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Heuberg im Schwarzwald, das klingt nach Langeweile. Und ausgerechnet hier soll Emily ihre Sommerferien verbringen. Noch dazu bei einer Verwandten, die sie gar nicht kennt. Kein Wunder, dass sie zunächst nicht weiß, was sie davon halten soll. Doch dann ist Heuberg ganz anders als erwartet. Viel aufregender und auch ein bisschen unheimlich. Denn nicht alles, was hier passiert, scheint mit rechten Dingen zuzugehen. Birgt Heuberg vielleicht ein großes Geheimnis? Als Emily versucht, das Rätsel zu lösen, erlebt sie eine Überraschung. Und bald ist nichts mehr so, wie es vorher war.
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Lina Emily, Cara Lynn und die Schüler:innen der Freien Aktiven Schule Syke
Prolog
Ankunft in Heuberg
Die Gasse der Strohdächer
Seltsame Entdeckungen
Privatvorstellung
Fragen über Fragen
Schimmerkraut
Die fliegende Getränkedose
Tiertour
Wasserspiele und Kartoffeln
Eine Insel im Fluss der Zeit
Abrihet
Ruine Schwarzenfels
Zigni mit roter Überraschung
Emily tritt aus sich heraus
Dunkle Gänge
Ein Schlamassel kommt selten allein
Das alte Kreuz
Versammlung in der Nacht
Emily räumt in Heuberg auf
Karls altes Mädchen
„Schatz?“ Die Stimme der Mutter kam aus dem Keller. „Kannst Du Dich um das Baby kümmern? Es schreit.“
Der Vater ließ die Zeitung sinken. „Ich höre, dass es schreit. Ich weiß nur nicht, warum. Es hatte sein Fläschchen, die Windel ist trocken und ich habe ihm vorgesungen. Es schreit trotzdem.“
„Die Kleine wird müde sein“, kam es aus den Tiefen des Hauses. „Hast Du es mit dem Schnuller versucht? Mit der Rassel? Und ihrem Bärchen?“
Der Schnuller? Ein guter Hinweis. Er hatte ihn abgespült, soweit konnte er sich erinnern, aber wo er ihn dann gelassen hatte, war ihm entfallen. Der Vater legte die Zeitung beiseite und stemmte sich aus dem Sessel.
„Vielleicht ist es auch einfacher, wenn Du ihr Schlaflieder vorsingst, und keinen Rock’n’roll“, rief ihm die Mutter noch hinterher.
„Vielleicht ist es auch einfacher, wenn Du aus dem Keller kommst und Dich selbst kümmerst“, gab er missmutig zurück.
„Ich komme ja gleich. Aber wenn ich jetzt nicht fertig werde, muss ich nachher wieder von vorne anfangen.“
Im Untergeschoss klirrte es. Dann wurde die Treppe durch einen Lichtblitz erhellt und eine Verpuffung ließ das Haus erzittern.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Vater besorgt.
„Alles super“, kam es aus dem Keller. „Komm nicht runter.“
Gleich darauf hörte man sie die Treppe hinaufpoltern. Sie hatte Ruß im Gesicht, ihre roten Haare qualmten, und etwas Glibberiges klebte an ihrer Bluse.
„Hat nicht geklappt, was?“ fragte er, und versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken.
„Nein, hat es nicht“, fauchte sie zurück. „Das kommt davon, wenn man immer abgelenkt wird.“
„Ach, jetzt bin ich also wieder schuld“. Sein Grinsen verflog so schnell, wie es gekommen war.
„Nein“, gab sie zu, „aber es scheint unmöglich zu sein, Dich mal für zehn Minuten mit dem Baby allein zu lassen.“ Sie funkelte ihn wütend an.
Er wollte gerade etwas Passendes entgegnen, als etwas Seltsames geschah. Ihre Tochter, die nebenan im Kinderbettchen lag, hörte auf zu schreien. Stattdessen begann sie, fröhlich vor sich hin zu glucksen. Das war so ungewöhnlich, dass ihre Eltern sofort ihren Streit vergaßen und sich mit großen Augen ansahen.
„Was ist denn jetzt passiert?“, fragte sie. „Warum schreit sie nicht mehr?“
„Woher soll ich das wissen?“ Der Vater guckte verdutzt. „Ist das nicht gut?“
„Klar ist das gut. Aber überleg mal. Wenn wir endlich den Trick herausbekommen, wie man sie zum Lachen bringt, wird in Zukunft vieles einfacher.“
„Lass uns nachsehen.“
Gleichzeitig liefen sie los, drängelten sich nebeneinander durch die Tür und blieben überrascht stehen. Mit offenen Mündern starrten sie auf das Kinderbett. Emily strampelte fröhlich mit den Beinen und hatte eines ihrer Ärmchen senkrecht in die Luft gestreckt. Über ihrer Hand schwebten ein Schnuller, eine Rassel und ein Bärchen im Kreis herum. Sie quietschte vergnügt.
„Was..., wie...?“, stotterte der Vater. Er stolperte einen unbeholfenen Schritt vorwärts, hielt dann aber wieder inne. Wie machte sie das?
Die Mutter erholte sich schneller von ihrer Überraschung. Sie trat an das Bettchen, pflückte den Schnuller aus der Luft und schob ihn ihrer Tochter in den Mund. Die fing glücklich an zu nuckeln. Wenige Sekunden später fielen ihr die Augen zu. Bärchen und Rassel plumpsten herab und landeten genau in ihrem Arm. Emily war eingeschlafen.
Die Mutter blickte sie zärtlich an. Dann sackten ihre Schultern nach unten und sie drehte sich zu ihrem Mann um. „Ohje“, sagte sie. „Sie fängt früh damit an. Viel früher als ich das erwartet hatte.“
Der Vater war kreidebleich. „Womit?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Womit fängt sie früh an? Was um Himmels Willen war das eben?“
Seine Frau nahm ihn liebevoll am Arm und führte ihn zurück ins Wohnzimmer. „Komm“, sagte sie. „Wir müssen reden.“
Emily wurde langsam ungeduldig. Viele Stunden war sie nun schon unterwegs, und die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Das lag auch daran, dass sie in immer langsamere Züge umgestiegen war. Zuerst von einem Intercity Express in eine Regionalbahn und von dort in einen altersschwachen Triebwagen, der nun im Schneckentempo durch den Schwarzwald kroch.
