Vom Wind verweht - Margaret Mitchell - E-Book

Vom Wind verweht E-Book

Margaret Mitchell

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Beschreibung

Vom Wind verweht ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur, eine abenteuerliche Liebesgeschichte, vor allem aber das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, ein Pendant zu Krieg und Frieden, das Andreas Nohl und Liat Himmelheber zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen haben. Jeder kennt die tragische Liebesgeschichte von Scarlett O'Hara und Rhett Butler, wenn auch oft nur aus dem Film, in der Gestalt von Vivien Leigh und Clark Gable. Der Film gilt als einer der erfolgreichsten der Filmgeschichte, aber auch das Buch, das 1936 erschien, war umgehend ein Bestseller und wurde schon 1937 ins Deutsche übersetzt: Keine Geschichte hat unser Bild von den Südsaaten, dem amerikanischen Bürgerkrieg und der Zeit der Reconstruction so sehr geprägt wie Margaret Mitchells Gone With the Wind. Vom Wind verweht, die erste Neuübersetzung seit 1937 – zugleich die erste ungekürzte Übersetzung in deutscher Sprache –, folgt dem schnörkellosen, journalistischen Stil von Margaret Mitchell und lässt uns so fast einen anderen Roman lesen. Natürlich ist es immer noch das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, die tragische Liebesgeschichte und die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Doch die Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber vermeidet den romantisierenden Stil, die rassistischen Stereotypen und den teils kitschigen Ton der Übersetzung von 1937 und zeigt uns einen Roman, der moderner und ambivalenter ist als das verklärte Bild, das wir bisher hatten. Diese Neuübersetzung ist nicht nur ein viel größerer Lesegenuss, sie gibt uns auch – endlich – die Möglichkeit, Vom Wind verweht richtig zu lesen: als den epischen amerikanischen Roman, der Konflikte und Brüche beschreibt, die die USA bis heute prägen.

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Seitenzahl: 2159

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Zum Buch

Vom Wind verweht ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur, eine abenteuerliche Liebesgeschichte, vor allem aber das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, ein Pendant zu Krieg und Frieden, das Andreas Nohl und Liat Himmelheber zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen haben.

Jeder kennt die tragische Liebesgeschichte von Scarlett O’Hara und Rhett Butler, wenn auch oft nur aus dem Film, in der Gestalt von Vivien Leigh und Clark Gable. Der Film gilt als einer der erfolgreichsten der Filmgeschichte, aber auch das Buch, das 1936 erschien, war umgehend ein Bestseller und wurde schon 1937 ins Deutsche übersetzt: Keine Geschichte hat unser Bild von den Südstaaten, dem amerikanischen Bürgerkrieg und der Zeit der Reconstruction so sehr geprägt wie Margaret Mitchells Gone With the Wind.

Diese erste Neuübersetzung seit 1937 – zugleich die erste ungekürzte Übersetzung in deutscher Sprache –, folgt dem schnörkellosen, journalistischen Stil von Margaret Mitchell und lässt uns so fast einen anderen Roman lesen. Natürlich ist es immer noch das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, die tragische Liebesgeschichte und die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Doch die Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber vermeidet den romantisierenden Stil, die rassistischen Stereotypen und den teils kitschigen Ton der Übersetzung von 1937 und zeigt uns einen Roman, der moderner und ambivalenter ist als das verklärte Bild, das wir bisher hatten. Wir haben damit – endlich – die Möglichkeit, Vom Wind verweht richtig zu lesen: als den epischen amerikanischen Roman, der Konflikte und Brüche beschreibt, die die USA bis heute prägen.

Über die Autorin

MARGARET MITCHELL, geboren 1900 in Atlanta, hat in ihrem Roman Vom Wind verweht aus den Erinnerungen ihrer Familie geschöpft, deren Schicksal eng mit dem des Staates Georgia verknüpft war. Als er 1936 erschien, wurden in einem halben Jahr über eine Million Exemplare verkauft, das war noch bei keinem Buch vorgekommen. 1937 erhielt sie dafür den Pulitzerpreis. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und erschien in 37 Ländern. Margaret Mitchell kam am 16.8.1949 durch einen tragischen Autounfall ums Leben.

Margaret Mitchell

VOM WIND VERWEHT

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetztvon Liat Himmelheber und Andreas Nohl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

Herausgegeben von Andreas Nohl aufgrund der Erstausgabe»Gone With the Wind«, erschienen im Juni 1936 in New Yorkbei The Macmillan Company

 

 

 

 

© dieser Ausgabe Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2020Umschlaggestaltung: lowlypaper, Marion BlomeyereBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbHISBN 978-395614-340-3

Für J. R. M.

 

 

INHALT

Teil I

Teil II

Teil III

Teil IV

Teil V

ANHANG

Nachwort

Zur Übersetzung

Anmerkungen

 

 

TEIL I

 

 

 

KAPITEL 1

Scarlett O’Hara war keine wirkliche Schönheit, auch wenn dies den Männern, die ihrem Charme erlagen – wie jetzt die Tarleton-Zwillinge –, selten auffiel. Zu wenig harmonierten in ihrem Gesicht die feinen Züge ihrer Mutter, einer Ostküsten-Aristokratin französischer Abstammung, mit den derben ihres rotgesichtigen irischen Vaters. Aber es war ein faszinierendes Gesicht, mit spitz zulaufendem Kinn und kräftigem Unterkiefer. Ihre leicht schrägstehenden, blassgrünen Augen hatten nicht die geringsten braunen Einsprengsel und waren von einem Kranz kräftiger schwarzer Wimpern umgeben. Die dichten schwarzen Brauen darüber schnitten verblüffend geschwungene Linien in ihre magnolienweiße Haut – diese Haut, die von den Südstaatenfrauen so geschätzt und so sorgsam mit Häubchen, Schleiern und Handschuhen vor der heißen Sonne Georgias geschützt wurde.

Wie sie dort an jenem klaren Aprilnachmittag des Jahres 1861 mit Stuart und Brent Tarleton im kühlen Schatten der Veranda von Tara, der Plantage ihres Vaters, saß, gab sie ein reizendes Bild ab. Ihr neues, grünes Musselinkleid bauschte sich mit seinen zehn Metern geblümten Stoffs über ihre Krinoline und passte genau zu den flachen Maroquin-Schuhen, die ihr Vater kürzlich aus Atlanta mitgebracht hatte. In dem Kleid kam eine Taille von siebzehn Zoll, die in drei Countys ihresgleichen suchte, perfekt zur Geltung, und das eng geschnürte Mieder betonte ihre wohlgeformten Brüste, die für ihre sechzehn Jahre schon sehr entwickelt waren. Doch bei aller Sittsamkeit der ausgestellten Röcke, der Strenge des in einem Haarnetz eingefangenen Chignons und der Reglosigkeit der kleinen weißen Hände, die gefaltet in ihrem Schoß ruhten, ließ sich ihr wahres Selbst nur schwer verbergen. Die grünen Augen in dem bemüht liebenswürdigen Gesicht sprühten vor Eigensinn und Lebenslust, ganz im Gegensatz zu ihrem züchtigen Gebaren. Die Manieren waren ihr durch die sanften Ermahnungen ihrer Mutter und durch die weit strengere Zucht ihrer Mammy aufgeprägt worden; die Augen gehörten ihr.

Zu ihren beiden Seiten fläzten sich die Zwillinge entspannt in ihren Stühlen und blinzelten durch große, mit Minzeblättern garnierte Gläser ins Sonnenlicht, während sie lachten und plauderten und die langen, kräftigen Reiterbeine in kniehohen Stiefeln lässig gekreuzt von sich streckten. Neunzehn Jahre alt, 1,85 groß, schlaksig und muskulös, mit sonnengegerbten Gesichtern und kastanienrotem Haar, die Augen vergnügt und hochmütig, in identische blaue Jacketts und senffarbene Reithosen gekleidet, glichen sie einander wie eine Baumwollkapsel der anderen.

Draußen warf die späte Nachmittagssonne ihre Strahlen in den Garten und ließ die Hartriegelbäume wie eine weiße Blütenwand vor dem Hintergrund neuen Grüns aufleuchten. Die Pferde der Zwillinge, große Tiere, fuchsrot wie das Haar ihrer Herren, waren in der Auffahrt angebunden; und zwischen ihren Beinen balgte sich eine Meute schlanker, nervöser Jagdhunde, die Stuart und Brent überallhin begleiteten. Etwas abseits, wie es sich für einen Aristokraten gehört, lag ein schwarzgefleckter Dalmatiner, die Schnauze auf den Pfoten, und wartete geduldig, dass die Jungs nach Hause zum Abendessen aufbrachen.

Zwischen den Hunden, den Pferden und den Zwillingen herrschte eine Seelenverwandtschaft, die nicht nur auf ihrem ständigen Zusammensein beruhte. Sie waren allesamt gesunde, gedankenlose junge Tiere, geschmeidig, anmutig, temperamentvoll, die Jungs ebenso feurig wie die Pferde, die sie ritten, heißblütig und gefährlich, doch dabei sanftmütig gegen Leute, die sie zu nehmen wussten.

Obgleich sie in das bequeme Leben der Plantagenbesitzer hineingeboren und seit ihrer Kindheit von vorne bis hinten bedient worden waren, wirkten die drei auf der Veranda weder schlaff noch weichlich. Sie strotzten vielmehr vor Kraft und Lebendigkeit, denn als Landbewohner hatten sie ihr ganzes Leben im Freien zugebracht und ihre Köpfe nur wenig mit ödem Bücherkram beschwert. Das Leben im Clayton-County im Norden von Georgia war noch neu und, gemessen an den Maßstäben von Augusta, Savannah und Charleston, etwas ungehobelt. In den gesetzteren und älteren Landstrichen des Südens rümpfte man die Nase über Leute, die aus Georgias Norden stammten, doch hier war ein Mangel an klassischer Bildung keine Schande, sofern ein Mann sich in den Dingen auskannte, die wirklich zählten. Gute Baumwolle anbauen, gut reiten, treffsicher schießen, leichtfüßig tanzen, elegant die jungen Damen umwerben und Alkohol wie ein Gentleman vertragen, das waren die Dinge, die zählten.

