Von Anfang an gesund - Klaus-Dieter Früchtenicht - E-Book

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Klaus-Dieter Früchtenicht

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Beschreibung

Das Geheimnis gesunder Kinder: Die Kinderärzte Klaus-Dieter Früchtenicht und Georg Seifert liefern praktische Tipps für Eltern infektgeplagter Kinder. Das neue Standardwerk zur Kindergesundheit!

Schnupfen, Fieber, Durchfall: Infektgeplagte Eltern sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder. Doch Gesundheit entsteht durch das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren, nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit. Entscheidend sind die ersten drei Lebensjahre. Kinderneurologe Klaus-Dieter Früchtenicht und Kinderonkologe Georg Seifert verknüpfen traditionelle Naturheilkunde und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit Fallbeispielen aus ihrer langjährigen Praxis. Sie geben praktische Tipps zur täglichen Anwendung bei Kinderkrankheiten, Infekten und Entwicklungsstörungen - für lebenslange Gesundheit.

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Das Geheimnis gesunder Kinder: Die Kinderärzte Klaus-Dieter Früchtenicht und Georg Seifert liefern praktische Tipps für Eltern infektgeplagter Kinder. Das neue Standardwerk zur Kindergesundheit!

Schnupfen, Fieber, Durchfall: Infektgeplagte Eltern sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder. Doch Gesundheit entsteht durch das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren, nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit. Entscheidend sind die ersten drei Lebensjahre. Kinderneurologe Klaus-Dieter Früchtenicht und Kinderonkologe Georg Seifert verknüpfen traditionelle Naturheilkunde und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit Fallbeispielen aus ihrer langjährigen Praxis. Sie geben praktische Tipps zur täglichen Anwendung bei Kinderkrankheiten, Infekten und Entwicklungsstörungen - für lebenslange Gesundheit.

Klaus-Dieter Früchtenicht

Georg Seifert

VON ANFANG AN GESUND

Gesundheitskräfte natürlich stärken für Kinder von null bis drei

mit Carsten Tergast

hanserblau

Für alle Mütter und Väter, die wissen, dass Kinder

die größte Inspiration unseres Lebens für heute

und die größte Hoffnung für unsere Zukunft für

morgen sind

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Reden wir von Gesundheit

Entwicklung von Gesundheit – Grundlagen der Gesundheit

Stellen wir die Sinnfrage

Gesundheit anthropologisch: Der Mensch ist nicht. Er wird

Gesundheit aus der Sicht von Genetik und Epigenetik

Gesundheit, frühkindlicher Stress und die frühen Botschaften des Immunsystems

Gesundheit und die Telomere

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Gesundheit und Erlernte Hilflosigkeit

Gesundheit und Transgenerationales Lernen

Das Dilemma der modernen Medizin

Warum wird der Mensch krank?

Die gefühlte Zunahme der Erkrankungen und Diagnosen

Immer mehr Medizin und die Folgen

Gesundheit als Wirtschaftsfaktor

Gar nicht krank ist auch nicht gesund

Die Optimierung der Kindheit als Risikofaktor

Exkurs: Warum Bildschirme Mutter und Vater auch künftig nicht ersetzen werden

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Keine Angst vor Krankheiten

Salutogenese: Gesundheit entsteht und ist beeinflussbar

Der Test: Die eigene Kohärenz messen

Macht und Chance der ersten Jahre

Die Diamanten der Gesundheit

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Gefühle und Impulse

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Die Kraft der Berührung

Bodybuilding für das Immunsystem: Das Abwehrsystem stärken

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Allergien und Unverträglichkeiten

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Hygiene

Impfen

Rotznase, Erkältung und andere Infekte

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Du bist, was Du isst – Ernährung als Baustein für ein starkes Immunsystem

Überfluss macht krank

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Gesunde Ernährung ist eigentlich einfach

Die Stärken des Fiebers

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Einer für alle, alle für einen – Warum Zugehörigkeit wichtig ist und Vereinzelung krank macht

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Resilienz: Widerstandskraft und Selbstwertgefühl entwickeln

Big five

Der Test: Die Resilienz bei Kindern messen

Kinder resilienter machen

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Was Lachen und Optimismus mit unserer Gesundheit zu tun haben

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Hintergrund: Kohärenz

Integrative Medizin – Die unterschätzte Kraft

Integrative Medizin von Anfang an – Tipps und Tricks, wenn das Kind krank ist

Die Fünf Säulen der Gesundheitslehre des Sebastian Kneipp

Tipps aus der integrativen Medizin und Naturheilkunde zur sanften Stärkung der Kinder, wenn sie noch nicht krank sind

Erkältungen und Infektionen der oberen Atemwege

Tipps für Kinder mit häufigen Infekten, kontinuierlichem Schnupfen und anderen Erkältungssymptomen

Unruhe und Einschlafstörungen

Bauchschmerzen

Ohrenschmerzen

Magen-Darm-Infektionen

Halsschmerzen

Die Gelassenheit der Eltern ist die Gelassenheit der Kinder – Mind-Body-Medizin für Eltern

Aktive Mind-Body-Medizin für (werdende) Eltern

Wissen, das Hilfe schafft: Krankheiten und Sorgen gesund durchmachen

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Die Zeit vor der Geburt

Schwanger. Nicht krank

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Die ersten drei Monate (U3/U4)

Sleepless nights

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Jedes Kind schläft anders

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Warum Babys schreien

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Das schwierige Temperament

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Der vierte bis achte Monat (U5)

UNSERE EMPFEHLUNGEN

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Der neunte bis zwölfte Monat (U6)

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Der zwölfte bis vierundzwanzigste Monat (U7)

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Der vierundzwanzigste bis sechsunddreißigste Monat (U8/U9)

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Soziale Entwicklung

UNSERE EMPFEHLUNGEN

Warum salutogenetisches Denken unser Leben besser macht – Ein Schlusswort

Danksagung

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis nach Begriffen/Themen

Register

VORWORT

Liebe Eltern, liebe Leserin, lieber Leser,

in den letzten Jahren hat sich das Verständnis der Entstehung von Krankheit und Gesundheit nachhaltig, ja, man könnte fast sagen: revolutionär, verändert. Und zwar vor allem durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere im Bereich der Epigenetik und der Neurobiologie.

Die Entstehung und der Verlauf von Krankheiten werden ganz wesentlich durch Einflüsse auf unser Erbgut bestimmt, die bereits in der Zeit vor der Geburt, vor allem aber in den ersten drei Lebensjahren erfolgen.

