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Eigentlich ist Lynn ein ganz normales junges Mädchen. Von einem auf den anderen Tag stellt sich ihr Leben aber komplett auf den Kopf. Nichts ist mehr wie vorher. Das Schlimmste daran ist, dass Lynn sich nicht erinnern kann, was passiert ist. Schritt für Schritt erkämpft sie sich ihre Erinnerung zurück und erlebt dabei eine böse Überraschung. Ein Schicksalsschlag zerschlägt eine Familie. Nur die älteste Tochter kann das Rätsel lösen und aufdecken, was passiert ist. Ihr begleitet Lynn durch ihre Gedanken und seid dabei, wie sie versucht ihrem eigenen Schicksal auf die Schliche zu kommen. Eine aufregende, spannende Geschichte, die bis zum letzten Kapitel Überraschungen bereithält.
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2022
für Mamili & Papili
MAIKE SCHNITKER
© 2021 Maike Schnitker
Verlag:
tredition
ISBN:
Softcover:
978-3-347-46012-6
Hardcover:
978-3-347-46018-8
E-Book:
978-3-347-46020-1
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Kapitel 1
AUFWACHEN
Als ich an diesem Morgen wach werde, ist es erstaunlich ruhig. Das Zwitschern der Vögel, die in unserem Garten wohnen oder diesen als Zwischenstopp ihrer Reise nutzen, klingt anders als sonst. Auch die üblichen Geräusche, die meine chaotische Familie normalerweise jeden Morgen veranstaltet, bleiben aus.
Ich warte auf das Surren der viel zu alten Kaffeemaschine, die mein Vater so liebt, weil er sie schon vor seinem Doktortitel besessen hat. Die Kaffeemaschine ist der erste Stopp, den mein Vater jeden Tag auf dem Weg zur Toilette einlegt. Einen Espresso später verschwindet er mit der Morgenzeitung sofort auf dem Klo. Meine Mutter, die selbst keinen Kaffee trinkt, meckert jeden Morgen lautstark über den Lärm. Ohne Erfolg, wie sie auch langsam wissen müsste. Die Gäste-Toilette ist außer Hörweite und das Radio dort immer angeschaltet. Außerdem würde mein Vater diese Maschine niemals weggeben. Er sagt, ohne die hätte er es nie so weit gebracht. Damit meint er seine Karriere als Arzt und tatsächlich ist er so erfolgreich, dass er fast nur unterwegs ist.
Meine Mutter heißt Viola und hat morgens wirklich viel zu tun. Alle fünf Kinder bekommen jeden Tag Butterbrote geschmiert und Obst in Stücke geschnitten, weil Mama hohen Wert auf eine ausgewogene Ernährung legt.
Sie ist Anwältin in einer großen Kanzlei und muss morgens immer schon früh aus dem Haus. Nachdem die Lunchboxen fertig sind, verzieht sie sich meist für eine ausgedehnte Dusche ins große Badezimmer, das an das Elternschlafzimmer angrenzt. Es ist das einzige Schlafzimmer im Erdgeschoss und befindet sich am Ende eines langen Flures mit 5 Türen. Der Flur beginnt direkt an der Haustüre und geht nach links ab. Dort befinden sich der Vorratsraum, das Gäste-WC, der Aufenthaltsraum für unser Personal, die Wäschekammer und zum Schluss das Elternschlafzimmer. Es ist ein großes Zimmer. Größer als alle anderen im Haus. Die Ausstattung ist eher schlicht. Aber elegantschlicht, nicht langweilig-schlicht. Es steht ein wunderschönes Boxspringbett an einer länglichen Wand, umkreist von einer großen Fensterfront und dem Eingang zum großen Badezimmer.
Während meine Eltern ihrer jeweiligen Morgenroutine nachgehen, veranstalten meine Schwestern für gewöhnlich einen riesigen Zirkus. Emma und Luise sind Zwillinge und hätten eigentlich jede ein eigenes Zimmer haben können. Weil sie sich aber beim Einzug in dieses Haus für ein separates Spielzimmer entschieden haben, teilen sie sich ein Schlafzimmer und nutzen das andere zum Spielen. Die beiden lieben sich abgöttisch. Morgens streiten sie aber häufig und brüllen sich dann lautstark an. Das Spielzimmer der Beiden liegt genau neben meinem Zimmer, weswegen ich meistens schon früh morgens mithören darf, wem welches Spielzeug gehört, wer was zuerst hatte, und wer zuletzt mit wessen Buntstiften gemalt hat. Aufräumen ist ein gemeinsamer Feind meiner Schwestern daher ist das Spielzimmer immer schrecklich chaotisch. Nur zum monatlichen Familientag wird aufgeräumt. Und auch das nur unter Zwang. Die beiden sind neun Jahre alt und weil sie die jüngsten sind, die großen Schätze meiner Eltern. Beide werden behandelt wie Prinzessinnen und sehr viel weniger streng erzogen als der Rest von uns. Es gibt für sie praktisch keine Regeln und schon gar keine Konsequenzen.
Mein jüngerer Bruder Jonathan ist eher klein für sein Alter, hat dunkle Haare und ein rundliches Gesicht mit dunklen Augen. Er ist nicht nur sehr ruhig, sondern lebt auch ganz in seiner eigenen Welt. Wir sind nicht sicher, ob er überhaupt Freunde hat. Zumindest hat er nie welche erwähnt, geschweige denn zu uns mit nach Hause gebracht. Er hält nicht viel von Sport oder Elektronik, sondern beschäftigt sich hauptsächlich mit seinen Büchern, der Zeitung oder sonstiger Literatur. Obwohl er zum letzten Weihnachten von Mama und Papa ein Tablet geschenkt bekommen hat, zieht er das Lesen von echten Büchern vor. Angeblich, weil seine Finger dann nach Tinte und Papier riechen. Er ist ein komischer Kauz, aber ich kann ihn gut leiden. Und er mich auch. Ich glaube fast ich bin die Einzige, die er überhaupt mag. Die anderen aus unserer Familie sind aber ehrlicherweise auch nicht wirklich nett zu ihm. Immer wieder gerät er mit allen aneinander. Streitet sich mit Papa, beschwert sich über die verzogenen Zwillinge oder fühlt sich von Mama ungerecht behandelt. Immer wieder gibt es Stress und so richtig wohl fühlt er sich zu Hause nicht. Er hat mir mal gesagt, dass er glaubt, als mittleres Kind, das schlechteste Leben erwischt zu haben. Er ist zwar sehr still und eher in sich gekehrt, wenn er aber mal wütend wird, erkennt man ihn fast gar nicht wieder. Oft passiert das nicht, aber hin und wieder wächst ihm seine Wut einfach über den Kopf. Im Normalfall ist er aber ein absolut netter, ruhiger kleiner Bruder. Läge doch nur sein Zimmer neben meinem, wünsche ich mir oft. Dann könnte ich morgens wenigstens in Ruhe aufwachen.