In all diesen Fertigkeiten exzellierten die Zwillinge ebenso wie in ihrer berüchtigten Unfähigkeit, irgendetwas zu lernen, das sich zwischen zwei Buchdeckeln befand. Ihre Familie hatte mehr Geld, mehr Pferde, mehr Sklaven als sonst jemand im County, doch die Jungs hatten weniger Ahnung von Grammatik als die meisten armen weißen Farmer in ihrer Nachbarschaft.

Genau aus diesem Grund lungerten Stuart und Brent an diesem Aprilnachmittag in Tara auf der Veranda herum. Sie waren gerade erst von der Universität von Georgia relegiert worden, der vierten Universität, die sie innerhalb von zwei Jahren hinausgeworfen hatte. Und ihre älteren Brüder Tom und Boyd waren mit ihnen nach Hause zurückgekehrt, weil sie sich weigerten, in einer Institution zu bleiben, in der die Zwillinge nicht willkommen waren. Stuart und Brent betrachteten ihren letzten Hinauswurf als einen gelungenen Witz, und Scarlett, die seit dem Verlassen der Fayetteville Female Academy im Jahr zuvor freiwillig kein Buch mehr aufgeschlagen hatte, fand das Ganze ebenso erheiternd wie sie.

»Ich weiß, euch beiden ist es egal, wenn ihr rausgeschmissen werdet, und Tom genauso«, sagte sie. »Aber was ist mit Boyd? Er legt doch eher Wert auf Bildung, und ihr beide habt ihn aus der Universität von Virginia und Alabama und South Carolina rausgerissen, und jetzt aus der von Georgia. So bekommt er doch nie einen Abschluss.«

»Ach, er kann doch in Richter Parmalees Kanzlei in Fayetteville Jura studieren«, erwiderte Brent sorglos. »Außerdem schadet es nicht sonderlich. Wir hätten sowieso vor Semesterende nach Hause gemusst.«

»Wieso?«

»Der Krieg, Gänschen! Der Krieg kann jeden Tag losgehen, und du glaubst doch nicht, dass irgendwer von uns auf dem College bleibt, wenn es Krieg gibt, oder?«

»Du weißt genau, dass es überhaupt keinen Krieg geben wird«, sagte Scarlett gelangweilt. »Das ist doch alles nur Geschwätz. Ashley Wilkes und sein Vater, die haben erst letzte Woche zu Pa gesagt, dass unsere Unterhändler in Washington mit Mr. Lincoln zu … zu … einer gütlichen Vereinbarung über die Konföderation kommen werden. Und überhaupt haben die Yankees viel zu viel Angst vor uns, um zu kämpfen. Es wird keinen Krieg geben, und ich hab’s satt, davon zu hören.«

»Keinen Krieg geben!« riefen die Zwillinge aufgebracht, als wollte man sie um etwas betrügen.

»Aber Herzchen, natürlich wird’s Krieg geben«, sagte Stuart. »Die Yankees haben vielleicht Angst vor uns, aber so wie General Beauregard sie vorgestern aus Fort Sumter rausgebombt hat, müssen sie kämpfen, oder sie stehen vor der ganzen Welt als Feiglinge da. Und die Konföderation …«

Scarlett verzog ungeduldig den Mund.

»Wenn ihr noch einmal ›Krieg‹ sagt, gehe ich ins Haus und mache die Tür zu. Ich hab noch nie in meinem Leben ein Wort so satt gehabt wie ›Krieg‹, außer vielleicht ›Sezession‹. Pa redet von morgens bis abends vom Krieg, und die ganzen Gentlemen, die ihn besuchen, palavern über Fort Sumter und die Rechte der Bundesstaaten und Abe Lincoln, bis ich vor Langeweile schreien könnte! Und die Jungs haben auch nichts anderes zu reden; das und ihre blöde alte Truppe. Auf keiner Party in diesem Frühjahr hatte man das geringste bisschen Spaß, weil die Jungs von nichts anderem reden können. Ich bin wirklich froh, dass Georgia mit der Sezession bis nach Weihnachten gewartet hat, sonst wären auch noch die Weihnachtspartys verdorben worden. Wenn ihr noch einmal ›Krieg‹ sagt, geh ich ins Haus.«

Sie meinte es ernst, denn sie konnte keine Unterhaltung lange ertragen, in der nicht sie im Mittelpunkt stand. Aber sie lächelte beim Sprechen, damit ihre Grübchen noch tiefer wurden, und ließ ihre schwarzen Wimpern flattern wie Schmetterlingsflügel. Die Jungs waren gebührend verzaubert und entschuldigten sich eilig, dass sie sie gelangweilt hatten. Sie dachten wegen Scarletts Desinteresses keineswegs geringer von ihr. Eigentlich stieg sie sogar in ihrer Achtung. Der Krieg war Männersache, nichts für Frauen, und Scarletts Haltung erschien ihnen als Ausdruck von Weiblichkeit.

Nachdem Scarlett sie von dem öden Kriegsthema abgebracht hatte, wendete sie sich voller Interesse erneut der gegenwärtigen Situation der beiden zu.

»Was hat denn eure Mutter dazu gesagt, dass ihr zwei wieder rausgeflogen seid?«

Die Jungs schauten betreten. Sie erinnerten sich, wie ihre Mutter sie vor drei Monaten empfangen hatte, als die Universität von Virginia sie nach Hause zurückgeschickt hatte.

»Naja«, sagte Stuart, »sie hatte noch keine Gelegenheit, irgendwas dazu zu sagen. Tom und wir beide sind heute früh von zu Hause weg, bevor sie aufgestanden ist, und Tom ist drüben bei den Fontaines, während wir hierher gekommen sind.«

»Hat sie nichts gesagt, als ihr gestern Abend zu Hause ankamt?«

»Gestern Abend hatten wir Glück. Kurz bevor wir ankamen, wurde der neue Hengst gebracht, den Ma letzten Monat in Kentucky gekauft hat, und da war die Hölle los. Das Riesenvieh – es ist ein Prachthengst, Scarlett; du musst deinem Pa unbedingt sagen, er soll sofort rüberkommen und ihn sich ansehen – hatte schon seinem Stallburschen ein Stück Fleisch rausgebissen, und nach zwei von Mas Darkys, die sie am Zug in Jonesboro in Empfang genommen haben, hat er ausgekeilt. Und kurz bevor wir nach Hause kamen, hat er den halben Stall zerlegt und Strawberry, Mas alten Hengst, fast umgebracht. Wie wir heimkamen, war Ma draußen im Stall mit nem Sack voll Zucker und hat ihm gut zugeredet, und zwar mit ziemlichem Erfolg. Die Darkys hingen an den Dachsparren und hatten Stielaugen vor lauter Angst, aber Ma hat mit dem Pferd geredet, als wär’s ein Mensch, und es fraß ihr aus der Hand. Keiner kann so gut mit Pferden wie Ma. Und wie sie uns sieht, sagt sie: ›Was zum Teufel macht ihr vier wieder zu Hause? Ihr seid schlimmer als die Ägyptischen Plagen!‹ Und dann fing das Pferd an zu schnauben und zu steigen, und sie sagte: ›Raus mit euch! Seht ihr nicht, wie nervös er ist, mein großer Schatz? Um euch vier kümmre ich mich morgen früh!‹ Dann sind wir ins Bett gegangen, und heute Morgen sind wir los, bevor sie uns erwischen konnte, und haben Boyd dagelassen, damit er das mit ihr deichselt.«

»Glaubst du, sie wird Boyd schlagen?« Scarlett konnte sich, wie das gesamte County, nie daran gewöhnen, wie die zierliche Mrs. Tarleton ihre erwachsenen Söhne kujonierte und ihnen sogar mit der Reitpeitsche zu Leibe ging, wenn sie es für nötig hielt.

Beatrice Tarleton war eine vielbeschäftigte Frau, denn sie hatte nicht nur eine große Baumwollplantage, einhundert Schwarze und acht Kinder am Hals, sondern obendrein noch die größte Pferdezucht im ganzen Staat. Sie war jähzornig und verlor leicht die Beherrschung, wenn ihre vier Söhne wieder einmal etwas angestellt hatten, und während es niemandem erlaubt war, ein Pferd oder einen Sklaven mit der Peitsche zu schlagen, fand sie, dass ihren Söhnen eine Tracht Prügel dann und wann nicht schaden konnte.

»Natürlich schlägt sie Boyd nicht. Sie hat Boyd nie viel geschlagen, weil er der Älteste ist und der Kleinste im Rudel«, sagte Stuart, stolz auf seine knapp eins neunzig. »Deswegen haben wir ihn ja zu Hause gelassen, damit er ihr die Sache erklärt. Meine Güte, Ma sollte aufhören, uns zu schlagen! Wir sind neunzehn und Tom ist einundzwanzig, und sie tut immer noch so, als ob wir sechs wären.«

»Reitet eure Mutter das neue Pferd morgen zu Wilkes’ Barbecue?«

»Sie will schon, aber Pa sagt, er ist zu gefährlich. Und die Mädchen lassen sie sowieso nicht. Sie haben gesagt, sie würden dafür sorgen, dass sie wenigstens zu einer Party in der Kutsche fährt, wie ne Lady.«

»Ich hoffe, morgen regnet es nicht«, sagte Scarlett. »Es hat jetzt eine Woche lang fast an jedem Tag geregnet. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Barbecue, das als Picknick im Haus endet.«

»Ach, morgen wird’s klar und heiß wie im Juni«, sagte Stuart. »Guck dir den Sonnenuntergang an. Ich hab noch keinen röteren gesehen. Man kann das Wetter immer nach Sonnenuntergängen vorhersagen.«

Sie schauten über die endlose Fläche von Gerald O’Haras frischgepflügten Baumwollfeldern zum roten Horizont. Jetzt, da die Sonne in wirbelndem Karminrot hinter den Bergen jenseits des Flint River unterging, ließ die Wärme des Apriltages nach, und eine leichte, balsamische Kühle kam auf.

