Sie es vermuten. Auf mich wirken sie sehr freundlich und hilfsbereit, obwohl ich zugeben muss, dass der Marquis mir ein wenig Angst einjagt. Und sehr bereitwillig hat er uns seine Gastfreundschaft auch nicht angeboten. Sir Harry musste ihn ja regelrecht dazu drängen.«

Sie ließ einen kleinen Seufzer hören.

»Aber was soll's. Es ist ja nur für ein paar Stunden. Und in der kurzen Zeit wird mir schon nichts passieren.«

»Da würde ich nicht so sicher sein«, warnte Mrs. Merrywater. »Ich könnte Ihnen Sachen erzählen. Die Augen würden Ihnen übergehen. Jedenfalls hören Sie auf meinen Rat: Diesen jungen Schwerenötern ist nicht zu trauen.«

»Nun, solange Sie bei mir sind, bin ich jedenfalls absolut sicher, nicht wahr? So sicher, als säße ich zu Hause in meinem kleinen Landhaus.« Gretna lächelte belustigt, dann fügte sie hinzu: »Aber erzählen Sie mir doch, was Sie über Lord Stade wissen!«

Mrs. Merrywater wollte eben zur Antwort ansetzen, als die Tür geöffnet wurde und zwei Zimmermädchen mit gestärkten Häubchen den Raum betraten.

Jede von ihnen trug eine Kanne mit heißem Wasser, das sie in die Waschschüsseln gossen, die auf dem Waschtisch standen. Dann mischten sie aus einer Flasche Rosenwasser hinzu und legten zwei weiße Leinentücher daneben.

»Danke«, sagte Gretna freundlich.

»Brauchen Sie sonst noch etwas, Miss?« fragte eins der Mädchen. »Saubere Bürsten und Kämme finden Sie auf dem Ankleidetisch.«

»Oh, das ist alles, was wir benötigen, danke sehr«, erwiderte Gretna.

Sie nahm den Hut ab und wusch sich Gesicht und Hände. Das Wasser duftete auf ihrer Haut, und sie fühlte sich gleich besser, nachdem sie sich vom Staub der Reise befreit hatte.

Das Handtuch war angenehm weich, und als sie sich das Gesicht damit getrocknet hatte, ging sie zum Ankleidetisch, um sich das Haar zu kämmen.

»Das hätten wir uns heute Morgen noch nicht träumen lassen, dass wir Gäste in einem solchen Haus sein würden, nicht wahr, Mrs. Merrywater?« fragte sie ihre Begleiterin. »Richtig abenteuerlich, finden Sie nicht auch?«

»Ja, und zwar genauso, wie ich es leider gar nicht schätze«, gab Mrs. Merrywater missgestimmt zurück. »Mein Wunsch ist es nur, heil und gesund nach London zu kommen, ohne Verzögerungen und ohne unliebsame Unterbrechungen. Je eher, je lieber, würde ich sagen. Diese Dinge bringen einem immer nur Ärger und Verdruss. «

»O Mrs. Merrywater, Sie sollten nicht so pessimistisch sein«, rief Gretna. »Ich bin sicher, weder Lord Stade noch Sir Harry haben etwas Schlimmes mit uns im Sinn. Was sollte es auch schon sein? Und dieses Haus ist so großartig! Bisher glaubte ich, nirgends auf der Welt gäbe es ein schöneres Haus als das von Mister Smythe, aber im Vergleich zu Stade Hall ist es nur eine armselige Hütte. Haben Sie die Marmorsäulen in der Halle gesehen, die Bilder an den Wänden und das geschnitzte Treppengeländer?«

»Hoffen wir, dass die vermaledeite Kutsche bald wieder in Ordnung ist«, sagte Mrs. Merrywater düster.

»Ich verstehe nicht, weshalb Sie sich solche Sorgen machen!« Gretna lachte übermütig. »Ich freue mich schon auf das Glas Wein und das Gebäck, das der Marquis uns versprochen hat. Kommen Sie, wir gehen nach unten! Sie werden sehen, alles ist halb so schlimm!«

Sie öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus. Mrs. Merrywater watschelte brummend hinterher.

Es war ein herrliches Haus, daran bestand kein Zweifel. Wenn die Halle großartig war, der Salon, in den der Diener sie führte, stellte sie noch in den Schatten.