Sein Zimmer liegt aber nicht auf meiner Etage, sondern genau ein Stockwerk über mir. Wir Mädchen haben unsere Schlafzimmer im ersten Obergeschoss und die Zimmer der Jungs liegen noch darüber. Die zweite Etage teilt Jonathan sich mit meinem großen Bruder Marcus. Die beiden Jungs könnten unterschiedlicher nicht sein.
Marcus ist ein aufgeschlossener, kontaktfreudiger, großer, gutaussehender blonder junger Mann. Kapitän der Fußballmannschaft, nebenbei Klassenbester, Mädchenschwarm, Klassensprecher und einer der coolsten Jungs der ganzen Schule. Marcus lebt ein unbeschwertes Leben. Das Lernen fällt ihm leicht und auch im Umgang mit Menschen hat er noch nie Probleme gehabt. Letzten Monat haben Mama und Papa ihn gezwungen seinen Rettungsschwimmerschein zu machen. Als er den Kurs das erste Mal besuchte, kannten sich die restlichen Teilnehmer schon sechs Monate und trotzdem kam er nach eineinhalb Stunden mit fünf neuen Freunden zurück nach Hause. Er hat einfach das besondere Talent sich mit jedem sofort unterhalten zu können und nie jemandem negativ aufzufallen. Als ich mal meine Pfadfindergruppe zum gemeinsamen Plätzchenbacken eingeladen habe, stand ich, dank Marcus, nach kurzer Zeit allein in der Küche, weil alle meine Freundinnen auf seinen Charme reingefallen sind. So ungefähr läuft das in seinem Leben immer und überall. Er versteht sich mit jedem und eckt nie irgendwo an. Als Erstgeborener ist er nicht nur der Größte und älteste, sondern auch der perfekte Sohn. Mama und Papa sind sehr stolz auf ihn und er darf tun und lassen was er will. Nie hat er Grenzen aufgezeigt bekommen allerdings war das bisher auch nicht nötig. So perfekt wie er durch sein Leben spaziert, gibt es einfach keinen Grund ihn zu maßregeln. Zwar führt er sich häufig sehr arrogant auf, aber das scheint Mama und Papa nicht aufzufallen oder es ist ihnen egal. Marcus macht keine Probleme und daher bekommt er zu Hause auch keine. So war das schon immer und das ändert sich sicherlich auch nicht mehr.
Zusätzlich zu meiner Familie befinden sich außerdem noch einige Angestellte im Haus. Nun ja, sie leben im Nebenhaus aber jeden Morgen, wenn ich aufstehe, sind bereits alle anwesend, um uns jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Weil meine Eltern beide sehr erfolgreiche Karrieren verfolgen und gutes Geld verdienen, haben sie sich schon früh dazu entschieden, verschiedene Aufgaben an Personal abzugeben. Seit ich denken kann, ist unser Butler Henry da. Er hasst es zwar als Butler vorgestellt zu werden, aber er kümmert sich um alle anfallenden Arbeiten im Haus, fährt uns zu unseren Terminen, serviert die Mahlzeiten, empfängt Gäste und ist nebenbei auch unser Hausmeister. Manchmal nennen wir ihn zum Spaß Sir Henry.
Neben ihm gibt es auch eine Hausdame. Miss Henrietta Peters. Ich kann sie nicht besonders gut leiden. sie schimpft ständig mit mir und regt sich über alles auf, was ich mache. sie kritisiert meine Tischmanieren, meine ständigen Ausflüge nach draußen, ist beleidigt, wenn meine Klamotten dreckig werden oder kaputt gehen und will einfach nicht wahrhaben, dass ich keine brave elegante junge Frau sein möchte. Ich bin wild und halte mich nicht gerne an Regeln. Vor allem nicht an ihre. Leider hat sie das Sagen, wenn Mama und Papa nicht da sind und leider sind beide oft unterwegs. In meinen Augen ist Miss Peters eine verbitterte alte Ziege, die ständig nur nach einer Gelegenheit sucht, mich zu bestrafen. Immer wenn ich sie verärgere, verbannt sie mich in mein Zimmer oder verbietet mir rauszugehen. Sie kümmert sich um das Essen, die Wäsche und die Verteilung der sonstigen Aufgaben, die nicht Henry übernimmt. Wir können sie alle nicht leiden, außer Mama. Ihr gefällt, dass Miss Peters so streng zu uns Kindern ist. Ich würde eher gemein statt streng sagen, aber Mama will das nicht hören.
Zum Glück gibt es noch eine weitere Haushälterin bei uns. Claudia Emmonts. Früher war sie unser Kindermädchen und weil wir alle eine so starke Bindung zu ihr aufgebaut haben, darf sie bei uns bleiben. Claudia unterstützt Miss Peters bei allen anfallenden Aufgaben und kümmert sich darüber hinaus intensiv um alle Kinder. Sie hilft bei den Hausaufgaben, schlichtet Streits, begleitet die Prinzessinnen zum Ballett oder sorgt dafür, dass die Jungs ihre Schulsachen gepackt haben. Oft wechseln die beiden sich mit ihren Diensten ab, sodass nur eine von ihnen im Haus ist. Miss Emmonts ist eine Stütze für alle von uns und die gute Seele des Personals. Jeder hat schon ihre Hilfe in Anspruch genommen und jeder hat zu ihr ein ganz eigenes Verhältnis. Marcus war früher in sie verliebt, Jonathan freut sich, dass er sich wenigstens mit ihr über Bücher unterhalten kann, die Zwillinge lieben es mit ihr Friseur oder einkaufen zu spielen und für mich ist sie schon fast eine Freundin. Ich vertraue Claudia und bin unendlich dankbar, dass ich sie fast jeden Tag um mich herumhaben kann. Anders als Miss Peters, akzeptiert sie meinen Charakter und behandelt mich eher wie eine Erwachsene als wie ein Kind. Ich kann mit ihr über alles reden und sie ist immer für mich da. Ich erinnere mich gar nicht an ein Leben ohne sie und möchte sie nie wieder verlieren. Seit ich klein bin, nennt sie mich kleines Mäuschen und ich sie großes Mäuschen. Natürlich nur wenn wir unter uns sind. Vor anderen spreche ich sie mit Miss Emmonts an.