Diesen kannte sie bisher nur aus dem Internet. Es handelte sich um ein Mittelgebirge mit weiten Hochflächen, bunten Wiesen und sonnendurchfluteten Tälern. Doch heute war alles grau und dunstig und überhaupt nicht so, wie auf den Bildern. Außerdem musste sie sich erst an die vielen Berge gewöhnen. Im Norden, wo sie herkam, war alles viel flacher.
Zum bestimmt zehnten Mal blickte sie auf ihre Armbanduhr. Ebenso wie der Zug schienen die Zeiger kaum vom Fleck zu kommen. Bis Heuberg dauerte es noch eine halbe Stunde. Langsam fragte sie sich, ob es hier wirklich einen Ort dieses Namens gab. Oder wenigstens irgendeinen anderen Ort. Denn vor den Fenstern zog nur düsterer Tannenwald vorbei, der immer dichter zu werden schien.
Zu allem Überfluss wurde es auf einmal dämmrig. Schwarze Wolken türmten sich auf, und gleich darauf begann es zu regnen. Herzlich willkommen in den Sommerferien, dachte sie. Plötzlich hatte sie einen dicken Kloß im Hals. Natürlich hatte sie schon vorher gewusst, dass sie allein durch ganz Deutschland fahren würde. Aber nun fühlte es sich doch weiter an, als es auf der Karte ausgesehen hatte.
Dann schüttelte sie den Kopf und brach sich entschlossen ein Stück von der Schokolade ab, die sie vorhin in ihrer Tasche gefunden hatte. Ihr Papa musste sie zum Abschied dort hineingeschmuggelt haben. Sie durfte sich nicht noch auf den letzten Metern unterkriegen lassen, nur weil draußen das Wetter schlecht war. Außerdem würde sie in Heuberg abgeholt werden. Wenn sie nur endlich einmal dort ankommen würde.
Lustlos schaltete sie die Lampe über ihrem Sitz an. Deren trübes Licht reichte kaum zum Lesen und brach sich zudem in den Wassertropfen, die in großer Zahl über die Scheibe rutschten. Die Sicht nach draußen wurde dadurch nicht besser. Also schaltete sie die Lampe wieder aus und starrte missmutig vor sich hin.
Nicht einmal das Handy konnte sie benutzen. Es war ein Smartphone, das sie für die Reise bekommen hatte. Für den Notfall, wie ihre Eltern gesagt hatten. Das half nur nichts, wenn es kein Netz gab. Seit sie in diesem Zug saß, war die Verbindung abgerissen. Außerdem war der Akku fast leer, weil sie in der Aufregung vergessen hatte, ihn aufzuladen.
Schließlich reckte sie den Hals und warf einen Blick nach vorne. Vom Zugführer war nicht mehr zu erkennen als ein dunkler Schatten im Fahrstand. Immerhin konnte man an ihm vorbei die Schienen sehen, die gerade in einem langen Bogen den Hang hinauf führten. Der alte Triebwagen schnaufte durch eine Schneise im Wald, die so eng war, dass von beiden Seiten Äste und Zweige nach ihm zu greifen schienen. Eine unheimlichere Bahnstrecke hatte sie noch nie gesehen. Viele Züge fuhren hier bestimmt nicht.
Die Steigung nahm zu, und die Fahrt verlangsamte sich weiter. Gleich würde sie nebenher Blumen pflücken können, wenn auch nur im strömenden Regen. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Heuberg. Frustriert lehnte sie sich zurück und seufzte vernehmlich.
Da drehte der Zugführer den Kopf, so dass sie im Schein einer Notleuchte sein Gesicht sehen konnte. Durch das grünliche Licht wirkte es blass und gespenstisch. Aber seine Augen blickten freundlich.
„Tut mir leid wegen des Tempos“, sagte er, als habe er zuvor ihre Gedanken gelesen. „Mein altes Mädchen hat schon bessere Tage gesehen. An dieser Stelle müssen wir immer ein wenig kämpfen.“ Er klopfte liebevoll an das Blech des Triebwagens, wodurch ein wenig Lack abblätterte. „Bisher hat sie mich aber immer noch pünktlich ans Ziel gebracht!“
Emily blinzelte überrascht. Sprach der etwa mit ihr? In den Zügen, die sie sonst kannte, wurde sie höchstens nach der Fahrkarte gefragt. Sie drehte sich um und stellte fest, dass niemand sonst im Wagen war. Alle anderen Fahrgäste mussten an der letzten Station ausgestiegen sein. Oder war außer ihr gar niemand eingestiegen? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber Heuberg war offenbar kein sonderlich beliebtes Reiseziel.
Vorne konzentrierte sich der Zugführer wieder auf das Zugführen, ganz so, als habe er sie gar nicht angesprochen. Trotzdem erschien es Emily unhöflich, ihn einfach zu ignorieren.
„Fahren Sie immer diesen Zug?“, fragte sie deshalb. Die Antwort interessierte sie nicht wirklich, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
Der Fahrer warf einen Blick über die Schulter und nickte stolz. „Seit fünfzig Jahren, jeden Tag. Das hier ist meine Lieblingsstrecke, zumindest wenn die Sonne scheint. Bei gutem Wetter ist der Ausblick herrlich.“ Er grinste breit. „Das Beste ist, dass man die Schienen ganz für sich allein hat. Hier fahren wirklich nur wir, mein altes Mädchen und ich.“ Mit diesen Worten drehte er sich zufrieden wieder nach vorne.
Emily legte nachdenklich den Kopf schief. Etwas an den Worten des Zugführers erschien ihr seltsam, aber sie kam nicht darauf, was sie störte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Vermutlich war es gar nichts, und die Fahrt war einfach nur zu lang gewesen. Wieder blickte sie auf die Uhr. Es waren immer noch fast zwanzig Minuten.