Der Frühling war in diesem Jahr zeitig gekommen, mit kurzen, warmen Regenschauern und plötzlich aufschäumenden rosa Pfirsichblüten und dem Hartriegel, der die dunklen Auen am Fluss und die fernen Berge mit weißen Sternen sprenkelte. Das Pflügen war fast schon erledigt, und die blutrote Pracht des Sonnenuntergangs tauchte die frisch gezogenen Furchen im roten Lehm Georgias in noch rötere Farben. Die feuchte hungrige Erde, die aufgebrochen die Baumwollsamen erwartete, zeigte sich auf den sandigen Schollen rosafarben und dort, wo Schatten in den Furchen lag, purpur-, scharlach- und kastanienrot. Das weißgetünchte Backsteinhaus glich einer Insel in einem wilden roten Meer, einem Meer aus geschwungenen, wirbelnden und wogenden Wellen, die in dem Augenblick erstarrt waren, da ihre rosa Kämme in Gischt zerstoben. Denn hier gab es keine langen, geraden Furchen wie in den gelben flachen Lehmfeldern des mittleren Georgia oder in der fruchtbaren schwarzen Erde der Küstenplantagen. Das hügelige Land der Gebirgsausläufer von Nordgeorgia wurde in Millionen von Windungen gepflügt, damit die reiche Erde nicht in die Flusstäler geschwemmt wurde.

Es war ein wildes rotes Land, blutfarben nach Regenfällen, wie Ziegelstaub in Dürrezeiten, das beste Baumwollland der Welt. Ein liebliches Land mit weißen Häusern, friedlichen gepflügten Feldern und trägen gelben Flüssen, aber auch ein Land der Gegensätze, voll grellem Sonnenlicht und tiefem Schatten. Die Plantagenrodungen und die meilenweit ausgedehnten Baumwollfelder lächelten beschaulich und zufrieden zur heißen Sonne empor. An den Feldrainen ragte der Urwald auf, dunkel und kühl selbst in den heißesten Mittagsstunden, geheimnisvoll und ein bisschen unheimlich; die ächzenden Kiefern schienen mit urzeitlicher Geduld dort zu warten und leise seufzend zu drohen: »Sei auf der Hut! Sei auf der Hut! Früher hast du uns gehört! Wir können dich zurückholen!«

Zu den dreien auf der Veranda drangen Geräusche von Hufen, das Klirren von Zaumzeug und das sorglose Lachen der Sklaven, als die Feldarbeiter und die Maultiere von den Äckern heimkehrten. Aus dem Inneren des Hauses ertönte die sanfte Stimme von Scarletts Mutter, Ellen O’Hara, die nach dem kleinen schwarzen Mädchen rief, das ihren Schlüsselkorb trug. Die helle Kinderstimme antwortete: »Ja, Ma’m«, und man hörte Schritte nach hinten hinaus zum Räucherhaus, wo Ellen die Essensrationen für die heimkommenden Arbeiter zuteilte. Porzellan und Silberbesteck klirrten, als Pork, der Hausbutler, den Tisch fürs Abendessen deckte.

Bei diesem Geräusch merkten die Zwillinge, dass es Zeit war, nach Hause aufzubrechen. Aber es graute ihnen davor, ihrer Mutter unter die Augen zu treten, und sie trödelten noch auf der Veranda herum in der leisen Erwartung, Scarlett würde sie zum Abendessen einladen.

»Hör mal, Scarlett, wegen morgen«, sagte Brent. »Nur weil wir weg waren und von dem Barbecue und dem Ball nichts gewusst haben, ist das kein Grund, dass wir morgen Abend nicht jede Menge Tänze kriegen. Du hast sie noch nicht alle versprochen, oder?«

»Tja, habe ich aber! Woher sollte ich wissen, dass ihr nach Hause kommt? Ich konnte nicht riskieren, als Mauerblümchen dazusitzen, nur weil ich auf euch warte.«

»Du und Mauerblümchen?« Die Jungs brüllten vor Lachen.

»Hör zu, Schätzchen. Mir musst du den ersten Walzer geben und Stu den letzten, und du musst mit uns essen. Wir setzen uns oben auf den Treppenabsatz wie beim letzten Ball und holen Mammy Jincy, damit sie uns wieder die Zukunft voraussagt.«

»Ich kann Mammy Jincys Wahrsagerei nicht ausstehen. Sie hat gesagt, ich würde einen Gentleman mit rabenschwarzem Haar und einem langen schwarzen Schnurrbart heiraten, und ich kann schwarzhaarige Männer nicht ausstehen.«

»Du magst sie rothaarig, oder, Schätzchen?« grinste Brent. »Jetzt komm schon, versprich uns alle Walzer und das Essen.«

»Wenn du’s versprichst, verraten wir dir auch ein Geheimnis«, sagte Stuart.

»Was für eins?« rief sie, neugierig wie ein Kind.

»Meinst du das, was wir gestern in Atlanta gehört haben, Stu? Du weißt doch, dass wir versprochen haben, es nicht weiterzusagen.«

»Miss Pitty hat’s uns schließlich auch erzählt.«

»Miss wer?«

»Du weißt schon, die Verwandte von Ashley Wilkes, die in Atlanta lebt, Miss Pittypat Hamilton – die Tante von Charles und Melanie Hamilton.«

»Ach die! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine dämlichere alte Frau getroffen.«

»Naja, wie wir gestern in Atlanta waren und auf unseren Zug gewartet haben, da kam ihre Kutsche am Bahnhof vorbei, und sie hielt an und redete mit uns, und sie sagte, es würde morgen Abend auf dem Ball bei den Wilkes eine Verlobung bekannt gegeben.«

»Ach, das weiß ich doch längst«, sagte Scarlett enttäuscht. »Dieser alberne Neffe von ihr, Charlie Hamilton, und Honey Wilkes. Das weiß man doch schon seit Jahren, dass sie irgendwann heiraten, auch wenn er ein bisschen lau dabei wirkte.«

»Findest du ihn albern?« fragte Brent. »Letzte Weihnachten hast du ihn ganz schön um dich rumscharwenzeln lassen.«

»Ich konnte ihn nicht dran hindern.« Scarlett zuckte achtlos mit den Schultern. »Ich finde, er ist ein grässlicher Waschlappen.«

»Außerdem ist es nicht seine Verlobung, die bekannt gegeben wird«, sagte Stuart triumphierend. »Es ist die von Ashley mit Charlies Schwester, Miss Melanie!«

Scarletts Gesicht zeigte keine Regung, nur ihre Lippen wurden bleich – wie bei jemandem, der ohne Vorwarnung einen heftigen Schlag abbekommen hat und im ersten Schrecken nicht begreift, wie ihm geschieht. Sie starrte Stuart mit so unbewegtem Gesicht an, dass er in seiner Naivität annahm, sie sei nur überrascht und voller Neugier.

»Miss Pitty hat uns erzählt, sie wollten es eigentlich erst nächstes Jahr bekannt geben, weil es Miss Melly nicht so gut geht; aber bei dem ganzen Gerede über Krieg fanden es beide Familien besser, wenn sie schnell heiraten. Also soll es morgen Abend bei der Dinnerpause bekannt gemacht werden. So, Scarlett, jetzt haben wir dir das Geheimnis verraten, und deshalb musst du versprechen, mit uns zu essen.«

»Natürlich«, sagte Scarlett mechanisch.

»Und alle Walzer?«

»Alle.«

»Du bist süß! Ich wette, die anderen Jungs sind dann stinksauer.«

»Lass sie nur sauer sein«, sagte Brent. »Mit denen werden wir schon fertig. Hör mal, Scarlett, setz dich doch auch beim Barbecue am Vormittag zu uns.«

»Was?«

Stuart wiederholte seinen Vorschlag.

»Natürlich.«

Die Zwillinge sahen sich triumphierend, aber auch ein wenig überrascht an. Obwohl sie sich für Scarletts bevorzugte Verehrer hielten, hatten sie derartige Gunstbeweise noch nie so leicht errungen. Normalerweise ließ Scarlett sie bitten und betteln, hielt sie hin und sagte weder Ja noch Nein, lachte, wenn sie schmollten, und wurde kühl, wenn sie sich ärgerten. Und jetzt hatte sie ihnen praktisch den ganzen morgigen Tag versprochen – mit ihnen beim Barbecue zu sitzen, alle Walzer (und sie würden dafür sorgen, dass alle Tänze Walzer waren!) und die Dinnerpause. Das war es wert, von der Universität zu fliegen.

Von ihrem Erfolg animiert, blieben sie noch sitzen, redeten über das Barbecue und den Ball und Ashley Wilkes und Melanie Hamilton, fielen einander ins Wort, rissen Witze und lachten darüber und winkten deutlich mit dem Zaunpfahl, Abendessenseinladungen betreffend. Es verging eine Weile, bis sie merkten, dass Scarlett sehr einsilbig geworden war. Die Atmosphäre hatte sich irgendwie gewandelt. Wie, das wussten die Zwillinge nicht, aber der Nachmittag hatte seinen Glanz verloren. Scarlett schien kaum zu beachten, was sie sagten, auch wenn sie die richtigen Antworten gab. Sie spürten etwas, das sie nicht verstanden, schleppten ratlos und irritiert das Gespräch noch eine Weile fort, bis sie sich schließlich zögernd erhoben und auf ihre Uhren schauten.