Der letzte, der in diesem Zusammenhang zu erwähnen bleibt ist unser Gärtner José. Er hat wohl den umfangreichsten Job aller Angestellten, denn er ist für unseren Garten zuständig.
Unser Garten, der sich über eine riesige Fläche erstreckt, ist in mehrere Bereiche aufgeteilt. Direkt hinter unserem Wohnzimmer befindet sich eine große Steinterrasse mit einem kleinen Teich auf der linken Seite. Rechts von der Terrasse, führt ein ruckeliger Schotterpfad in den Schwarzweiß Garten. Dieser ist voll mit alten Statuen, Marmorsegmenten, Kies und Pflastersteinen. Das ist der Teil des Gartens, indem sich hauptsächlich die Erwachsenen aufhalten, wenn Besuch da ist. Diesen Teil des Gartens nutze ich persönlich nie. Für mich hat dieses edle farblose nichts mit einem schönen Garten zu tun. Folgt man dem Trampelpfad weiter kommt man in den Grüngarten. Diesen nenne ich so, weil hier Rasen liegt, auf dem wir Kinder spielen dürfen und weil um den Grüngarten herum lauter grüne Pflanzen, Sträucher und Bäume angelegt sind. Hinter dem Grüngarten erstreckt sich ein eine Allee mit Mamas Lieblingsbäumen die einen Weg umsäumt, der zu unserem Pavillon führt. Als wir das Haus gekauft haben, ließen wir einen großen Grill darin installieren, der von der Decke herabhängt. Wir hatten geplant dort regelmäßig zu Abend zu Essen aber der weite Weg dorthin schreckt ab. Der Pavillon wird nur äußerst selten genutzt. Manchmal spielen meine Schwestern dort Tea-Time oder Mutter Vater Kind. Darüber hinaus hat er aber keinen wirklichen Nutzen und ist daher meist abgeschlossen. Hinter dem Pavillon führt ein kleiner steiler Weg bergab um eine Kurve. Hier lang geht es zur Feuerstelle. Einem Ort, an dem ich mich sehr gerne aufhalte, wenn mir mal wieder alles zu viel wird, oder ich ein Feuer machen will. Ich bin zwar ein Mädchen, aber Feuer ist meine kleine Leidenschaft. Ich mag einfach den beruhigenden Klang des Knisterns, wenn die Scheite abbrennen und das kleine Knacken zwischendurch, wovon ich gar nicht weiß, wie es eigentlich entsteht. Und ich mag die Farben, die man in einem solchen Feuer entdeckt, wenn man nur lange und aufmerksam genug hinschaut.
Der Umfang des Gartens lässt bereits auf die Größe unseres Hauses schließen. Neben den bereits erwähnten Räumen im Erdgeschoss, befinden sich außerdem unsere Wohnräume. Kommt man zur Haustür rein und wendet sich nach rechts, steht man in unserem Esszimmer. Dort findet sich eine lange Tafel, an der wir noch zwei weitere Familien ernähren könnten. Zudem hängt ein riesiger Kronleuchter über dem Tisch, der mich immer ein wenig an ein Nudelsieb erinnert. Vom Esszimmer aus gelangt man ins Wohnzimmer, einem riesigen Raum mit Kamin, einem Fernseher so groß wie eine Kinoleinwand, einer überdimensionalen Couch und einem Bücherregal was die gesamte Fläche der Wand einnimmt. Ich habe zwar noch nie gesehen, dass jemand aus meiner Familie, außer Jonathan, ein Buch davon gelesen hat, aber niemand scheint die Notwendigkeit dieses gigantischen Staubfängers in Frage zu stellen.
Die Küche passt sich größentechnisch an den Rest des Hauses an und hat ebenfalls mehr Platz als je benötigt würde.
Zusätzlich zu den insgesamt fünf Schlafzimmern und dem Spielzimmer der Zwillinge befinden sich außerdem noch mehrere Badezimmer im Haus. Zu jedem Schlafzimmer gehört ein eigenes, mit Toilette, Waschbecken, Dusche und Badewanne. Das meiner Eltern hat zusätzlich einen Whirlpool, eine Wasserfalldusche, beheizte Handtuchhalter und den ganzen neumodischen Schnick-Schnack. Die Jungs haben ihre Schlafzimmer halbiert und dadurch beide noch einen Extra-Raum geschaffen, den sie komplett verschieden nutzen.
Normalerweise stehen meine Geschwister alle vor mir auf und machen sich lautstark bemerkbar. Die Zwillinge streiten, Marcus hört laute Musik und Jonathan steckt eigentlich immer seinen Kopf in mein Zimmer und flüstert mir zu
»Aufstehen Schwesterherz, du kommst zu spät«. Dieses kleine Ritual ist so ungefähr die höchste Form von Zuneigung die Jonathan mir schenkt und daher warte ich sogar manchmal mit dem Aufstehen auf diesen kleinen Flüster-Besuch, auch wenn ich schon vorher wach bin. Sowieso stehe ich meistens nicht sofort auf, sondern liege gerne noch eine Weile mit geschlossenen Augen im Bett.