Müde lehnte sie den Kopf an die Scheibe. Durch das Glas konnte sie die Stöße der Räder auf den Schienen spüren, während nach wie vor der Regen aufs Dach prasselte. Vorne quietschten die Gummis der Scheibenwischer einen monotonen Rhythmus. An anderen Tagen hätte sie das schläfrig gemacht, aber heute war das anders. Heute war sie von einer Frage abgelenkt, die in ihrem Kopf rumorte, seit sie Hamburg verlassen hatte. Warum hatten ihre Eltern sie allein auf so eine Reise geschickt? Sie war doch gerade erst vierzehn und noch nie von zu Hause fort gewesen. Was sollte sie jetzt ausgerechnet in Heuberg?
Natürlich hatte sie auch Heuberg im Internet besucht. Es handelte sich um ein Dorf im tiefsten Schwarzwald, das relativ abgelegen wirkte. Es war vielleicht etwas größer als sie zunächst gedacht hatte, aber irgendwelche Attraktionen waren dort nicht verzeichnet. Es schien nichtmal ein Hallenbad oder ein Kino zu geben, geschweige denn etwas anderes, das lustige Ferien versprach.
„Mach Dir keine Sorgen“, hatte ihre Mutter gesagt, „Du wirst Dich in Heuberg bestimmt nicht langweilen. Andere vielleicht, aber Du nicht.“ Wie das zu verstehen war, hatte sie ihr nicht verraten. „Vertrau mir einfach. Du wirst Spaß haben und dabei jede Menge lernen.“
Lernen? In den Ferien? Aber ihre Mutter hatte jeden weiteren Einwand einfach fortgewischt.
„Papperlapapp. Du bist alt genug, um auch mal was allein zu machen. Es wird Dir gefallen, großes Ehrenwort!“
„Und was macht Ihr so lange?“ Das hatte wohl etwas kläglich geklungen, denn ihre Mutter hatte sie daraufhin fest in die Arme genommen.
„Papa muss arbeiten. Und ich bereite Deine Rückkehr vor. Schließlich hast Du bald Geburtstag. Dann wird vielleicht einiges anders.“
„Anders? Wieso, was denn?“ Das wurde ja immer besser.
„Das wirst Du sicher bald selbst herausfinden.“
Sie mochte es nicht, wenn ihre Mutter so geheimnisvoll tat. Aber irgendwie war dadurch auch ihre Neugier geweckt worden. Ging es vielleicht um ein Ferienlager? Sie hatte versucht, ihren Vater auszuhorchen, doch der hatte nur kurz hinter seiner Zeitung hervorgeschaut, sie ernst angeblickt und dann den Kopf geschüttelt. „Nein, kein Ferienlager. Es kann schon sein, dass Du ein oder zwei andere Kinder kennenlernst. Aber eigentlich geht es um etwas anderes.“
„Und um was?“
Doch ihr Vater hatte sich wieder hinter der Zeitung verschanzt und dabei etwas vor sich hin gemurmelt. Es klang wie: „Deine Mutter dreht mir den Hals um, wenn ich Dir mehr verrate.“
Also hatte sie es anders versucht. „Wer ist das eigentlich, den ich dort besuchen soll?“
„Cora.“ Ihr Vater hatte die Zeitung wieder sinken lassen. „Sie heißt Cora. Eine Verwandte aus der Linie Deiner Mutter. Sie war mal hier, aber da warst Du noch klein. Du kannst Dich bestimmt nicht mehr an sie erinnern.“
„Was ist das für eine Verwandte? Eine Oma oder so?“
„So etwas Ähnliches.“
Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ihren Vater herausfordernd angesehen. „So etwas Ähnliches wie eine Oma???“
Er hatte sich verlegen am Kopf gekratzt.
„Ich weiß, dass sich das komisch anhört. Aber es ist wirklich ein bisschen schwer zu erklären. Es wird einfacher sein, wenn Du dort bist und alles selbst siehst.“
Damit war das Gespräch beendet gewesen. Seitdem hatte sie mit ihren Eltern die Reise geplant, Fahrkarten gekauft und Bücher für unterwegs zusammengesucht. Ihre Mutter hatte ihr viele Geschichten über den Schwarzwald erzählt, aus der Zeit, in der sie dort aufgewachsen war. Und ihr Vater hatte erklärt, wie das Smartphone funktionierte und auf ihr Drängen hin sogar ein Spiel installiert (wenn auch eines, das sich bald als ziemlich langweilig entpuppte). Aber zu welchem Zweck die Reise stattfand, war ein Geheimnis geblieben.
Jetzt saß sie im Zug und hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ihre Eltern hatten gesagt, es sei in Ordnung, und sie vertraute ihnen. Aber sie kannte weder Heuberg noch diese Cora. Was ihr am Anfang noch wie ein spannendes Abenteuer vorgekommen war, machte ihr nun ein bisschen Angst. Trotzdem wollte sie jetzt vor allem eines: Endlich ankommen.
Bald darauf hatte es tatsächlich den Anschein, als würden die Bäume ein wenig zurückweichen. Die schmale Schneise im Wald öffnete sich in ein weites Tal, und fast schlagartig wurde es auch wieder heller. Aus dem Fenster konnte sie eine größere Ansammlung von Gebäuden sehen. Viele davon schienen Fachwerkhäuser zu sein, was dem Ort etwas Gemütliches gab. In der Mitte stand eine kleine Kirche, und direkt daneben gab es einen Marktplatz, der aus der Ferne recht hübsch aussah. Das Beste aber war eine Burgruine, die ganz oben auf einem Felsen thronte und aussah, als wolle sie erforscht werden.
So schnell, wie sie gekommen war, war ihre Angst wieder verflogen. Stattdessen fühlte sie ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, das sich langsam im ganzen Körper ausbreitete. Sie hatte es geschafft. Endlich war sie da. Vielleicht würde es tatsächlich ein toller Sommer werden.
Der Triebwagen hielt an einem winzigen Bahnsteig, der mit Unkraut überwuchert war.
