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Wie waren die führenden Vertreter:innen und gläubigen Mitglieder der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus politisch eingestellt? Bejahten sie das neue Regime oder lehnten sie es ab? Welche Abstufungen und Mischformen von Nähe und Distanz gab es und worin äußerten sie sich? Was waren die Gründe für die jeweilige Einstellung und wie veränderte sie sich während und nach der Herrschaft des Nationalsozialismus? Und in welchem Verhältnis standen diese Einstellungen zum Handeln der historischen Akteur:innen? Das methodische Grundproblem bei der Beantwortung dieser Fragen liegt darin, dass politische Einstellungen als latente Konstrukte nicht direkt beobachtbar sind und dem historischen Quellenmaterial somit oftmals auch nur indirekt entnommen werden können. Die Beiträge dieses Bandes zeigen Wege auf, wie man historische Einstellungen messen kann und lassen ein neues Bild von Christ:innen im Nationalsozialismus entstehen.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Marvin Becker, Helge-Fabien Hertz, Thomas Großbölting (†), Rainer Hering (Hg.)
Vom Nationalsozialismus überzeugt?
Politische Einstellungen christlicher Akteure in und nach der Diktatur
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wie waren die führenden Vertreter:innen und gläubigen Mitglieder der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus politisch eingestellt? Bejahten sie das neue Regime oder lehnten sie es ab? Welche Abstufungen und Mischformen von Nähe und Distanz gab es und worin äußerten sie sich? Was waren die Gründe für die jeweilige Einstellung und wie veränderte sie sich während und nach der Herrschaft des Nationalsozialismus? Und in welchem Verhältnis standen diese Einstellungen zum Handeln der historischen Akteur:innen? Das methodische Grundproblem bei der Beantwortung dieser Fragen liegt darin, dass politische Einstellungen als latente Konstrukte nicht direkt beobachtbar sind und dem historischen Quellenmaterial somit oftmals auch nur indirekt entnommen werden können. Die Beiträge dieses Bandes zeigen Wege auf, wie man historische Einstellungen messen kann und lassen ein neues Bild von Christ:innen im Nationalsozialismus entstehen.
Vita
Marvin Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg.
Dr. Helge-Fabien Hertz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut an der Universität Duisburg-Essen, Abteilung für Neuere und Neueste Geschichte, sowie Lehrbeauftragter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Dr. Thomas Großbölting (1969–2025) war Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte an der Universität Hamburg, Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und geschäftsführender Direktor der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.
Dr. phil. Dr. theol. Rainer Hering ist Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Professor für Neuere Geschichte und Archivwissenschaft an der Universität Hamburg und Honorarprofessor an der Universität zu Kiel.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Vorwort
In Memoriam Prof. Dr. Thomas Großbölting (* 30. März 1969; † 11. Februar 2025)
Quo vadis?
Marvin Becker, Helge-Fabien Hertz, Thomas Großbölting (†) und Rainer Hering: Zum methodischen Grundproblem einer Historischen Einstellungsforschung. Rückschau und Neuansatz
Literatur
Olaf Blaschke: Sozialpsychologie und Geschichte. Das Potential der Einstellungsforschung für das Themenfeld Kirchen und Nationalsozialismus
Einstellungsforschung
Negative Einstellungsobjekte und Anti-Haltungen angesichts des Nationalsozialismus
Positive Einstellungsbezüge zum Nationalsozialismus
Fazit
Literatur
Mikro-Ebene: Individuen
Klaus Große Kracht: Mit »fliegenden Fahnen«? Erfahrung und Erwartung im katholischen Feld des Jahres 1933
Unerwartete Fürsprecher: Walter Dirks und Erich Klausener im Jahr 1933
Biographische Verortungen im »katholischen Feld« zwischen Weimarer Republik und früher NS-Herrschaft
Zwischen »Erfahrung« und »Erwartung«: 1933 als Entscheidungssituation
Fazit: Der Preis der falschen Hoffnungen
Literatur
Nora Andrea Schulze: Politisch neutral? Der bayerische Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) im Wechsel der politischen Systeme
Kaiserreich
Weimarer Republik
NS-Herrschaft
Besatzungszeit und Bundesrepublik
Literatur
Verwendete Archive
Veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur
Manfred Gailus: Otto Dibelius. Wandlungen eines preußisch-deutschen Nationalprotestanten vor und während des »Dritten Reichs«
Erwartung
Erfüllung
Enttäuschung
Auszeit und Denkpause
»Kirchenkampf«
Kriegszeiten
Resümee
Literatur
Verwendete Archive
Veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur
Marvin Becker: Vom Besonderen zum Allgemeinen. Persönliche Überzeugungen ehemaliger Deutscher Christen und der Nationalprotestantismus in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft
Nationalprotestantische Überzeugungen
Netzwerke – Überzeugungen – Diskursnetzwerke
Zwischenfazit: Folgerungen für die Erhebung von Überzeugungen der ehemaligen Deutschen Christen und deren Verallgemeinerbarkeit
Die Westfälische Pfarrerarbeitsgemeinschaft als Diskursnetzwerk
Fazit
Literatur
Verwendete Archive
Veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur
Meso-Ebene: Vordefinierte Untersuchungsgruppen
Lucia Scherzberg: Die Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden. Handeln und Einstellungen der Akteure
Das Umfeld
Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Einstellung und Handeln
Anwendung der theoretischen Überlegungen auf drei Beispiele aus dem Handeln der Priestergruppe
Der sogenannte »Schmerzensfreitagsbrief«
Die Dankadressen-Aktion
Reaktionen auf das Parteiausschlussverfahren gegen Pircher
Schlussüberlegungen
Literatur
Verwendete Archive
Veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur
Markus Raasch: »Volksgemeinschaft« und »Katholischsein«. Das theoretisch-methodische Setting eines Forschungsprojektes zu »Eichstätt im Nationalsozialismus«
Prämissen
Nicht von vornherein einordnen
Milieu, aber anders
»Katholische Volksgemeinschaft« profilieren
Methodisches Vorgehen und Erkenntnisse
Die Parteiorganisationen
Die Bevölkerung
Fazit
Literatur
Verwendete Archive
Veröffentlichte Quellen und Forschungsliteratur
Helge-Fabien Hertz: Der »NS-Überzeugungsscore«. Indikatorbasierte Messung vergangener Einstellungen zum Nationalsozialismus am Beispiel schleswig-holsteinischer Pastoren im »Dritten Reich«
Grundlage: Promotionsprojekt
NS-Überzeugung: Definition, Grundformen und Indikatoren
Validierung von Überzeugungsindikatoren
Validierungsbeispiel: NSDAP-Mitgliedschaft
Gewichtung von Indikatoren
Finaler Indikatorenkatalog
Von den Indikatoren zur Person: Erkenntnistheoretische Grundannahmen
Messmodell
Der NS-Überzeugungsscore
Rechenbeispiele
Werte-Korridore
Überzeugungsverteilung der schleswig-holsteinischen Pastoren im »Dritten Reich«
Gründe für die Überzeugung
Handlungsrelevanz der Überzeugung
Reflexion des Ansatzes
Literatur
Makro-Ebene: Die (christliche) Gesamtbevölkerung
Thomas Brechenmacher: Vornamen als demoskopische Indikatoren. Rückblicke auf ein Forschungsprojekt
Methodische Grundlagen
Säkularisierung und Pluralisierung – Religion und Tradition
Einstellungen und Überzeugungen dem Nationalsozialismus gegenüber
Fazit
Literatur
Jürgen W. Falter und Lisa Klagges: Eintrittsmotive früher NSDAP-Mitglieder
Quellen und Materialien zu den Beitrittsmotiven von NSDAP-Mitgliedern
Beschreibung der Kategoriensysteme
Einige Auswertungsergebnisse
Das Kategorienschema zur Auswertung der Spruchkammerprotokolle
Ausblick
Literatur
Autorinnen und Autoren
Im September 2023 fand an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) die Tagung »Vom Nationalsozialismus überzeugt? Politische Einstellungen religiöser Gruppen und Individuen in der NS- und Nachkriegszeit« statt. Gemeinsam haben sich die Teilnehmenden auf den Weg gemacht, nach Potenzial und Möglichkeiten der Untersuchung vergangener »Einstellungen« christlicher Individuen, Gruppen und der (christlichen) Gesamtbevölkerung im und nach dem »Dritten Reich« zu fragen. Die Beiträge und Ergebnisse der Tagung werden in diesem Band publiziert.