Irgendwas stimmt an diesem Morgen nicht. So viel steht fest. Ich rieche das Rosenwasser, das Miss Peters immer wieder in meine Vorhänge sprüht. sie denkt dadurch schläft man besser. Etwas Ungewohntes mischt sich allerdings mit diesem Geruch. Es riecht fast wie beim Arzt oder im Krankenhaus. Die fehlende Geräuschkulisse, das Ausbleiben der morgendlichen Flüsterroutine, sowie der veränderte Geruch bewegen mich schließlich doch dazu meine Augen zu öffnen. Ich glaube gar nicht, was ich dann sehe.
Kapitel 2
DOKTOR
Als ich meine Augen öffne, fühle ich mich wie erblindet. Alles ist so weiß und meine Augen brennen. Ich schließe sie sofort wieder und stelle einen blinden Fleck fest. Ich wurde geblendet aber von was? Als ich die Augen erneut, diesmal aber vorsichtiger öffne, schaue ich direkt in eine Lampe, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie ist genau auf mein Gesicht gerichtet und verboten hell. Die Stuckleisten, die ich an der Decke ausmachen kann, gehören definitiv nicht zu meinem Zimmer. Ich versuche mich an das Licht zu gewöhnen, um mich zu orientieren. Ich stelle fest, dass ich mich im Schlafzimmer meiner Eltern befinde. ‚Was mache ich denn hier?‘ frage ich mich. Wir dürfen das Elternschlafzimmer eigentlich gar nicht betreten. Ich versuche mich aufzurichten, kann mich aber keinen Zentimeter bewegen. Außer über meinen Kopf scheine ich keinerlei Kontrolle über meinen eigenen Körper zu haben. Als ich an mir herabsehe, bemerke ich ein Nachthemd, was eigentlich meiner Mutter gehört. Auch die Bettdecke ist nicht von mir. Ich sehe links neben dem Bett, mehrere, mir unbekannte Maschinen und Apparaturen stehen, an die ich zu meinem Entsetzen über Kabel und Schläuche angeschlossen bin. Ich werde nervös. Eines der Geräte scheint meinen Herzschlag zu messen und piept auf einmal wild los. Am Fußende des Bettes kann ich im Augenwinkel eine ruckartige Bewegung wahrnehmen. Es ist Miss Peters, die plötzlich aufsteht und zu meinem Kopf eilt.
»Oh Lynn, du bist aufgewacht. Bitte bleib ruhig. Erschreck dich nicht. Du hast lange geschlafen und wir wussten nicht, ob du es schaffst, warte bleib ganz ruhig ich hole den Doktor, nicht bewegen.« Mit diesen Worten verlässt sie eilig das Zimmer. Als Sie nach ungefähr fünf Minuten wieder ins Zimmer kommt, ist Miss Peters in Begleitung eines großen schlaksigen weißhaarigen Mannes, der sich als Doktor Memminger vorstellt. Er erklärt mir, dass ich gerade aus einem langen künstlichen Koma erwacht bin und dass durch ein Trauma mein Erinnerungsvermögen getrübt sein kann. Er kündigt eine kurze Untersuchung an und murmelt Unverständliches vor sich hin. Ich will ihn fragen, was das für ein Trauma sein soll, wie lange ich geschlafen habe und wo der Rest meiner Familie ist, aber es kommt nur ein Krächzen aus meiner Kehle und ich erschrecke mich vor mir selbst. Ungläubig schaue ich den Doktor an und mache ein fragendes Gesicht. Er ist gerade dabei meinen Blutdruck zu messen und meine Lungen abzuhören, als sich unsere Blicke treffen. Er nimmt das Stethoskop aus dem Ohr und verkündet:
»Achso ja, Sie haben sehr lange im künstlichen Koma gelegen und mussten beatmet werden. Es ist völlig normal, dass Sie noch nicht sprechen können. Ihr Hals ist durch die Schläuche noch gereizt. Wir haben Sie erst gestern aus dem Koma geholt. Bitte versuchen Sie sich zu schonen und vermeiden Sie weitere Sprech-Versuche.« Er dreht sich zu Miss Peters um und erweitert die Predigt nun von mir abgewandt um:
»Geben Sie ihr jeden Tag mehrere Tassen Tee zu trinken. Mit einem Schuss Honig sollte sich die Schwellung im Hals schneller zurückbilden. In ungefähr drei Wochen sollte sie dann langsam wieder sprechen können.« Hat er gerade drei Wochen gesagt? Was zur Hölle ist denn hier los? Was ist mit mir passiert? Und wo sind meine Eltern? Er setzt bereits zum Gehen an, als er sich noch mal auf dem Absatz umdreht.
»Miss Lynn, ich muss Sie darauf hinweisen, dass das Trauma, was Sie erlitten haben, dazu führen kann, dass Sie die Erinnerung an das Geschehene verdrängen. Es ist nicht auszuschließen, dass ihre Erinnerungen zurückkommen, allerdings mache ich Ihnen da erstmal keine Hoffnung. Sollten Sie sich erinnern können, machen Sie sich bitte bemerkbar. Ich werde dann so schnell wie möglich herkommen.« Zu Miss Peters gewandt fügt er hinzu:
»Ich bitte Sie sich sehr genau an die Absprache, die wir gestern getroffen haben, zu halten. Erzählen Sie bitte auch den anderen Menschen, die mit Lynn in Kontakt kommen, was wir vereinbart haben. Ein abweichendes Verhalten könnte schwerwiegende Folgen für die Genesung der kleinen Lynn haben. Bitte kommen Sie kurz mit vor die Tür damit wir die weitere Medikation und die nächsten Schritte besprechen können.« Miss Peters verlässt gemeinsam mit dem Doktor den Raum und verschließt von außen die Tür, was es mir unmöglich macht das Gespräch zu belauschen. Ticken die alle noch richtig? Ich bin 17 Jahre alt und schon lange nicht mehr die ‚kleine Lynn‘! Wieso sagt mir denn keiner was hier los ist? Warum kann ich mich nicht bewegen, nicht sprechen und was haben denn die beiden gestern besprochen über meine Genesung, was ich selbst nicht wissen darf? Warum behandelt mich mein Papa nicht selbst sondern lässt diesen, für mich fremden, Doktor übernehmen? Wofür ist mein Vater denn Arzt, wenn er seine Kinder dann nicht selbst behandelt? Das ist nicht fair. Und wo ist eigentlich meine Mama. Warum lässt Sie mich mit der doofen Miss Peters allein, wenn es doch so schlecht um mich steht?