Es mag zunächst nur schwer vorstellbar sein, ist aber dennoch wahr: Schwere, Verlauf und selbst der Zeitpunkt des Auftretens diverser Krankheiten werden durch diese Einflüsse und Erfahrungen in den ersten Lebensjahren entscheidend beeinflusst. Das gilt sowohl für klassische Zivilisationserkrankungen wie Bluthochdruck, Schlaganfall, Diabetes mellitus, aber auch für neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie etwa Depressionen, Angststörungen oder Multiple Sklerose.

Vor diesem Hintergrund ist es aus unserer Sicht unerlässlich, einen neuen Blick auf die Entstehung von Krankheit und Gesundheit zu werfen. Denn mit diesem neuen Wissen können wir in den ersten Lebensjahren aktiv eingreifen und die Heilungs- und Abwehrkräfte in unseren Kindern, aber auch in uns selbst fördern, stärken und positiv beeinflussen.

Bisher bekämpfen wir Krankheit hauptsächlich erst dann, wenn sie entstanden ist. Wir müssen dringend zu einem Perspektivwechsel und zu einem viel umfassenderen und besseren Verständnis von Gesundheit-, Primärprävention und Krankheit kommen. Die alleinige, vor allem medikamentöse, Behandlung bereits entstandener Erkrankungen ist im Lichte der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht sinnvoll. Stattdessen sollten wir unsere Gesundheit in die eigenen Hände nehmen.

Neben den tatsächlichen Fortschritten in der Behandlung von Erkrankungen erleben wir in unserem Alltag eine gefühlte Zunahme von Beschwerden und Diagnosen, deren Krankheitswert mindestens problematisch, wenn nicht sogar zweifelhaft ist. Wir wollen uns hier der sozialen Dimension von Gesundheit und Krankheit widmen.

Denn Fakt ist: Trotz steigender Lebenserwartung, trotz nie zuvor gekannter medizinischer Standards, nehmen Ängste, Unsicherheiten und Sorgen rund um die Gesundheit, aber auch die Beschwerden immer mehr zu, und das nicht nur in Bezug auf Kinder.

Eine weitverbreitete Annahme ist inzwischen zur Bedrohung geworden: Durch Vorbeugen, Risikominimierung sowie mehr und ausgefeiltere Therapien könnte andauerndes und völliges Wohlbefinden erreicht und der Mensch für Schule und Arbeitsmarkt immer funktionstüchtiger werden. Dieses Denken bedroht vor allem die Kindheit und damit unsere Zukunft. Denn tatsächlich machen nicht nur Risikominimierung und ständiges Vorbeugen die Kinder gesund, glücklich, stark und zukunftsfähig.

In der ausufernden Gesundheitsindustrie ist Krankheit zum Produkt geworden, Gesundheit gilt als ökonomisch kontraproduktiv. Bisweilen ist es nicht übertrieben zu unterstellen, dass Gesundheit eigentlich gar nicht gewollt wird. Schließlich leben so viele Beteiligte viel besser von Krankheit.

Die Qualität der medizinischen Versorgung bemisst sich heute oft stärker an der reinen Verfügbarkeit und Quantität von Untersuchungen. Als wäre diese gleichbedeutend mit »Qualität«. Krankheit wird dabei immer mehr zu einem Produkt, das gerne ausgelagert wird, damit andere sich schnell darum kümmern können.

Wachstum, Dienstleistung und Gewinnmaximierung sind längst Teil des Systems Gesundheit geworden. Das überwiegend biologisch, organmedizinisch und technikorientierte Denken schreit danach, Störungen sofort zu beseitigen. Dabei machen uns die wenigsten Untersuchungen und Arzttermine wirklich gesund. Eigenaktivität, Geduld, Muße und liebevolles Abwarten als Teil natürlicher Heilungsprozesse werden immer mehr als Zumutung betrachtet. Im Sinne einer modernen Verwertungslogik wird Krankheit überwiegend als regelwidriger Funktionszustand erlebt, der die Leistungs- und Schaffenskraft beeinträchtigt. Gesundheit jedoch ist ohne Krankheit nicht möglich. Gleichzeitig ist Gesundheit mehr als die pure Abwesenheit von Krankheit.

Wir als Ärzte, Väter und Menschen wünschen uns einen Paradigmenwechsel, hin zu einem selbstverantwortlichen und -bestimmten Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung. Nur so kann auch die Qualität von Gesundheit zunehmen.

Wir wollen Ihnen auf der Grundlage neuer Forschungsergebnisse eine sinnvollere Sicht auf Gesundheit nahebringen. Das neue Wissen um das komplexe Zusammenspiel von Psyche, Umwelt, Biologie und Epigenetik ist hochspannend. Es sind eben nicht nur die Gene, die unsere Gesundheit bestimmen. Wir selbst können nachhaltig mit unserem Verhalten unser Erbgut und unsere Anlagen beeinflussen – und damit auch die Gesundheit unserer Kinder und Enkel. Gesundheit ist also machbar und ein kontinuierlicher aktiver Prozess, kein einmal erreichter und fixierter Zustand. Diese Erkenntnis eröffnet den Weg zu einem angstfreien und selbstbestimmten Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

In jedem von uns sind Gesundheit und innere Heilungskräfte angelegt. Sie entstehen sowohl vor der Geburt, aber gerade auch in den ersten drei Lebensjahren. Daher konzentrieren wir uns besonders auf jene Faktoren, die in diesen ersten Lebensjahren die Gesundheit und Widerstandskraft in uns allen, aber vor allem in den Kindern fördern und stärken. Wir betonen damit die Körper-Geist-Seele-Einheit und die selbstheilenden Kräfte in uns als Teil von Gesundheit und Krankheit.

Wir haben neueste wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Immunbiologie, Neuropsychologie und Epigenetik zusammengetragen. Jedes einzelne Forschungsergebnis bleibt für sich genommen richtig, ist aber nur ein kleiner Baustein des Wunders, das den ganzen Menschen ausmacht. In diesem Zusammenhang erinnern wir immer gerne an den Vortrag eines berühmten Biomathematikers mit dem klugen Titel »Von der Vielfalt der Gene und der Einfalt der Ärzte«. Mit anderen Worten: Manchmal wachsen Kinder auch ohne Medizin gesund auf.