Wir hoffen, damit einerseits neue Wege zu einem noch tieferen Verständnis für das Funktionieren der NS-»Volksgemeinschaft« zu eröffnen. Andererseits wollen wir den Blick exemplarisch auf ein methodologisches Grundproblem der Geschichtswissenschaft richten: die Frage, wie historische, nicht direkt beobachtbare »Einstellungen« untersucht werden können, womit sich Helge-Fabien Hertz und Marvin Becker auch in ihren Dissertationen befass(t)en.
Unser besonderer Dank gilt allen Autor:innen für ihre Offenheit, die eigenen Forschungen nochmals unter dem Ansatz der »Einstellungen« zu reflektieren und zu vertiefen, ebenso für die sehr ergiebigen Diskussionen im Rahmen der Tagung. Wir freuen uns sehr über die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Religion und Moderne« und danken dem Herausgeber:innen-Team der Reihe sowie Jürgen Hotz und dem Campus Verlag für die Drucklegung, ebenso Chiara Nahnsen für ihr Lektorat. Darüber hinaus danken wir der Universität Münster für die Bereitstellung der Mittel zur Durchführung der Tagung. Die Drucklegung des Bandes wird durch großzügige Zuschüsse des Landesarchivs Schleswig-Holstein sowie der Universität Hamburg ermöglicht. Ohne diese Unterstützungen hätten Tagung und Sammelband nicht realisiert werden können.
Marvin Becker, Helge-Fabien Hertz, Thomas Großbölting (†) und Rainer Hering
Hamburg, Essen und Schleswig im Februar 2025
Kurz bevor das diesem Band zugrunde liegende Manuskript dem Verlag übergeben werden konnte, verstarb vollkommen unerwartet unser Mitherausgeber, verehrter Kollege und Doktorvater Prof. Dr. Thomas Großbölting bei einem Bahnunglück in Hamburg. Er hinterlässt eine Ehefrau und vier Kinder, denen unser ganzes Mitgefühl gilt. Thomas Großbölting gehörte zu den angesehensten Zeithistorikern. Zu seinen vielfältigen Forschungsinteressen zählte schon lange die Zeitgeschichte der Religion in Deutschland. Ihrer Entwicklung seit 1945 ging er in seiner Monografie »Verlorener Himmel« (2013) nach. In seinem Buch »Schuldige Hirten« (2022) befasste er sich eingehend mit sexualisierter Gewalt an Minderjährigen durch Geistliche und Amtsträger der katholischen, aber auch der evangelischen Kirche, wofür er deutschlandweit Anerkennung erfuhr. Und so war er auch sofort mit an Bord, als wir mit dem religionsgeschichtlichen Tagungsthema an ihn herantraten.
Besonders schätzten wir an Thomas seinen unglaublichen Einsatz für die wissenschaftliche Arbeit, seine allzeit freundlich-zugewandte Art gegenüber Kolleg:innen, Studierenden und Doktorand:innen ganz ohne Ansehen auf berufliche oder akademische Hierarchien und seine stets ansteckende Zuversicht, für jedes Problem eine Lösung zu finden. All das wird uns in Zukunft sehr fehlen, er wird fehlen. Wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet: Von den ersten Planungstreffen der diesem Band zugrunde liegenden Tagung, die im Frühjahr 2023 stattfanden, bis hin zur schlussendlichen akribischen Mitarbeit bei der Herausgabe dieses Bandes war er ein unverzichtbares Mitglied unseres Teams. Stets fand er auf beinahe magische Weise Lücken für Planungsgespräche in seinem dicht getakteten Terminplan, stets profitierten wir von seinem kritisch-konstruktiven Input und seinen innovativen Ideen, stets war er als Organisator von Tagungsräumen, Finanzmitteln und Kontakten zu Referent:innen zur Stelle. Dass dieser Band nun erscheint, ohne dass er selbst ihn in Händen halten kann, schmerzt uns. Wir widmen dieses Buch dem Andenken an Thomas Großbölting und seiner von ihm geliebten und so bewundernswert zusammenstehenden Familie.
Marvin Becker, Helge-Fabien Hertz und Rainer Hering
Hamburg, Essen und Schleswig im März 2025
Marvin Becker, Helge-Fabien Hertz, Thomas Großbölting (†) und Rainer Hering
Wie waren die führenden Vertreter:innen und gläubigen Mitglieder der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus eingestellt? Bejahten sie das neue Regime oder lehnten sie es ab? Welche Abstufungen und Mischformen von Nähe und Distanz gab es, worin äußerten sich diese? Was waren die Gründe für die jeweilige Haltung und wie veränderte sie sich zu Beginn, während und nach der Herrschaft des Nationalsozialismus? Dies sind im Kern die Forschungsfragen, die dieser Tagungsband stellt und zu beantworten sucht. Die Fragestellung ist nicht neu, im Gegenteil ist sie vielfach und mit verschiedenen Methoden aufgegriffen worden. Dennoch, so wollen wir einleitend herausarbeiten, bergen diese Fragen noch viel Forschungspotenzial, da das dahinterstehende methodische Grundproblem bislang nicht in den Fokus des Erkenntnisinteresses gerückt wurde. Dieses liegt in der Herausforderung begründet, innere, nicht direkt beobachtbare »Einstellungen« zu ermitteln und analysierbar zu machen.
In den Sozialwissenschaften, die mit dieser Kategorie schon längere Zeit operieren, gelten Einstellungen deswegen als »latente Konstrukte«, die mit Hilfe sogenannter »Indikatoren« operationalisiert und damit sichtbar gemacht werden können. Durch diese Indikatoren-Variablen wird es dann außerdem möglich, das latente Konstrukt zu quantifizieren und seine Ausprägung bei verschiedenen Trägern miteinander zu vergleichen. Doch inwiefern lässt sich dieses Vorgehen auf die Geschichtswissenschaft übertragen, der in Bezug auf die Erhebungsmethode durch jeweils spezifische, häufig heterogene und lückenhafte Quellenlagen ganz andere Forschungsimperative auferlegt sind als den Sozialwissenschaften? Im Zentrum des Bandes steht erstmals eine Zusammenschau etablierter historiografischer Forschungsmethoden (Best Practice-Beispiele) und neuer interdisziplinärer Impulse zur historiografischen Einstellungsforschung sowie deren methodische Reflexionen. Auf diese Weise wollen wir einen zukunftsweisenden »Methodenwerkzeugkoffer« zur historiografischen Einstellungsforschung bereitstellen, aus dessen Inhalt Forschende künftig schöpfen können.