Die Vorhänge an den hohen Fenstern waren aus schwerem rosafarbenen Seidenbrokat. Von der Decke hing ein mächtiger Kristalllüster, dessen Prismen das Sonnenlicht tausendfach reflektierten. Die reich mit Intarsien versehenen Möbel bildeten den vollkommenen Rahmen für kostbares Chinaporzellan, kunstvolle Elfenbeinschnitzereien und sonstige wertvolle Kunstgegenstände.

Sir Harry stand in der Nähe des Kamins und eilte ihnen voller Beflissenheit entgegen.

»Da sind Sie ja!« rief er enthusiastisch. »Ich fürchtete schon, Sie hätten bei dem Unfall doch einen größeren Schaden davongetragen.«

»Wir befinden uns beide in bester Verfassung«, erwiderte Gretna lachend. »Mrs. Merrywater und mir ist es nur sehr peinlich, dass Sie unsertwegen all diese Unannehmlichkeiten auf sich nehmen mussten.«

Bei diesen Worten blickte sie zu dem Marquis hinüber, der sich seit ihrem Eintritt noch nicht von der Stelle gerührt hatte.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie groß und breitschultrig er war. Sein Gesicht hatte klare, außergewöhnlich markante Züge, über denen jedoch eine gewisse Düsternis lag.

Irgendwie glaubte Gretna, den Ausdruck der Geringschätzung in seinen Augen zu erkennen, als er sie ansah. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

»Aber es sind keine Unannehmlichkeiten«, versicherte Sir Harry. »Im Gegenteil, wir sind ganz entzückt über Ihr Hiersein - nicht wahr, Julien?«

Er blickte den Marquis an, als wollte er dessen Zustimmung erzwingen, und als dieser schließlich die Lippen bewegte, geschah es nur zögernd, fast widerwillig, wie es Gretna vorkam.

»Natürlich sind wir - 'entzückt!«

Konnte ein anderer Mann diesen vier Worten einen solch sarkastischen Klang geben? fragte sich Gretna.

Ein Diener trat ein und bot Mrs. Merrywater ein Glas Madeira an. Dann brachte er auch Gretna ein Glas.

Sie setzte es an die Lippen und trank einen Schluck. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer kleinen Grimasse.

»Sie mögen keinen Wein?«

Es war der Marquis, der dies fragte, und Gretna blickte ihn ein wenig verlegen an.

»Nein, nein - er ist tatsächlich sehr bekömmlich«, antwortete Gretna hastig.

Der Marquis wandte sich an den Diener.

»Nehmen Sie das Glas der Lady, und bringen Sie ihr unverzüglich Tee!«

»Sehr wohl, Mylord.«

»Oh, das ist doch nicht nötig. Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen!«

»Es sind keine Umstände«, erwiderte der Marquis, und diesmal war keinerlei Spott in seiner Stimme. »Wein ist für die, die ihn mögen. Den, der keinen Geschmack daran finden kann, sollte man nicht dazu zwingen.«

»Tee«, rief Sir Harry, »ich hätte daran denken müssen! Auch meine Schwester trinkt nichts anderes.«

Der Blick des Marquis wanderte zur Kaminuhr.

»Gut, dass du davon sprichst«, sagte er zu Sir Harry. »Deine Schwester wird bereits auf dich warten. Die Pferde stehen vor der Tür. Bitte, entschuldige mich bei Harriet. Richte ihr aus, ich hoffe, morgen die Gelegenheit zu finden, bei ihr vorbeizuschauen.«

»Nun mach aber halblang, Julien!« Der Protest in Sir Harrys Stimme war nicht zu überhören. »Ich will hängen, wenn ich Stade Hall jetzt verlasse. Harriet kann warten!«

»Im Gegenteil«, widersprach der Marquis. »Wir hatten vereinbart, um fünf auf Bridgewater Place zu sein. Ehe du dort bist, wird es bereits sechs sein. Es besteht kein Grund, deine Schwester noch länger zu akkommodieren.«

»Bei meiner Seele, Harriets Gesellschaft bedeutet mir nichts! Und was ist mit dir?«

»Wie ich bereits sagte, Harry, ich möchte, dass du deiner Schwester mein äußerstes Bedauern aussprichst. Überdies wirst du dich erinnern, dass ich von vornherein die Absicht hatte, auf Stade Hall zu dinieren. Es ist eine dieser hochoffiziellen Gesellschaften, die heute Abend in eurem Haus stattfindet. Du weißt, dass ich an dergleichen Dingen nicht interessiert bin.«

»Ich habe Harriet zu verstehen gegeben, dass sie auf das falsche Pferd setzt«, entgegnete Sir Harry. »Aber sie ließ sich nicht beirren. Sie war der festen Überzeugung, du würdest dich von mir überreden lassen.«

»Deine Schwester ist stets sehr optimistisch«, gab der Marquis auffallend förmlich zurück.