Die Sonne stand niedrig über den frischgepflügten Feldern, und die hohen Wälder jenseits des Flusses zeichneten sich nur noch als finstere Silhouette ab. Rauchschwalben schossen durch den Garten, und Hühner, Enten und Truthühner stolzierten, trippelten und watschelten von den Feldern herein.

Stuart brüllte: »Jeems!«, und nach einer Weile rannte ein großgewachsener schwarzer Junge in ihrem Alter atemlos um das Haus und weiter zu den angebundenen Pferden. Jeems war ihr Leibdiener, der sie wie die Hunde überallhin begleitete. Er war der Spielgefährte ihrer Kindheit gewesen und ihnen zu ihrem zehnten Geburtstag geschenkt worden. Als die Tarleton-Hunde seiner ansichtig wurden, erhoben sie sich aus dem roten Staub und warteten gespannt auf ihre Herren. Die Jungs verneigten sich, gaben Scarlett die Hand und sagten, sie würden frühzeitig am Morgen drüben bei den Wilkes sein und auf sie warten. Dann waren sie im Nu unten auf dem Weg, bestiegen ihre Pferde und galoppierten, gefolgt von Jeems, die Zedernallee hinunter, schwenkten ihre Hüte und riefen noch etwas.

Als sie die Kurve der staubigen Straße hinter sich hatten, die sie vor Tara verbarg, brachte Brent sein Pferd unter einem überhängenden Hartriegelgebüsch zum Stehen. Stuart hielt ebenfalls an, und der schwarze Junge blieb ein paar Pferdelängen hinter ihnen stehen. Als die Pferde spürten, dass die Zügel gelockert wurden, senkten sie die Hälse, um das zarte Frühlingsgras zu rupfen, und die geduldigen Hunde legten sich erneut in den weichen roten Staub und blickten sehnsüchtig zu den Schwalben hinauf, die in der zunehmenden Dämmerung kreisten. Brents breites, offenes Gesicht wirkte verblüfft und leicht ungehalten.

»Hör mal«, sagte er, »findest du nicht auch, sie hätte uns bitten können, zum Abendessen zu bleiben?«

»Ich hatte fest damit gerechnet«, sagte Stuart. »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie uns fragt, aber sie hat’s nicht getan. Wie erklärst du dir das?«

»Ich kann’s mir gar nicht erklären. Aber ich finde, sie hätte uns wirklich einladen können. Es ist immerhin unser erster Tag zu Hause, und sie hat uns wer weiß wie lange nicht gesehen. Und wir hatten noch jede Menge zu erzählen.«

»Ich hatte das Gefühl, wie wir kamen, hat sie sich wahnsinnig gefreut, uns zu sehen.«

»Ich auch.«

»Und dann, so vor ner halben Stunde, wurde sie plötzlich still, als ob sie Kopfweh hätte.«

»Das hab ich gemerkt, aber ich habe nicht weiter darauf geachtet. Was, denkst du, war mit ihr los?«

»Keine Ahnung. Haben wir vielleicht was gesagt, das sie geärgert hat?«

Sie dachten ein Weilchen nach.

»Mir fällt nichts ein. Außerdem, wenn Scarlett sich ärgert, merkt das jeder. Sie reißt sich nicht so zusammen wie andere Mädchen.«

»Ja, das mag ich an ihr. Sie läuft nicht kalt und abweisend rum, wenn sie wütend ist – sie sagt dir ihre Meinung. Aber wir müssen irgendwas gesagt oder getan haben, dass sie plötzlich gar nichts mehr gesagt hat und irgendwie krank aussah. Ich könnte schwören, sie hat sich gefreut, wie wir kamen, und vorgehabt, uns zum Abendessen einzuladen.«

»Du meinst, es liegt nicht daran, dass wir rausgeflogen sind?«

»Ach Quatsch! Du spinnst wohl! Sie hat doch irrsinnig gelacht, wie wir darüber geredet haben. Und außerdem gibt Scarlett auf Bücher genauso wenig wie wir.«

Brent wandte sich im Sattel um und rief den schwarzen Burschen.

»Jeems!«

»Sir?«

»Du hast gehört, worüber wir mit Miss Scarlett geredet haben?«

»Nee Sir, Mista Brent! Wie kommen Sie da drauf, dass ich Weißen hinterherspionier?«

»Spionieren, mein Gott! Ihr Darkys kriegt doch immer alles mit. Du alter Schwindler, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, wie du dich um die Ecke von der Veranda geschlichen und im Jasminbusch an der Mauer versteckt hast. Hast du irgendwas gehört, was Miss Scarlett vielleicht geärgert – oder sogar verletzt hat?«

Dergestalt überführt, tat Jeems nicht länger so, als hätte er nicht gelauscht, und runzelte die schwarze Stirn.

»Nee Sir, ich hab nix gehört, was sie ärgern konnt’. Ich hab den Eindruck gehabt, sie war mächtig froh, euch zu sehen, und hatte euch vermisst und sie hat froh wie ‘n Vogel gezwitschert, bis ihr davon geredet habt, dass Mista Ashley und Miss Melly Hamilton heiraten. Da wurd’ sie still wie ’n Vogel, wenn der Habicht drüber kreist.«

Die Zwillinge sahen einander an und nickten, aber ohne zu begreifen.

»Jeems hat recht. Aber ich versteh’s nicht«, sagte Stuart. »Meine Güte! Ashley bedeutet ihr doch nichts, außer als Freund. Sie ist nicht verrückt nach ihm. Verrückt ist sie doch nur nach uns.«

Brent nickte zustimmend.

»Aber kann es vielleicht sein«, sagte er, »dass Ashley ihr nicht gesagt hat, dass er’s morgen Abend ankündigen wird, und jetzt ist sie wütend auf ihn, weil er’s einer alten Freundin wie ihr nicht verraten hat, bevor er’s allen anderen erzählt? Für Mädels ist es furchtbar wichtig, solche Sachen zuerst zu wissen.«

»Ja, kann sein. Aber was ist schon dabei, wenn er ihr nicht gesagt hat, dass es morgen ist? Es sollte geheim und ne Überraschung sein, und ein Mann hat das Recht, seine Verlobung für sich zu behalten, oder? Wir hätten’s nicht gewusst, wenn sich Miss Mellys Tante nicht verplappert hätte. Aber es muss Scarlett doch klar gewesen sein, dass er Miss Melly irgendwann heiratet. Wir wissen das doch seit Jahren. Die Wilkes und die Hamiltons heiraten immer ihre Cousins und Cousinen. Jeder hat gewusst, dass er sie vermutlich eines Tages heiratet, so wie Honey Wilkes Miss Mellys Bruder Charles heiraten wird.«

»Also, ich geb’s auf. Aber schade, dass sie uns nicht zum Essen eingeladen hat. Ich hab nicht die geringste Lust, mir zu Hause Mas Geplärr über unseren Rausschmiss anzuhören. Es ist ja nicht das erste Mal.«

»Vielleicht hat Boyd sie inzwischen besänftigt. Du weißt, was für’n Einschleimer der kleine Halunke ist. Er hat sie noch immer um den Finger gewickelt.«

»Klar kriegt Boyd das hin, aber dafür braucht er Zeit. Er muss um den heißen Brei rumreden, bis Ma so durcheinander ist, dass sie die Waffen streckt und ihm sagt, er soll seine Stimme schonen, bis er Rechtsanwalt ist. Aber er hat noch gar keine Zeit gehabt, überhaupt anzufangen. Ich wette, Ma ist noch so aus dem Häuschen wegen dem neuen Pferd, dass sie ganz vergessen hat, dass wir wieder da sind, bis sie beim Abendessen sitzt und Boyd sieht. Und bevor das Abendessen aus ist, kommt sie richtig in Fahrt und spuckt Feuer. Und es dauert locker bis zehn Uhr, bevor Boyd die Chance kriegt, ihr zu sagen, dass es für uns alle unehrenhaft gewesen wäre, auf dem College zu bleiben, wo der Kanzler so mit dir und mir geredet hat. Und er braucht bis Mitternacht, bevor er sie so weit hat, dass sie auf den Kanzler wütend ist und Boyd fragt, warum er den nicht erschossen hat. Nee, wir können vor Mitternacht nicht nach Hause.«

Die Zwillinge sahen sich niedergeschlagen an. Sie hatten nicht die geringste Angst vor wilden Pferden, Schießereien oder entrüsteten Nachbarn, aber sie hatten einen Heidenrespekt vor den harschen Kommentaren ihrer rothaarigen Mutter und vor der Reitpeitsche, mit der sie ihnen ohne Bedenken die Hosen strammzog.

»Weißt du was«, sagte Brent, »lass uns zu den Wilkes gehen. Ashley und die Mädchen freuen sich bestimmt, wenn wir zum Abendessen kommen.«

Stuart schaute etwas unbehaglich drein.