Obwohl die Zeit des NS-Regimes sicherlich die am stärksten beforschte Teilepoche der deutschen Geschichte darstellt, gilt das Thema »Nationalsozialismus« damit keineswegs als saturiert. Dies trifft insbesondere auf den Bereich der Einstellungs- und Motivforschung zu, dem eine wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage nach dem langjährigen Funktionieren der NS-Diktatur zukommt. So tauchen die Begriffe »Einstellungen« und »Überzeugungen« bereits in der älteren Widerstandsforschung auf. Hier entstanden stark ausdifferenzierte Modelle verschiedener Grade an »Resistenz«, die sich größtenteils an gezeigten Verhaltensweisen, mitunter aber auch an vermuteten Überzeugungen der Akteure zwischen punktueller Unzufriedenheit und vollständiger Ablehnung des Regimes festmachten.1
Mittlerweile erfolgt im Rahmen von Untersuchungen zur NS-Volksgemeinschaftsideologie auch die Integration von zustimmenden Einstellungen zum Nationalsozialismus in die Fragestellungen und Klassifikationsmodelle.2 Im Zentrum steht nun nicht mehr die Einordnung einzelner Akteur:innen in ein Raster von mehr oder minder widerständigen Verhaltensweisen, oft verbunden mit moralischen Bewertungen des Verhaltens der jeweiligen Personen. Vielmehr gilt es, »beide Seiten der Stufenleiter gleichmäßig [zu] vermessen«.3 Zugleich richtet sich das Erkenntnisinteresse zunehmend auf die Bedeutung politischer Überzeugungen in der Bevölkerung im »Dritten Reich«: Mit Begriffen wie »Zustimmungsdiktatur« bzw. »Gefälligkeitsdiktatur«4 sprachen einige Historiker der Zustimmung und Affirmation eine das Regime erhaltende Funktion zu, gerade weil zustimmende Verhaltensweisen in der öffentlichen Wahrnehmung dominierten. Andere rückten als Gegenargument den repressiven Charakter des NS-Staates ins Zentrum und sahen zustimmende Äußerungen weniger als Zeichen einer inneren Haltung, sondern führten sie vielmehr auf die Unmöglichkeit öffentlichen Dissenses zurück.5
Dies – so ein Fokus der Diskussionen auf der Tagung, die diesem Sammelband zugrunde liegt – kann auch eine logische Folge der damaligen Kommunikationsstrukturen sein, die wesentlich von der NS-Propaganda dominiert und kontrolliert wurden. Dadurch war es möglich, die Wahrnehmung der Zeitgenossen so zu beeinflussen, dass für sie eine kollektive Zustimmung zum Regime in der deutschen Bevölkerung als sicher galt. Davon abweichende Meinungen wurden deswegen weder öffentlich vertreten noch multipliziert. Aus diesem Grund treten diese dann in den retrospektiven Analysen zu Haltungen in der NS-Zeit nicht oder kaum in Erscheinung.6 Der Trendwechsel ist damit klar: Anders als in der älteren Widerstandsforschung wird Zustimmung suggerierendes Verhalten der Akteur:innen nicht mehr einfach als positive Einstellung zum NS-Regime interpretiert, sondern kritisch auf andere Verhaltensmotivationen hin überprüft.
Gleiches muss auch geschehen, um Verhaltensweisen des Dissenses zum Regime adäquat einordnen zu können. So konnten kritische Kommentare zu einzelnen Maßnahmen des Regimes auch darin begründet liegen, dass die kritisierende Person das von ihr innerlich unterstützte NS-System durch punktuelle Verbesserungen konstruktiv weiterentwickeln wollte. Punktuelle Kritik muss also zumindest mit dem ansonsten gezeigten Verhalten verbunden betrachtet werden, um vorschnelle Fehlschlüsse zu vermeiden. In der Konsequenz bedarf es wenigstens eines größeren Verhaltensmonitorings und nicht nur punktueller Befunde, um die Einstellungen von Personen sicherer einschätzen zu können.
Dieses Problem besteht über die Forschungen zur NS-Zeit hinaus auch für Untersuchungen zur Nachkriegszeit. Schließlich sind individuelle und kollektive Zustimmung zum Nationalsozialismus nicht nur bedeutsam für den Versuch, das Funktionieren der NS-Diktatur bis in die letzten Kriegsmonate hinein zu erklären. Die (tatsächliche oder vermutete) Haltung zum zusammengebrochenen NS-Staat war auch Verhandlungsgegenstand und Hypothek der »Vergangenheitsbewältigung« in den deutschen Nachkriegsgesellschaften. Der vermeintlich »versäumte Abschied« von der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« wurde schon von kritischen Zeitgenossen als Grund für eine Unfähigkeit zur Aufarbeitung der individuellen und gesellschaftlichen NS-Partizipation diagnostiziert. Später stritt man sich gar über eine »Zweite Schuld« in Bezug auf das Verdrängen und Verschweigen von NS-Terror und Holocaust.7 Besonders ab den 1960er Jahren, als durch aufsehenerregende Prozesse gegen die mobilen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und gegen die Wachmannschaften im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Bewegung in die juristische Aufarbeitung der Shoa kam, erhob die junge Studierenden-Generation der »68er« lautstarke Kritik an der Umgangsweise ihrer Elterngeneration mit deren Verstrickung in die NS-Verbrechen.8
Offiziell lehnten beide 1949 gegründeten deutschen Staaten radikal und demonstrativ ab. In der Bundesrepublik (BRD) speiste sich dies anfangs vor allem aus einem Antitotalitarismus, der sich ebenso gegen die kommunistischen Diktaturen im »Ostblock« wendete. Dem stand der Antifaschismus in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in nichts nach, der den kapitalistischen und imperialistischen Westen Deutschlands stets als von einem erneuten Abgleiten in den Nationalsozialismus bedroht ansah.9 Jedoch standen Bonn und Pankow gleichermaßen vor der Verlegenheit, dass ein Großteil ihrer Bürger:innen bis 1945 vom Nationalsozialismus oder zumindest von der Politik des Hitler-Regimes soweit überzeugt gewesen war, dass es bis Kriegsende zu keinem nennenswerten Widerstand gegen das Regime gekommen war. Die ihnen gegenüber praktizierten Maßnahmen zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen, politischer Säuberung und Umerziehung waren von den alliierten Besatzungsmächten initiiert und wurden von den deutschen Regierungen in Ost und West sehr bald beendet, radikal abgemildert oder rückgängig gemacht. Die klare Absage an die NS-Ideologie und der »Friede mit den Tätern«10 des NS-Regimes – beides stand im Politikbetrieb von BRD und DDR in ambivalenter Spannung nebeneinander. Weder die offiziöse negative Bezugnahme von BRD und DDR auf das Hitler-Reich, ob nun im Zeichen des Antitotalitarismus oder Antifaschismus, noch die tribunalisierende Kritik der 1968er-Generation an der Schuldverleugnung und -verdrängung ihrer Eltern und Großeltern können ohne Weiteres als Anzeichen für eine innere Abwendung von nationalsozialistischen Ideologemen wie Führerglaube oder Antisemitismus interpretiert werden.11 Auch hier konnten Delegitimierung des politischen Gegners, persönliche Rechtfertigung oder Anschlusssuche an einen gesellschaftlichen Diskurs dafür sorgen, dass Akteur:innen sich nicht einstellungskonform verhielten, sondern sich verstellten.
Dieses methodische Grundproblem stellt sich analog der Forschung zu den beiden christlichen Großkirchen, ihren Funktionsträgern sowie der christlichen Gesamtbevölkerung im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, sofern sie deren Haltungen zum Nationalsozialismus in den Blick nimmt. Katholik:innen und Protestant:innen machten bei einer damaligen Kirchenmitgliedschaftsquote von über 95 Prozent beinahe die Gesamtheit sowohl der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« als auch der deutschen Nachkriegsgesellschaft aus. Die Frage der Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum12 interessierte seinerzeit bereits NS-Parteistrategen und kirchliche Würdenträger sowie zumindest den kirchennahen Teil der Bevölkerung. Sonst hätte es auf evangelischer Seite weder die nationalsozialistischen Deutschen Christen (DC) noch deren Widersacher:innen in der Bekennenden Kirche (BK) mit ihrer umfangreichen »Kirchenkampf«-Publizistik gegeben. In Bezug auf die evangelischen Kirchen dominierte lange Zeit ein Narrativ, welches die mutigen Taten Weniger und eine partielle Verweigerung der »Gleichschaltung« kirchlicher Institutionen zu »Kirchenkampf-Legenden«13 von den Kirchen im Widerstand verdichtete. Zurecht wurden diese durch neuere Studien hinterfragt und dekonstruiert, die gerade Formen von Kooperation, Zustimmung und Kollaboration der Kirchen mit dem Nationalsozialismus als ausschlaggebende Charakteristika herausarbeiteten.14 Im Zusammenhang damit entwickelte sich die Vorstellung von einer besonderen Anschlussfähigkeit des dezidiert nationalistisch und staatsbejahend eingestellten Protestantismus für viele Ideologeme des Nationalsozialismus, vor allem für dessen rassistisch-antisemitische Volksgemeinschaftsideologie. Nach 1945 sei dies »Erblast« und »Hypothek« bei der politischen Integration in die Nachkriegsordnungen des geteilten Deutschlands gewesen. Allerdings bedarf auch dieses jüngere Narrativ vom »Nationalprotestantismus«15 einer kritischen Überprüfung und empirischer, vergleichender Betrachtungen mit dem Katholizismus, um nicht irrtümlich einem zwangsläufigen deutsch-protestantischen »Sonderweg« in den Nationalsozialismus das Wort zu reden.16 Beispielsweise verweist die hohe Korrelation von protestantischer Konfessionszugehörigkeit und Parteizugehörigkeit bzw. Wahlzustimmung für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)17 auf eine signifikant höhere Popularität der Hitler-Partei in den protestantischen gegenüber den katholischen Bevölkerungsteilen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch viele Katholik:innen unter Hitlers Wähler:innen und Parteigenoss:innen befanden.