Sir Harry zögerte immer noch.

Gretna sah, dass er nach einer Ausrede suchte, um bleiben zu können. Aber genauso offenkundig war, dass der Marquis ihn aus dem Haus haben wollte.

Der Ältere gewann.

»Seltsame Art, mit Gästen umzugehen auf Stade Hall«, beklagte sich Sir Harry gekränkt. »Nun gut, ich werde also gehen. Aber nimm zur Kenntnis, Julien, dass ich es nur unter Protest tue.«

Er nahm Gretnas Hand in die seine.

»Auf Wiedersehen, Miss Gretna. Ich bin entschlossen, Sie wiederzusehen. Werden Sie mir Ihre Adresse in London nennen, damit ich Ihnen meine Aufwartung machen kann?«

Gretna senkte die Augen.

»Ich weiß noch nicht - wo ich wohnen werde« , stammelte sie.

»Oh, das heißt also, ich werde die ganze Stadt absuchen müssen, um Sie zu finden!« rief Harry verzweifelt. »Geben Sie mir doch wenigstens einen winzigen Anhaltspunkt für meine Nachforschungen. Eine Adresse, den Namen einer Bekannten oder Freundin, wo ich mich nach Ihnen erkundigen kann.«

»Aber, aber, junger Mann«, mischte sich Mrs. Merrywater ein. »Meine Nichte hat doch gesagt, sie weiß noch nicht, wo sie wohnen wird. Das Beste ist, Sie lassen es gut sein damit - obwohl ich überzeugt bin, dass Ihre Sorge aufrichtig ist, Sir.«

»Wahrhaftig, Mrs. Merrywater, das ist sie«, versicherte Harry. »Nun, vielleicht ziehen Sie Lord Stade ins Vertrauen, bevor Sie Weiterreisen. Ich werde mir jedenfalls große Sorgen machen, bis ich weiß, dass der Unfall wirklich ohne ernste Folgen geblieben ist, sowohl für sie als auch für Ihre Nichte.«

»Nun übertreiben Sie mal nicht, Sir!« Mrs. Merrywater kicherte. »Trotzdem danken wir für Ihre Hilfsbereitschaft. Sie waren sehr liebenswürdig, alles, was recht ist!«

»Ein schwacher Trost, Mrs. Merrywater.«

Sir Harry lachte ein wenig gezwungen und wandte sich zum Gehen.

»Das werde ich dir nicht vergessen, Julien«, sagte er zu Lord Stade. »Wenn wir nicht so gute Freunde wären, würde ich dich zum Duell fordern. Die Dinnerparty wird eine Marter für mich sein. Und ich werde nichts tun, um meine schlechte Laune vor Harriet zu verbergen. Sie wird böse auf dich sein, wenn sie den Grund dafür erfährt.«

Er öffnete die Tür und blickte sich noch einmal nach Gretna um.

»Au revoir, Miss Gretna«, sagte er leise. »Ich bin sicher, wir werden uns bald schon wiedersehen.«

Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich ab und verließ den Raum. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Der Marquis streckte die Hand aus und betätigte die Glockenschnur.

»Ich werde nachhören, wie weit man mit der Reparatur der Kutsche ist«, sagte er. »Inzwischen sollte da doch einiges geschehen sein.«

Wieder wurde die Tür geöffnet. Ein Diener brachte den Tee, den der Marquis für Gretna bestellt hatte. Er wurde auf einem Silbertablett serviert, auf dem eine kunstvoll getriebene silberne Teekanne und ein Gedeck aus kostbarem Chinaporzellan standen.

Als Gretna die Schalentasse zum Mund führte, stellte sie fest, dass sie hauchdünn und fast durchscheinend war.

Gretnas Augen wanderten im Raum umher.