Unser Ziel ist es, Ihnen Zuversicht zu vermitteln, damit Sie Ihre eigenen Gesundheitskräfte und die Ihrer Kinder stärken können. Vergessen Sie ruhig öfter mal gute Ratschläge und stärken stattdessen Ihre Widerstandskraft und innere Heilungskraft. Tun Sie, was sich für Sie selbst gut anfühlt, vermeiden Sie sinnlose Normen, Vorgaben und falsche Erwartungen!

Dr. Klaus-Dieter Früchtenicht,

Prof. Dr. Georg Seifert,

Berlin im März 2019

REDEN WIR VON GESUNDHEIT

Wir schreiben das Jahr 1970. Aaron Antonovsky, 1923 in den USA geboren, im Zweiten Weltkrieg als Soldat im Einsatz für die US-Armee, ist vor mittlerweile zehn Jahren mit seiner Frau Helen nach Jerusalem in Israel emigriert.

Antonovsky ist zu diesem Zeitpunkt bereits kein ganz unbekannter Soziologe mehr. Auf seinem Schreibtisch am Applied Social Research Institute liegt eine Studie, die sich mit der Anpassungsfähigkeit von Frauen unterschiedlicher Herkunft an die Menopause beschäftigt. Alltag für den Wissenschaftler, und doch findet er in dieser Studie etwas, das seine Aufmerksamkeit erregt.

Zwei Zahlen fallen Antonovsky ins Auge, auf eine davon schaut er zunächst etwas ungläubig, weil sie ihm so unwahrscheinlich erscheint. Es geht um den psychischen und physischen Gesundheitszustand zweier Gruppen von Frauen. In einer davon zeigten sich 51 Prozent der Befragten in ihrer Gesundheit vollkommen unbeeinträchtigt, in der zweiten waren es nur 29 Prozent. Es sind jedoch gerade diese 29 Prozent, die den Wissenschaftler elektrisieren. Beziehen sie sich doch auf eine Gruppe von Frauen, die 1939 zwischen 16 und 25 Jahren alt und Häftlinge in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager waren. Antonovsky war sich sofort darüber im Klaren, nicht die geringere Prozentzahl im Vergleich zu den nicht in KZs internierten Frauen war das entscheidende Ergebnis, sondern die Tatsache, dass fast ein Drittel der Frauen sich zum Zeitpunkt der Studie in einem geistigen und körperlichen Zustand befand, den man nach den üblichen Kriterien mit Fug und Recht als »gesund« bezeichnen konnte. Trotz der seelischen und körperlichen Traumata, die sie erlitten hatten.

Wie war das möglich? Sollte man nicht annehmen, nach derartigen Qualen könne kaum ein Mensch jemals wieder gesund sein? Antonovsky war schlagartig klar, dass die Wissenschaft und infolgedessen auch die Gesellschaft ihren Blickwinkel verändern musste.

Die klassische Medizin hatte bisher immer die Frage gestellt, wie Krankheit entsteht und wie sie im Anschluss an ihre Entstehung zu behandeln und zu beseitigen sei. Nun rückte ein anderes Anliegen in den Fokus: Wie definieren wir eigentlich Gesundheit, wie entsteht diese und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Krankheit und Gesundheit?

Als Gegensatz zur Pathogenese, eben jener Fixierung auf einen negativen Krankheitsbegriff, definierte Antonovsky aus dieser Erkenntnis heraus den Neologismus der Salutogenese. Im Deutschen lässt er sich am besten mit »Gesundheitsentstehung« übersetzen, bedeutet jedoch so viel mehr, als dieses nüchterne Wort auf den ersten Blick aussagt. Wichtigster Bestandteil des Salutogenesekonzeptes von Antonovsky ist das Kohärenzgefühl. Kohärenz besteht dabei aus drei entscheidenden Aspekten:

• Das Gefühl der Verstehbarkeit, also die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen

• Das Gefühl der Handhabbarkeit, also die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können

• Das Gefühl der Sinnhaftigkeit, also der Glaube an den Sinn des Lebens

Diese Punkte werden uns im Laufe des Buches immer wieder begegnen. Vor dem Hintergrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Zusammenhänge der Entstehung von Gesundheit und Krankheit werden wir deren Bedeutung erläutern.

ENTWICKLUNG VON GESUNDHEIT – GRUNDLAGEN DER GESUNDHEIT

Stellen wir die Sinnfrage

Wenn wir von der Vorstellung sprechen, die wir Menschen uns von den Begriffen Gesundheit und Krankheit machen, hilft ein Blick auf die Bedrohungen von Gesundheit in früheren Zeiten und heute.

Bis weit ins Industriezeitalter waren das: reale Not, Armut, Hunger, fehlende Hygiene und daraus resultierend echte physische Mangelerscheinungen. All das gibt es heute im postindustriellen Zeitalter auch noch, es spielt in den westlichen Wohlstandsgesellschaften quantitativ aber eine untergeordnete Rolle. Wenn wir heute über gesundheitsbedrohende Faktoren sprechen, sind das Dinge wie Überfluss (statt Armut!), Über- und/oder falsche Ernährung (statt Hunger!), Stress, fehlender psychischer Halt, Selbstzweifel. Dazu, gewissermaßen auf einer höheren Ebene: fehlender Sinn im Leben des Einzelnen.

All das führt zu einer Zunahme an Zivilisationskrankheiten und vor allem auch zum Anstieg bei den psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Dadurch wiederum können sich innere und äußere Heilungskräfte nicht so entfalten, wie es notwendig wäre. Gerade die psychischen Probleme führen dazu, dass Belastungen, Hürden des Lebens und auch Erkrankungen als nicht mehr beherrschbar und nicht positiv beeinflussbar erlebt werden. Das führt zusätzlich in einen Teufelskreis, denn natürlich steigert diese Wahrnehmung die psychische Belastung noch und festigt in der Folge die Blockade des Denkens und Fühlens.

In einer von Individualität und rasend schnellen Entwicklungen in technischer und ökonomischer Hinsicht geprägten Welt wird vor allem von älteren Menschen, allerdings zunehmend auch von jüngeren, Einsamkeit und fehlende Zugehörigkeit als ein Faktor empfunden, der Gesundung verhindert und damit letztlich auch zu einem gesundheitsökonomischen Problem wird. Wir sprechen dann auch von der sogenannten Drehtürmedizin, bei der auch der behandelnde Arzt nicht mehr die menschliche Zuwendung ausstrahlt, die immer zur Gesundung seiner Patienten beiträgt. Fühlt sich der Patient von seinem Arzt nicht wahrgenommen oder ernst genommen, bleibt derjenige allein mit seiner Krankheit zurück und empfindet die Regelungen des Gesundheitssystems als unüberwindbare Hürde, die verhindert, dass aus Krankheit wieder Gesundheit werden kann.