So hat sich auch die katholische kirchliche Zeitgeschichtsforschung mittlerweile vom Bild des unversöhnlichen Gegensatzes von »Kreuz und Hakenkreuz«18 verabschiedet und untersucht das Verhalten und die Haltungen katholischer Geistlicher und Laien nicht mehr einseitig unter dem Oberbegriff der »Resistenz«. Stattdessen geraten auch hier Formen der Konformität und der Zustimmung zum Nationalsozialismus zunehmend in den Blick.19 Unlängst wurden die frühen Selbstdarstellungen katholischer Kirchenrepräsentanten als eine Form der Geschichtsklitterung entlarvt, die als Legitimationsgrundlage kirchlicher Einflussnahme auf die Gestaltung der deutschen Nachkriegsgesellschaft diente.20 Unterschied sich die Haltung der evangelischen Bevölkerung zum Nationalsozialismus wirklich so stark von derjenigen der Katholik:innen? Wie sah das Mischungsverhältnis zwischen Zustimmung und Ablehnung zu Führerpartei und -staat jeweils aus? Inwiefern veränderten sich diese Haltungen nach der Zäsur des Zusammenbruchs von 1945? Und wie unterschieden sich die politischen Einstellungen von christlichen »Volksgenossen:innen« im Vergleich zu den nichtchristlichen? Diese Fragen sollten die zunehmend konfessionell vergleichend arbeitende kirchliche Zeitgeschichtsforschung der Zukunft brennend interessieren.21
Denn auch in der kirchlichen beziehungsweise religiösen Zeitgeschichte wurde bislang nicht hinreichend berücksichtigt, dass sich Einstellungen historisch sowie gegenwärtig der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen: Ob eine Person NSDAP-Mitglied war und wie sie im NS-Regime gehandelt hat, kann Quellen direkt entnommen werden; wie sie zum Nationalsozialismus eingestellt war hingegen nicht. Dass von NS-konformen Handlungen nicht pauschal auf die NS-Einstellung rückgeschlossen werden kann, wird beispielhaft am NSDAP-Eintritt deutlich, dem eine Bandbreite verschiedener Motive, die sich von Opportunismus über Karriereorientierung bis hin zu tiefer innerer Überzeugung erstrecken, zugrunde liegen konnte.22
Dem methodischen Grundproblem, wie historische Einstellungen erhoben werden können, geht dieser Sammelband anhand mehrerer Forschungsbeispiele aus der kirchlichen Zeitgeschichte erstmals systematisch nach. Dafür versammelt er Beiträge einer Tagung vom September 2023, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, durch Vorstellung und kritische Reflexion verschiedener qualitativer wie quantitativer Untersuchungen zu Einzelakteur:innen, Akteur:innen-Gruppen und zur deutschen Gesamtgesellschaft einen »Methodenwerkzeugkoffer« für die Sichtbarmachung historischer Einstellungen zu entwickeln. Zur besseren forschungspragmatischen Systematisierung wurden die Beiträge jeweils einer von drei Ebenen zugeordnet, die auch die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Band strukturieren. Auf der Mikro-Ebene finden sich jene Beiträge, die Einstellungen einzelner Individuen zum Untersuchungsgegenstand machen, wogegen auf der Meso-Ebene Studien zur Ermittlung von Einstellungen vordefinierter größerer Gruppen verortet sind. Die Beiträge auf der Makro-Ebene zielen auf die kollektiven Überzeugungen der weithin christlichen Gesamtbevölkerung ab.
Dieser Unterteilung liegt die Annahme zugrunde, dass der Umfang des betrachteten Personenkreises jeweils unterschiedliche forschungspragmatische Herausforderungen mit sich bringt und daher auch unterschiedliche methodische Zugänge erforderlich macht. Auf der Mikro-Ebene kann bei der Erforschung von Einstellungen von Einzelpersonen primär auf überlieferte Ego-Dokumente zurückgegriffen werden. Durch die sehr intensive Beschäftigung mit der Person ist es möglich, Einstellungen umfassend, zeitlich differenziert und sehr detailliert zu analysieren. Allerdings kann vom Besonderen nicht automatisch auf das Allgemeine, vom konkreten Einzelfall also nicht pauschal auf eine größere Gruppe von Individuen (Meso-Ebene) oder gar auf die Gesamtbevölkerung (Makro-Ebene) rückgeschlossen werden.23 Wie oben dargestellt, geht das in der Forschung anzutreffende Interesse an Einstellungen als möglicher Faktor der Stabilisierung des NS-Regimes jedoch genau in diese Richtung. Es stellt sich also die Gretchenfrage, ob der ausgewählte Einzelfall Ausnahme oder Regel ist. Mitunter wird versucht, dieses Problem dadurch zu lösen, dass man die Einstellungen einzelner hochrangiger Kirchenführer oder Repräsentanten kirchlicher Strömungen als exemplarisch beziehungsweise als Impulsgeber für ihre Anhänger:innen annimmt. Diesen Ansatz verfolgen die Beiträge von Klaus Große Kracht, Manfred Gailus und Norah Andrea Schulze in diesem Sammelband. Große Kracht legt in seinem Beitrag über die zentrumsnahen katholischen Laien Erich Klausener und Walter Dirks das Hauptaugenmerk auf deren kurzfristig beobachtbare Handlungsschwankungen. Er entwickelt für ihre überraschend positiven Äußerungen zum NS-Regime im Jahr 1933 einen Erklärungsansatz, der diese kurzfristige Annäherung an die Nationalsozialisten im Spannungsfeld von enttäuschenden Erfahrungen der Vergangenheit und positiven Zukunftserwartungen durch Aufbrechen der klerikalen Strukturen des politischen Katholizismus zu plausibilisieren versucht. Auch Gailus nimmt in seinem Beitrag zu Otto Dibelius kurzfristige politische Richtungswechsel in den politisch turbulenten Jahren 1932 bis 1934 in den Blick und greift dabei vor allem auf regelmäßige Pressekommentare dieser »protestantischen Jahrhundertfigur«24 im Berliner Evangelischen Sonntagsblatt zurück. Insgesamt diagnostiziert er bei Dibelius ein Zusammenspiel von langfristig stabilen Grundüberzeugungen und kurzfristigen Haltungsänderungen, die von der Tagespolitik entscheidend mitbeeinflusst werden. Demgegenüber zeichnet Schulze in erster Linie langfristige Prägungen und langsame Überzeugungsänderungen des bayrischen Landesbischofs Hans Meiser nach und nimmt dafür ebenso Bezug auf dessen Korrespondenz, Veröffentlichungen und Handeln als kirchenpolitische Führungsfigur wie auf private Einstellungsäußerungen von Meiser, die durch seinen Sohn überliefert sind. Im Gegensatz zu Gailus, Große Kracht und Schulze beschäftigt sich der Beitrag von Marvin Becker nicht mit kirchenleitenden Persönlichkeiten oder Vordenkern wichtiger kirchlicher Strömungen, sondern mit den in der Nachkriegszeit weitgehend isolierten ehemaligen deutsch-christlichen Pfarrern in der Bundesrepublik. Ausgehend von der Theorie von Diskursnetzwerken vergleicht Becker Aussagen Deutscher Christen innerhalb eines Netzwerkes ihrer ehemaligen Kameraden mit Statements, die an außenstehende Adressaten gerichtet sind. Daraus arbeitet er Überzeugungen heraus, die die Deutschen Christen bei ihren äußeren Gesprächspartnern antizipierten und versucht damit, Kenntnisse über die in der Kirche vorherrschenden Einstellungen zum Nationalsozialismus und seinen Teilideologemen zu ermitteln.