»Oh«, rief sie mit ihrer melodiösen Stimme, »ich sehe, Sie haben einen van Dyck - und einen ganz wundervollen dazu! Mama pflegte zu sagen, dass man einen van Dyck immer an den Händen der dargestellten Personen erkennen könne. Wie sensibel und lebendig die Hände des Mannes auf dem Gemälde sind!«

Die Brauen des Marquis wölbten sich.

»Es ist einer meiner Ahnen«, erklärte er. »Doch ich bin überrascht, dass Sie den Künstler erkannt haben.«

»Überrascht?« fragte Gretna. Doch dann wurde ihr bewusst, was die Ursache für seine Überraschung war. Er hielt sie ja für Mrs. Merrywaters Nichte.

Das Blut stieg ihr in den Kopf, und nur mit Mühe unterdrückte sie die Bemerkung, dass sie zwar arm sein mochte - nicht aber dumm und ungebildet.

Er ist arrogant und anmaßend, dachte sie und verübelte ihm mit einem Mal, dass er Harry fortgeschickt hatte, obwohl dieser so gern geblieben wäre.

Er tyrannisiert seine Umgebung, dachte sie dann. Alle müssen sich seinen Wünschen fügen und seinen Befehlen gehorchen.

Mit einem Gefühl der Abneigung beobachtete sie die geringschätzige Art, in der er die Mitteilung von dem Silbertablett nahm, die einer der Diener ihm gebracht hatte.

Er las die Nachricht und legte es auf das Tablett zurück.

»Es tut mir leid, Ladys, schlechte Nachrichten für Sie!« sagte er kühl. »Mein Verwalter teilt mir mit, dass die Kutsche bis zum Abend nicht fahrbereit sein wird. Der Schmied braucht weitere sechs Stunden, um den Schaden zu reparieren. Sie können also frühestens morgen Vormittag Ihre Reise nach London fortsetzen.«

»Das ist in der Tat eine schlechte Nachricht«, stieß Mrs. Merrywater hervor. »Es war ein Unglückstag für uns. Die Pechsträhne begann schon gleich heute früh. Nun, Mylord, wir müssen uns bei Ihnen für Ihre Gastfreundschaft bedanken und sollten uns auf der Stelle nach einem Zimmer im nächsten Gasthof umschauen. Es gibt doch einen Gasthof in der Nähe, wie Sie vorhin sagten.«

»Sie werden selbstverständlich hierbleiben«, entgegnete der Marquis.

Er wandte sich zu dem Diener um, als sei es selbstverständlich, dass niemand einen Einwand gegen seine Einladung vorbrachte.

»Sagen Sie der Wirtschafterin, sie solle unverzüglich zwei Schlafzimmer herrichten lassen, und schicken Sie jemanden zur Postkutsche, der das Gepäck der beiden Ladys holt.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Der Diener verließ den Raum, und Mrs. Merrywater erwiderte mit leicht gerötetem Gesicht:

»Das ist nicht nötig, Mylord.«

Der Marquis lächelte das gleiche spöttische, ein wenig gequälte Lächeln, das Gretna schon einige Mal an ihm aufgefallen war und das nicht die kleinste Spur von Humor zu enthalten schien.

»So skeptisch Sie meiner Einladung auch gegenüberstehen mögen, Mrs. Merrywater, Sie können nicht von mir erwarten, dass ich Sie zu dieser Stunde des Tages noch aus dem Haus lasse«, erklärte er bestimmt. »Außerdem versichere ich Ihnen, dass eine Übernachtung im Dorfgasthof mit ziemlichen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Vor allem jedoch dürfte sie für eine Lady, die so jung ist wie Ihre Nichte, höchst unpassend sein.«

»Sehr wohl, Mylord, ich verstehe.« Mrs. Merrywater gab sich geschlagen. »Wir schulden Ihnen großen Dank für Ihr Entgegenkommen.«

»Ja, wir müssen Ihnen wirklich sehr dankbar sein«, sagte Gretna eifrig. »Und, um ehrlich zu sein, bin ich nicht einmal traurig über das Geschehene. Dieses Haus ist so wundervoll, und Sie besitzen so viele herrliche Dinge, dass ich ganz hingerissen davon bin, Mylord. Erlauben Sie, dass ich mich ein wenig umschaue?«

»Mit größtem Vergnügen«, sagte der Marquis. »Aber wir essen um sieben zu Abend. Vielleicht sollten die Damen sich bis dahin noch ein wenig ausruhen. Ihr Gepäck wird gewiss jeden Augenblick hier sein.«

»Ich bin sicher, Mylord, dass es Ihnen recht ist, wenn wir das Dinner auf unseren Zimmern einnehmen«, sagte Mrs. Merrywater hastig. »Unsere Gesellschaft muss doch recht lästig für Sie sein.«

»Wenn sie das wäre, Mrs. Merrywater, würde ich nicht zögern, Sie es wissen zu lassen«, erwiderte der Marquis.