Ich weiß nicht genau, wann ich eingeschlafen bin, aber als ich wieder wach werde ist es schon dunkel. Nur die grelle Lampe über mir brennt weiterhin und leuchtet mitten in mein Gesicht. Als sich meine Augen beruhigt haben und ich wieder sehen kann, macht mein Herz einen Satz. Ich erblicke Claudia an meinem Fußende und freue mich sehr ein geliebtes Gesicht zu sehen. Diese Freude hält leider nicht lange an, weil Claudias Augen sich umgehend mit Tränen füllen, als sie merkt, dass ich wach bin. Sie eilt neben das Bett und streichelt mir über mein Gesicht. Ich kann Ihre warme Hand auf meiner Stirn und dann auf meiner Wange spüren und freue mich so sehr darüber, dass ich zumindest im Gesicht noch Gefühl verspüre, dass mir eine Träne aus dem Auge läuft. Sie wischt sich und danach mir die Tränen aus dem Gesicht. Das Taschentuch, was sie dazu benutzt ist komplett nass. Scheinbar hat sie schon geweint, bevor ich wach geworden bin.
Als sie sich etwas gefangen hat, eilt sie zur Tür, streckt den Kopf auf den Flur, schaut nach links und nach rechts und schließt danach behutsam die Zimmertür. Als sie wieder zu mir ans Bett kommt, zieht sie den Stuhl, mit dem Sie vorher am Fußende gesessen hat neben meinen Kopf und setzt sich. Sie schaut mir tief in die Augen und fragt:
»Kannst du dich erinnern, was passiert ist?« Ich versuche zu antworten und fühle mich als hätte ich ein Messer verschluckt. Mist ich kann nicht sprechen, das habe ich schon wieder vergessen. Ich schüttle also langsam den Kopf, ohne zu wissen, ob das funktioniert. Immerhin kann ich den Rest meines Körpers nicht bewegen. Kopfschütteln scheint aber zu gehen, denn Claudia sieht mich mitleidig an. Sie setzt an etwas zu sagen als plötzlich die Tür auffliegt und Miss Peters ins Zimmer stürmt.
»Miss Emmonts. Habe ich mich zum Schließen der Türe dieses Krankenzimmers nicht klar genug ausgedrückt? So lange Miss Lynn sich nicht besser fühlt soll die Tür Tag und Nacht geöffnet bleiben.« Claudia entschuldigt sich, tritt einen Schritt zurück und senkt den Kopf. Miss Peters hat zwischenzeitlich den Stuhl wieder ans Fußende verfrachtet und darauf Platz genommen.
»Danke Miss Emmonts das war‘s für Erste. Ich brauche Ihre Hilfe nicht mehr. Gehen Sie schlafen. Wir sehen uns morgen früh wieder.« Claudia ist sichtlich nicht einverstanden und erwidert:
»Ich habe doch heute Nachtdienst. Ich verspreche ich werde die Tür nicht mehr schließen und nur brav am Fußende sitzen während…«
»Schluss jetzt«, unterbricht Miss Peters bestimmend.
»Sie werden jetzt gehen. Wir sehen uns morgen früh, wie gesagt.« Der weitere Abend hält keine Überraschungen bereit. Die schlechtgelaunte Miss Peters bewacht mich und murmelt ab und zu grimmig vor sich hin. Hin und wieder schaut sie prüfend zu mir herüber, ansonsten richtet sie ihren Blick aber zu Boden. Ich weiß nicht, was ich ansonsten tun soll, also schließe ich meine Augen und versinke schnell wieder in einen tiefen Schlaf.
Kapitel 3
TEE
Beim nächsten Aufwachen verfalle ich zuerst wieder in meinen Morgenmuffel-Modus, was heute gar nicht so schlecht ist, weil ich mich dann zumindest daran erinnern kann, nicht direkt in die grelle Lampe zu schauen. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Was ich weiß ist, dass ich ein Trauma erlitten habe, weswegen ich künstlich am Leben gehalten werden musste. Seit ich aufgewacht bin, habe ich niemanden außer Miss Peters, Claudia und den mir vorher unbekannten Doktor Memminger zu Gesicht bekommen. Von meiner Familie hat mich bisher niemand besucht. Ich kann meinen Kopf bewegen, den Rest meines Körpers aber nicht. Sprechen funktioniert auch nicht. Was muss nur mit mir passiert sein? Ich nehme mir vor ab sofort nach jedem Aufwachen Fragen zu sammeln, die ich stellen möchte, sobald das wieder geht. Bisher habe ich nur drei Fragen:
Warum kann ich mich nicht bewegen?
Wo ist meine Familie?
Was ist passiert?
Langsam öffne ich meine Augen und bemerke, dass jemand die Position der Lampe verändert hat. Zum Glück. Mein erster Blick gilt dem Stuhl am Fußende meines Bettes. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass Miss Peters Ihren Posten eisern verteidigt, und dort übernachtet hat. Noch scheint sie nicht bemerkt zu haben, dass ich wach bin. Die Zeit, in der sie noch schläft, nutze ich, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich liege im Zimmer meiner Eltern, allerdings nicht in deren Bett. Das Bett, in dem ich liege, wurde an die gegenüberliegende Wand gestellt und ist, soweit ich das beurteilen kann, ein Krankenhausbett. Das Bett meiner Eltern ist säuberlich gerichtet und es sieht nicht so aus, als habe letzte Nacht jemand darin geschlafen. Miss Peters wäre wohl auch nicht über Nacht geblieben, wenn meine Eltern hier gewesen wären. Ich kann keine weiteren Auffälligkeiten im Zimmer feststellen, weil ich es unter normalen Umständen nie betrete und daher nicht weiß, wie es hier sonst aussieht. Zwar war ich als Kind mal heimlich dort hineingeschlichen, um nach Weihnachtsgeschenken zu suchen, allerdings wurde dieser Ausflug mit zweiwöchigem Hausarrest beendet. Danach habe ich mich nie wieder getraut dort herumzuschleichen. Das Zimmer an sich ist eher kahl und ordentlich. Es stehen mehrere Pflanzen vor der Fensterfront aber viel mehr gibt es nicht zu sehen. Vermutlich sind alle Gegenstände, die nicht notwendig sind, aus Sterilitätsgründen entfernt worden oder aber der Raum war schon immer so leer. Außerdem sind alle Vorhänge zugezogen, daher kann ich nicht aus dem Fenster sehen. Rechts von meinem Bett ist ein kleiner Nachttisch aufgebaut, worauf einige Medikamente stehen. Auch die von mir verhasste Lampe ist dort festgeschraubt. Die Menge der Medikamente erschreckt mich. Das alles wird durch die Schläuche in mich reingepumpt? Ob das gesund ist? Leider kann ich die Bezeichnungen der Medikamente nicht lesen. Wie mir erst jetzt auffällt ist scheinbar auch meine Sicht getrübt. Es reicht, um bekannte Gesichter zu erkennen aber Lesen lässt sich durch diesen weißen Schleier absolut nichts. Entweder liegt das an der langen Zeit, die ich geschlafen habe oder eines der Medikamente vernebelt mir die Sicht. Im nächsten Moment nehme ich eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Miss Peters scheint aufzuwachen. Unsere Blicke treffen sich und sie ist schnell hellwach. Direkt springt sie auf und eilt zu mir.