Auf der Meso-Ebene der größeren, vordefinierten Untersuchungsgruppen wurde die Frage nach den Einstellungen der Akteure zum Nationalsozialismus und ihren Motivlagen in der Vergangenheit zumeist ausgeklammert25 oder – sofern durch die Quellenlage ermöglicht – qualitativ auf der Grundlage von Ego-Dokumenten wie Tagebüchern und (Feldpost-) Briefen, durch soldatische Abhörprotokolle und dergleichen beantwortet, die für die jeweilige Untersuchungsgruppe ausgewertet wurden.26 Hier lässt sich der Aufsatz von Lucia Scherzberg zur »Arbeitsgemeinschaft für den Religiösen Frieden« einordnen, die sich vor allem auf die qualitative Analyse von Parteibüchern und -akten zu Mitgliedern der Organisation sowie deren Selbstdarstellungen und andere Ego-Dokumente stützt. Besonderen Wert legt Scherzberg auf die Integration von rollentheoretischen Konzepten sowie des Konzeptes der »Volksgemeinschaft«. Markus Raasch schließt in seinem Beitrag an dieses Konzept und an die Praxis der jüngeren allgemein- wie kirchen- und religionshistorischen Forschung an, Einstellungen zum Nationalsozialismus mithilfe des Milieu- beziehungsweise Mentalitätsbegriffs nachzugehen.27 Mit dem Begriff des »Katholisch-seins« entwickelt er das Milieu-Konzept zugleich weiter. War für Scherzberg die Zugehörigkeit zum Kreis der »Arbeitsgemeinschaft für den Religiösen Frieden« entscheidend, so konstituiert sich die von Raasch betrachtete Gruppe durch die Zugehörigkeit zur katholischen Bevölkerung der oberbayrischen Bischofsstadt Eichstätt. Besonderen Wert legt er auf die Semantiken, Praktiken und Emotionen, die die »katholische Volksgemeinschaft« regional ausmachten, woraus er politische Einstellungen der Gruppe ableitet. Den Abschluss der Untersuchungen auf der Meso-Ebene vordefinierter Gruppen bildet der Beitrag von Helge-Fabien Hertz. Dieser fasst die Ergebnisse einer indikatorbasierten, empirischen Überzeugungsmessung aller 729 in der NS-Zeit amtierenden evangelischen Pastoren Schleswig-Holsteins zusammen, die er in seiner 2022 veröffentlichten Dissertation durchgeführt hat. Herzstück seines Beitrages ist die Dokumentation der an sozialwissenschaftlicher Methodik angelehnten Entwicklung und Validierung von 36 Überzeugungsindikatoren sowie seines Messmodells, auf deren Grundlage er die in dem Kollektiv vorherrschenden Einstellungen zum Nationalsozialismus untersucht.
Bisherige Forschungsarbeiten, die auf der Makro-Ebene der Gesamtgesellschaft ansetzten, werteten Ego-Dokumente wie die Tagebücher von Joseph Goebbels und die Lageberichte des SD auf die Stimmung in der Bevölkerung hin aus. Dabei wurde also auf einzelne zeitgenössische Beobachter der »Volksmeinung« mit eigener politischer Agenda zurückgegriffen – zumeist ohne die Validität solcher problematischen Quellen zu hinterfragen. Außerdem wurden Wahl- und retrospektive Umfrageforschungsergebnisse etwa aus den 1980er oder 1990er Jahren herangezogen. Vereinzelt wurden auf dieser gesamtgesellschaftlichen Ebene auch bereits Indikatoren verwendet, wie etwa die Häufigkeit der Vergabe der Vornamen »Adolf« [Hitler], »Horst« [Wessel] und »Hermann« [Göring/der Cherusker],28 Anrufungen des »Führers« in Todesanzeigen gefallener Soldaten,29 Kirchenaustritte, Urteile des Volksgerichtshofes und das Sparverhalten.30 Stellvertretend für diese zahlreichen Möglichkeiten indikatorbasierter Forschung auf der Makro-Ebene meldet sich in diesem Sammelband Thomas Brechenmacher mit seinem Beitrag zur Vergabepraxis von Vornamen zu Wort. Besonderen Wert legt er darauf, dass sich die mit den Namen verbundenen Assoziationen mit der Zeit verändern können und die Vergabepraxis immer auch Moden unterliegt, die unabhängig von politischen Einstellungen ihre Wirkung entfalten. Damit geht er auf die bisher kaum berücksichtige Frage nach Grenzen der Aussagekraft solcher Indikatoren ein. Intensiv mit der Einstellungsforschung auf der Makro-Eben beschäftigt haben sich auch Jürgen W. Falter und Lisa Klagges. In ihrem Beitrag, der auf dem kürzlich erschienenen Buch Wie ich den Weg zum Führer fand basiert,31 gehen die beiden der Frage nach, was NSDAP-Mitglieder dazu bewog, der Partei beizutreten. Stellvertretend für die rund zehn Millionen Personen werteten sie mithilfe eines zuvor entwickelten Kategorienschemas in einer qualitativen Inhaltsanalyse ein ca. 10.000 Dokumente umfassendes Textkorpus aus und ermittelten, welche Einstellungen oder Motive besonders oft genannt wurden.
Vorangestellt ist den Beiträgen eine Einführung Olaf Blaschkes in die facettenreichen Fragestellungen, die aus der Verwendung des Einstellungsbegriffs auf der Grundlage sozialpsychologischer Perspektiven und Erkenntnisse resultieren. Neben der ausführlichen Beschäftigung mit dem methodischen Grundproblem einer historiografischen Einstellungsforschung richtet sich sein Fokus insbesondere auf die Zusammentragung ausdifferenzierter Einstellungsobjekte, Mehr-Komponenten-Modelle und einer noch zu erweiternden Zahl an möglichen Forschungsthemen.
Die auf dem Coverbild dieses Bandes eingefangene Szenerie der feierlichen Einführung des Reichsbischofs Ludwig Müller vor dem Portal des Berliner Doms am 23. September 1934 adressiert alle drei Ebenen, auf denen Einstellungen nachgespürt werden kann. Auf der Mikro-Ebene stellt sich insbesondere die Frage nach der Einstellung des Hauptakteurs. Müller hielt seine Rede an die versammelte Gemeinde unter freiem Himmel von einem Rednerpult aus, das mit einer großen Hakenkreuzfahne überzogen war. Was er verkündete, wofür er öffentlich eintrat, ist bekannt. Doch wie dachte er zum Zeitpunkt seiner Einführungsrede über den Nationalsozialismus und das NS-Regime? Immerhin war er bereits mehr oder weniger mit seiner deutsch-christlichen Kirchenpolitik gescheitert, die BK hatte ihre ersten Reichsbekenntnissynoden abgehalten und die Bischöfe Meiser und Wurm das Reichskirchenprojekt durch ihren Protest so gut wie abgewehrt. Müllers Rückhalt schwand, auch im deutsch-christlichen Lager, das sich schon im November 1933 aufgespalten hatte. Wie beeinflusste dies seine politischen Überzeugungen? Auf der Meso-Ebene ist nach Überzeugungen der Anwesenden zu fragen. Kirchliche Amtsträger in Talaren und Diakonissinnen standen in Reih in Glied mit uniformierten Mitgliedern der Sturmabteilung (SA), Schutzstaffel (SS), Abordnungen mit DC- und Hakenkreuzstandarten und Männern in Parteiornat. Was hielten sie von der feierlichen Inszenierung, waren alle freiwillig dort und gleichermaßen begeistert, lässt der Blick in die vielen Gesichter fragen. Gerichtet war Müllers Rede an die gesamte (evangelische) Bevölkerung, der das Zusammenstehen von Evangelischer Kirche und NS-Bewegung demonstriert werden sollte (Makro-Ebene). Welche politischen Einstellungen antizipierte Müller mit seiner Rede, zur Ausbildung welcher Überzeugungen trug er bei?32 Auf der Grundlage solcher Fragen lässt sich das Großereignis aus einer neuen Perspektive heraus beleuchten und in einen tieferen Sinnzusammenhang stellen.
Mit dem Band möchte das Herausgeberteam einerseits für die besonderen Herausforderungen des Umgangs mit vergangenen Einstellungen sensibilisieren, andererseits neue Forschungen anregen, die sich von den hier dargestellten Methodiken und Forschungsperspektiven inspirieren lassen können. Denn – so unsere Überzeugung – die systematische Erhebung von Einstellungen und des aus ihnen resultierenden Verhaltens auf den drei Ebenen einzelner Individuen, größerer Untersuchungsgruppen und des Kollektivs der Gesamtgesellschaft ist ein wichtiger Baustein bei der multifaktoriellen und methodisch reflektierten Ermittlung der Gründe für das langjährige »Funktionieren« des NS-Gesellschaftsprojektes sowie der Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Neuanfangs nach 1945. Dies gilt insbesondere für die Christ:innen in den beiden Großkirchen, die das Rückgrat der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« ausmachten und durch ihre vielfältigen Amalgamierungen mit dem Regime eben keine Widerstandsnester waren, sondern im Gegenteil gerade vor und im Krieg zur Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems beitrugen.