Letztlich erscheint das Leben so im wahrsten Sinne des Wortes »sinn-los«. Das ist eines der gesundheitsschädlichsten Gefühle überhaupt. Es macht uns krank, ohne dass irgendeine körperliche Beeinträchtigung vorliegen muss. Im Sinne der Salutogenese wird hier das Kohärenzgefühl entscheidend beeinträchtigt, zu dem ja auch »der Glaube an den Sinn des Lebens und ein Gefühl der Sinnhaftigkeit« gehören.

Es ist also häufig weniger ein konkreter Mangel, der uns ein Gefühl der Krankheit gibt, als das Fehlen von weichen Faktoren wie Nähe, Verständnis, Empathie und Zuwendung. Das gilt natürlich ganz besonders für Kinder. Wie der Gründer der Arche, Bernd Siggelkow, in einem Interview sagte, die meisten Kinder in unserer Wohlstandsgesellschaft seien nicht arm, sondern »bedürftig«. Diesen Unterschied zu verstehen ist wichtig, gilt er doch genauso für uns Erwachsene. Bezogen auf die Kinder führte Siggelkow weiter aus, diese Kinder hätten ausreichend Materielles zur Verfügung, doch keiner trage Verantwortung für sie, kümmere sich um sie, gebe ihnen Liebe, Orientierung und Halt. Diese Bedürfnisse sind für Kinder von enormer Bedeutung, und auch für viele Erwachsene werden sie unzureichend erfüllt und machen damit dauerhaft krank, ja sind ein wesentlicher Grund für den Anstieg an psychischen Erkrankungen, weil damit auch das Gefühl der Sinnhaftigkeit des Lebens beeinträchtigt ist.

Wenn wir es einmal genau betrachten, ist unser gesellschaftlicher Begriff von Kinderarmut sehr einseitig. Das Leben in einer durch Konsum und Besitz definierten Wertegesellschaft fokussiert enorm auf materiellen Wohlstand und verbaut damit den Blick auf Mangelerscheinungen, die sich nicht im Fehlen eines Handys, einer Playstation oder ähnlicher Dinge manifestieren.

Die Datenlage vieler Studien zeigt, dass fehlende Bildung in einem weit gefassten Sinne krank macht. Weit gefasst deshalb, weil hier nicht von Bildung durch Kindergarten, Schule oder institutionelle Förderung die Rede ist. Letztgenannte können ergänzen, korrigieren und gegensteuern, greifen jedoch zu spät ins Leben der Kinder ein, um die Sorte Bildung zu schaffen, von der wir hier reden. Wir wissen heute, dass der schulische Erfolg eines Kindes sich schon im Alter von fünf Jahren gut vorhersagen lässt.

Entscheidend für den Erwerb der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie für die Bildung von Aufmerksamkeit und Geduld ist der Erwerb einfacher Vorläuferfertigkeiten über scheinbar simple und unbedeutende Tätigkeiten wie das Spielen von Geduldspielen oder das Backen von Keksen mit den Eltern oder Bezugspersonen. Letzteres ist eine perfekte Möglichkeit, die frühe Bildung des Kindes positiv zu beeinflussen, besser als jede »Frühförderung« im Chinesisch-Kurs mit vier Jahren es jemals vermag.

Kekse backen bedeutet: Sich zu merken, welche Zutaten für den Teig erforderlich sind, fördert das visuelle und auditive Gedächtnis. Im Supermarkt aus dem riesigen Angebot die richtigen Lebensmittel herauszusuchen fördert Orientierung und Aufmerksamkeit. Das Abmessen von Zucker, Mehl und Milch fördert das Mengen- und Volumenverständnis, Rühren, Ausstechen und Abwaschen üben Koordination, Visumotorik und Feinmotorik. Die Fähigkeit, den verbalen Anweisungen der Eltern zu folgen, stärkt das phonologische Gedächtnis und das Sinnverstehen. Am Ende steht dann die wahnsinnig tolle Erfahrung, etwas zu können, etwas geschafft zu haben, auf das man stolz sein kann. Eine bessere Stärkung des Selbstwertgefühls kann es nicht geben.

Wie leicht ersichtlich ist, funktioniert das in familiären Zusammenhängen, in denen Eltern ihre Funktion als Vorbild ernst nehmen und sich die Zeit für solcherlei »Bildungsarbeit« mit ihren Kindern nehmen. Und zwar ohne durch Erwartungshaltungen Stress und Druck zu erzeugen, der kontraproduktiv wirkt. Es geht nicht darum, wie die Kekse aussehen und schmecken, sondern um die Beziehung zwischen Eltern und Kind, die Sicherheit und damit auch Sinnhaftigkeit vermittelt. Und es geht darum, sich selbst zu kümmern und damit auch die Erfahrung weiterzugeben, dass es im Leben immer dann am besten läuft, wenn man das eigene Leben gestaltet. Letzteres ist der zweite Aspekt des Kohärenzgefühls: »Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit«.

Das wirkt sich dann auch ganz konkret auf den Umgang mit Gesundheit und Krankheit aus. Wie ein Blick in die letzte DAK Kinder- und Jugendgesundheitsstudie zeigt, besuchen Eltern aus bildungsfernen Haushalten sechsmal häufiger den Arzt, und trotzdem leiden die Kinder bis zu 60 Prozent häufiger an Übergewicht, Asthma, Karies und anderen Erkrankungen. Offensichtlich wird die Fähigkeit, Gesundheit in die eigene Hand zu nehmen, die Kompetenz, schwierige Situationen selbstständig zu meistern, nicht mehr vermittelt, sondern mit mangelndem Erfolg an die Medizin delegiert, ja, richtiggehend outgesourct.

Über die Medizin hinaus konstatieren wir einen Prozess der organisierten Entmündigung des Menschen, denn auch schulische, soziale und psychische Probleme werden zunehmend »medizinalisiert« und institutionalisiert. Dadurch werden sie der Gestaltungskraft des Einzelnen entzogen und beschädigt damit ganz entscheidend dessen Kohärenzgefühl.

Es entsteht krankmachender, sogenannter toxischer Stress. Dessen Auswirkung auf unser Immunsystem und unsere Selbstheilungskräfte ist sehr viel bedeutungsvoller als bisher angenommen.