Seine dunklen Augen begegneten denen von Mrs. Merrywater, und Gretna glaubte, einen Ausdruck des Unwillens darin zu erkennen.

Das Mädchen erhob sich.

»Danke für Ihre Einladung«, sagte sie wie ein Kind, das eine angelernte Höflichkeitsfloskel ausspricht.

Der Marquis richtete seinen Blick auf sie.

»Ich hoffe, Sie werden von Stade Hall nicht enttäuscht sein«, versetzte er. »Es würde mir eine Freude sein, Ihnen nach dem Dinner einige der Schätze zu zeigen, die das Haus birgt.«

Gretna hatte das Gefühl, seine Worte seien mehr für Mrs. Merrywater bestimmt als für sie selbst.

Wieder einmal schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass der Marquis herrschsüchtig war. Er konnte allem Anschein nach keinen Widerspruch vertragen, musste ihn bekämpfen, wo er ihm begegnete - auch dann, wenn er von einer Person kam, die in seinen Augen so unwichtig und unbedeutend war wie die dicke Mrs. Merrywater.

Als sie nebeneinander die Treppe hinaufstiegen, nahm Gretna Mrs. Merrywaters Arm. Ein Gefühl der Dankbarkeit erfüllte sie gegenüber der älteren Frau, die auf so tapfere Weise versuchte, sie zu beschützen.

Sie wandte ihr das Gesicht zu und bemerkte sofort, dass Mrs. Merrywater sich nicht wohl fühlte.

Ihr Atem ging keuchend und unregelmäßig, und die Farbe ihrer Wangen war von dem gewohnten frischen Rot in ein dunkles Purpur übergegangen.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Gretna besorgt.

»Ich habe Schmerzen«, stieß Mrs. Merrywater mühsam hervor. »Genau hier!« Sie legte die Hand auf die linke Brustseite. »Es ist ein höllischer Schmerz, Liebes. So, als durchbohrte ein Dolch meine Brust.«

»Mrs. Merrywater, Sie müssen verletzt sein!« rief Gretna aufgeregt.

Sie half der älteren Frau die Treppe hinauf und führte sie in das Zimmer, in dem sie sich zuvor frisch gemacht hatten. Jetzt brannte ein Feuer im Kamin, und durch die geöffnete Verbindungstür sah man in einen anderen Raum, der genauso groß und prächtig zu sein schien wie der, in dem sie sich befanden.

Die Wirtschafterin, die zuschaute, wie eins der Mädchen eine Wärmeflasche in das riesige Himmelbett legte, wandte sich zu ihnen um, als sie eintraten.

»Ich glaube, Mrs. Merrywater geht es nicht gut«, berichtete Gretna ihr.

Von einem Moment auf den anderen war die Frau wie umgewandelt. Steifheit und Unnahbarkeit fielen von ihr ab, und ihr Gesicht zeigte echte Anteilnahme.

»Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagte sie und führte Mrs. Merrywater durch die Verbindungstür in den angrenzenden Raum. »Die Liege ist bequemer für Sie. Am besten lösen sie das Korsett und legen die Füße hoch. Ich nehme an, es ist der Schock.«

»Sie klagt über Schmerzen unterhalb des Herzens«, sagte Gretna. »Ich frage mich, ob vielleicht eine Rippe gebrochen ist. Wir wurden in der Kutsche ziemlich gewaltsam zu Boden geschleudert, und ich fiel auf Mrs. Merrywater.«

»Wird so sein, Liebes«, stöhnte Mrs. Merrywater. »Ich erinnere mich, dass ich auf die Sitzbank fiel. Ja, ich muss mir die Rippen gebrochen haben! Großer Gott, das hat mir noch gefehlt!«