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Olaf Blaschke
Sozialpsychologie und Geschichte sind weit weniger miteinander verbunden als Soziologie und Geschichte. Unter der Fahne der modernen Sozialgeschichte in den 1970er Jahren gingen Soziologie und Geschichte eine starke Allianz ein, während die Romanze zwischen Psychologie und Geschichte von kurzer Dauer war.33 Doch kann die sozialpsychologische Einstellungsforschung möglicherweise helfen, differenzierter über die Verhaltensrelevanz historischer Einstellungen nachzudenken, über deren Konsistenz und den Umgang mit konfligierenden Einstellungen. Gerade auf anscheinend nicht miteinander zu vereinbarende Einstellungen stoßen wir auch hinsichtlich des Nationalsozialismus, dem gegenüber Menschen christlicher Prägung eigentlich ablehnend hätten gegenüberstehen müssen. Heute wissen wir, dass christlich-nationalsozialistische Einstellungsüberlappungen die gesellschaftlichen Verhältnisse ab 1933 viel realistischer abbilden als die herkömmliche Gegenüberstellung von Christentum und Nationalsozialismus. Diese Dichotomie von Kirchenmitgliedern und Regime folgt immer noch der Legende der 1950er Jahre, wonach eine kleine »Clique« fanatischer »Nazis« die Deutschen widerwillig ins Verderben geführt habe.34 Für die dem widersprechende These miteinander verflochtener und untereinander vereinbarer Einstellungen spricht alleine schon eine einfache Rechnung: Unzählige gewöhnliche Christen müssen Nationalsozialisten und die meisten Nationalsozialisten müssen Christen gewesen sein, führt man sich vor Augen, dass fast alle Deutschen einer christlichen Konfession angehörten. Zum Zeitpunkt der Volkszählung 1925 gehörten 96,5 Prozent der Deutschen einer Kirche an und sogar noch bei der Volkszählung 1939 (jetzt mit 3,5 Prozent »Gottgläubigen«) fast 95 Prozent der 79 Millionen Einwohner:innen im nunmehrigen Großdeutschland. Aus diesem Reservoir stammten diejenigen, die dem Nationalsozialismus anhingen. Die Deutschen wurden nicht von einer außerhalb dessen liegenden winzigen Minderheit übermannt und terrorisiert.35 Gläubigkeit konnte ein Faktor von Resilienz sein, aber auch ein Faktor des Nationalsozialismus, der das System stabilisierte. Deshalb ging es im Projekt Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? im Jahr 2020 darum, die herkömmliche Dichotomie zwischen Kreuz und Hakenkreuz, zwischen entweder Christentum oder Nationalsozialismus aufzubrechen, als gebe es vorwiegend Menschen auf dieser und solche auf jener Seite und als wären »Brückenbauer« nötig gewesen, um zwischen zwei voneinander getrennten Ufern zu vermitteln. Eine Grundthese des Buches war, dass viele Christ:innen ihre Gläubigkeit nicht als im Widerspruch zum Nationalsozialismus wahrnahmen. Vielmehr durchmischten sich beide Sphären. Die Alltagspraxis war wesentlich unreflektierter als das, was sich Theolog:innen oder Historiker:innen ausdenken. Deshalb sprechen wir von »hybrider Gläubigkeit« oder, in Anlehnung an Manfred Gailus und Armin Nolzen, von »doppelgläubigen Deutschen«.36
Nun soll der Faden weitergesponnen werden. Diesmal geht es ganz ähnlich um die »Abstufungen und Mischformen von Nähe und Distanz«, vor allem aber um Einstellungen von Kirchenmitgliedern zum Nationalsozialismus und zum NS-Regime. Die inhaltliche Frage lautet in der Einleitung dieses Sammelbandes: »Wie waren Vertreter:innen der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus eingestellt? Bejahten sie das neue Regime oder lehnten sie es ab?«37 Nationalsozialismus und Regime sind freilich zwei verschiedene Einstellungsobjekte. Daran schließen methodische Fragen an: Wie lassen sich solche Einstellungen auf belastbare Weise messen? Um den Komplex besser ausleuchten zu können, sollen die Probleme auf der Mikro-, Meso- und Makroebene untersucht werden, schlägt die Einleitung vor. Diesen Ebenen sind jeweils unterschiedliche Methoden zugeordnet.
Auf der Individuen betreffenden Mikroebene sind es Ego-Dokumente und die Deutung von Aussagen in Netzwerkzusammenhängen. Ego-Dokumente werden seit dem Aufschwung der Alltagsgeschichte und der erneuten Zuwendung zum historischen Individuum verstärkt seit den 1980er Jahren untersucht, etwa die wieder und wieder zitierten Tagebücher von Viktor Klemperer und von Luise Solmitz sowie Walter Kempowskis zehnbändiges Echolot, dessen Quellencollage die Weltkriegszeit erfasst. Michael Wildt navigiert in seinem Buch Zerborstene Zeit 2022 mit den Tagebüchern der Protestantin Solmitz aus Hamburg, des katholischen Gastwirts Matthias Mehs aus Wittlich und des Konvertiten Klemperer durch die NS-Zeit. Ein differenziertes Bild der teils reflektierten Anpassungsprozesse bietet auch die Studie von 140 Tagebüchern von Janosch Steuwer.38 Derzeit werden die Tagebücher von Kardinal Michael von Faulhaber in einem DFG-Projekt entziffert.39
Auch Briefe sind Selbstzeugnisse, soweit sie etwas über die Autorin und den Autor preisgeben. Hirtenbriefe fallen freilich nicht in die Kategorie Ego-Dokumente. Sie lassen sich aber auf Spuren von Ego-Bekenntnissen lesen. Dazu kommen Sitzungsprotokolle, etwa der Fuldaer Bischofskonferenz oder protestantischer Kirchenbehörden. Jedenfalls gibt es, man denke an die Quellenbände der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn, noch zahlreiche andere Dokumentgenres, um Einstellungen Einzelner zu identifizieren. Dazu zählen auch die Akten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg, die indes eher die Opferperspektive einnehmen, oder Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg – woraus Daniel Goldhagen und Christopher Browning ihre Fälle geschöpft haben, um den Antisemitismus der Täter vollkommen unterschiedlich zu interpretieren, wohlgemerkt aber eben der Mörder, die als solche nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind, auf der anderen Seite aber »ganz normale Männer« waren.40
Auf der Mesoebene für kleinere oder größere Gruppen rangieren erneut Ego-Dokumente als Zugang sowie die Positionierungstypologie von Helge-Fabien Hertz zu 729 evangelischen Pastoren Schleswig-Holsteins.41 Anregend wäre noch die konfessionelle und Milieupresse. Im Saarland konnte sie bis 1935 frei operieren. Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann haben anhand dessen und anderer Quellen 1995 ein faszinierendes Buch über die »Selbstgleichschaltung« des Katholizismus im Saarland vorgelegt.42 Eine hermeneutisch sensible Studie über den intellektuellen Hochlandkreis hat kürzlich Kristina Mateescu verfasst. Bei allem Konsens gab es in der reformkatholischen Zeitschrift Hochland auch Resistenz – aber zwischen den Zeilen, als camoufliertes Schreiben mit Mehrfachadressierung. Die entsprechenden Netzwerkteilnehmer:innen konnten das dekodieren. Insofern, das zeigt dieses Buch, reicht es nicht, sinnfrei Stichworte in Texten zu zählen. Wenn jemand sich gegen den Bolschewismus aussprach, klang das oberflächlich nach Konsens, aber untergründig konnte das Codewort auf die NS-Verhältnisse in der Heimat zielen.43
Auf der Makroebene werden die SD-Berichte und, weil sie oft die ganze Gesellschaft meinten, Goebbels Tagebücher genannt, die Studien etwa von Thomas Brechenmacher 1999 und Götz Aly 2006 über Vornamensvergaben (Adolf, Hermann, Heinrich) als Stimmungsindikator, schließlich die jüngste Auswertung von Entnazifizierungsakten, geleitet von Lisa Klagges und Jürgen Falter.44 Als sehr ergiebig haben sich auch die Meldungen des SPD-Parteivorstandes im Exil erwiesen, die Deutschland-Berichte, abgekürzt Sopade. Erstmals hat Bernd Stöver 1993 die »Konsensbereitschaft« der Deutschen daraus erschlossen. Das ist eher Best Practice als brandneu, sollte aber ergänzt werden. Während die SD-Berichte eher Konsens nach oben melden wollten, haben die Sopade-Berichte eher nach Unmutsäußerungen gesucht, um den Genossen Mut zu spenden. Man muss immer beide Quellen kritisch zusammenlesen.45 Der methodische Handwerkskoffer kann mithin reich gefüllt werden in diesen sechs Untersuchungsfeldern: zum Nationalsozialismus auf Mikro-, Meso- und Makroebene und zum anderen Thema, dem NS-Regime, nochmals auf diesen drei Ebenen. Merken wir uns diese Zahl und wie wir darauf kamen. Denn bald werden wir 18, am Ende gar 117 Untersuchungsfelder haben.