»Nein, lieber nicht zu denen. Sie sind sicher schwer am Rotieren wegen dem Barbecue morgen, und außerdem …«

»Ach, das hab ich ganz vergessen«, sagte Brent rasch. »Nein, da gehen wir lieber nicht hin.«

Sie schnalzten mit der Zunge ihren Pferden zu und ritten eine Weile schweigend. Stuarts braune Wangen waren noch vor Verlegenheit gerötet. Bis zum vorigen Sommer hatte Stuart India Wilkes den Hof gemacht, mit der Zustimmung beider Familien und des ganzen County. Alle im County meinten, die kühle und beherrschte India Wilkes würde vielleicht einen mäßigenden Einfluss auf ihn haben. Jedenfalls hofften sie das sehnlichst. Und Stuart hätte vielleicht sogar einen Antrag gemacht, aber Brent war nicht glücklich damit. Brent mochte India, aber er fand sie reichlich unattraktiv und langweilig, und er konnte sich einfach nicht in sie verlieben, um Stuart Gesellschaft zu leisten. Es war das erste Mal, dass die Interessen der beiden Zwillinge auseinandergingen, und Brent trug es seinem Bruder nach, dass er einem Mädchen Aufmerksamkeit schenkte, das er selbst in keiner Weise bemerkenswert fand.

Dann war ihnen im vergangenen Sommer bei einer politischen Versammlung in einem Eichenwäldchen bei Jonesboro plötzlich Scarlett O’Hara aufgefallen. Sie kannten sie schon seit Jahren, und seit Kindertagen war sie eine ihrer liebsten Spielgefährten gewesen, denn sie konnte fast genauso gut reiten und auf Bäume klettern wie sie selbst. Doch jetzt war sie zu beider Erstaunen eine erwachsene junge Dame geworden, und zwar wohl die bezauberndste auf der ganzen Welt.

Zum ersten Mal fiel ihnen auf, wie lebendig ihre grünen Augen waren, wie tief ihre Grübchen, wenn sie lachte, was für zierliche Hände und Füße und was für eine schmale Taille sie hatte. Die witzigen Bemerkungen der beiden lösten bei ihr schallendes Gelächter aus, und beflügelt von dem Eindruck, dass Scarlett sie für ein attraktives Gespann hielt, überboten sie sich selbst.

Es war ein unvergesslicher Tag im Leben der Zwillinge. Wenn sie später darüber redeten, fragten sie sich immer, warum ihnen Scarletts Reize bis dahin entgangen waren. Sie kamen nie auf die richtige Antwort, die lautete: Scarlett hatte sich an jenem Tag vorgenommen, die beiden auf sich aufmerksam zu machen. Sie konnte grundsätzlich nicht ertragen, dass irgendjemand in eine andere Frau als sie selbst verliebt war, und der Anblick von India Wilkes mit Stuart bei der Versammlung war zu viel für ihr Raubtiernaturell. Mit Stuart allein nicht zufrieden, machte sie sich zugleich an Brent heran, und zwar mit einer Gründlichkeit, die beide überwältigte.

Jetzt waren beide in sie verliebt, und India Wilkes und Letty Munroe von der Lovejoy-Plantage, der Brent halbherzig den Hof gemacht hatte, waren in Vergessenheit geraten. Was aus dem Verlierer würde, sollte Scarlett sich für einen von ihnen entscheiden, darüber machten sich die Zwillinge keine Gedanken. Das würden sie einfach auf sich zukommen lassen. Gegenwärtig genossen sie es, wieder einer Meinung über ein Mädchen zu sein, denn Eifersucht gab es zwischen ihnen nicht. Diese Konstellation weckte die Neugier der Nachbarn und den Ärger ihrer Mutter, die Scarlett nicht leiden konnte.

»Es geschieht euch nur recht, wenn dieses durchtriebene Stück einen von euch nimmt«, sagte sie. »Oder vielleicht nimmt sie euch beide, und dann müsst ihr nach Utah ziehen, falls die Mormonen euch haben wollen – was ich bezweifle … Was mir allerdings Sorgen macht, ist, dass ihr euch irgendwann betrinkt und wegen diesem falschen kleinen, grünäugigen Luder in die Haare kriegt und euch gegenseitig erschießt. Aber vielleicht wäre das auch nicht das Schlechteste.«

Seit dem Tag der Versammlung fühlte sich Stuart in Indias Gegenwart befangen. Nicht, dass India ihm je Vorwürfe gemacht oder ihm durch Blicke oder Gesten zu verstehen gegeben hätte, dass sie seinen plötzlichen Sinneswandel durchschaute. Dazu war sie zu sehr Dame. Doch Stuart hatte ein schlechtes Gewissen und fühlte sich unwohl in ihrer Gegenwart. Er wusste, dass er Indias Liebe erweckt hatte, und dass sie ihn immer noch liebte. Und tief im Herzen spürte er, dass er sich nicht wie ein Gentleman verhalten hatte. Er mochte sie immer noch furchtbar gern und bewunderte sie für ihre vornehme Erziehung, ihre Belesenheit und all die hochkarätigen Eigenschaften, die sie besaß. Aber, verdammt noch mal, sie war so blass und langweilig und immer gleich, im Gegensatz zu Scarletts sprühendem und launenhaftem Charme. Bei India wusste man immer, woran man war, und bei Scarlett hatte man nie die geringste Ahnung. Das konnte einen Mann zum Wahnsinn treiben, aber es hatte seinen Reiz.

»Na, dann reiten wir rüber zu Cade Calvert und essen da was. Scarlett hat gesagt, dass Cathleen aus Charleston zurück ist. Vielleicht hat sie Neuigkeiten über Fort Sumter, die wir noch nicht kennen.«

»Cathleen doch nicht. Ich wette zwei zu eins, sie wusste nicht mal, dass es im Hafen da draußen ein Fort gibt, zu schweigen davon, dass es voller Yankees war, bis wir sie rausgebombt haben. Sie kann höchstens von den Bällen erzählen, auf denen sie war, und von den Verehrern, die sie um sich versammelt hat.«

»Na, jedenfalls macht es Spaß, ihrem Geschnatter zuzuhören. Und wir können uns dort rumtreiben, bis Ma im Bett ist.«

»Ja, zum Teufel! Ich mag Cathleen, und sie ist lustig, und ich würde gern was von Caro Rhett erfahren und von den anderen in Charleston. Aber ich will verflucht sein, wenn ich noch mal ein Abendessen bei ihrer Yankee-Stiefmutter überstehe.«

»Sei nicht zu hart mit ihr, Stuart. Sie meint es gut.«

»Ich bin nicht hart mit ihr. Sie tut mir leid, aber ich mag keine Leute, die mir leidtun. Ständig macht sie Umstände und versucht, alles richtig zu machen, damit man sich wie zu Hause fühlt, und am Ende sagt und tut sie immer genau das Falsche. Sie macht mich ganz rappelig! Und sie hält die Südstaatler für Barbaren. Das hat sie sogar Ma gesagt. Sie fürchtet sich vor Südstaatlern. Immer, wenn wir da sind, sieht sie aus, als ob sie Todesängste hätte. Sie hockt auf ihrem Stuhl wie ein mageres Huhn, mit weit aufgerissenen, leeren und ängstlichen Augen, immer kurz davor, zu flattern und zu gackern, wenn jemand die geringste Bewegung macht.«

»Du kannst ihr keinen Vorwurf machen. Schließlich hast du Cade ins Bein geschossen.«

»Aber ich war betrunken, sonst hätte ich das nicht gemacht«, sagte Stuart. »Und Cade hat’s mir nie übel genommen. Auch Cathleen nicht oder Raiford oder Mr. Calvert. Bloß die Yankee-Stiefmutter hat rumgeheult und gesagt, ich wäre ein wilder Barbar, und anständige Menschen wären unter unzivilisierten Südstaatlern nicht sicher.«

»Jedenfalls kannst du ihr keinen Vorwurf machen. Sie ist nun mal eine Yankee und hat keine sonderlichen Manieren, und schließlich hast du auf ihn geschossen, und er ist ihr Stiefsohn.«

»Ja, Teufel noch mal! Das ist doch noch lange kein Grund, mich zu beleidigen! Du bist Mas eigenes Fleisch und Blut, aber hat sie sich etwa groß aufgeregt, wie Tony Fontaine dir ins Bein geschossen hat? Nee, sie hat nur den alten Doc Fontaine zum Verbinden holen lassen und ihn gefragt, was mit Tonys Schießkünsten los ist, und ob er wegen dem Alkohol nicht mehr richtig zielen konnte. Weißt du noch, wie wütend Tony darüber war?«

Beide bogen sich vor Lachen.

»Ma ist echt ne Nummer«, sagte Brent mit liebevoller Anerkennung. »Man kann sich immer darauf verlassen, dass sie alles richtig macht und einen nicht vor anderen Leuten bloßstellt.«

»Ja, aber du kannst davon ausgehen, dass sie uns heute Abend vor Vater und den Mädchen bloßstellt«, sagte Stuart düster. »Hör mal, Brent, ich glaube, das bedeutet, dass wir nicht nach Europa fahren. Du weißt, Mutter hat gesagt, wenn wir noch mal von einem College fliegen, können wir unsere Grand Tour vergessen.«

»Ja, Teufel noch mal! Das ist uns doch egal, oder? Was gibt’s in Europa schon zu sehen? Ich wette, diese Ausländer haben nichts zu bieten, was wir nicht auch hier in Georgia haben. Ich wette, ihre Pferde sind nicht so schnell und ihre Mädchen nicht so hübsch, und ich weiß verdammt gut, dass sie keinen Rye Whisky haben, der es mit dem von Vater aufnehmen kann.«

»Ashley Wilkes hat gesagt, sie hätten unheimlich viel Landschaft und Musik. Ashley hat’s in Europa gefallen. Er redet ständig darüber.«

»Na, du weißt ja, wie die Wilkes sind. Sie sind ein bisschen komisch in Bezug auf Musik und Bücher und Landschaften und so. Mutter sagt, das liegt daran, dass ihr Großvater aus Virginia stammt. Sie sagt, die Leute dort legen ziemlich viel Wert auf solche Sachen.«