»Wir werden Ihnen einen Stützverband anlegen müssen«, meinte die Wirtschafterin. »Aber beruhigen Sie sich, die Sache mag unangenehm und schmerzhaft sein, aber sie ist nicht besorgniserregend. Die Gentlemen kommen oft mit einer gebrochenen Rippe von der Jagd. Ich habe deshalb einige Erfahrung damit. Legen Sie sich hin, und bewegen Sie sich so wenig wie möglich bis wir den Arzt geholt haben. Amy und Rosy werden Ihnen beim Auskleiden behilflich sein.«

»Gütiger Heiland«, rief Mrs. Merrywater. »Ich kann mich doch nicht hinlegen. Ich muss doch auf Miss... ich meine auf meine Nichte aufpassen!«

»Ich kann schon auf mich aufpassen. Ganz gewiss, liebe Tante!« Gretna lächelte der Älteren beruhigend zu.

»Wenn Sie einen Stützverband tragen, müssen Sie liegen«, erklärte die Wirtschafterin mit Autorität in der Stimme. »Ich werde jetzt einen der Reitknechte zum Doktor schicken. Es wird allerdings wenigstens eine Stunde dauern, bis er hier ist, denn er wohnt in Bridgewater. Sie müssen ins Bett und dort auf ihn warten. Das ist das einzig Vernünftige, was Sie tun können, ich versichere es Ihnen.«

»Das ist ein guter Rat«, bestätigte Gretna.

Mrs. Merrywater biss die Lippen aufeinander.

Es war offenkundig, dass sie nicht nur schlimme Schmerzen hatte. Auch das durch die Anwesenheit der Wirtschafterin und der Zimmermädchen aufgezwungene Schweigen machte ihr zu schaffen.

Als sie, angetan mit einem weißen Musselinnachthemd, das die Wirtschafterin ihr gebracht hatte, im Bett lag und sich in die Kissen zurücksinken ließ, schaute sie Gretna mit dem Ausdruck der Verwirrung auf ihrem gütigen dicken Gesicht an und sagte:

»Ein schönes Durcheinander, das ich angerichtet habe. Bitte, Miss Gretna, hören Sie auf mich. Sagen Sie, dass Sie mit mir auf dem Zimmer essen möchten. Gehen Sie in keinem Fall nach unten!«

Gretna warf einen Blick über die Schulter in ihr Schlafgemach. Durch die geöffnete Tür sah sie eins der Mädchen, das dabei war, einen der Koffer auszupacken, die soeben eingetroffen waren.

Das Mädchen hielt eben Gretnas weißes Musselinkleid in die Höhe und schüttelte es ein wenig, um die Knitterfalten zu entfernen. Seit fünf Jahren war es das erste neue Kleid, das Gretna besaß. Sie hatte es sich eigens für die Reise nach London genäht und war sehr stolz darauf.

Einen Moment lang zögerte sie. Zwar hätte sie gern Mrs. Merrywaters Wunsch erfüllt, aber ihre Neugier siegte. Die Erregung, die sie erfüllte, seitdem sie Stade Hall betreten hatte, war zu stark. In ihren Augen erschienen tanzende Lichter, als sie sagte:

»Bitte, vergeben Sie mir, aber ich würde so schrecklich gerne unten speisen. Ich möchte das Tafelsilber sehen und die Schätze, die der Marquis mir zeigen will.«

Mrs. Merrywater stöhnte.

»Ihre arme Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das hörte. Sie wissen so gut wie ich, dass Sie nicht mit einem Gentleman allein sein sollten. Auch nicht, um mit ihm zu Abend zu essen!«

»Aber das macht doch nichts, Mrs. Merrywater. Er hat ja keine Ahnung, wer ich bin«, erwiderte Gretna. »Ich bin für ihn ja keine junge Lady der Gesellschaft, die eine Anstandsdame braucht oder auf bestimmte Anstandsregeln zu achten hat. Ich bin nur ein einfaches Mädchen vom Land - Ihre Nichte, die bei Ihnen auf der Farm lebt. Ich kann also gar nichts falsch machen, wenn ich mit dem Marquis zu Abend speise, ohne dass Sie dabei sind.«

Wieder drang ein gequältes Stöhnen aus Mrs. Merrywaters Mund.