„Heuberg. Fahrgäste nach Heuberg bitte aussteigen!“, rief der Zugführer nach hinten. Dann grinste er und fuhr mit normaler Stimme fort: „Die Lautsprecheranlage ist kaputt. Aber Du wärst sowieso hier ausgestiegen, stimmt’s? Cora wartet schon auf Dich.“
Emily blickte ihn verdattert an.
„Sie kennen Cora?“
Der Zugführer lachte und schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Stimmt, in Hamburg bist Du es nicht gewohnt, dass sich alle kennen. Aber hier weiß ich immer ganz genau, wer in meinem Zug mitfährt.“
Er trat aus seiner Fahrerkabine heraus und streckte ihr die Hand entgegen.
„Ich bin Karl. Und Du bist Emily. Es ist schön, Deine Bekanntschaft zu machen.“
Immer noch verwirrt schüttelte sie seine Hand und blickte zu ihm auf. Es war das erste Mal, dass sie sein Gesicht aus der Nähe sah. Seine Augen wirkten immer noch freundlich. Trotzdem wurde ihr plötzlich bewusst, was sie vorhin an seiner Bemerkung so seltsam gefunden hatte. Denn hatte er nicht behauptet, er fahre diesen Zug schon seit fünfzig Jahren? Dabei wirkte er nicht älter als ihr Papa, und der war gerade einmal sechsunddreißig. Entweder hatte er also maßlos übertrieben, oder er war erheblich älter als er aussah.
Emily sprang aus dem Zug und zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Am Ende des Bahnsteigs wartete eine Frau, die in einen knallgelben Regenmantel gehüllt war. Karl winkte ihr aus dem Fahrstand grinsend zu. Gleich darauf ruckte der Triebwagen an und verschwand schnaufend um die nächste Ecke.
Da stand sie nun und blickte hinüber zu Cora. Zumindest hoffte sie, dass es Cora war, die dort wartete, denn sonst war niemand zu sehen. Auch die kleine Straße, die zum Bahnhof führte, wirkte vollkommen verlassen. Zu ihrer Erleichterung winkte die andere sie zu sich.
„Hallo Emily, willkommen in Heuberg. Schön, dass Du da bist!“
Emily fasste den Griff ihres Koffers fester und machte sich auf den Weg. Sie tat das mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Denn je näher sie Cora kam, desto mehr kam es ihr vor, als würde sie eine alte Bekannte treffen. Die grünen Augen und die spitze Nase waren ihr sehr vertraut. Auch den feinen Rotschimmer der Haare kannte sie schon, solange sie zurückdenken konnte. Es war dasselbe Rot, das sie jeden Morgen gleich zweimal sah. Zuerst nach dem Aufstehen, wenn sie mit verschlafenen Augen in den Spiegel blickte, und dann noch einmal, wenn ihre Mutter hereinkam, um ihr zu sagen, sie solle sich beeilen, weil sie sonst zu spät in die Schule käme. Sie wusste, dass dieses Rot etwas Besonderes war, da sie es bisher noch nirgendwo anders gesehen hatte. Bis heute.
„Bist Du meine Oma?“, platzte sie mit derselben Frage heraus, die ihr schon zu Hause nicht beantwortet worden war. Sofort wurde ihr bewusst, dass dies sicherlich eine etwas komische Begrüßung war. Aber sie war durch ganz Deutschland gereist, um endlich hier anzukommen, sie hatte seit Wochen vergeblich versucht herauszufinden, worum es bei der Reise ging, sie war zuerst aufgeregt, dann gelangweilt, dann ängstlich und dann wieder aufgeregt gewesen, und jetzt, nachdem sie diese Haare gesehen hatte, war sie einfach nur noch neugierig. Und ungeduldig. Sie wollte endlich wissen, wer Cora war.
Die schaute sie aus ihren grünen Augen nachdenklich an.
„Deine Eltern haben Dir das nicht erzählt, oder?“
„Nein.“
„Haben sie auch gesagt, warum?“
Emily nickte. „Sie meinten, es sei schwer zu verstehen, wenn man nicht ein paar Dinge selbst gesehen hat.“
Der Ansatz eines Lächelns huschte über Coras Gesicht.
„Das ist richtig“, stimmte sie zu. „Obwohl sich Deine Eltern das ein wenig einfach gemacht haben. Aber andererseits ist es tatsächlich ganz gut, wenn Du erst ein paar Sachen selbst siehst.“
„Und was sind das für Sachen?“
Cora lachte und wuschelte ihr dabei freundschaftlich durch die Haare.
„Mannomann, Du legst ja los wie die Feuerwehr. Dabei bist Du doch gerade erst angekommen.“
Sie ging in die Hocke, damit sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden.
„Schau“, sagte sie mit ernster Stimme, „ich weiß, wie es Dir gerade geht. Mir ist es damals ganz genauso gegangen. Auch mich hat man einmal auf eine Reise geschickt, ohne mir zu erklären, worum es ging. Erst später habe ich verstanden, dass alles nur noch schwieriger geworden wäre, wenn man mir vorher zu viel erzählt hätte.“
Sie griff sich eine Strähne von Emilys Haar und eine weitere Strähne von ihrem eigenen, so dass beide nebeneinander in ihrer Hand lagen. Sie sahen genau gleich aus.
„Hast Du solche Haare schon einmal gesehen? Ich meine, bei jemand anderem als bei Dir oder Deiner Mutter?“
Emily schüttelte den Kopf.
„Und hast Du schonmal ein solches Grün gesehen?“ Cora deutete mit zwei ausgestreckten Fingern zunächst auf ihre eigenen Augen und dann auf die von Emily. Die schüttelte erneut nur den Kopf.
„Diese Haare und diese Augen zeigen, dass Du etwas Besonderes bist. Genauer gesagt zeigen sie, dass wir beide etwas Besonderes sind. Aber wenn ich Dir hier und jetzt sagen würde, was uns so besonders macht, würdest Du mir wahrscheinlich nicht glauben. Es braucht ein bisschen Zeit und ein bisschen Vorbereitung. Kannst Du das verstehen?“
Emily nickte stumm.