»Von mir aus können sie die gerne haben. Gib mir ein gutes Pferd zum Reiten und was Gutes zum Trinken, ein gutes Mädchen zum Verlieben und ein schlimmes Mädchen zum Spaßhaben, dann können sie sich ihr Europa an den Hut stecken … Was kümmert’s uns, wenn wir die Grand Tour verpassen? Stell dir vor, wir wären jetzt in Europa, und hier geht der Krieg los! Dann kämen wir nicht mehr rechtzeitig nach Hause. Ich gehe tausend Mal lieber in einen Krieg als nach Europa.«

»Ich auch, jederzeit … Pass auf, Brent! Ich weiß, wo wir hingehen können. Lass uns durch den Sumpf zu Able Wynder reiten. Wir sagen ihm, dass wir alle vier wieder zu Hause sind und Lust zum Exerzieren haben.«

»Das ist ne Idee!« rief Brent begeistert. »Und wir hören alle Neuigkeiten über die ›Truppe‹ und kriegen raus, für welche Uniformfarbe sie sich entschieden haben.«

»Wenn es die Zuavenuniform ist, dann soll mich der Teufel holen, wenn ich zur Truppe gehe. Ich würde mir in diesen roten Pluderhosen wie ein Weichei vorkommen. Für mich sehen die aus wie rote Flanellunterhosen für Frauen.«

»Wollt ihr echt zu Mista Wynder? Weil, wenn ihr da hinwollt, kriegt ihr nich viel zu essen«, sagte Jeems. »Die Köchin is gestorben, und die haben noch keine neue gekauft. Bei denen kocht jetzt ne Pflückerin, und die Nigger sagen, das is die schlechteste Köchin in ganz Georgia.«

»Großer Gott! Warum kaufen sie keine neue Köchin?«

»Von was soll denn armes weißes Pack Nigger kaufen? Die ham doch nie mehr als vier, wenn’s hoch kommt.«

Unverhohlene Verachtung schwang in Jeems’ Stimme mit. Sein eigener sozialer Status war gesichert, da die Tarletons hundert Schwarze besaßen, und wie alle Sklaven von Großplantagen blickte er auf kleine Farmer herab, die nur wenige Sklaven hatten.

»Dafür zieh ich dir das Fell über die Ohren«, rief Stuart aufgebracht. »Nenn Able Wynder ja nicht weißes Pack! Klar ist er arm, aber er ist kein Pack. Und hol mich der Teufel, wenn ich dulde, dass irgendwer, Darky oder Weißer, schlecht über ihn redet. Es gibt keinen besseren Mann in diesem County, oder warum hat ihn die Truppe sonst zu ihrem Leutnant gewählt?«

»Das hab ich auch nie begriffen«, erwiderte Jeems, unbeeindruckt von der finsteren Miene seines Herrn. »Ich dachte, die wähln reiche Gentlemen zu Offizieren und nich Pack ausm Sumpf.«

»Er ist kein Pack! Willst du ihn etwa mit echtem weißem Lumpenpack wie den Slatterys vergleichen? Able ist einfach nur nicht reich. Er ist ein kleiner Farmer, kein großer Plantagenbesitzer, und wenn die Jungs so viel von ihm halten, dass sie ihn zum Leutnant wählen, dann hat kein Darky das Recht, unverschämt über ihn daherzureden. Die Truppe weiß, was sie tut.«

Die Kavallerietruppe war vor drei Monaten aufgestellt worden, genau an dem Tag, als Georgia sich von der Union losgesagt hatte, und seither brannten die Rekruten auf Krieg. Über den Namen war noch nicht entschieden, auch wenn es keinen Mangel an Vorschlägen gab. Jeder hatte darüber seine eigenen Vorstellungen und wollte nicht nachgeben, ebenso wie über die Farbe und den Schnitt der Uniformen. »Clayton Wild Cats«, »Fire Eaters«, »North Georgia Hussars«, »Zuaven«, »The Inland Rifles« (obwohl die Truppe mit Pistolen, Säbeln und Bowiemessern ausgestattet werden sollte, und nicht mit Gewehren), »The Clayton Grays«, »The Blood and Thunderers«, »The Rough and Readys«: jeder Name hatte seine Anhänger. Bis darüber entschieden war, bezeichneten alle die Organisation als die Truppe, und trotz des hochtönenden Namens, den sie schließlich erhielt, blieb sie bis zum Ende ihres Einsatzes schlicht ›die Truppe‹.

Die Offiziere wurden von den Mitgliedern gewählt, da niemand im County über militärische Erfahrung verfügte, außer ein paar Veteranen, die am Mexikanisch-Amerikanischen Krieg und an den Seminolenkriegen teilgenommen hatten. Überdies hätte die Truppe einen Veteranen als Kommandanten abgelehnt, zu dem sie keine Zuneigung und kein Vertrauen hatte. Alle mochten die vier Tarleton-Jungs und die drei Fontaines, lehnten aber unter Bedauern ab, sie zu wählen, weil die Tarleton-Jungs sich zu schnell betranken und Unfug trieben, während die Fontaines aufbrausend bis zur Gewalttätigkeit waren. Ashley Wilkes wurde zum Hauptmann gewählt, denn er war der beste Reiter im County, und man traute seinem kühlen Kopf zu, so etwas wie Ordnung aufrechtzuerhalten. Raiford Calvert wurde zum Oberleutnant ernannt, weil jedermann Raif gernhatte, und Able Wynder, Sohn eines Sumpftrappers und selbst Kleinfarmer, wurde Unterleutnant.

Able war ein schlauer, bedächtiger Riese, ein herzensguter Analphabet, älter als die anderen Jungs und mit ebenso guten, wenn nicht besseren Manieren in Gegenwart von Frauen. Innerhalb der Truppe gab es so gut wie keinen Standesdünkel. Dafür hatten sich zu viele ihrer Väter und Großväter aus Kleinfarmerverhältnissen zu Wohlstand emporgearbeitet. Außerdem war Able der beste Schütze der Truppe, ein echter Scharfschütze, der einem Eichhörnchen aus siebzig Meter Entfernung ein Auge ausschießen konnte und überdies alles über das Leben im Freien wusste: wie man bei Regen Feuer macht, wie man Tiere aufspürt und Wasser finden kann. Die Truppe wusste echtes Verdienst zu schätzen, und da sie Able außerdem wirklich mochten, wählten sie ihn zum Offizier. Er nahm die Ehrung ernst und ohne ungebührlichen Hochmut an, als stünde sie ihm wie selbstverständlich zu. Aber die Damen und die Sklaven von den Plantagen brachten es nicht wie die weißen Männer fertig, darüber hinwegzusehen, dass er nicht als Gentleman geboren war.

Anfangs rekrutierte sich die Truppe ausschließlich aus Pflanzersöhnen, lauter Gentlemen, von denen jeder sein eigenes Pferd, Waffen, Ausrüstung, Uniform und Leibdiener mitbrachte. Allerdings gab es in dem jungen Clayton-County nur wenige reiche Plantagenbesitzer, und um eine ganze Eskadron aufzustellen, war man gezwungen, auch unter den Söhnen von kleinen Farmern, hinterwäldlerischen Jägern, Sumpftrappern und in Einzelfällen sogar unter armen Weißen Rekruten anzuwerben, sofern sie sich etwas über den Durchschnitt ihrer Klasse erhoben.

Diese jungen Männer brannten genauso darauf, im Kriegsfall gegen die Yankees zu kämpfen, wie ihre betuchteren Nachbarn, nur stellte sich dabei das heikle Problem der Finanzierung. Wenige Kleinbauern besaßen überhaupt Pferde. Die Landwirtschaft erledigten sie mit Maultieren, und auch an denen hatten sie keinen Überfluss, selten besaßen sie mehr als vier. Man konnte kein Maultier für den Krieg entbehren, selbst wenn sie in der Truppe akzeptiert worden wären, was ausdrücklich nicht der Fall war. Die armen Weißen betrachteten sich bereits als wohlhabend, wenn sie auch nur ein einziges Maultier besaßen. Die Hinterwäldler und die Sumpfbewohner hatten weder Pferde noch Maultiere. Sie lebten von den Feldfrüchten, die sie anbauten, und vom Wild, das sie im Sumpf jagten, und trieben hauptsächlich Tauschhandel, so dass sie im ganzen Jahr selten mehr als fünf Dollar in die Hand bekamen. Pferde und Uniformen waren für sie unerschwinglich. Aber in ihrer Armut glühten sie genauso vor Stolz wie die Plantagenbesitzer in ihrem Reichtum und weigerten sich, von ihren reichen Nachbarn irgendetwas anzunehmen, das nach einem Almosen aussah. Um also ohne Gesichtsverlust die Truppe auf Kampfstärke zu bringen, hatten Scarletts Vater, John Wilkes, Buck Monroe, Jim Tarleton und Hugh Calvert – alle Plantagenbesitzer mit Ausnahme von Angus MacIntosh – Geld gespendet, um sie mit Pferden und allem Übrigen auszustatten. Schließlich lief es darauf hinaus, dass jeder Plantagenbesitzer seine eigenen Söhne und eine gewisse Anzahl der Übrigen ausrüstete, aber das geschah so taktvoll, dass die weniger begüterten Mitglieder der Truppe Pferde und Uniformen annehmen konnten, ohne in ihrem Ehrgefühl gekränkt zu werden.