»Hallo Lynn, schön dass du aufgewacht bist. Geht es dir gut?« Super Frage! Vor allem, weil ich mich weder bewegen noch sprechen kann. Was denkt sie denn, was oder vor allem wie ich darauf antworten soll? Ich gucke sie wegen der maßlosen Dummheit Ihrer Frage reglos an und warte. Sie stört sich nicht an meinem Blick, wirft einen Blick auf die Uhr und plappert weiter:
»es wird nicht mehr lange dauern, dann müsste auch Dr. Memminger hier sein. Er wird dir Blut abnehmen, die Werte überprüfen und dir dann mehr über die Behandlung erzählen. Bis dahin werde ich eine Kanne Tee kochen, wie er empfohlen hat. Kommst du so lange allein klar?« Schon wieder eine Frage auf die ich ihr nicht antworten kann. Wie sie auch weiß. Schließlich hat sie doch gehört, was der Doktor gestern zu meinem Sprachvermögen sagte. Ich ärgere mich über Miss Peters. Sie macht mir meine Situation mit ihren unbedachten Aussagen nicht leichter. Abgesehen davon, dass ich mich nicht erinnern kann, was mir passiert ist, ist es auch ein beklemmendes Gefühl sich nicht bewegen und nicht sprechen zu können. Ich nehme mir vor Papa davon zu erzählen, sobald ich ihn wiedersehe. Er soll sie rausschmeißen. Als sie einige Minuten später zurück ins Zimmer kommt, hält sie ein Tablett mit einer großen Kanne Tee, Honig und einer Tasse in ihrer Hand. Sie stellt das Tablett auf meinen Beinen ab, um den Nachttisch freizuräumen. Mir wird klar, dass ich nur sehe, dass auf meinen Beinen ein Tablett steht. Fühlen kann ich das aber nicht. Das macht mir große Angst und meine Augen füllen sich mit Tränen. Miss Peters, wirkt aufgeregt und ist gerade damit beschäftigt, die einzelnen Medikamentendöschen in die obere Schublade des Nachttisches zu legen. Danach stellt sie das Tablett dort ab, füllt die Tasse mit Tee und ergänzt diesen mit einem Schuss Honig. Erst als sie damit fertig ist, schaut sie mich wieder an und wirkt erschrocken, weil eine Träne meine Wange runterläuft. Schockiert fragt sie:
»Was ist denn los? Warum weinst du Lynn? Hast du etwas auf dem Herzen?« Merkt diese Frau eigentlich, wie dumm sie sich verhält? ‚Ich kann verdammt noch mal nicht sprechen! Wie soll ich diese ganzen Fragen beantworten?‘ Würde ich gerne laut schreien. Sie zuckt mit den Schultern als sei sie auch noch überrascht keine Antwort von mir zu bekommen und hält mir die Tasse Tee hin. Direkt die nächste dämliche Aktion. Ich kann mich nicht bewegen, wie soll ich den Tee denn festhalten, geschweige denn allein trinken?
»Ach wie dumm von mir«, stellt Miss Peters fest,
»Du kannst ja gar nicht allein trinken. Moment ich werde dir kurz einen Strohhalm holen.«
Als sie wiederkommt, hat sie bereits Doktor Memminger im Schlepptau und lächelt ihn dümmlich an, während beide gemeinsam das Zimmer betreten. Er grüßt mich mit einem Nicken, stellt seine Tasche auf dem Stuhl ab und fängt an diverse Utensilien vor sich auszubreiten. Endlich fängt er an mit mir zu sprechen:
»Miss Lynn. Ich werde mit einigen leichten Fragen beginnen. Ich bitte Sie meine Fragen mit einem leichten Nicken oder Kopfschütteln zu beantworten. Könnten Sie zum Test nun einmal mit dem Kopf nicken?«
Ich nicke.
»Sehr schön, können Sie nun einmal den Kopf schütteln?« Ich schüttle den Kopf. Etwas zu heftig wie mir direkt bewusst wird. Ein ziehender Schmerz macht sich in meinem Kopf breit.
»nicht so ruckartige Bewegungen Miss Lynn, Ihr Körper hat sehr lange in der gleichen Position gelegen. Sie müssen sich langsam an Bewegungen rantasten. Können Sie sich erinnern was passiert ist?« Ich schüttele den Kopf.
»Haben Sie Schmerzen?« Ich nicke.
»Starke Schmerzen?« Erneut nicke ich.
»Kopfschmerzen?« Ich nicke bedeutsam.
»Hm das habe ich mir fast gedacht« murmelt er. »Auch Schmerzen im Rest des Körpers?« Ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll also halte ich meinen Kopf still.
»Lynn, wo haben Sie noch Schmerzen?« Ich bewege mich weiterhin nicht.
»Lynn, hören Sie mich?«
Ich nicke. Er runzelt die Stirn und versucht herauszufinden, was er mit meiner ausbleibenden Antwort anfangen soll. Er krempelt seine Ärmel hoch und legt seine Zeigefinger auf meinen Hals.