„Schlaues Mädchen“, lächelte Cora. „Ich verspreche Dir, dass ich Dir bald alles erklären werde. Aber jetzt gehen wir erstmal nach Hause, sehen uns Dein Zimmer an und essen ein Stück Kuchen. Wie klingt das?“
Emily blickte einen Moment lang in Coras Gesicht, das auch das Gesicht ihrer Mutter hätte sein können, obwohl es natürlich ein bisschen älter war. Und sie blickte direkt in zwei grüne Augen, die ihr das seltsame Gefühl vermittelten, in einen Spiegel zu schauen. Weil es vor allem diese Augen waren, die hervorstachen, und weil sie diese Augen sehr gut kannte, beschloss sie, dieser Frau zu vertrauen.
„Kuchen klingt gut“, sagte sie deshalb. „Und etwas zu trinken wäre auch nicht schlecht.“
„Na dann los.“ Cora erhob sich wieder zu ihrer vollen Größe und streckte die Hand nach dem Koffer aus. „Den nehme ich.“
Dankbar überließ ihr Emily das Gepäck und drehte sich neugierig um die eigene Achse. Zum ersten Mal, seit sie aus dem Zug gestiegen war, betrachtete sie ihre Umgebung etwas genauer. Der Bahnhof lag auf einer Anhöhe, von der aus man das ganze Tal überblicken konnte. Besonders beeindruckend waren die dicht bewaldeten Berge, zumindest für jemanden, der sonst nur das flache Land der norddeutschen Tiefebene kannte. Hier sah die Gegend tatsächlich so aus, wie auf den Bildern, die sie im Internet gesehen hatte. Nur war es leider immer noch ziemlich trübe.
„Morgen soll es wieder besser werden“, sagte Cora, als habe sie ihre Gedanken gelesen. „Für die nächsten Tage ist viel Sonne angesagt. Dann kommen auch die Farben des Waldes besser zur Geltung. An der See hast Du bestimmt schon gesehen, wie viele Blaus das Wasser haben kann. Und hier wirst Du Dich wundern, wie viele Grüns es gibt.“
Sie gingen die kleine Straße hinunter, die in den Ort führte.
„Wie geht es eigentlich Deiner Mutter?“, fragte Cora. „Macht sie immer noch so viele Experimente?“
Emily nickte. „Manchmal verbringt sie das ganze Wochenende im Keller und braut irgendwas zusammen.“
„Und? Klappt es?“
Emily grinste. „Manchmal. Aber es war bestimmt auch schon dreimal die Feuerwehr da.“
Da konnte sich auch Cora ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie hat sich immer schon viel Mühe gegeben. Aber es ist nicht jedem in die Wiege gelegt.“
Emily zuckte mit den Schultern. „Manchmal ist es trotzdem cool. Total tolle Farben mit ganz viel Glitzer drin.“
„Sie lässt Dich zusehen?“, fragte Cora erstaunt.
„Nein, sie sagt, das sei zu gefährlich. Aber manchmal kommt etwas die Treppe hinaufgeweht, wenn sie vergessen hat, die Tür zu schließen. Oder wenn die Tür gerade aus den Angeln geflogen ist.“
Wieder musste Cora schmunzeln.
„Hoffentlich gehen diese Spielereien nicht irgendwann mal schief.“
„Papa sagt, Mama wisse schon, was sie tue. Aber er traut sich auch nicht in den Keller, wenn sie dort unten ist. Dafür muss er jetzt nicht mehr die Fenster putzen.“
„Ach. Warum das?“
„Weil Mama irgendwas auf die Scheiben geschmiert hat. Jetzt kann man immer noch durchgucken, aber es bleibt einfach kein Schmutz mehr hängen. Und glaub mir, ich hab’s wirklich probiert. Mit Matsch, Schokolade und Wasserfarben.“
Damit brachte sie Cora erneut zum Lachen, und Emily stellte fest, dass ihr dieses Lachen gefiel. Es klang offen und schien von Herzen zu kommen.
Inzwischen hatten sie die Ortschaft erreicht und gingen durch kleine Straßen, die alle sehr sauber wirkten. Wie sie schon vom Zug aus gesehen hatte, gab es hier viele schmucke Fachwerkhäuser. Die wenigen Leute, denen sie begegneten, grüßten freundlich. Cora nickte ihnen lächelnd zu.
„Na, wie gefällt Dir Heuberg?“, fragte sie.
„Bis jetzt ganz gut“, antwortete Emily ehrlich. „Aber ich frage mich, ob es nicht auf Dauer etwas zu langweilig ist.“
Cora blinzelte ihr zu. „Dir wird es hier sicher nicht langweilig werden. Komm, fass an.“
Sie streckte ihr eine Hand entgegen, die Emily überrascht ergriff. Was sollte das nun wieder? Im selben Moment bogen sie um eine Ecke und Emily fühlte sich, als würde sie ausgleiten. Nicht so, als ob sie auf Eis geraten wäre, sondern eher, als würde jede Zelle ihres Körpers für einen kurzen Moment in eine bestimmte Richtung gezogen. Dann war das Gefühl wieder vorbei und Emily sah verdutzt an sich herab. Irgendwas hatte sich verändert.
Der Boden war anders. Gerade war da noch ein asphaltierter Gehweg gewesen, aber seit sie abgebogen waren, gingen sie auf holperigem Kopfsteinpflaster. Emily blickte verwirrt auf und blieb mit offenem Mund stehen. Sie befanden sich in einer schmalen Gasse, die gar nichts mehr mit der hübschen Straße gemein hatte, durch die sie eben gekommen waren. Hier standen die Häuser dichter beisammen und schienen ziemlich alt zu sein. Die Fassaden waren dunkel und sahen aus, als habe es irgendwann zwischen ihnen gebrannt. Sie bestanden aus grob behauenen Steinen, die ganz verschachtelt zusammengefügt waren. So als habe der Maurer eben immer jenen Stein herausgesucht, der gerade am besten passte, und die Lücken dann einfach mit irgendwas ausgestopft. Fenster gab es nur wenige, und wenn, dann waren sie klein und ziemlich weit oben, so dass man nicht hindurchsehen konnte. Das Seltsamste aber waren die Dächer der Häuser, die alle mit Stroh gedeckt waren.