Im vorliegenden Buch soll die Einstellungsforschung in Anschlag gebracht werden. Sie stammt aus der Soziologie und vor allem (Sozial)Psychologie.46 Wegen dieser disziplinären Tradition ist der Einstellungsbegriff im Fach Geschichte kaum oder nur alltagssprachlich verwendet worden, jedenfalls nicht im klassischen sozialpsychologischen Sinne.
Der Liaison zwischen Geschichtswissenschaft und Psychologie waren nur zwei kurze Blütezeiten beschieden. Die erste Affäre wurde von dem Leipziger Historiker Karl Lamprecht angebahnt. Er lehnte sich in seiner seit 1891 erscheinenden, zwölfbändigen Deutschen Geschichte an Wilhelm Wundts Völkerpsychologie an. Er soll auch den älteren Begriff der »Völkerpsychologie« abgelöst und in Deutschland den Begriff »Sozialpsychologie« eingeführt haben.47 Lamprechts Abkehr vom Individualitätsprinzip des Historismus und seine Neigung zu kollektivpsychologischen und analytischen Zugängen löste den berühmten Methodenstreit in der Geschichtswissenschaft aus. Die erdrückende Mehrheit der Historiker lehnte Lamprechts Ansätze als spekulativ ab, was für ein halbes Jahrhundert zur Blockade struktur- und sozialgeschichtlicher Perspektiverweiterungen führte.48
Ein zweiter Anlauf ging in den 1970er Jahren von der neuen Sozialgeschichte aus. Hans-Ulrich Wehler gewann dabei der Psychoanalyse, die sich ähnlich dem historistischen Individualitätsaxiom dem Individuum widmete, weitaus weniger ab als der Sozialpsychologie. Das Individuum sei durch überindividuelle Strukturen, durch gesellschaftliche Einflüsse und Motive geprägt. Beim Antisemitismus des Kaiserreichs erhelle die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Antisemiten nichts, sondern es müsse um schichtenspezifische Reaktionen bestimmter sozialer Gruppen auf Veränderungen gehen, die als krisenhaft wahrgenommen würden und Statusverlustängste provozierten (Industrialisierung, Depressionsphasen). »Deshalb besitzt die analytische Sozialpsychologie für den Historiker ungleich größere Bedeutung als die Individualanalyse.«49 Indes haben sich dramatisch wenige Historiker:innen in diese Gefilde gewagt – im Unterschied zur Soziologie. Hier etablierte sich 1948 die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Die nomothetische, seit dem späten 19. Jahrhundert am naturwissenschaftlichen Gesetzesglauben orientierte Ausrichtung beider Disziplinen erleichterte das gegenseitige Verständnis von Soziologie und Sozialpsychologie und die Institutionalisierung der Zusammenarbeit. Im historischen Feld untersuchte ein Buch zur »Sozialgeschichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner« 1978 die Dorfgemeinschaft als Not- und Terrorgemeinschaft. Aber solche Koppelungen zwischen Geschichte und Sozialpsychologie blieben Einzelfälle. Die kurze Mode interdisziplinärer Bemühungen in diese Richtung versiegte alsbald wieder.50
Das gilt auch für die sozialpsychologische Einstellungsforschung. Historiker:innen sprechen eher von Deutungen und Positionen, von Haltungen, Dispositionen, Vorurteilen, Stereotypen und Mentalitäten. Sozialpsychologen erforschen zwar all dies auch, es gibt einen eigenen Zweig der Vorurteils- und Stereotypenforschung. Aber aus rätselhaften Gründen wird in der Geschichtswissenschaft der Begriff »Einstellung« gemieden und, wenn überhaupt, eher im vorsozialwissenschaftlichen Sinne verwendet. In Buchbesprechungen bei H-Soz-Kult wird fast doppelt so häufig von Haltung und Haltungen (2457) gesprochen wie von Einstellung und Einstellungen (1607). Jürgen Osterhammels berühmte Weltgeschichte aus dem Jahre 2009 kommt auf 1300 Seiten mit zehn Nennungen von Einstellung(en) aus, verwendet aber 47-mal Haltung(en) – oft im Sinne von Einstellung, etwa: »Rassistische Haltungen, aber noch keine ausformulierten Rassetheorien entstanden im Milieu des atlantischen Sklavenhandels.« Osterhammel hätte ebenso gut »rassistische Einstellungen« sagen können.51 »Einstellung« scheint eher dem Fachjargon der Psychologie zu entsprechen.
Weil es trotz der Zurückhaltung im geschichtswissenschaftlichen Forschungsfeld spannend ist, sich für unsere Problematik kontrolliert dem Einstellungsbegriff zuzuwenden, habe ich mich auf Wunsch der Herausgeber der Aufgabe gestellt und erneut (nach meinem Examen auch im Fach Psychologie 1989) den Handbüchern der Psychologie und Sozialpsychologie gewidmet und mir den aktuellen Forschungsstand vergegenwärtigt. Der Gründervater der Einstellungsforschung in der Psychologie, der Amerikaner Gordon W. Allport, bezeichnete »attitudes« 1935 als »the most distinctive and indispensable concept in contemporary American social psychology«.52 Bis heute halten die sozialpsychologischen Einführungen genau daran fest, es sei das herausragendste und unverzichtbarste Konzept der Sozialpsychologie.53 Im Fach Psychologie insgesamt dominieren eher Werte, Motive und Ziele, um Verhalten zu erklären, etwa an Lehrstühlen für Motivationsforschung. Die höchst prominente Position der Einstellungsforschung in der Sozialpsychologie lässt sich historisch (nicht experimentell) erklären. Sie legitimierte das Fach überhaupt als eigenständiges gegenüber der klassischen Persönlichkeitspsychologie. Einstellungen lägen im Individuum, seien aber sozial erlernt. Die Sozialpsychologie wollte Individuum und Gesellschaft im Medium der Einstellungsforschung miteinander verklammern. In der Realität wurde der Anspruch indes meist nicht eingelöst, solange angenommen wurde, »daß sich Einstellungen beim Auftreten entsprechender Objekte quasi gesetzmäßig in einstellungsadäquate Handlungen umsetzen«, mithin Gesellschaft in ihrer situativen Konkretisierung ignoriert wurde.54
Einstellungen sind persönliche Orientierungssysteme, die bewirken, dass bestimmte Erfahrungsinhalte aus den objektiv gegebenen Reiz- und Erlebnismöglichkeiten gefiltert werden.55 Eine fixe Definition konnte sich aber nicht durchsetzen, wie der Sozialpsychologe Bernd Six schon 1975 in seiner Metastudie über einhundert Forschungsarbeiten klagte und wie Bertram Gawronski 2007 erneut überzeugend dokumentierte. Manche Ansätze sähen Einstellungen nur als situationsbezogene Struktur mehrerer Überzeugungen (Milton Rokeachs belief-systems), und diese wertebasierten Überzeugungen erst erlaubten Verhaltensvorhersagen. Dennoch sei fast sämtlichen Definitionen die »Kennzeichnung der Einstellung als eines evaluativen Prozesses sozialer Sachverhalte« gemeinsam, sagt Six, häufig mit den Merkmalen: relativ überdauernd, gegenstandsbezogen, erlernt, verhaltenswirksam, strukturiert.56 In den letzten 20 Jahren ist wieder Bewegung in die Definitionsdebatte gekommen. Sie verdankt sich der Ergänzung früherer fragebogenbasierter Einstellungserhebungen durch indirekte (implizite) Messverfahren (Performanz, impliziter Assoziationstest, semantisches Priming und andere).57 Daran entzündete sich die Debatte, ob auf unterschiedliche Weise dieselben Einstellungen gemessen werden oder zwei distinkte Einstellungstypen, explizite und implizite, und ob erstere kognitiv reflektierter seien, während letztere unbewusster und früher angelegt seien. Zudem ist wieder umstritten, ob Einstellungen stabil oder spontan sind. Werden sie aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen oder im Moment der Befragung/des Experiments (= der Kontext) spontan prozessiert, sind sie archiviert und transsituativ oder situativ?58 Alle Einstellungskonzepte aber gingen, resümiert Gawronski, einmütig von der Annahme aus, dass bewertende Reaktionen eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle für das Verständnis von »social behavior« spielen und dass Allport beizupflichten sei, Einstellungen seien »the most distinctive and indispensable concept« der Sozialpsychologie.59