»Sie wissen nicht, wovon Sie reden, Sie einfältiges Kind! Hören Sie auf mich! Bleiben Sie hier! Bei mir sind Sie sicher. Ich mache mir doch nur Sorgen um Sie, verstehen Sie das denn nicht? Seine Lordschaft ist nicht der Mann, mit dem ein Mädchen wie Sie allein... allein essen sollte!«

»Was für ein Mann ist er denn?« fragte Gretna neugierig. »Ist es Ihnen inzwischen eingefallen, was Sie über ihn gehört haben?«

»Nein, ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, antwortete Mrs. Merrywater gequält. »Und doch, wenn ich seinen Namen höre, läutet eine Glocke in mir. Der Marquis von Stade - irgendjemand hat kürzlich von ihm gesprochen. Vielleicht war es einer der Jäger bei der letzten Hasenjagd. Sie sprachen über irgendeinen Gesellschaftsklatsch - und dabei fiel sein Name. Ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang, aber das spielt ja im Grunde auch keine Rolle. Sie sollten einfach nicht allein mit ihm das Dinner einnehmen. Es schickt sich nicht!«

»Es ist doch nur dieses eine Mal«, bettelte Gretna. »Was ist denn schon dabei? Außerdem kennt er mich nicht, und niemand wird je etwas davon erfahren. Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen - und wenn, glaube ich kaum, dass er mich deswegen tadeln würde. Schließlich ist es ja nicht meine Schuld, dass Sie verletzt wurden und das Bett hüten müssen!«

»Ich könnte mich ohrfeigen, wirklich, das könnte ich«, seufzte Mrs. Merrywater. »Warum musste mir das auch passieren!« Sie blickte auf die Kaminuhr. »Vielleicht ist der Doktor bald hier, und ich kann doch noch aufstehen und mit nach unten kommen!«

Gretna beugte sich über sie und berührte Mrs. Merrywaters Stirn mit den Lippen.

»Selbst wenn er in den nächsten fünf Minuten käme, würde er Ihnen nicht erlauben, aufzustehen. Sie brauchen in Ihrem Zustand absolute Ruhe, und das wissen Sie auch.«

Sie wandte sich zum Gehen, bevor Mrs. Merrywater ein weiteres Wort sagen konnte. Als sie ihr Zimmer betrat, sah sie, dass das Mädchen bereits alles zurechtgelegt hatte, was Gretna für die Nacht brauchte.

Zum ersten Mal schämte sie sich ihrer Sachen. Der dünne, fadenscheinige Morgenmantel war so oft gewaschen worden, dass er seine ursprüngliche Farbe längst verloren hatte. Die Pantöffelchen mit den schiefen Absätzen hatte sie schon als Kind getragen. Und da gab es noch die kleine, schmucklose Haarbürste und das Baumwollnachthemd, sauber, aber ohne jede Verzierung, ohne Stickerei oder Spitzenbesatz.

Im Schrank hingen ihre Unterröcke, Mantel und Schal. Das weiße Musselinkleid fehlte, und Gretna nahm an, dass das Zimmermädchen es zum Plätten mitgenommen hatte.

Ja, mit ihrer Garderobe war kein Eindruck zu machen.

Gretna seufzte.

Doch als sie sich dann mit Hilfe des Mädchens umgekleidet hatte und ihr Haar geordnet war, betrachtete sie zufrieden ihr Spiegelbild. Das frische, weiße Musselinkleid mochte zwar einem Vergleich mit den eleganten Satinroben, wie die Damen der Gesellschaft sie bei solchen Anlässen trugen, nicht standhalten, aber es war neu, und es stand ihr ausgezeichnet.

Das neue Musselinkleid.

Den Stoff hatte Gretna für ein paar Schillinge erstanden, und geschneidert hatte sie es selbst. Der Gedanke, nach London reisen zu müssen, ohne ein einziges neues Kleid zu haben, war unerträglich für sie gewesen. Sie wäre vor Scham in den Boden versunken, wenn sie in ihrer abgenutzten Garderobe dort angekommen wäre.

Um die Taille trug Gretna eine blaue Samtschärpe, die noch aus der Garderobe ihrer Mutter stammte. Obwohl schon zwanzig Jahre alt, sah die Schärpe aus wie neu. Ein hauchdünnes Tüchlein betonte die weiße Zartheit von Gretnas Hals. Einen Moment lang dachte sie an eine Perlenkette oder eine kleine Brillanten besetzte Brosche. Doch dann lachte sie sich aus. Sie besaß keinen Schmuck und noch konnte sie gut darauf verzichten. Noch hatte sie es nicht nötig, die Blicke der anderen von sich selbst abzulenken.