»Spüren Sie das?« Fragt er mich. Ich nicke. Seine Finger wandern zu meinem rechten Arm.
»Spüren Sie das?« Ich schüttle langsam den Kopf. Ich bin nicht sicher, ob ich seinen Gesichtsausdruck richtig deute, aber das scheint ihn zu überraschen. Seine Finger wandern zu meinem anderen Arm, zu meinem Bauch, meinem rechten und danach meinem linken Bein. Immer wiederholt er die Frage, ob ich die Berührung spüren kann und jede wird von mir mit sanftem Kopfschütteln beantwortet. Wieder murmelt er unverständliches Zeug vor sich hin. Mein Blick wandert zu Miss Peters, die am anderen Ende des Bettes steht und weiterhin einen nervösen Eindruck auf mich macht. Sie scheint die Untersuchung mit etwas mehr Interesse zu verfolgen als ich für notwendig halte. Die Untersuchung ist es nicht, was sie beobachtet. Eher den Doktor selbst. Es scheint fast so, als sei sie in den Doktor verliebt. Ob das möglich ist? Diese Frau und wahre Gefühle für ein echtes Lebewesen? Das wäre ja mal was. Doktor Memminger nimmt mir Blut ab, misst meinen Puls, testet meine Pupillenreaktion und packt anschließend seine Sachen zurück in die Tasche. Dann beginnt er nun endlich mir einige Informationen zu geben.
»Miss Lynn. Das Trauma, was ich gestern erwähnt habe, muss heftig für Sie gewesen sein. Ihren körperlichen Verletzungen zu Folge ist die psychische Auswirkung nicht zu verachten. Was genau passiert ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es nicht tun. Patienten mit ihrem Verlauf zeigen Erinnerungslücken auf, die Sie selbst wieder schließen müssen. Ihr Gehirn muss sich entweder eigenständig erinnern oder es gibt einen guten Grund das Erlebte zu verdrängen. Das wird sich mit der Zeit zeigen. Ihre Therapie verläuft nach Plan und bisher sprechen Sie gut auf meine Medikamente an. Bis auf die Lungenentzündung im Krankenhaus, haben Sie das künstliche Koma gut überstanden. Wie gestern bereits erwähnt werden wir abwarten müssen, bis sich ihr Hals erholt hat. Erst wenn diese Schwellungen deutlich zurück gehen können wir mit der Sprachtherapie anfangen, aber das wird noch dauern. Die Taubheit im Rest Ihres Körpers ist hoffentlich nur eine Nebenwirkung der Medikamente und sollte im besten Fall demnächst verschwinden.« An Miss Peters gewandt fügt er hinzu:
»Bitte versuchen Sie täglich morgens und abends in Erfahrung zu bringen, ob die Taubheit zurückgeht. Wenn bis übermorgen keine Besserung eintritt, rufen Sie mich wieder an. Ansonsten wird die Medikamentendosis nun wie besprochen reduziert und spätestens alle zwei Wochen neu festgelegt. Alle anderen Regeln gelten weiterhin wie besprochen.« Bevor er sich zum Gehen abwendet, sagt er noch zu mir:
»Sicherlich haben Sie viele Fragen und ich verspreche, sobald Ihre Stimme zurück ist, werde ich mein Bestes geben sie zu beantworten. Vorher bitte ich Sie, mir Ihr Vertrauen zu schenken und auf meine Anweisungen zu hören, dann bekommen wir Sie schon wieder hin.« Miss Peters gluckst und lächelt etwas zu breit für meinen Geschmack. Der Doktor hat immerhin nur vermutet mich wieder hinzukriegen, nach einer Garantie hörte sich das ganz und gar nicht an.
»Ich begleite Sie zur Tür, Herr Doktor« flötet Miss Peters mit einem fröhlichen Singsang in der Stimme, den ich so von ihr nicht kenne. Beim Rausgehen ergänzt der Doktor leiser und nur an Miss Peters gewandt:
»Die Verbandswechsel nehmen Sie am besten in den nächsten Tagen nachts vor, wenn Miss Lynn schläft. Der ideale Zeitpunkt ist ca. 30 Minuten nach der Medikamentengabe. Zu diesem Zeitpunkt dürfte Sie nicht mal wach werden, wenn…«
sie gehen weiter in den Flur und den Rest kann ich nicht mehr verstehen. Meine was? Verbände? Habe ich mir auch noch was gebrochen? Ich schaue an mir herunter und stelle erst jetzt fest, dass ich keinen Teil meines Körpers sehen kann. Das Nachthemd ist langärmlig und meine Hände sind unter die Decke geschoben. Die Decke ist lang aber einer meiner Füße lugt unten heraus. Ich versuche zu erkennen, was das für eine komische Socke ist, die ich da trage. Aber eine Socke in dieser Farbe hätte ich mir nie gekauft. Ich hasse beige! Ob das der Verband ist, der mir gewechselt werden soll? Und warum überhaupt heimlich, wenn ich schlafe? Was haben die beiden nur für Geheimnisse? Und wann kommt Mama endlich zu mir?
KAPITEL 4
REALITÄT
Ich werde von einer vertrauten Stimme gerufen. Inzwischen ist dieser Traum wirklich total absurd. Als würden die fliegenden Cheeseburger, der grün brennende Salzstreuer und das Gurkeneis noch nicht reichen. Jetzt kommt auch noch Claudia vor? Manchmal wundere ich mich, was in meinen Träumen so stattfindet. Ich finde das sehr interessant. Während meiner Pfadfinderzeit habe ich festgestellt, dass ich unter freiem Himmel sehr viel besser schlafe als in geschlossenen Räumen. Mir ist schon häufiger aufgefallen, dass ich sehr wilde Träume habe, wenn ich mich nicht wohl fühle. Ich war mal…
»Lynn« – ich schlage erschrocken meine Augen auf. Claudia steht vor mir. Das gehört also gar nicht zu meinem Traum, sondern ist real. Sie schaut sich hektisch um. Ein Geräusch ist aus dem Zimmer nebenan zu hören. Sie schreckt auf und schaut zur Tür, dreht sich schnell um, läuft ins Badezimmer und schließt hinter sich die Tür. Wenige Sekunden, nachdem Claudia sich im Badezimmer versteckt hat, stürmt Miss Peters ins Zimmer und sieht sich nach allen Seiten um.