Die Truppe traf sich zweimal wöchentlich in Jonesboro, um zu exerzieren und für einen baldigen Kriegsbeginn zu beten. Noch hatte man nicht die ganze Zahl an Pferden beisammen, aber diejenigen, die über Pferde verfügten, vollführten auf dem Feld hinter dem Gerichtsgebäude Truppenbewegungen, die sie für Kavalleriemanöver hielten, wirbelten eine Menge Staub auf, brüllten sich heiser und schwangen die Schwerter aus dem Unabhängigkeitskrieg, die man von den Wohnzimmerwänden abgenommen hatte. Die anderen, die noch keine Pferde hatten, saßen auf dem Randstein vor Bullards Laden und sahen ihren berittenen Kameraden zu, kauten Tabak und fachsimpelten. Oder sie schossen um die Wette. Schießen brauchte man keinem der Männer beizubringen. Die meisten Südstaatler kamen mit dem Gewehr in der Hand auf die Welt, und das lebenslange Jagen machte sie zu guten Schützen.

Zu jedem Appell kam aus den Herrenhäusern der Plantagen und den Blockhütten im Sumpf eine bunte Mischung von Schusswaffen. Es gab lange kleinkalibrige Gewehre, die bei der ersten Überquerung der Allegheny Mountains neu gewesen waren, alte Vorderlader, die während der Gründungszeit Georgias so manchen Indianer das Leben gekostet hatten, große Sattelpistolen, die 1812 in den Seminolenkriegen und in Mexiko ihren Dienst getan hatten, silberbeschlagene Duellpistolen, Taschen-Derringer, doppelläufige Jagdflinten sowie schöne neue Büchsen englischer Herstellung mit glänzenden Schäften aus edlem Holz.

Das Exerzieren endete immer in den Saloons von Jonesboro, und wenn die Nacht hereinbrach, waren so viele Prügeleien im Gange, dass die Offiziere alle Mühe hatten, Verluste zu verhindern, noch ehe die Yankees ihnen welche beibringen konnten. In solch einer Rauferei hatte Stuart Tarleton Cade Calvert angeschossen und Tony Fontaine Brent. Die Zwillinge waren zu Hause gewesen, frisch relegiert von der University of Virginia, als die Truppe gegründet wurde, und sie waren voller Begeisterung eingetreten, aber nach der Schießerei vor zwei Monaten hatte ihre Mutter sie an die staatliche Universität Georgias verfrachtet mit dem strikten Befehl, dort zu bleiben. Sie hatten die spannenden Exerzierübungen schrecklich vermisst, und sie konnten auf Bildung gut verzichten, wenn sie nur zusammen mit ihren Freunden reiten, johlen und herumballern durften.

»Wir reiten einfach querfeldein zu Ables Haus«, schlug Brent vor. »Durch Mr. O’Haras Flussmarsch und die Weide von den Fontaines, dann sind wir im Nu da.«

»Dann kriegen wir aber höchstens Opossum und Grünzeugs«, wandte Jeems ein.

»Du kriegst sowieso nichts«, grinste Stuart. »Weil, du reitest nach Hause und sagst Ma Bescheid, dass wir nicht zum Abendessen heimkommen.«

»Nee, das mach ich nich!« rief Jeems entsetzt. »Nee, mach ich nich! Mir machts genauso wenig Spaß, wenn Miss Beatrice mich aufs Korn nimmt, wie euch. Zuerst fragt sie mich, wieso ich zugelassen hab, dass ihr wieder rausgeflogen seid, und dann, wieso ich euch heut Abend nich zum Verprügeln nach Haus gebracht hab. Und dann stürzt sie sich auf mich wie ne Ente auf nen Junikäfer, und dann kommt raus, dass ich an allem schuld bin. Wenn Sie mich nich zu Mista Wynda mitnehmen, dann versteck ich mich die ganze Nacht im Wald, und vielleicht schnappt mich dann die Patrullje, weil, ich will lieber von der Patrullje geschnappt werden wie von Miss Beatrice, wenn sie sich aufregt.«

Die Zwillinge blickten den entschlossenen schwarzen Jungen verblüfft und verärgert an.

»Es wäre ihm glatt zuzutrauen, dass er sich von der Patrouille schnappen lässt, und dann hätte Ma neuen Gesprächsstoff für mehrere Wochen. Darkys sind einfach eine Pest. Manchmal habe ich das Gefühl, die Abolitionisten haben nicht ganz unrecht.«

»Naja, es wäre nicht fair, Jeems zu was zu zwingen, wovor wir uns drücken. Wir müssen ihn mitnehmen. Aber pass mal auf, du unverschämter schwarzer Esel, wenn du vor den Wynder-Darkys den großen Mann markierst und raushängen lässt, dass wir immer Brathähnchen und Schinken essen, während sie bloß Kaninchen und Opossum kriegen, dann – dann sag ich’s Ma. Und dann darfst du auch nicht mit uns in den Krieg ziehen.«

»Den großen Mann? Vor den billigen Niggern den großen Mann spielen? Nee Sir, ich hab bessere Manieren. Schließlich hat Miss Beatrice mir genauso Manieren beigebracht wie euch.«

»Sie hat bei keinem von uns dreien viel Erfolg gehabt«, sagte Stuart. »Kommt, wir gehen!«

Er riss seinen großen Fuchs herum, gab ihm die Sporen und setzte dann leicht mit ihm über den Lattenzaun auf den weichen Acker von Mr. O’Haras Pflanzung. Brents Pferd folgte und zuletzt das von Jeems, wobei Jeems sich an Sattelknauf und Mähne festklammerte. Jeems setzte nicht gerne über Zäune, aber er hatte schon höhere überwunden als diesen, um mit seinen Herren mitzuhalten.

Während sie sich in der zunehmenden Dämmerung ihren Weg über die roten Furchen und abwärts zur Flussmarsch suchten, rief Brent seinem Bruder zu:

»Sag mal, Stu! Hast du nicht auch das Gefühl, dass Scarlett uns eigentlich zum Abendessen einladen wollte?«

»Mir kam’s die ganze Zeit so vor«, rief Stuart. »Was glaubst du, warum …«

 

 

 

KAPITEL 2

Nachdem die Zwillinge sich auf der Veranda von Scarlett verabschiedet hatten und die letzten Hufschläge verklungen waren, kehrte sie wie eine Schlafwandlerin zu ihrem Sessel zurück. Ihr Gesicht war vor Schmerz erstarrt, und der Mund tat ihr richtiggehend weh, weil sie ihn zum Lächeln verzerrt hatte, damit die Zwillinge nichts von ihrem Geheimnis bemerkten. Sie setzte sich erschöpft, schlug einen Fuß unter, und die Brust wollte ihr vor Kummer schier zerspringen. Ihr Herz zuckte unregelmäßig, ihre Hände waren kalt, und sie fühlte sich von einer Katastrophe überwältigt. Schmerz und Verwirrung standen ihr ins Gesicht geschrieben, die Verwirrung eines verwöhnten Kindes, das immer bekommen hatte, was es wollte, und das jetzt zum ersten Mal mit dem unschönen Ernst des Lebens konfrontiert wurde.

Ashley sollte Melanie Hamilton heiraten!

Das konnte doch nicht wahr sein! Die Zwillinge irrten sich. Sie hatten einen ihrer Scherze mit ihr getrieben. Ashley konnte doch unmöglich in Melanie verliebt sein. Niemand konnte sich in so eine farblose kleine Person verlieben. Scarlett rief sich voller Verachtung das Bild der dünnen, kindlichen Gestalt Melanies vor Augen, ihr ernstes herzförmiges Gesicht, das unscheinbar fast bis zur Reizlosigkeit war. Und Ashley konnte sie seit Monaten nicht gesehen haben. Er war seit der Hausparty, die er im vergangenen Jahr in Twelve Oaks gegeben hatte, höchstens zweimal in Atlanta gewesen. Nein, es war unmöglich, dass Ashley Melanie liebte, weil – oh, sie konnte sich nicht irren! – weil er sie selbst liebte! Sie, Scarlett, war es, die er liebte – das wusste sie!

Scarlett hörte, wie Mammys schwere Schritte den Boden in der Eingangshalle zum Erzittern brachten; sie zog hastig ihren Fuß hervor und versuchte ihrem Gesicht einen gelasseneren Ausdruck zu geben. Auf keinen Fall durfte Mammy Verdacht schöpfen, dass irgendetwas im Argen lag. Mammy war der Meinung, die O’Haras gehörten ihr, mit Leib und Seele, und sie müsse an all ihren Geheimnissen teilhaben; wenn sie nur andeutungsweise eines spürte, so genügte dies, dass sie wie ein Jagdhund ohne Unterlass die Fährte verfolgte. Scarlett wusste aus Erfahrung, dass Mammys Neugier sofort befriedigt werden musste, anderenfalls würde sie das Thema Ellen gegenüber aufbringen, und dann wäre Scarlett gezwungen, ihrer Mutter alles zu offenbaren oder sich eine überzeugende Lüge auszudenken.

Mammy kam aus der Halle nach draußen, eine ausladende alte Frau mit den kleinen, wissenden Augen des Elefanten und einer Haut von glänzendem afrikanischem Schwarz. Sie war bis zum letzten Blutstropfen den O’Haras ergeben, war Ellens Stab und Stütze, die Verzweiflung ihrer drei Töchter sowie der Schrecken der anderen Haussklaven. Mammy war zwar eine Sklavin, aber ihr Verhaltenskodex und ihr Stolz waren ebenso dünkelhaft wie die ihrer Besitzer, wenn nicht sogar dünkelhafter. Ihre Erziehung hatte sie im Schlafzimmer von Solange Robillard, Ellen O’Haras Mutter, genossen, einer zierlichen, kalten, hochnäsigen Französin, die weder ihren Kindern noch ihren Dienstboten die geringste Verletzung der Etikette durchgehen ließ. Mammy hatte bereits für Ellen gesorgt und war nach deren Heirat mit ihr aus Savannah nach dem Norden gezogen. Wen Mammy liebte, den züchtigte sie. Und da ihre Liebe für Scarlett und ihr Stolz auf sie keine Grenzen kannte, fand der Züchtigungsprozess eigentlich kein Ende.