Außerdem - was sollte sie damit!

Ihr Leben in London würde ruhig und zurückgezogen sein. Vielleicht bot sich ihr dann und wann einmal die Gelegenheit, eine der eleganten Damen mit ihrem Schmuck und in ihren Pariser Modellen aus der Nähe zu bewundern.

Gretna freute sich auf London. Die Vorstellung erregte sie, schon morgen in dieser riesigen Stadt zu sein, Straßen voller Menschen und voller Fahrzeuge zu erleben, anstatt immer nur grüne Wiesen und Weiden, auf denen es höchstens einmal eine Kuh oder eine Ziege zu sehen gab.

Und das, was heute Abend auf sie zukam, erregte sie noch stärker.

Sie fühlte ein leichtes Zittern, als sie an das dachte, was vor ihr lag.

Der Marquis war ohne Zweifel eine furchteinflößende Persönlichkeit, aber es würde gewiss interessant sein, ihm zuzuhören und sich vorzustellen, dass die Gentlemen, die ihre Mutter gekannt hatte, so ausgesehen und in einer solch prunkvollen Umgebung gelebt hatten wie er.

Was immer Mrs. Merrywater auch dagegen einwenden mochte, Gretna war nicht bereit, auf das Erlebnis des heutigen Abends zu verzichten.

Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann eilte sie zur Tür.

»Ich muss nach unten«, rief sie. »Es ist Zeit zum Dinner. «

»Bitte, Liebes, gehen Sie nicht! Ich flehe Sie an, tun Sie es nicht!« bat Mrs. Merrywater.

»Ich gebe schon auf mich acht«, antwortete Gretna und hob stolz den Kopf.

»Grundgütiger Himmel!« rief Mrs. Merrywater. »Was so ein Küken sich einbildet, das eben erst aus dem Ei gekrochen ist!« Dann lächelte sie. »Nun, ich kann es ja verstehen. Sie wollen endlich einmal einen Blick ins Leben werfen. Der Herr weiß, wie wenig Sie bisher davon mitbekommen haben. Und ich bin ja schließlich hier im Haus, falls Sie mich brauchen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Gretna besänftigend. »Bleiben Sie nur im Bett liegen, und warten Sie, bis der Doktor kommt. Bevor ich schlafen gehe, werde ich noch einmal nach Ihnen sehen, ja?«

»Aber Sie bleiben nicht zu lange«, mahnte Mrs. Merrywater.

Gretna schüttelte den Kopf.

»Keinen Augenblick länger als zehn. Wie man mir gesagt hat, ist das genau der Zeitpunkt, an dem eine korrekte junge Lady sich zurückzuziehen hat.«

Sie eilte mit raschelnden Röcken aus dem Zimmer. Das Licht der vielen Kerzen, die in der großen Halle brannten, verlieh dem kostbaren Teppich auf der Empore einen warmen Schimmer.

Gretna atmete tief.

Ihr war zumute, als machte sie den Schritt in ein erregendes Abenteuer.

Sie würde allein mit einem Marquis speisen. Mit einem Mann, den sie an diesem Tag erst kennengelernt hatte, der jedoch zweifellos eine sehr bedeutende und einflussreiche Persönlichkeit war.

Langsam stieg sie die Stufen der breiten Treppe hinab, während sie sich für kurze Zeit einer mädchenhaften Träumerei hingab.

Sie stellte sich vor, sie trüge ein reich mit Borten und Spitzen besetztes Satinkleid, ihr Haar wäre gepudert, und Brillanten schmückten ihren Hals. Sie war kein unbekanntes Landmädchen in einem schlichten Musselinkleid. Sie war eine Königin, eine Prinzessin, jemand aus einem Märchen. Die Figur in einem großen Drama, das in diesem Moment begann.

Die Vorstellung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie fühlte, wie ihr Herz vor Erregung schneller schlug und ihr Atem sich beschleunigte.

Als sie die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte, bemerkte sie den Marquis, der ihr aufmerksam entgegenblickte.

Er stand vor dem Kamin, die Hände auf dem Rücken, den dunklen Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, weil er zu ihr hochgeschaut hatte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos und um seine Lippen spielte dieses seltsame, leicht spöttische Lächeln, das Gretna so unsicher machte.

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