Wie im Kapitel »Grundlagen der Gesundheit« erörtert, führt »toxischer Stress« schon in der Pränatalperiode, Schwangerschaft und der frühen Kindheit zu einer andauernden Fehlprogrammierung der Immun- und Entzündungssysteme, aber auch unseres Verhaltens und der Emotionen – und damit der Fähigkeit, Stress und Belastungen später als nicht toxisch sondern handhabbar zu erleben.

Wir wissen zum Beispiel, dass nach einem schweren Ereignis wie dem Tod eines Partners die Zahl und die Aktivität von Immunzellen sinkt und wir leichter anfällig sind für Infektionen.

Dazu kommt, dass sich die Medizin immer stärker mit Befunden und immer weniger mit dem Befinden des kranken Menschen befasst. Zahlen sind wichtig in der Medizin als Wissenschaft. Für das Heilen und Gesunden aber ist das Erzählen und Zuhören mindestens genauso wichtig.

Ein intaktes Kohärenzgefühl lässt uns sicher sein, dass Dinge in unserem Leben verstehbar, beeinflussbar und sinnvoll sind. Je stärker dieses Gefühl verloren geht, desto verlorener sind wir von klein auf. Es ist heute nicht ungewöhnlich, dass zweijährige Kinder vom Kinderarzt schriftlich bescheinigt bekommen müssen, dass sie nach einer kleinen Infektion wieder gesund sind. Was für ein Wahnsinn, sollten doch die Eltern gut in der Lage sein, diesen Umstand bei ihrem eigenen Kind wahrzunehmen.

Auf diese Weise wird vielen Eltern die Fähigkeit zur Salutogenese genommen. Wenn wir im weiteren Verlauf über Genetik und Epigenetik sprechen, werden wir sehen, wie diese fehlenden Fertigkeiten vererbt und damit an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, was für die zukünftige Gesellschaft ein riesiges Problem darstellt. Denn die Grundlagen von Krankheit und Gesundheit liegen überwiegend in der Kindheit und entstehen sogar aus der Lebensweise von Eltern und Großeltern. Die Erfahrungen der ersten Lebensjahre sind es, die unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit und damit unsere Einstellung zur Welt und unsere Lebensweise prägen.

Somit sind Krankheit und Gesundheit keine objektiven Zustände, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens von genetischen, biologischen, sozialen und psychischen Faktoren.

Wie bereits mehrfach betont, lassen sich Gesundheit und Krankheit nur durch eine umfassende Betrachtungsweise sinnvoll verstehen. Dazu gehört, dass in unserer an materiellem Überfluss leidenden Gesellschaft psychische und soziale Faktoren immer stärker die Krankheitsentstehung und die gestörte Abwehr von Krankheiten beeinflussen.

Die konkreten Zahlen etwa bei Krankschreibungen und Krankenhausbehandlungen wegen psychischer Störungen sind innerhalb der letzten zehn Jahre um ein Zehnfaches gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Depressionen im Kinder- und Jugendalter um das Siebenfache gewachsen. Auf geradezu dramatische Weise kann man hier sehen, dass die Abwesenheit körperlicher Beschwerden nicht automatisch Gesundheit bedeutet. Heilung, Stärkung, aber auch Schwächung der Abwehrkräfte kommen also nicht nur von außen, sondern sind ohne innere Kraft, ohne Hoffnung und Sinngebung nicht möglich.

Wir sehen also nicht nur eine Zunahme an Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck oder Adipositas. Dramatisch ist vor allem der Anstieg bei den psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Auch bei den Kindern macht uns Ärzten nicht nur die Zunahme psychischer Erkrankungen Sorge, sondern auch die sogenannten soziogenen Entwicklungsstörungen, bedingt durch die sogenannte »neue Armut«. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen Mangel an Geld und Teilhabe. Es ist ein Mangel an Erfahrung von sicherer Bindung und Fürsorge, Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit des Lebens mit all seinen Folgen für die Motivation und ein fehlendes positives Selbstbild. Es ist der Mangel aller Faktoren der Salutogenese.

Es fehlen diesen Kindern die Voraussetzungen und Fähigkeiten zur Motivation und ein Interesse an gesunder Ernährung und moderatem Umgang mit Genussmitteln.

Zunehmende Schwierigkeiten und Ratlosigkeit bei der Kindererziehung werden durch Zeitmangel und die Verführbarkeit durch Konsum und Medien noch gesteigert.

Es fehlt immer häufiger an einer frühen Förderung der wichtigsten Vorläuferfertigkeiten wie Liebe, Geduld, Sorgfalt, Feinmotorik, Ausdauer, Konzentration und sozialer Kompetenz. Diese sind später kaum noch aufzuholen, denn entscheidend sind auch hier die ersten drei Lebensjahre.

Fehlende Erfahrungen und mangelnde Vorläuferfertigkeiten gefährden den späteren schulischen Erfolg und die Motivation, sie erzeugen stattdessen Frustration, Gewalt und eine erworbene Hilflosigkeit, die dann auch von der Herkunftsgeneration an die Nachfolgegeneration weitergegeben wird.

Dieser primär soziogene und entwicklungspsychologische Effekt bleibt nicht ohne Wirkung auf das eigene Gesundheitsverhalten. Kinder mit solcher Prägung erkranken deutlich früher, häufiger und schwerer und sind auch schwerer zu behandeln.

Die gesellschaftlichen Kosten für spätere Hilfs-, Förder- und Transferleistungen haben sich beispielsweise alleine in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren um mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr auf zuletzt 2,4 Milliarden Euro erhöht.

Gesundheit ist immer auch ein spiritueller Prozess. Ohne Glauben und Sinnhaftigkeit sind Gesundheit und Heilung schwer möglich – »… er heilt die zerbrochenen Herzen und verbindet unsere Wunden« (Psalm 147)

Als Ärzte sind wir immer wieder auch mit dem Tod konfrontiert. Gerade die Arbeit auf der Intensivstation eines Krankenhauses lässt Mediziner in menschliche Grenzbereiche eintauchen. Erstaunlich häufig gibt es auf der Intensivstation Patienten, die aus rein medizinischer Sicht durchaus Chancen auf ein Überleben hatten und trotzdem verstorben sind. Jeder einzelne dieser Vorgänge schärft unseren Blick darauf, was »Überleben« hier eigentlich bedeutet. Verdient die Lebensverlängerung durch Maschinen, Präparate und Ähnliches wirklich in jedem Fall die Bezeichnung Leben? Oder müssen wir nicht vielmehr mindestens genauso sehr darauf achten, wie sich der Patient dabei fühlt? Es ist nicht selten, dass ein Patient, der rein technisch am Leben zu erhalten wäre, spürbar keine innere Kraft mehr zum Weiterleben hat. Woher kommt diese Kraft, die den einen Patienten eine schwere Erkrankung überleben lässt und andere nicht?

Die Mechanismen, die dazu führen, dass psychische und soziale Faktoren Krankheiten begünstigen, waren lange Zeit unklar. Was nicht messbar ist, ist für Schulmediziner somit inexistent.

Die Forschungen der letzten Jahre haben indes auf diesem Gebiet nahezu Revolutionäres hervorgebracht. Epigenetische, molekularbiologische und immunologische Zusammenhänge von Psyche, Gefühlen und sozialen Faktoren lassen sich in zunehmendem Maße nicht nur besser verstehen, sondern auch beweisen. Und zwar sowohl »in vivo«, also am lebenden Menschen/Tier, als auch »in vitro«, also labortechnisch.

Es hat zu diesen Zusammenhängen die unterschiedlichsten Experimente gegeben. Bekannt ist etwa jene amerikanische Studie, die Zahnmedizinstudenten untersuchte, denen eine klitzekleine Wunde zugefügt wurde, um anschließend die Wundheilung zu dokumentieren. Das Besondere am Versuchsaufbau: Der Vorgang wurde zweimal durchgeführt, nämlich zunächst in der stressfreien Zeit der Universitätsferien und ein zweites Mal unmittelbar während der Prüfungsvorbereitungen. Die exakt gleiche Wunde in zwei unterschiedlichen psychosozialen Zusammenhängen, das Ergebnis war frappierend. Der normale körperliche Heilungsprozess dauerte im Schnitt um 40 Prozent länger, wenn er innerhalb der stressigen Zeit der Prüfungen stattfand.

Nachweisen ließ sich das unter anderem an der Konzentration eines sogenannten Entzündungszytokins, des Interleukin -1ß, ein Stoff, der in der Lage ist, die Wundheilung entscheidend zu beschleunigen. In der Stressphase der Prüfungen lag die Konzentration von Interleukin -1ß im Mittel um 68 Prozent niedriger als in der ruhigen Zeit der Ferien.

Ähnliche Experimente gibt es mittlerweile viele, und alle weisen in die gleiche Richtung: Gesundheit und Krankheit lassen sich nur dann verstehen und sinnvoll beeinflussen, wenn wir die Selbstheilungskräfte des Menschen ernst nehmen, ihre Bedingungen erforschen und es so jedem Einzelnen ermöglichen, sie wirken zu lassen. Die Schulmedizin muss sich dringend von dem Glauben verabschieden, über die Frage von Gesundheit und Krankheit alleine zu entscheiden. Ihre Fähigkeiten, ihre Erkenntnisse werden dringend gebraucht, doch auf andere Weise, als wir es heute gewohnt sind. Das Herbeiführen von Gesundheit, indem man Krankheit tunlichst vermeidet und ausmerzt, funktioniert so nicht.

Zeigen lässt sich das etwa auch am Beispiel von Neurodermitis und Allergien bei Kindern. In den letzten 20 Jahren ist besonders im Bereich von Neurodermitis und Asthma eine erhebliche Zunahme an Neuerkrankungen zu verzeichnen. Die bisherige Standardreaktion darauf bestand in Risiko- und Allergenvermeidung sowie Hypersensibilisierung und immer mehr und besseren Medikamenten. Dadurch wurden die Erkrankungen und deren Symptome zwar für viele Betroffene erträglicher. Jedoch war keine langfristige Heilung zu erkennen. Im Gegenteil: Die Häufigkeit von Neuerkrankungen stieg weiter an.

Kinder, die auf dem Land und dort vielleicht sogar auf einem Bauernhof aufwachsen, erkranken sehr viel seltener an Neurodermitis und Asthma als vergleichbare Stadtkinder. Das hat zur Hypothese geführt, dass nicht die Vermeidung von Allergenen, sondern im Gegenteil ein möglichst früher Kontakt mit ihnen eine höhere Immuntoleranz schafft. Tatsächlich hat es einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft gegeben, indem heute darauf gesetzt wird, mit einer frühen Stimulation durch Allergene die Toleranz des Immunsystems zu stärken.

Aber auch wenn nicht alles in der Kindheit glatt lief, kann man zu jedem Zeitpunkt wesentliche Dinge ändern – nur erfordert es mitunter mehr Aufwand. Man sagt: »Den guten Seemann erkennt man bei schlechtem Wetter«, und so ist es auch. Um ein guter Seemann zu werden, benötigt man auch Erfahrungen bei Sturm und Seegang, Hindernisse und Schwierigkeiten bringen Menschen weiter. Resilienz, also die Widerstandskraft in schwierigen Situationen, ist eine Eigenschaft, die ohne Hindernisse nicht denkbar und lernbar ist. Letztlich geht es auch um den Sinn im Leben, den uns manche Hindernisse deutlich machen. In diesem Buch möchten wir an verschiedenen Stellen für das Thema Resilienz sensibilisieren und praktische Hilfestellungen geben.

Um dem Begriff der Gesundheit ein wenig mehr auf den Grund zu gehen, ist es sinnvoll, sich ihm aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Wir wollen hier drei davon vorstellen. Es geht dabei darum zu verstehen, dass zum Nachdenken über Gesundheit, Krankheit, Salutogenese auch ein Verständnis der Begriffe an sich gehört. Was meinen wir, wenn wir über Gesundheit reden? Werfen wir einen Blick auf unterschiedliche Zugänge dazu.

Gesundheit anthropologisch: Der Mensch ist nicht. Er wird

Zu den wesentlichen Merkmalen, die den Menschen vom Tier unterscheiden, gehören unsere »Startbedingungen« bei der Geburt. In der Tierwelt bleibt der Nachwuchs so lange im Mutterleib, bis er alle Fähigkeiten erworben hat, um nach kürzester Zeit selbstständig überleben zu können. Nach der Geburt sichern ihm Instinkte und angeborene Verhaltensmuster das Überleben.

Im Gegensatz dazu gebärt der Mensch ein sehr unreifes Wesen, er ist ein sogenannter extrauteriner Nesthocker. Was bedeutet, dass er bei der Geburt weitgehend unterentwickelt und ohne Hilfe von außen überhaupt nicht überlebensfähig ist. Was fehlt, sind Instinkte, die ein Überleben sichern könnten, sodass der Säugling von einer gewissen Unfertigkeit und Unkenntnis geprägt ist. Diese Besonderheit des Menschen wird in der wissenschaftlichen Anthropologie besonders hervorgehoben.

Aus Sicht der Anthropologen ist die Einzelstellung des Menschen durch seine frühe Geburt eine Besonderheit der Evolution. Warum die intrauterine Entwicklung in der 40. Schwangerschaftswoche endet, ist bis heute unklar und wird in der Wissenschaft mit verschiedensten Hypothesen diskutiert. Mal nahm man an, das Becken sei zu schmal, mal galt der Kopf des Neugeborenen als zu groß, um die Geburt zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Wirklich einig sind sich die Wissenschaftler bis heute nicht. Es liegt jedoch auch eine enorme Chance in dieser »Unfertigkeit«. Sie ermöglicht es, dass der Mensch unglaublich anpassungsfähig ist und enorme Lernfähigkeit besitzt bis in das höhere Lebensalter.

Der Erklärungsansatz einer Studiengruppe um die Anthropologin Holly Dunsworth nimmt die begrenzte Stoffwechselkapazität der Schwangeren in den Blick. Das bedeutet, dass der weibliche Organismus mit fortschreitender Schwangerschaft nicht mehr in der Lage ist, sich und das Kind mit ausreichend Energie zu versorgen. Entscheidend ist dabei nicht die Zufuhr von Energie, sondern die Stoffwechselaktivität. Es würde also nicht helfen, einfach mehr zu essen, genauso wenig, wie wir in einem übermüdeten Zustand nicht mehr lernen, wenn wir ein ganzes Fachbuch durchlesen. Wir können es einfach nicht verarbeiten. Tatsächlich dürfte die Schwangerschaft keine vier Wochen länger dauern, da Mutter und Kind sonst in eine lebensbedrohliche Energiekrise geraten würden.

Der klinische Alltag im Kreißsaal bestätigt die Energietheorie von Dunsworth recht häufig, denn übertragene Kinder, sprich, Kinder, die nach der 40. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, tun sich nach der Geburt mit der Anpassung an die Umwelt oft deutlich schwerer. Dazu gehört beispielsweise ein erheblich höheres Risiko für Infektionen und Unterzuckerung.

Interessant ist auch, dass Mädchen im Moment der Geburt und der ersten Lebensstunden eindeutig das starke Geschlecht sind. Bei kritischen Geburten überleben im Schnitt deutlich mehr Mädchen als Jungen. Die meisten Ärzte und Hebammen gehen bei einer Notsektio deutlich entspannter in den Kreißsaal, wenn es sich um ein Mädchen handelt. Mädchen kämpfen eindeutig mehr und haben einen größeren Überlebenswillen, was sich im weiteren Verlauf des Lebens darin bestätigt, dass sie einen größeren Schulerfolg vorzuweisen haben und statistisch deutlich resilienter, also anpassungsfähiger und belastbarer gegenüber Stress sind. Dieser Vorteil einer insgesamt stabileren gesundheitlichen Entwicklung bleibt bis zum Ende der Fruchtbarkeit erhalten. Es erfolgt dann eine komplette Umstellung und Neuordnung der Neurobiologie, wie man sie auch im Tierreich beobachten kann. Wussten Sie beispielsweise, dass Drosseln mit Beginn der Geschlechtsunreife nicht mehr singen können?

Als Neuropädiater haben wir in der Praxis sehr viel mit Entwicklungsstörungen bei Kindern zu tun. Manchmal fragen Eltern, was die Ursachen und Risiken für bestimmte Störungen oder auch Fehlentwicklungen im Allgemeinen sind. Die Antwort ist ganz einfach und für immerhin einen Teil der Eltern beruhigend: Das größte Risiko für die Entstehung von Entwicklungsstörungen ist das männliche Geschlecht.

Schaut man sich Hirnstromkurven und EEGs von Mädchen und Jungen an, so sind erstere in Reife und Grundaktivität den Jungs im Mittel um fast 25 Prozent voraus. Dazu passt, dass wir Störungen der Lernentwicklung, des Sozialverhaltens sowie Aufmerksamkeitsstörungen bei Jungen etwa zwei- bis dreimal so häufig vorfinden wie bei Mädchen. Das lässt sich auch an der Anzahl der Verordnungen von Logopädie und Ergotherapie ablesen, die bei Jungen mehr als doppelt so hoch ist.

Es mag im ersten Moment banal klingen, für die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit im Lebenslauf ist der erwähnte Unterschied zwischen Mensch als »unfertigem« und Tier als »fertigem« Wesen bei der Geburt von entscheidender Bedeutung. Denn Unsicherheit, fehlendes Wissen und fehlende Erfahrung sind somit ein wesentlicher Ausgangspunkt unseres ganzen Seins. Wir sind ein unbeschriebenes Blatt, wenn wir auf die Welt kommen. Welche Geschichten dieses Buch im Laufe des Lebens beschreibt und was diese aus uns machen, unterliegt ganz wesentlich unserem eigenen Einfluss, aber natürlich zunächst einmal dem unserer Eltern und der Menschen, mit denen wir als kleine Kinder sehr viel in Kontakt kommen.

Aus dieser Tatsache ergibt sich im Grunde die Urfrage unseres Lebens: Entwickeln sich Selbstzweifel, Angst und eine negative Grundeinstellung zur Welt? Oder begreifen wir die leeren Seiten von Beginn an als Chance und positive Herausforderung, sie mit guten Dingen zu füllen und die Schönheit der Welt zu sehen? All das, was wir als einzigartige Individuen im Laufe unseres Aufwachsens, unserer Entwicklung erfahren und lernen, spielt eine Rolle für die Einstellung zu uns selbst, zu unserer Umwelt und damit letztlich auch für unsere Gesundheit.

Der Schlüssel zur Gesundheit liegt in der frühen Kindheit und letztlich sogar schon in der Kindheit der Eltern und Großeltern.

Was wir zu Beginn unseres Lebens sowohl körperlich als auch seelisch in uns aufnehmen, bestimmt ganz wesentlich unsere Gesundheit.

Dabei ist es wichtig zu sehen, dass der Mensch ein abhängiges, auf Hilfe und Gemeinschaft angewiesenes Wesen ist. Uns fehlen die Abwehrinstinkte und -kräfte, die Tiere haben. Dafür sind wir mit sozialen Eigenschaften ausgestattet, für die eine beschützende Aufzucht in der Gemeinschaft wichtig ist. Die Entwicklung des Menschen, seine Verhaltensmöglichkeiten und seine Einstellung zu anderen kann aus dieser Sicht überhaupt nur gelingen, wenn ein inniges Wechselspiel mit der Gemeinschaft möglich ist. Das Leben des Menschen ist somit grundlegend auf die Begegnung und die daraus resultierenden sozialen Gemeinschaften angelegt. All die grausamen Experimente, die in vergangenen Jahrhunderten mit Kindern in Isolation durchgeführt wurden, beweisen das.

Während Tiere also ein instinktiv festgelegtes Verhältnis zur Welt haben, aus dem sie grundsätzlich nicht entfliehen können, werden wir Menschen mit zunehmendem Alter durch Lernen und Erfahrung frei. Wir lernen durch Einflüsse in jeder Hinsicht: körperlich, emotional, sozial, biologisch, immunologisch, sogar genetisch, wie die Epigenetik mittlerweile beweist. Die Zeit im Bauch der Mutter sowie die ersten drei Lebensjahre sind dabei der größte Einflussfaktor. Hier werden die Weichen gestellt, die später oft nur mit großem Aufwand zu korrigieren sind.

Was wir zu Beginn unseres Lebens sowohl körperlich als auch seelisch in uns aufnehmen, bestimmt ganz wesentlich unsere Gesundheit.

Ob wir diese Freiheit als Chance oder als Bedrohung sehen, bestimmt unsere Einstellung zur Welt und zu uns selbst. Kurz gesagt bedeutet all das: Der Mensch ist nicht, er wird.

Aus diesen Erkenntnissen resultiert auch die Bedeutung, die wir dem salutogenetischen Denken zuweisen: Vertrauen, Zuversicht, Glaube, Mut und Dankbarkeit sind die Wurzeln für ein gesundes Werden. Wohingegen uns aus pathogenetischer Sicht Zweifel, Unsicherheit und die Angst, alleine zu sein, erwiesenermaßen bei jeglicher Gesundung behindern.

Der entscheidende Faktor am Anfang unseres Lebens ist die Erfahrung einer stabilen und sicheren Bindung, einer positiven Einstellung zur Welt bei unseren Bezugspersonen und bedingungsloses Vertrauen. Kommen dann Bildung, weitere gute Vorbilder sowie ein gelungener Prozess der Ablösung von diesen Bezugspersonen hinzu, haben wir all die Kraft, den Halt und die Zuversicht, die wir brauchen, um für uns selbst später in jeder Hinsicht zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen.

Gesundheit aus der Sicht von Genetik und Epigenetik

Der Mensch besitzt etwa 22.000 Gene, von denen die Mehrzahl für uns keinen erkennbaren Nutzen hat. Trotzdem können sie regulierend wirken, ohne dass wir das auf Anhieb verstehen. Unser Erbgut gleicht daher nicht einem Buch, in dem der geneigte Forscher lesen kann, um Antworten auf sämtliche Fragen zu bekommen. Wir können es eher mit einem sich selbst organisierenden System vergleichen, das im ständigen Wechselspiel mit der Umwelt ein komplexes Wesen hervorbringt, den Menschen.

So zeigen etwa neueste Forschungsergebnisse der Genetik, wie epigenetische Regulationsfaktoren durch Methylierung Einflüsse der Umwelt und gemachte Erfahrungen in die Mikro rRNA aufnehmen, speichern und anschließend über Generationen weitergegeben werden können. Solcherlei Veränderungen an den Molekülen des Lebens sind ein ständig andauernder Prozess, der kontinuierlich innerhalb von Sekunden in unseren Zellen abläuft.

Für uns lässt sich aus diesen Vorgängen eine entscheidende Tatsache für die Salutogenese ableiten: Die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit sowie psychischer und physischer Widerstandskraft ist nicht genetisch vorbestimmt, sondern wir können durch eigenes Handeln unsere Gene fit machen, üben und lernen lassen.

Diese Erkenntnis weist alle deterministischen Theorien in die Schranken und gibt dem Menschen die Hoheit über sein Leben zurück. Nicht die Gene bestimmen unser Leben, sondern das, was wir tun und unterlassen. Unsere Erfahrungen und die Umwelt beeinflussen stets und überall unsere Gene. Die salutogenetische Formel, die hieraus folgt, lautet also:

Gesundheit und Glück sind nicht genetisch vorbestimmt, sondern für jeden von uns erlernbar und beeinflussbar.

Gegeben ist uns somit die Handhabbarkeit des Lebens als ein wesentlicher Bestandteil und eine wichtigen Grundlage für ein gesundes Leben. Wenn wir unser Leben als handhabbar und nicht sinnlos erfahren, bewahrt es uns vor Resignation und erlernter Hilflosigkeit, es stärkt unsere Motivation und Selbstwirksamkeit.

Gesundheit, frühkindlicher Stress und die frühen Botschaften des Immunsystems

Der Schlüssel für das Verständnis vieler Erkrankungen und sogar auch für den Prozess des Alterns liegt in anhaltenden fehlregulierten Entzündungsprozessen in unserem Körper. Es sind jedoch nicht nur Viren, Bakterien, Phenole, Feinstaub oder Kohlendioxid, die hier wirken, sondern der wesentliche Faktor ist fehlgeleiteter Stress, und zwar schon in der frühen Kindheit. Einen großen Einfluss auf das Immunsystem und damit auch auf die lebenslange Gesundheit haben daher die Erfahrungen und Umgebungsfaktoren in der Schwangerschaft, der Säuglingszeit und den ersten drei Lebensjahren.

Besonders die frühe Interaktion von Umwelterfahrungen und epigenetischen Prozessen programmieren nachhaltig die Stress- und Entzündungsachse und das sich entwickelnde Gehirn. Schon 2012 machte die Amerikanische Akademie für Kinderheilkunde darauf aufmerksam, dass wir auf der Grundlage der aktuellen Forschungsergebnisse von Genetik, Epidemiologie, Soziologie und Entwicklungspsychologie unser Verständnis von der Entstehung von Gesundheit und Krankheit über die gesamte Lebensspanne gesehen ändern müssen.

Die amerikanischen Kinderärzte wurden dringend aufgefordert die Bedeutung von frühem Stress und Belastungen und deren weitreichende Folgen für die spätere Gesundheit als gesellschaftliches Thema sichtbar zu machen.