»Sind die Gentlemänner weg? Wieso hast du sie nich zum Abendessen eingeladen, Miss Scarlett? Ich hab Pork gesagt, er soll zwei Gedecke für sie auflegen. Wo sind deine Manieren?«

»Ach, ich hatte es so satt, sie über den Krieg reden zu hören; das hätte ich beim Essen nicht ausgehalten, besonders wenn Pa auch noch eingestiegen wäre und schon wieder über Mr. Lincoln geschimpft hätte.«

»Du hast keine bessren Manieren wie ne Pflückerin, und dabei ham Miss Ellen und ich uns so mit dir abgerackert. Und da sitzt du ohne deine Stola! Dabei wird’s gleich Nacht! Ich red und red mir den Mund fusselig, dass du Fieber kriegst, wenn du mit nix um die Schultern in der Nachtluft sitzt. Komm, ab ins Haus, Miss Scarlett.«

Scarlett wandte sich mit betonter Gleichgültigkeit von Mammy ab, froh, dass diese vor lauter Beschäftigung mit der Stola ihr nichts angemerkt hatte.

»Nein, ich will hier sitzen und den Sonnenuntergang sehen. Er ist so schön. Lauf und hol mir meine Stola, bitte, Mammy, und ich bleibe hier sitzen, bis Pa heimkommt.«

»Deine Stimme klingt, wie wenn du ne Erkältung kriegst«, sagte Mammy argwöhnisch.

»Ich kriege aber keine«, sagte Scarlett ungeduldig. »Hol du mir meine Stola.«

Mammy wackelte in die Halle zurück, und Scarlett hörte sie leise zum Stubenmädchen die Treppe hinauf rufen.

»Du, Rosa! Wirf mir mal Miss Scarletts Stola runter.« Dann, lauter: »Nixnütziges Trampel! Nie is sie da, wenn man sie braucht. Jetzt muss ich selber raufgehn und die Stola holen.«

Scarlett hörte die Stufen knarren und stand leise auf. Mammy würde beim Zurückkommen nur ihre Standpauke über Scarletts mangelnde Gastfreundlichkeit fortsetzen, und Scarlett konnte solche Nichtigkeiten nicht ertragen, während ihr selbst das Herz brach. Als sie noch überlegte, wo sie sich verstecken konnte, bis der Schmerz in ihrer Brust ein wenig nachließ, kam ihr ein Gedanke, der einen kleinen Hoffnungsschimmer enthielt. Ihr Vater war am Nachmittag nach Twelve Oaks geritten, der Wilkes-Plantage, um ihnen Dilcey, die Frau seines Leibdieners Pork, abzukaufen. Dilcey war Aufseherin und Hebamme auf Twelve Oaks, und seit ihrer Heirat vor sechs Monaten lag Pork seinem Herrn Tag und Nacht in den Ohren, Dilcey zu kaufen, damit die beiden auf derselben Plantage leben konnten. Nachdem Geralds Widerstand sich langsam abgenutzt hatte, war er diesen Nachmittag aufgebrochen, um ein Angebot für Dilcey zu machen.

Bestimmt, dachte Scarlett, wird Pa wissen, ob diese grässliche Geschichte wahr ist. Selbst wenn er heute nichts erfahren hat, könnte ihm etwas aufgefallen sein, irgendeine Aufregung bei den Wilkes. Wenn ich ihn vor dem Abendessen unter vier Augen sprechen kann, finde ich vielleicht die Wahrheit heraus – dass es nämlich nur einer von den gemeinen Scherzen der Zwillinge ist.

Gerald musste bald heimkommen, und wenn sie ihn alleine sehen wollte, gab es nur die Möglichkeit, unten an der Abzweigung von der Landstraße auf ihn zu warten. Leise ging sie die vorderen Stufen hinunter und warf einen Blick zurück, um sicher zu sein, dass Mammy sie nicht aus einem der oberen Fenster beobachtete. Da sie kein breites, rundes schwarzes Gesicht unter einem schneeweißen Turban sah, das ihr zwischen wehenden Vorhängen missbilligend hinterherschaute, raffte sie energisch ihre grünen, geblümten Röcke und rannte, so schnell ihre mit Bändern am Fußgelenk festgeschnürten Schuhe sie trugen, zur Auffahrt.

Die dunklen Zedern zu beiden Seiten der Kiesauffahrt schlossen sich über ihr zu einem Gewölbe und machten aus der langen Allee einen dämmerigen Tunnel. Sowie sich Scarlett unter den knorrigen Ästen der Zedern befand, wusste sie sich vor Blicken aus dem Haus sicher und verlangsamte ihren Schritt. Sie keuchte, denn ihre Korsage war für einen Dauerlauf zu eng geschnürt, aber sie ging so schnell sie konnte. Bald hatte sie das Ende des Fahrweges und damit die Landstraße erreicht, aber sie hielt erst an, als sie hinter einer Kurve eine Baumgruppe zwischen sich und das Haus gebracht hatte.

Schwer atmend und mit geröteten Wangen setzte sie sich auf einen Baumstumpf und wartete auf ihren Vater. Er hätte längst da sein müssen, aber sie war froh, dass er so spät kam. So konnte sie noch ihren Atem beruhigen und ihr Gesicht in Ordnung bringen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Jeden Augenblick erwartete sie den Hufschlag seines Pferdes zu hören, wenn er in seinem gewohnten halsbrecherischen Tempo den Hügel heraufritt. Doch die Minuten vergingen, und Gerald kam nicht. Sie hielt Ausschau nach ihm, und der Schmerz in ihrem Herzen wallte wieder auf.

Ach, es kann einfach nicht wahr sein! dachte sie. Warum kommt er denn nicht?

Ihr Blick wanderte die Windungen der Straße entlang, die, da es morgens geregnet hatte, blutrot dalag. In Gedanken folgte sie ihrem Verlauf bergab bis zum trägen Flint River, dann durch das Sumpfdickicht im Tal und den nächsten Hügel hinauf nach Twelve Oaks, wo Ashley wohnte. Keinen anderen Sinn hatte die Straße jetzt für sie – es war die Straße zu Ashley und zu dem schönen Haus mit den weißen Säulen davor, das den Hügel bekrönte wie ein griechischer Tempel.

O Ashley! Ashley! dachte sie, und ihr Herz schlug heftiger.

Das wahnwitzige Gefühl der Vernichtung, das sie niederdrückte, seit die Tarleton-Jungs ihr den Klatsch hinterbracht hatten, wurde ein wenig in den Hintergrund gedrängt, und an seine Stelle kroch das Fieber, das sie seit zwei Jahren beherrschte.

Es kam ihr nun seltsam vor, dass sie Ashley, als sie klein war, nie sonderlich anziehend gefunden hatte. In den Kindertagen hatte sie ihn kommen und gehen sehen und keinen Gedanken an ihn verschwendet. Doch seit dem Tag vor zwei Jahren, als Ashley – frisch zurück von seiner dreijährigen Grand Tour durch Europa – in Tara einen Besuch abgestattet hatte, war sie verliebt in ihn. So einfach war das.

Sie hatte auf der vorderen Veranda gesessen, als er die lange Allee heraufgeritten kam, in einem grauen Anzug aus feinem Wollstoff mit breiter schwarzer Krawatte, die sein Rüschenhemd vollendet zur Geltung brachte. Selbst jetzt noch erinnerte sie sich an jede Einzelheit seiner Kleidung, den Glanz seiner Stiefel, die Kamee mit dem Medusenkopf auf seiner Krawattennadel, den breiten Panamahut, den er sofort lüftete, als er sie sah. Er stieg ab, warf die Zügel einem Sklavenkind zu und schaute zu ihr hinauf, seine verträumten grauen Augen im Lächeln weit geöffnet, und die Sonne schien so hell auf sein blondes Haar, dass es wie ein funkelnder Silberhelm wirkte. Er sagte: »Du bist ja erwachsen geworden, Scarlett!« Mit leichten Schritten kam er die Stufen herauf und küsste ihr die Hand. Und seine Stimme! Sie würde nie vergessen, wie ihr Herz hüpfte, als sie ihn, wie zum ersten Mal, auf seine gedehnte, volltönende, melodiöse Weise sprechen hörte.

Sie hatte ihn in diesem ersten Augenblick begehrt, umstandslos und ohne zu überlegen, so wie sie Verlangen nach etwas zu essen hatte, nach einem Pferd zum Reiten oder einem weichen Bett, um sich hineinzulegen.

Zwei Jahre lang war er im ganzen County ihr Begleiter gewesen, auf Bällen, Fischbarbecues, Picknicks und bei den Gerichtstagen; nicht so oft wie die Tarleton-Zwillinge oder Cade Calvert, nie so aufdringlich wie die Fontaine-Jungs, aber trotzdem verging keine Woche, ohne dass Ashley in Tara vorbeigeschaut hätte.

Schon wahr, er hatte ihr nie den Hof gemacht, noch schmachteten seine klaren grauen Augen je so leidenschaftlich, wie Scarlett es von anderen Männern kannte. Und doch – und doch! –, sie wusste, dass er sie liebte. Darin konnte sie sich nicht täuschen. Ein Instinkt, stärker als alle Vernunft, und ein Wissen, genährt aus Erfahrung, sagten ihr, dass er sie liebte. Zu oft war sie seinem Blick begegnet, wenn seine Augen weder verträumt noch distanziert wirkten und er sie voll Sehnsucht und Traurigkeit ansah, so dass sie ganz verwirrt wurde. Sie wusste, dass er sie liebte. Warum hatte er es ihr nicht gesagt? Das konnte sie nicht verstehen. Aber es gab so vieles an ihm, das sie nicht verstand.