„Was ist das hier?“, fragte sie erstaunt.
Die Dächer hoben sich so auffällig von der Umgebung ab, dass sie sich fragte, warum sie ihr nicht bereits vom Zug aus aufgefallen waren. Außerdem quoll aus manchen Schornsteinen dicker Rauch, den sie ebenfalls schon von weitem hätte sehen müssen. Sie fand das sehr verwunderlich.
„Cora, was ist das hier?“, fragte sie erneut.
„Was denn?“ Cora schien in Gedanken gewesen zu sein, denn sie war einfach weitergegangen. Die Frage schien sie zu überraschen. „Ach das“, meinte sie dann und machte eine umfassende Handbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte. „Das ist einfach nur eine Abkürzung durch einen älteren Teil von Heuberg. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Komm weiter, wir sind gleich da.“
Gleich da? In dieser Gegend? Beunruhigt zog Emily die Jacke enger um sich, um möglichst nicht mit den schmutzigen Wänden in Berührung zu kommen. In der Mitte der Gasse befand sich eine Rinne im Pflaster, durch die ihr eine dunkle Flüssigkeit entgegenfloss. Außerdem schossen in den dunklen Ecken Schatten hin und her, die ihr ebenfalls nicht geheuer waren. Vielleicht Ratten? Schnell beeilte sie sich, Cora zu folgen.
Zum Glück öffnete sich die Gasse gleich darauf zu einem etwas größeren Platz, der wieder freundlicher wirkte. Die Häuser waren immer noch alt und hatten Strohdächer, aber die Fassaden waren bunt gestrichen. Außerdem hingen Blumenkästen vor den Fenstern, und das Pflaster war trocken und ordentlich gefegt.
In der Mitte des Platzes befand sich ein uralter Brunnen unter einem halb verwitterten Holzgestell. Über eine Rolle führte ein Seil in die Tiefe. Eine Gestalt in einem schwarzen Kapuzenumhang schien gerade damit beschäftigt zu sein, einen Eimer mit Wasser hinaufzuziehen. Die Rolle quietschte bei jedem Zug, und für jeden Meter, den der Eimer an Höhe gewann, rutschte er einen halben wieder zurück. Emily sah ein paar uralte Hände, die kaum in der Lage waren, das Seil festzuhalten. Ohne lange zu zögern, trat sie näher und sagte: „Lassen Sie mich den Eimer ziehen.“
Die Gestalt im schwarzen Umhang erstarrte mitten in der Bewegung. Dann wandte sie sich langsam um. Unter der Kapuze kam ein kantiges Gesicht zum Vorschein, das die Farbe von Pergamentpapier hatte. Es schien nur aus Falten zu bestehen. Dazwischen stachen pechschwarze Augen hervor, die sie einen endlosen Moment lang fixierten. Emily blieb erschrocken stehen, denn noch nie in ihrem Leben hatte sie eine so alte Frau gesehen. Dann riss sie sich zusammen. Schließlich hatte sie gerade ihre Hilfe angeboten und sollte sich jetzt auch entsprechend verhalten. Also streckte sie ihre Hand aus und die alte Frau überließ ihr bereitwillig das Seil.
„Ist sie das?“, fragte sie mit einer brüchigen Stimme, die fast nur noch ein Krächzen war. Sie ließ Emily dabei nicht aus den Augen, aber es war Cora, zu der sie sprach.
„Das ist sie“, sagte Cora, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. „Sie ist gerade erst angekommen.“
Emily zog den Eimer herauf, der nicht allzu schwer war, und hievte ihn über die Brunnenkante. „Wo soll ich ihn hinbringen?“
Doch die Alte streckte einfach nur die Hand aus und nahm den Eimer entgegen.
„Hoffentlich ist sie nicht so eine Enttäuschung wie der letzte, den Du angeschleppt hast.“ Ihre schwarzen Augen ruhten immer noch auf Emily. Dann zog sich die Alte die Kapuze ins Gesicht, wandte sich ab und schlurfte ohne ein weiteres Wort davon.
Emily blieb völlig verdattert zurück und starrte ihr mit großen Augen hinterher. Schließlich spürte sie Coras Hand auf der Schulter.
„Komm jetzt, der Kuchen wartet.“ Und nach einer kurzen Pause: „Das hast Du übrigens gut gemacht.“
Emily drehte sich um und sah, dass Cora lächelte.
„Wer war das?“, fragte sie.
„Das war Thekla. Sie scheint Dich zu mögen.“
„Hä? Sie hat nichtmal mit mir gesprochen!“
„Sie mag Menschen nicht besonders, vor allem, wenn sie sie nicht kennt. Aber Du durftest ihr den Eimer hochziehen. Mehr Ehre kann man von ihr beim ersten Mal nicht erwarten.“
Emily zögerte einen Moment. „Wirst Du mir von ihr erzählen?“
Cora nickte. „Ja, aber erst später. Wenn Du mehr weißt.“
„Vom wem hat sie gesprochen?“
„Was meinst Du?“ Cora runzelte fragend die Stirn.
„Sie hat erwähnt, dass jemand sie enttäuscht hat. Jemand, von dem sie gesagt hat, Du hättest ihn angeschleppt.“
Cora blickte sie einen Moment lang ausdruckslos an. „Das gehört auch zu den Dingen, die wir später besprechen werden“, sagte sie endlich.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und zog energisch mit dem Rollkoffer davon. Emily blieb nichts anderes übrig, als ihr eilig hinterher zu stolpern. Dabei hatte sie das Gefühl, mit ihrer Frage ein unangenehmes Thema berührt zu haben.
Wenig später hielten sie vor einem der alten Steinhäuser. Es war in hellen Erdfarben gestrichen und sah freundlich aus. Zumindest, soweit man dies von einem Haus behaupten konnte. Vielleicht lag es auch daran, dass die Fenster etwas größer waren, und dass überall Blumen wuchsen. Nicht nur in den dafür vorgesehenen Kübeln und Kästen, sondern auch aus den Ritzen zwischen den Steinen. Überall sprießte und gedeihte es, und so sah das Haus nicht nur lustig aus, sondern roch auch gut. Emily mochte es von der ersten Sekunde an.