»Ich habe doch hier ein Geräusch gehört. Lynn, geht es dir gut?« Ich nicke. Sie kommt einen Schritt näher ans Bett und sieht sich erneut um. Wir schauen uns in die Augen und ich kann nicht deuten, was sie denkt. Sie fühlt kurz an meiner Stirn, vergewissert sich, dass alle Geräte funktionieren, und verlässt den Raum wieder. Beim Weggehen raunt sie, mehr zu sich selbst als zu mir:
»Ich bin ja sowieso die Einzige, die sich in diesem Haus überhaupt um etwas kümmert!«
Ich drehe meinen Kopf zur Badezimmertür. Langsam und leise geht sie auf und Claudia tritt wieder ins Zimmer. Sie kommt ganz nah an mich heran und flüstert mir ins Ohr.
»Lynn mein Schatz. Du bist wirklich ein starkes Mädchen. Schön, dass du wieder da bist. Ich hatte solche Angst um dich aber tief in mir drin wusste ich, dass du es schaffen wirst. Der schwierigste Teil ist geschafft. Nun musst du allein rausfinden, was passiert ist. Es ist ganz wichtig, dass wir dir dabei nicht helfen, wurde mir gesagt. Niemand von uns darf mit dir reden oder dir irgendetwas bringen. Keiner von uns darf in deiner Gegenwart sprechen. Eigentlich ist sogar der gesamte Flur gesperrt. Es wird niemand mit dir in Kontakt treten können, weil unser Hausdrachen ansonsten Feuer spuckt.« Ich muss kichern. Das tut zwar auch im Hals weh, ist aber im Vergleich ein besserer Schmerz als bei meinem letzten Sprechversuch.
»Naja egal, hör zu. Du musst wissen wem du vertrauen kannst, Süße. Ich gehöre dazu aber wir müssen herausfinden, wer noch auf unserer Seite ist.« Sie lächelt mich herzlich an und ich spüre, dass sie wirklich erleichtert ist, dass ich wieder wach bin. Claudia ist mutig. Mit Miss Peters, unserem Drachen, ist nicht zu spaßen. Besser man hält sich an ihre Regeln, ansonsten kann das ein böses Nachspiel haben. Offensichtlich riskiert sie das, um bei mir zu sein. Wieder kommt sie nah an mein Ohr und spricht weiter.
»Ich bin hier, um zu verhindern, dass sie dir das Schlafmittel injiziert. Naja, eigentlich hat sie das vorhin schon getan, aber ich tausche das Mittel jetzt aus, sodass du wach bleiben, und später weiter zuhören kannst, wenn ich Nachtdienst habe. Allerdings ist da eine Sache, die du mir versprechen musst.« Sie sieht mich durchdringend an und spricht erst weiter, als ich nicke.
»Du musst um jeden Preis so tun als würdest du tief und fest schlafen! Egal was passiert! Ganz egal, was passiert. So lange bis ich zu dir komme. Bevor du mich nicht unser Codewort sagen hörst, wirst du dich schlafend stellen. Du musst es versprechen Lynn! Hoch und heilig!« Ich denke kurz darüber nach, was sie mit ‚egal was passiert‘ meinen könnte. Was soll schon passieren? Ich kann ja schlecht aufstehen und weglaufen oder Miss Peters von Ihrem Besuch erzählen. Zu besonders viel bin ich momentan sowieso nicht in der Lage. Ich schaue ihr tief und entschlossen in die Augen und nicke bedeutungsschwer.
Wir haben unser Codewort schon vor sehr langer Zeit entwickelt. Es hat mehrere verschiedene Anlässe dafür gegeben. Nur wir beide wissen, wie der Code zu benutzen ist und wann er genutzt werden soll. Claudia und ich sind gute Freundinnen. Glaube ich. Eigentlich weiß ich das gar nicht so genau. Immerhin arbeitet sie für uns. Aber ich verstehe mich mit fast niemandem so gut wie mit ihr. Sie ist gefühlt schon immer Teil meines Lebens. Zwar stimmt das nicht ganz, weil sie erst für uns zu arbeiten anfing als ich schon drei Jahre alt war, aber an die Zeit davor kann ich mich sowieso nicht erinnern. Wir können jedenfalls über alles reden. Das kann ich leider nicht von vielen anderen behaupten. Marcus ist mir viel zu arrogant und abgehoben. Die Mädels sind viel zu kindisch. Mama und Papa hören eh nie zu, oder sind nicht da. Wenn sie mal zu Hause sind, dann nur, um sich für das nächste Geschäftsessen umzuziehen oder den Koffer für die nächste Reise zu packen. Mit Jonathan verbringe ich manchmal etwas Zeit. Mit ihm kann ich zumindest über die Zwillinge, Marcus und deren Sonderbehandlung herziehen, allerdings fühle ich mich irgendwie auch immer etwas unwohl in seiner Gegenwart. Ohne, dass ich beschreiben kann, warum.
Claudia hat mittlerweile an irgendwelchen Schläuchen rumgefummelt und Knöpfe an den Apparaten verstellt. Es sieht aus, als wisse sie genau, was sie da tut. Ich hätte nicht erwartet, dass sie sich so gut auskennt. Zugegebenermaßen weiß ich aber auch gar nicht, was sie vor der Arbeit bei uns beruflich gemacht hat. Vielleicht war sie Krankenschwester oder hat zumindest sonstige medizinische Kenntnisse. Ich nehme mir vor sie zu fragen, sobald ich wieder kann. Als sie an einem der Geräte einen kleinen schwarzen Schalter umlegt, piept das Gerät laut los. Sie erschreckt sichtlich und macht einen kleinen Satz zurück. Sofort rennt sie wieder ins Badezimmer und schließt behutsam die Tür hinter sich. Keine Sekunde zu früh.
KAPITEL 5
ERSTE WAHRE WORTE
Wie erwartet stürmt Miss Peters ins Zimmer und auf mich zu. Sie schaut mich böse an und fragt: