Vom Suchen und Finden - Walter Plasil - E-Book

Vom Suchen und Finden E-Book

Walter Plasil

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Beschreibung

Suchen und finden, tun wir das nicht alle? Vor allem dort, wo es ums eigene Leben geht. Wir suchen die richtigen Wege, die besten Möglichkeiten, um ein Leben in Zufriedenheit und Glück zu führen. Darüber hinaus ist Suchen und Finden auch ein durchgängiges Prinzip, das uns lebenslang erhalten bleibt. Ständig suchen wir irgendetwas, um etwas bestimmtes zu finden, von dem wir meinen, es zu brauchen oder es haben zu müssen. Ganz besonderes freilich suchen wir nach bestimmten Zielen. Nach dem Finden und Erreichen dieser Ziele sollen die dann unser Schicksal positiv beeinflussen. Von dieser ständigen Suche handeln die Beispiele, die im Buch vorkommen. Es beschreibt ungewöhnliche und deswegen interessante Bestrebungen verschiedener Charaktere, die nur eines finden möchten: Das eigene Glück.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt:

Der Elefant ohne Rüssel

Unvernunft als Lustprinzip

DER ELEFANT OHNE RÜSSEL

Sie atmen schwer, die beiden, als sie sich der kleinen Kapelle nähern. Der Weg hier rauf ist steil. Die Sonne scheint zu versuchen, Löcher in die dünnen Stoffe der sommerlichen Kleidung zu brennen.

Schattenlose Pfade wie diesen sollte man bei Hitze nicht ohne Kopfbedeckung begehen. Man merkt, dass es die Zwei jetzt drängt, das Ziel zu erreichen. Hutlos.

Drin, im schon etwas brüchigen, aber vor den sirrenden Hitzestrahlen schützendem Gewölbe der muffigen Kapelle dampfen die Schweißflecken unter den Achseln. Schön ist es hier oben, sagt Greta. Ja, schön und schön kühl, sagt Fabian.

Greta und Fabian sind ein Paar. Noch nicht lange. Erst zweieinhalb Jahre. Oder ist das schon lange? Es ist nicht nur eine Beziehung, sagen sie, sondern sie fühlen sich wirklich als ein Paar, sagen sie.

Um ein Paar zu sein, was muss da gegeben sein? Ab welchem Grad der Intensität des Zusammenseins darf man sagen: Wir sind ein Paar?

Als zwei Hälften eines Ganzen muss man sich fühlen, sagen sie unisono. Und jede Hälfte muss spüren, dass sie ohne die andere nichts ist, ja ohne sie gar nicht mehr auskommt. Das reicht. Die eigene, aus tiefstem Grund des Herzens erfühlte Gewissheit, zusammenzugehören, als Eins und Eins zu einem neuen Eins geworden zu sein, so sagen sie, das muss gegeben sein, um wirklich ein Paar sein zu können.

Die beiden leben nun schon zehn Monate, ohne dass sie je ernsthaft Streit gehabt hätten, in einer gemeinsamen Wohnung. Damit begründen sie ihre Gewissheit, die Alltagstauglichkeit ihrer Verbindung nachgewiesen zu haben. Man sagt ja, das Zusammenleben sei die härteste Prüfung des Paarseins. Und die hatten sie bestanden, ohne es eigentlich darauf angelegt zu haben.

Greta und Fabian - unabhängig voneinander waren sie zum Schluss gekommen, dass sie mit ihrer Partnerwahl Glück gehabt hatten. Sie hatten das Richtige getroffen. Wechselweise.

Es ist gar nicht so leicht im Leben, das jeweils Richtige zu treffen. Und um etwas treffen zu können, muss man zunächst zielen. Zielen, ja, natürlich, aber auf was?

Da muss man schon genau wissen, wie dieses Ziel aussieht. In ihrem Fall kannten sie, wie so viele, das Ziel vorher noch nicht. Oder noch nicht so ganz genau. Sie spürten nur, dass es nach dem Erreichen eines Zieles stimmig, passend, angemessen, aber auch ungewöhnlich, erfüllend und ein wenig, nein - sogar sehr verrückt sein muss. Es muss etwas abgerückt vom Normalen, etwas zur Seite gerückt, etwas ver-rückt sein, um überhaupt ein Ziel sein zu können, so eigenartig das auch klingen mag.

Ist es wirklich so im Leben, dass man Partner oder Ziele sucht, ohne vorher ganz genau zu wissen, wie diese aussehen sollen? Und warum soll man denn überhaupt so angestrengt suchen? Wäre es nicht weit besser, sich aufs zufällige Finden oder gefunden werden zu verlassen?

Die bisher gefundenen Partner der beiden - und einige davon gab es schon - die waren eigentlich ganz o. k. Aber bei genauerer Betrachtung waren es dann doch irgendwie nicht die Richtigen gewesen. Ganz o. k. ist eben nicht gleichwertig zu richtig.

Aber jetzt, jetzt war die Hürde geschafft. Und so einen Erfolg zu haben - mit der richtigen Wahl der richtigen Partner - das ist schon etwas Bedeutendes, wenn nicht überhaupt das Bedeutendste im Leben: Mehr kann man ja gar nicht erreichen. Sagen manche, die auch von sich sagen, sie wüssten, wovon sie reden.

Es bedeutet - ja was bedeutet es eigentlich - es bedeutet, dass man nach einer anstrengenden, einer mitunter langen Reise, deren Ziel man anfangs gar nicht kannte, endlich angekommen ist. Oder auch, dass man die Torturen eines oft langen Irrweges auf der Suche nach dem faszinierenden, aber nicht greifbaren, ständig vor einem zurückweichenden oder gar fliehenden, möglichen Partner endlich hinter sich lassen kann. Und es bedeutet auch, dass man selbst gefunden wurde. Zuvor war es immer ein Irgendetwas gewesen, das fehlte. Nun fehlte nichts mehr.

War es Liebe? Liebten sie sich, so wie man die Liebe im Allgemeinen definiert? Spürten sie Schmetterlinge im Bauch, beschleunigte sich ihr Puls, wenn sie sich trafen, himmelten sie sich wechselweise an?

Nein, das alles war es nicht. Aber es war von alldem ein Ansatz da. Ein gesunder Ansatz, wie sie meinten. Ein konstanter Ansatz, ein schon fast drei Jahre andauernder gleichbleibender Ansatz. Einer, der damit die Hoffnung nährte, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass alles richtig, alles stimmig ist in ihrem Zusammenleben. Sie liebten sich also auf eine Art, die für sie eine erfüllende war, beteuerten sie sich gegenseitig.

Ja, auch sexuell passten sie sehr gut zusammen. Die Bedeutung der körperlichen Liebe war ihnen mehr als bewusst. Immerhin kann man die Sexualität zwischen Partnern auch als Ausdruck der Qualität einer Beziehung sehen. Und das taten die beiden auch. Sie empfanden wirklich weitgehende sexuelle Befriedigung in ihrem Zusammensein. Das Optimum einer vollkommenen sexuellen Erfüllung zu erreichen, das wäre weit über ihrer Erwartungshaltung gelegen. Und weil sie ein solches Optimum nicht erwarteten, empfanden sie es auch nicht als Manko, nur ganz knapp unter dem maximal möglichen zu liegen, wenn sie auch nicht genau wussten, was das maximal mögliche überhaupt wäre.

Sie saßen nun schon einige Zeit auf den morschen Bänken der kleinen Kapelle und wunderten sich. Was mag Menschen dazu bringen, zu beten, zu flehen, sich vor irgendetwas da oben zu fürchten und zugleich das Irgendetwas da oben so zu bewundern, dass man all die Mühen aufbringt, diesem Irgendetwas da oben zu ehren Kirchen oder auch nur kleine Kapellen wie die da zu bauen? Oder sind diese ganzen Bauwerke gar nicht für Ihn, sondern für Andere gedacht?