„Wow“, sagte sie. „Das ist echt was Besonderes, oder?“
Cora nickte stolz. „Den Blumen scheint es hier zu gefallen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen in den Kübeln bleiben, aber sie haben nicht auf mich gehört. Manche von ihnen sind aus der Nachbarschaft herübergewachsen. Irgendwann habe ich sie einfach gelassen. Sie machen ja doch, was sie wollen.“
Emily fand, dass das eine reichlich seltsame Aussage war, aber sie hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Cora schob bereits die schwere Holztüre auf, die mit einem vernehmlichen Knarren nach innen schwang.
„Hier geht es lang.“
Emily blieb mit offenem Mund stehen. Das Haus bestand nur aus einem einzigen großen Raum. Stabile Holzregale zogen sich an den Wänden entlang und reichten bis hinauf unter das Strohdach. Sie waren vollgestellt mit Flaschen, Töpfen und Gefäßen in allen Formen und Farben. In einer Ecke lehnten Gerätschaften, die Emily noch nie gesehen hatte, und bei denen ihr auch nicht sofort klar war, wozu man sie verwendete. Und in der Mitte des Raumes befand sich tatsächlich eine Feuerstelle, die mit Steinen umfasst war. Mittendrin stand ein Stativ aus verrußtem Metall, an dem ein riesiger kupferfarbener Kessel hing. Direkt darüber hatte man eine Art Abzug konstruiert, der direkt hinauf in den Kamin zu führen schien.
Nur mit Mühe gelang es Emily, den Mund wieder zuzuklappen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Hier wohnst Du?“, brachte sie schließlich heraus.
„Was?“ Cora lachte. „Quatsch. Es ist schon lange her, dass ich hier mal gewohnt habe. Aber ich benutze immer noch den Eingang. Und manchmal auch den Kessel. Aber den eigentlich auch nicht mehr so oft. Komm hier entlang.“
Eine weitere Holztür, die Emily bis dahin gar nicht aufgefallen war, führte hinaus in den Garten. Hier rankten sich Unmengen an Pflanzen und Kräutern durch die verschiedensten Beete. Cora nahm den Rollkoffer vom Boden und trug ihn stattdessen in der Hand. „Du kannst Dich hier überall umsehen, aber bis Du Dich auskennst, bleib besser auf den Wegen, in Ordnung?“
Emily konnte nur nicken. Irgendwie war das alles ein bisschen viel auf einmal. Sie hatte Schwierigkeiten, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Aber wenigsten schienen sie endlich am Ziel zu sein.
„Hier ist es, wo ich wohne“, sagte Cora und deutete auf eine winzige Holzhütte am Ende des Gartens. „Keine Sorge. Drinnen ist es geräumiger als es von außen aussieht.“
Doch Emily war mittlerweile auf alles gefasst. Ohne zu zögern trat sie ein und fand sich in einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer wieder. Da waren ein Sofa, ein kleiner Teetisch, eine geschnitzte Kommode und einige Bilder an den Wänden. Alles ganz normal, und außerdem so ähnlich, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Cora führte sie herum, damit sie sich zurechtfand. Hinter dem Wohnzimmer befand sich ein kleiner Flur, von dem aus eine Küche abzweigte, die ebenfalls ganz normal aussah. Zumindest gab es einen Kühlschrank, einen Herd und eine Spüle, so wie sie das von zu Hause her kannte. Gleich nebenan befanden sich Coras Schlafzimmer, und, zu Emilys Erleichterung, ein kleines Badezimmer mit Toilette und Dusche. Sie hatte schon befürchtet, sich in einem Kupferkessel waschen zu müssen, nachdem sie sich das Wasser aus dem Brunnen gezogen hatte. Eine weitere Tür führte in ein kleines Gästezimmer, in das Cora nun den Koffer trug.
„Dies ist für die nächsten Wochen Dein Reich“, meinte sie. „Es ist nicht groß, aber Du kannst Dich ausbreiten, wie Du willst. Und da ich nicht Deine Mutter bin, werden wir es mit dem Aufräumen nicht so genau nehmen.“ Sie zwinkerte Emily fröhlich zu. „Schließlich hast Du Ferien.“
Emily sah sich um und fühlte sich sofort wohl. Es gab einen Schrank für ihre Sachen, ein Regal mit Büchern und eine alte Truhe, die in einer Ecke stand und geheimnisvoll wirkte. Keinen Fernseher, wie sie leicht enttäuscht feststellte. Dafür aber ein Bett, das sehr einladend aussah. Denn sie merkte, dass sie mittlerweile ziemlich müde war.
Auch Cora schien dies aufzufallen. „Es war ein langer Tag für Dich“, meinte sie. „Ich schlage vor, wir essen jetzt den Kuchen, und anschließend gehen wir schlafen. Möchtest Du eine heiße Schokolade?“
„Au ja!“, strahlte Emily. Und spätestens jetzt hatte sie vergessen, dass drei Zimmer, eine Küche und ein Bad unmöglich in eine winzige Gartenhütte passen konnten.
Als Emily am nächsten Morgen in die Küche kam, schien die Sonne hell durch die Fenster. Heute würde ein schöner Tag werden.
Cora stand am Herd und backte Pfannkuchen.
„Guten Morgen, Emily! Setz Dich an den Tisch. Das Frühstück ist gleich fertig.“
Pfannkuchen zum Frühstück! Das gab es zu Hause nie. Fröhlich hüpfte sie auf einen Stuhl und goss sich ein Glas Milch ein.
„Heute erzählst Du mir alles, ja?“ Sie konnte es kaum noch abwarten.
„Heute fangen wir an, darüber zu reden“, schmunzelte Cora, während sie den nächsten Pfannkuchen wendete. „Aber vorher muss ich noch etwas besorgen. Wenn Du willst, kannst Du Dich so lange in Heuberg umsehen. Nach dem Mittagessen geht es dann los.“
„Na gut“, murrte Emily. Es fiel ihr schwer, sich weiterhin zu gedulden. Aber natürlich wollte sie auch das Dorf kennenlernen.