Das Stichwort »verhaltenswirksam« von Six und »understanding social behavior« dank Einstellungen zeigt ein höchst umstrittenes Problem an, auf das zurückzukommen sein wird. Denn soziale Einstellungen werden »als Korrelate oder Prädikatoren des Verhaltens betrachtet«,60 was in den letzten 100 Jahren allerhand unstimmige, teils auch triviale Versuchsergebnisse mit sich brachte. Einstellungen als Verhaltensprädikatoren anzusehen wird fragwürdig, wenn äußere Zwänge individuelles Verhalten einschränken.61 Ein für Historiker:innen wichtiger Gedankenanstoß ist, dass Einstellungen relativ stabil sind (neuerdings kontrovers) und einstellungsdissonante Informationen vermieden oder uminterpretiert werden (nicht kontrovers). Daher werden Eigenschaften von Einstellungsobjekten verzerrt wahrgenommen oder nur solche Informationen verarbeitet, die den eigenen Vorstellungen entsprechen. Kongeniale Informationen, das zeigen Versuche, werden bevorzugt und abweichende vernachlässigt, was umso mehr zutrifft, je stärker das Einstellungsset ist.62 Historiker:innen ist das Phänomen vertraut. Sowohl das katholische wie das sozialistische Milieu las in Kaiserreich und Republik die entsprechende Milieupresse, um die jeweils eigene Überzeugung zu stabilisieren. Katholiken unterschieden zwischen guter und schlechter, liberaler, gottloser Presse.63 Das katholische und sozialdemokratische Medienwesen wurde unter den Nationalsozialisten verbannt. Sie verstanden, dass das Medienmonopol (und später das Verbot, sogenannte Feindsender zu hören,) den Zustrom dissonanter Informationen unterband und regimekonforme Einstellungen stabil und kohärent hielt. In Bezug auf die Stabilität von Einstellungen kamen Russel H. Fazio und Carol J. Williams 1986 in einem Experiment zu einem erstaunlichen Befund: Zunächst analysierten sie Einstellungen von 245 städtischen Probanden zu den Präsidentschaftskandidaten von 1984, Ronald Reagan und Walter Mondale. Monate später trafen beide in einem TV-Duell aufeinander. Der zweite Test von Fazio und Williams fand heraus, dass diejenigen, die vorher Reagan favorisierten, seine Performance im Fernsehen als eindrucksvoller ansahen, während diejenigen, die vorher Mondale besser fanden, meinten, dieser habe günstiger abgeschnitten. Es gab eine Korrelation zwischen mitgebrachter Einstellung und Wahrnehmung des Fernsehduells.64 Zynisch könnte man einwenden: Wer hätte das gedacht? Doch Sozialpsycholog:innen nehmen ihre Forschung sehr ernst, wie auch Historiker:innen die ihre. Zeigt der gerne zitierte Klassiker der Einstellungsforschung über Reagan und Mondale nicht, dass Zusammenhänge, die uns allzu offenkundig erscheinen, durch sozialpsychologische Forschung empirisch eine gewisse Evidenzsteigerung erfahren? Viele nicht-reaktive Versuchsverfahren (das Experiment der »verlorenen« Briefe, die vom »Finder« den Adressaten in Abhängigkeit von der Einstellung ihnen gegenüber zugestellt wurden) gehören für Bernd Six jedoch tatsächlich ins Kabinett der »Kuriositätensammlung«.65
Beim blitzartigen Aufstieg des Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (NSDAP) von einer winzigen Splitterpartei zur zweitstärksten Kraft im Reichstag innerhalb von zwei Jahren – 2,6 Prozent 1928, aber 18,3 Prozent im September 1930 – kann kognitive Einstellungskonstanz kaum eine Rolle gespielt haben. Vielleicht aber haben sich unbewusste Einstellungsformationen (Sonderwegsthese) Bahn gebrochen oder es handelt sich um einen rapiden Einstellungswandel unter den meisten der 6,2 Millionen NSDAP-Wähler:innen 1930, freilich unter dramatisch veränderten ökonomischen (Weltwirtschaftskrise) und politischen (parlamentarische Lähmung) Kontexten. In jedem Falle gingen viele Zeitgenoss:innen 1933 mit dieser Frage reflexiv um. Rückwirkend schönten sie ihre Biografie auf Einstellungskonstanz und –konsistenz. Man sei doch schon immer national und sozialistisch und für die »Volksgemeinschaft« gewesen.66 Das entspricht den Befunden der Einstellungsforschung über den Wunsch nach Einstellungsidentität und nach Überwindung kognitiver Dissonanz.
Die sozialpsychologische Einstellungsforschung hat erkannt, woher es kommt, dass sich Einstellungen wandeln, nämlich durch positive anreizinduzierten Verhaltensänderungsstrategien (Werbung, Überzeugung, Propaganda) und durch negative Anreize (Gesetze, Strafandrohung), weshalb etwa die Einführung des Sicherheitsgurtes in Kraftfahrzeugen am Ende erfolgreich war.67 Über den Wandel kognitiver Einstellungen konnte mit »dual process models« nachgewiesen werden: »Wenn die Rezipienten in der Lage und entsprechend motiviert sind, werden sie persuasive Botschaften überdenken oder systematisch analysieren. Wenn die Botschaft gut begründet, datengestützt und logisch (d. h. stark) ist, wird sie überzeugen; ist sie das nicht, wird sie scheitern« und keinen Einstellungswandel herbeiführen, zumal wenn die Quelle der Alternativbotschaft unglaubwürdig ist (»peripheral cues«).68 Ob das für die NS-Forschung weiterhilft? Es ist leicht, sich zumindest vorzustellen, dass nach dem Zusammenbruch des Regimes 1945, der Aufdeckung des ganzen Ausmaßes der Verbrechen, den Entnazifizierungs- und Umerziehungsmaßnahmen sowie den bei entsprechender Anpassung damit verbundenen Biographievorteilen ein solcher Einstellungswandel möglich gemacht wurde. Aber was bewirkte den Dammbruch 1930?
Einstellungen sind nicht sichtbar, weder für Historker:innen noch für Psycholog:innen. Sie müssen mühsam erschlossen werden. Soziolog:innen und Psycholog:innen haben es da leichter als Historiker:innen: Sie rekrutieren 30 oder 500 vorab sorgsam als repräsentativ ausgewählte Leute, lassen sie Antworten auf skalierte Fragen (trifft zu, trifft weniger oder nicht zu) ankreuzen oder im Labor etwas anklicken und berechnen dann Skalenwerte und Korrelationskurven. Klassischerweise werden fünf konkrete Einstellungsmessverfahren unterschieden: 1. Selbstauskünfte (self-reports anhand von Fragebögen), 2. offene Verfahren (Soziometrie, Rollenspiele), 3. Interpretation von Reizmaterial, 4. Bewältigung vermeintlich objektiver Aufgaben, deren Lösung etwas über die Probanden verrät, das sie nicht ahnten, 5. Physiologische Messungen.69