Greta und Fabian waren nicht gläubig. Besser gesagt waren sie nicht religiös. Das Jenseits, so sagten sie sich, das Jenseits, das ist gleichbedeutend mit dem Gestern und es wird übermorgen das Morgige sein. Das Jenseits ist Vergangenes, es ist die verflossene Zeit. Das Diesseits ist der fliehende Augenblick und die Zukunft, die ist im Übrigen ungewiss. Und generell: Das Endliche, das ist jene Materie, die letztlich im Abwasserkanal endet.

Auch alles Unendliche endet dort, nur vielleicht etwas später. Mehr wäre dazu nicht zu sagen.

Über den Zustand der Welt und jenen der Gesellschaft, über die Menschen im Allgemeinen, über alles Mögliche, das einem so im Alltag begegnet, dachten sie ähnlich, aber nicht immer ganz gleich. Unter anderem hatten ihnen diese kleinen Differenzen bisher die unbedingt notwendige zwischenmenschliche Spannung erhalten. Das hielten sie, zumindest bisher, für einen Gewinn in ihrem Zusammensein.

Politik und der Auswirkungen hielten sie für ein Phänomen, wie es das Wetter ist. Man ist angehalten, es so hinzunehmen, wie es eben gerade kommt. Die Möglichkeiten, als Einzelindividuum ändern einzugreifen, halten sich in ganz engen Grenzen. Also bleibt einem die Freude an zufälligen schönen Tagen und zufällig guten politischen Verhältnissen. Wenn’s mal nicht so ist, bleibt die begründete Hoffnung, dass das schon wieder werden wird. Mehr gabs darüber nicht zu sagen.

Dabei redeten die Beiden gerne miteinander. Auch der Humor flackerte immer wieder auf. Man war gelegentlich bereit, zu scherzen. So gehört es sich eben, sagten sie. Ihr Zusammenleben war also stimmig. Aber zu ihrer eigenen Überraschung hatten sie eines Tages festgestellt, dass es in ihrem Erwartungshorizont doch ein gewisses Manko gab.

Und es war eines, das sie nicht gewillt waren, auf Dauer hinzunehmen.

Es handelte sich darum, dass sich in ihrem Leben, das sie außerhalb der Enge ihrer Beziehung führten, offensichtlich großteils das Falsche, vom Richtigen hingegen viel zu wenig ereignet. Außerhalb ist eben nicht innerhalb.

Sie konstatierten im Außerhalb eine gefährliche Anhäufung von Ereignislosigkeit, eine dadurch generierte individuelle Langeweile und eine unweigerlich darauffolgende virulente Gefahr vorzeitigen psychischen Verfalls. So konnte es nicht weitergehen. Eine Gegenstrategie musste entwickelt werden. Aber was ist denn das beste Rezept gegen Langeweile? Was könnte man gegen diese hinterlistig daherschleichende Langeweile tun, dieser schlimmen Geisel der Menschheit, die sich längst zu einem Massenphänomen der ersten und zweiten Welt entwickelt hat, ohne dass es von den Menschen bemerkt worden war?

Fabian hatte da ein Zitat aus den Schriften eines Philosophen -oder war es ein Wissenschaftler – das wusste er nicht mehr so genau, in Erinnerung: Das größte Übel der Menschheit, gleich nach Hunger und Krieg, das ist die Langeweile. Das hatte er sich seit seiner Jugendzeit gemerkt, wenn er es auch damals als Unsinn bewertet hat.

Aber jetzt, so wie die Gedanken in Form von Gehirnströmen so dahinflossen machte es ihn nachdenklich. Ist mir langweilig? Ist uns einzeln oder gemeinsam langweilig? Ist es das, oder steckt mehr dahinter?

Am Rückweg von der Kapelle, am Weg hinunter in den nahezu ausgestorbenen Ort, da war wieder Zeit zum Reden. Aber was auch immer aus den Beiden so hervorsprudelte, sie stellten fest, dass bisher immer dann, wenn es um die konkrete Umsetzung von Plänen gegen die Ereignislosigkeit gegangen ist, nichts Konkretes entstanden war. Das Wenn und Aber hatte immer überwogen.

Liegt es vielleicht an unserem Zusammensein, fragten sie sich. Blockieren wir uns womöglich gegenseitig? Sollen wir uns gar trennen, um mit anderen Partnern zu neuen Horizonten aufbrechen zu können. Und warum und wann genau ist eigentlich unser Leben so rasant in eine viel zu beschauliche Ecke geraten? Oder war es eigentlich immer schon so beschaulich gewesen, nur erkannt haben wir das erst jetzt? Oder auch: Ist ein beschauliches Leben eigentlich ein Gräuel?

Es war ein elendiglich kalter Herbsttag. Am Ufer des am Zufrieren befindlichen Sees, an dem sie oft entlangspazierten, blies ein böiger Wind in die ungeschützten Gesichter. Die Kapuzen der dicken Steppjacken blähten sich an den Hinterköpfen zu spitz zulaufenden unförmigen Ballons. Obwohl man kaum ein Wort ungehindert gegen den Wind sprechen konnte, wurden wichtige Themen gewälzt.

Sollen wir uns womöglich Kinder anschaffen? Es war eine in den Wind geschriene Frage von Fabian. Sollen wir nach Indien trampen, antwortete Greta, so als ob sie Fabian nicht verstanden hätte, was aber nicht zutraf. Wollen wir den perfekten Bankraub planen oder als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen? Das war ein Vorschlag Fabians gewesen, der danach sein ausgekühltes Gesicht mit den von Handschuhen befreiten, noch halbwegs warmen Händen wieder auf normale Körpertemperatur anzuwärmen versuchte.

Wäre es sinnvoll, etwa an jedem Dienstag ins Kino zu gehen und an jedem Freitag ins Fitnessstudio? Vielleicht brächte es auch genug Erlebniswert, wenn wir dem Drachenfliegerklub beiträten, um wie Vögel durch die Lüfte zu segeln? Auch Bungee-Jumping kitzelt die Nerven gehörig.

Aus den Mündern der beiden quollen schwallartig die Vorschläge, fast wie Erbrochenes, heraus. Die gebrüllten Laute versprühten im scharfen Wind einen unsichtbar gebundenen Strauß an gesättigter Luft, wie es mitunter auch bei feinen Regentropfen beobachtbar ist, die im Sturm vernebelt werden. Jeder der beiden hatte Mühe damit, zu verstehen.

Die Entfernung zwischen Mündern und Ohren erlaubte unter diesen Umständen keine klare Verständigung. Das Pfeifen des unrhythmischen Windes, der sich an den Kanten der Ohrmuscheln brach, überwog. Es war höchste Zeit dafür, sich in ein beheiztes Lokal zurückzuziehen.

Dort angekommen, und nachdem sich die Atmungsfrequenz bei beiden normalisiert hatte, wurde alles noch einmal in Ruhe wiederholt. War es das, was ihnen fehlte? Kinder, Indien, Bankraub oder Bungee-Jumping? Wären das die Alternativen?

Greta überlegte kurz, ob sie das, was sie immer schon einmal ausprobieren wollte auch tatsächlich angehen soll. Nämlich sich entsprechend zu verkleiden, um als Bettlerin einige Tage auf der Straße zu leben, um genau zu spüren, wie sich das anfühlt. Nur deswegen – um es zu spüren, nicht, um womöglich damit Geld zu verdienen.

Fabian kam in den Sinn, dass er einer seiner frühen Sehnsüchte noch nie nachgegangen war. Jahrelang hatte ihn das Bedürfnis verfolgt, sich in nacktem Zustand an einem öffentlichen Ort mit einer Marzipan-Glasur zu übergießen, um nach dem Erstarren der Masse die Art des Zugriffs von Passanten, wie er es nannte, nach der sich darbietenden süßen Leckerei körperlich zu spüren. Auch ihm ging es offenbar um eine Form von Spüren, wenn auch eine etwas andere, eine besondere, eine berührende.

Ein wenig überrascht wurde konstatiert, dass plötzlich eine Reihe ziemlich verrückter Träume, die offenbar schon lange in den Köpfen geschlummert hatten, nach und nach zum Vorschein kamen.

Beispielsweise hätte es Greta angeblich schon seit Längerem gereizt, den Staplerführerschein zu machen. Ein anderer Wunsch war jener, den Greta noch aus ihrer frühen Kindheit in sich trug. Sie wollte unbedingt eine riesige Fabrik eröffnen, um allen Ernstes Kleider aus altem Zeitungspapier zu produzieren.

Fabian hingegen dachte daran - das war allerdings eine neuere Idee - er dachte also daran, eine Gruppe zu gründen, die Journalisten verfolgt. Und zwar solche, die zu ungebildet, und über das zulässige Maß des gemeinen Journalisten hinaus auch noch nachweislich zu dumm für diesen Beruf sind. Schreibende Unholde dieses Schlages, die als solche entlarvt wären, müssten dann nur noch in einem ordnungsgemäßen Inquisitionsverfahren abgeurteilt und der Justiz zum Vollzug übergeben werden.

Aus Fabians Jugendzeit hingegen stammte die Idee, auf der Spitze aller Baukräne eine große Flagge anzubringen, aus der man die Nationalität und eventuell auch die Religionszugehörigkeit (etwa Kreuz oder Halbmond) des Kranführers ersehen kann; Letzteres natürlich nur, wenn der überhaupt gläubig wäre. Es sei nämlich äußerst wichtig zu wissen, welcher Landsmann da oben sitzt und woran der Mann im Hochsitz glaubt, wenn er denn glaubt, denn so jemand hat ja immerhin eine Vertrauensstellung in der Gesellschaft.

Aber alle derartigen Vorschläge im Kampf gegen die Langeweile waren bald als zu wenig originell oder überhaupt als Unsinn eingestuft worden. Es müsse ganz etwas anderes sein, was nun zu tun sei. Und es müsse etwas sein, das einem Mehrfachnutzen bringen könnte.

Man einigte sich also zunächst auf eine gemeinsame Feststellung. Nämlich jener, dass der allerneueste Plan nur gelingen könne, wenn er konsequent ausgeführt würde. Zweitens musste ein neuer Plan alles bisher in Erwägung gezogene übertreffen. Und drittens würde der neue Plan nur gelingen, wenn ihn beide gemeinsam und zeitgleich verwirklichen. Schließlich wolle man bei eventuellen Fehlschlägen das eigene Paarsein keinesfalls gefährden.

Sicherheitshalber war zuvor noch beschlossen worden, wirklich und in jedem Fall zusammenzubleiben. Also keine Trennung. Unter keinen Umständen eine Trennung. Auch dann nicht, wenn alle neuen Pläne wider Erwarten scheitern sollten. Die Ursache - das meinten Greta und Fabian mit Sicherheit sagen zu können - die Ursache für das chronisch gewordene Gefühl eines Empfindens von Ereignislosigkeit konnte die erfolgte Verpaarung ganz gewiss nicht gewesen sein. Deswegen soll sie auch weiterlaufen. In gleicher Harmonie, so wie bisher.

Immer noch war es für die Jahreszeit zu kalt. Spaziergänge waren radikal eingeschränkt worden. Nach der Arbeit strebte man schnell nach Hause. Es gab noch viel zu reden.

Man war zum Schluss gekommen, sich zuallererst intensiv mit einer Art von Katharsis befassen zu wollen. Es sei eine unabdingbare Voraussetzung für alles Folgende, sich innerlich möglichst freizumachen, um für Neues und Wichtigeres auch bereit zu sein. Danach könne man von Grund auf damit beginnen, aus sich eine Person zu formen, einen neue, eine veränderte Person, die den eigenen Vorstellungen besser entspricht oder diesen Vorstellungen zumindest etwas näherkommt.

Ungewöhnlich, so sollte sie angelegt werden, die geplante Metamorphose der Beiden, die danach anstand. Das war also die Vorgabe, die es nun zu erfüllen galt. Und die ersten konkreten Maßnahmen für eine Wandlung sollten schnell verwirklicht werden. Aber was ist denn heutzutage schon ungewöhnlich und was gewöhnlich? Und was ist langsam oder schnell?

Wäre es ungewöhnlich genug, wenn man sich wie eine Raupe in einen abgeschiedenen Bereich zurückziehen würde, um sich zu verpuppen? Als wunderschöner bunter Schmetterling, als ehemals eine Raupe gewesener, als eine Raupe mit Vergangenheit, eine gewesene Raupe, mit dem Wissen über die Welt, und als eine, dennoch bereits in diesem Körper gelebt habende Raupe würde man nach einer angemessenen Zeit hinausflattern können. Hinaus in die große weite Welt. Und im Gepäck hätte man all die Erfahrungen und Erinnerungen an ein schon gelebtes Raupenleben. Ja, auch Raupen können fliegen, obwohl das kaum zu glauben ist.

So ein Vorgang, erst eine Katharsis, eine Selbstreinigung, durch Rückzug aus der Welt, durch ein sich Verschließen und ein Besinnen auf sich selbst und seinen kleinen, hinfälligen und schwammigen Körper, gefolgt von einer Metamorphose, einer totalen Umwandlung, einer radikalen, wie es radikaler gar nicht mehr vorstellbar ist. Das wäre ein Riesenerfolg. Und um den ginge es ja.

Als neuer Mensch, als eine edle und zugleich erkennbar verwundbare, bunt schillernde, von allen gerne gesehene Figur, könnte man wieder ganz von vorne beginnen. Man wäre eine Person ohne Vergangenheit, und die dennoch latent vorhandene eigene Vergangenheit gehörte nur einem selbst. Ein Individuum einer neuen Art. Eines, das mit dem Zeitpunkt seiner zweiten Geburt als verwandeltes Wesen mit einem Schlag erwachsen geworden ist, und auf die eigenen Erfahrungen eines bereits gelebten Lebens zurückgreifen könnte.

Und das alles, die eigene Reinigung und die Verwandlung, könnte man noch dazu bei guter Planung in absehbarer Zeit schaffen.

Die Raupe nach innen, die würde man ja bleiben. Und ein Schmetterling nach Außen, das könnte man werden.

Eine erfrorene Katze vor der Haustüre bewies, dass ein harter Winter ins Land gezogen war. Ein Schwarm laut krächzender Nebelkrähen flatterte herum und formierte sich langsam, um gemeinsam den vielarmigen Schlafbaum anzusteuern.

Eis und Schnee sind Stimmungsbildner. Sie tragen dazu bei, sich in sich etwas mehr als sonst zurückzuziehen. Pläne können in solchen Zeiten weiterentwickelt werden und in stiller Muße allmählich reifen.

In der Hoffnung, das Richtige gleich zu Beginn getan zu haben, hatten Fabian und Greta den Kontakt mit all ihren Familienmitgliedern abgebrochen. Die Aktion stand unter der Devise, zunächst alten Ballast abzuwerfen, um überhaupt eine Art von neuem Leben beginnen zu können.

Ein entsprechendes Schreiben, das als Erklärung für die verdutzen Angehörigen gedacht war, stiftete unter den nahen und fernen Verwandten allerdings gehörige Konfusion. Die Schreiben waren von den Verwandten zunächst für unerwartete Weihnachtsgrüße gehalten worden. Nach dem Lesen der Botschaft setzte bei den Empfängern aber Unverständnis und Verstörung ein. Einige der Verwandten dachten an einen guten, andere an einen schlechten Scherz.

Die Eltern Gretas, die in der Schweiz lebten, vermuteten sofort, dass dieser Brief, der die Mitteilung enthielt, dass sich ihre Tochter aus Gründen der weiteren Entwicklung ihrer Persönlichkeit gezwungen sehe, (bis auf weiteres) allen Kontakt zu sämtlichen Verwandten einzustellen, wohl auf den äußerst schädlichen Einfluss des nichtsnutzigen Freundes ihrer Tochter zurückzuführen sei. Sie werde schon sehen, sagte die Mutter zu ihrem Mann, sie werde schon sehen, die Greta, wie weit sie mit diesem unwürdigen Kerl kommen wird, den sie, die Mutter, für einen schmierigen Tierarzt hielt. Sie war sich sicher, dass Greta sehr bald wieder zur Normalität finden werde. Dass ihre Tochter immer wieder Flausen im Kopf hatte, das waren die Eltern ja schon von früher gewöhnt, wenn auch dieser nunmehrige Schritt ein erhebliches Stück über das Bisherige hinausging.

Fabians Mutter, (sein Vater lebte nicht mehr) bekam wohl das Schreiben ihres Sohnes, aber sie war nicht mehr in der Lage, den Inhalt geistig zu erfassen. Sie freute sich aber darüber, einen Brief in Händen zu halten, der endlich wieder ein Lebenszeichen bot, und legte ihn in die Schatulle zu den wenigen anderen, die sie in den letzten Jahren bekommen hatte und die sie wie einen Schatz hütete.

Schriftlich reagierte nur ein entfernter Onkel Fabians. Er gratulierte zum Entschluss und bemerkte trocken, dass ein Abbrechen des Kontaktes zu den Verwandten bei diesen Verwandten eigentlich nur ein logischer und verständlicher Schritt sei. Für die Zukunft wünschte er alles Gute, aber wenn man sich zufällig auf der Straße begegnet, sollte man sich schon noch grüßen.

Danach sahen sich Greta und Fabian befreit vom Umgang mit Personen, die sie auf das Fehlen der Einhaltung von allerlei Konventionen hinweisen konnten. Das tun Verwandte im Allgemeinen, weil sie meinen, dass ihnen das als Verwandte zukommt. Aber das können sie nicht mehr tun, wenn der Kontakt abgeschmolzen ist.

Dieser erste Akt der Befreiung konnte mit einem gewissen Recht schon als ein ungewöhnliches Erlebnis eingestuft werden. Ein erstes Plus auf der Habenseite. Das war gefeiert worden. Am Abend vor Weihnachten. Dicke rote Kerzen hatten eine Aura der Getragenheit verbreiteten. Die Tiefe des Lebens hatte einen kurzen Augenblick lang ihren satten Glanz gezeigt, bevor die angebrochene schwarze Nacht in den nächsten weißen, frisch verschneiten Morgen übergegangen war.

Danach sprachen die Beiden für die Dauer von drei Wochen kein Wort miteinander. Sie beschäftigten sich in dieser Zeit mit sich und dem Lesen intelligenter Bücher. Wechselweise meinten sie, beim jeweils anderen die Begeisterung für die erhoffte glückliche Zukunft im tiefsten Inneren zu spüren. Sie schürten die Glut in sich, um sie später als Zündung des großen Feuers im weiteren Leben verwenden zu können.

Greta meinte nach Ablauf dieser Frist, das eigentliche Leben müsse jetzt endlich und sofort beginnen. Sie wäre nun bereit dazu. Nach einiger Überlegung sei sie außerdem zum Schluss gekommen, dass sie all ihre wesentlichen Ansichten künftig „Hervorbringung“ nennen werde.

Fabian drückte es blumiger aus. Er meinte, das gemeinsame Leben könne ab sofort in ein Kontinuum von Hochs am laufenden Band verwandelt werden, da dieser Zustand ja eigentlich der Sinn des Daseins wäre. Jedenfalls seines Daseins. Ein Hoch also, den kommenden Hochs.

Alles Leben sei zudem nur Sinnsuche. Und da müsse man die aneinandergereihten Höhepunkte wie einzelne Perlen betrachten, die zu einer endlosen Kette aufgereiht werden sollen. Und nun sei es wirklich höchst an der Zeit, damit zu beginnen, die ersten Perlen aufzufädeln. Seine wichtigsten Aussagen wollte er zur Unterscheidung von Gretas Hervorbringungen ab sofort „Ausrufungen“ nennen.

Aufforderung, um mit dem neuen Leben endlich zu beginnen, folgte jetzt auf Aufforderung. Die ersten Höhepunkte, waren sie schon in Greifweite? Höhepunkte. Aber was sind schon Höhepunkte? Wie soll man zu solchen kommen, wenn man kein Geld dafür hat? Ein Problem, das beide erkannt, aber noch nicht geregelt hatten. Eine Lösung war nicht in Sicht.

Als Nächstes kamen die beiden überein, dass es unter den nun gegebenen hohen Ansprüchen unmöglich sei, ihre Arbeitsstellen weiterhin zu behalten. Regelmäßige Lohnarbeit hält von so vielem Nützlichen ab. Das müsse jeder, der auch nur einen Augenblick darüber nachdenkt, einsehen.

Zur Schneeschmelze, einem symbolischen Naturereignis, verließ Greta folgerichtig die Apotheke, in der sie bisher als Pharmazeutin gearbeitet hatte.

Fabian kündigte kurz darauf seine Stelle an der Klinik, in der er seit 4 Jahren als Arzt in natürlichen und künstlichen Körperöffnungen der Patienten nach Ursachen von Beschwerden gesucht hatte.

Sie hatten erkannt, dass die Erfüllung der in ihren speziellen Arbeitsumfeldern dort von ihnen erwarteten Berufsehre, für die beiden nicht mehr mit ihren Sehnsüchten in Deckung zu bringen war. Ob Arzt oder Pharmazeutin, bei beiden Berufen kommt es ganz besonders auf Korrektheit, auf Verlässlichkeit an, auf die Einhaltung von hoch komplizierten Regeln, die noch dazu auf dem jeweils aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung sein müssen.

So ein durch den Beruf dominiertes Leben steht einem anderen, nämlich einem erwünschten freien, offenen, unkonventionellen und nicht so bieder zielgerichteten ungesteuertem Leben diametral entgegen. Es musste also sein, das alte, in früheren Jahren mühsam erworbene eigene Ethos über Bord zu werfen. Dem Leben eine neue Richtung zu geben ist nur möglich, wenn man Ballast abwirft.

Außerdem steht fest, dass Menschen, von denen in jeder Lebenslage erwartet wird, dass sie sich Kraft ihrer Stellung als Helfende, als Heilende, dem unbedingten Wohl der Anderen unter Außerachtlassung der eigenen Bedürfnisse zu widmen haben, niemals frei und ungezwungen leben können.

Die beiden sagten sich also, dass mit Sicherheit andere, vielleicht sogar besser qualifizierte Leute umgehend ihre bisherigen Plätze einnehmen werden. Auch die Arbeitslosigkeit konnte dadurch partiell reduziert werden. Niemand würde also durch das Ausscheiden der Beiden aus dem aktiven Erwerbsleben Schaden nehmen. Es ist schließlich nicht verboten, sich im Leben mit anderen Dingen als mit jenen der Arbeit zu beschäftigen. Es gibt eben nicht nur das aktive Erwerbsleben. Das passive Erwerbsleben, das ist es, was man eigentlich anstreben sollte.