Sie schaffte zwei Pfannkuchen, die superlecker waren, und war dann abmarschbereit.
„Ich zeige Dir den Weg“, meinte Cora.
Emily kam das unnötig vor. In einem Dorf wie Heuberg konnte man sich bestimmt nicht verlaufen. Doch Cora ließ sich nicht beirren und murmelte etwas von einer Abkürzung. Sie führte Emily durch den Garten, über den Platz mit dem Ziehbrunnen und schließlich durch eine schmale Lücke zwischen den Häusern. Schneller als erwartet standen sie auf dem Marktplatz von Heuberg.
„Tata-tata!“, sagte Cora und machte eine weit ausladende Handbewegung. „Die meisten Häuser, die Du hier siehst, stehen unter Denkmalschutz. Tatsächlich ist dies einer der schönsten Marktplätze im ganzen Schwarzwald, auch wenn nur wenige Touristen davon wissen.“
Emily sah sich um. Der Marktplatz war mit dunklen und hellen Steinen gepflastert, die in der Sonne glänzten. Außerdem war leicht zu erkennen, dass die Fachwerkhäuser etwas Besonderes waren, weil jede Fassade ihr eigenes Muster aufwies. Trotzdem interessierte sie sich am meisten für einen kleinen Laden in der Nähe der Kirche.
„Ist das dort eine Eisdiele?“, fragte sie.
„Die beste in der ganzen Gegend“, bestätigte Cora. Sie griff hinter Emilys Ohr und hielt plötzlich eine Münze in der Hand. „Hier. Ich finde Vanille und Schokolade am besten, aber Mango ist auch ziemlich gut.“
Emily sah sie verwirrt an und fasste sich probeweise selbst ans Ohr. „Was war das? Eine Art Zaubertrick?“
„So etwas Ähnliches“, schmunzelte Cora. „Jetzt lauf und mach Dich mit der Gegend vertraut. Ich hole Dich hier gegen Mittag wieder ab.“
Emily verdrehte die Augen. „Ich bin doch kein Kind mehr. Von hier aus finde ich allein zurück.“
Cora lachte. „Klar, das kannst Du gerne versuchen. Aber wenn es nicht klappt, bin ich um zwölf Uhr wieder hier. Bis später.“
Sie winkte ihr noch einmal zu und ging dann eiligen Schrittes davon. Emily blickte ihr nachdenklich hinterher. Ein bisschen seltsam fand sie Cora schon, aber eigentlich auch nicht mehr, als andere ihre Mutter seltsam fanden. Vielleicht fiel es ihr deshalb so leicht, bestimmte Dinge zu akzeptieren. Zum Beispiel die Münze in ihrer Hand. Sie hätte schwören können, dass Cora sie direkt aus der Luft gefischt hatte. Aber natürlich musste das ein Trick gewesen sein. Eine kleine Taschenspielerei, um sie zu beeindrucken.
Das Geld reichte für drei Kugeln Eis, und so bestellte sie alle Sorten, die Cora empfohlen hatte. Mit der Eiswaffel in der Hand sah sie sich um. Neben der Kirche gab es einen Brunnen, der ihr vorher noch gar nicht aufgefallen war. Wasser floss aus einem Metallrohr in ein Becken aus Stein und plätscherte dabei fröhlich vor sich hin. Das war sicher ein guter Platz, um das Geschehen auf dem Marktplatz zu beobachten.
Sie setzte sich auf den Brunnenrand und ließ ihren Blick schweifen. Um diese Zeit schien halb Heuberg auf den Beinen zu sein. Viele Leute nutzten das gute Wetter, um einzukaufen oder mit dem Hund spazieren zu gehen. Manche standen auch einfach nur zwischen den Marktständen herum und unterhielten sich. Von der Hektik der Großstadt, die Emily aus Hamburg kannte, war hier nichts zu spüren.
Während sie gemütlich an ihrem Eis leckte, löste sich eine gebeugte Gestalt aus der Menge und bewegte sich langsam auf sie zu. Sie trug einen schwarzen Kapuzenumhang, der Emily bekannt vorkam.
„Guten Tag, Thekla“, sagte sie freundlich, als die alte Frau sie erreicht hatte. Thekla hielt mitten in der Bewegung inne und wandte den Kopf. Wie bereits am Tag zuvor stachen ihre pechschwarzen Augen unter der Kapuze hervor.
„Kannst Du mich sehen, Kind?“, fragte sie mit ihrer brüchigen Stimme.
Emily meinte, sich verhört zu haben. Dachte Thekla etwa, sie sei blind? „Natürlich kann ich Sie sehen.“
„Das ist gut“, krächzte Thekla. „Vielleicht hat Cora ja doch nicht übertrieben.“ Dann schlurfte sie weiter, als wäre damit alles gesagt.
Emily starrte ihr ratlos hinterher. Thekla konnte wirklich seltsame Fragen stellen. Doch dann fiel ihr auf, dass niemand sonst die alte Frau zu bemerken schien. Zumindest nahmen die Leute keinerlei Notiz von ihr, selbst wenn sie direkt in ihre Richtung blickten. Ein Passant wäre sogar fast mit ihr zusammengestoßen, ohne dabei aufzusehen oder sich anschließend noch einmal umzudrehen. Entweder war er völlig in Gedanken versunken oder hatte sie sofort wieder vergessen. Emily konnte sich das nicht erklären. Sie selbst hatte Thekla schon von weitem erkannt, gerade weil ihr Kapuzenumhang so auffällig war.
Doch bevor sie sich lange wundern konnte, wurde sie durch eine andere Stimme abgelenkt.
„Hallo, bist Du neu hier?“
Emily wandte den Kopf. Ein Mädchen, das etwa in ihrem Alter war, sah sie fragen an. Sie hatte verstrubbelte Locken, die in alle Richtungen abzustehen schienen, und das Gesicht voller Sommersprossen.
„Oh, hallo“, sagte Emily. „Ja, ich bin gestern hier angekommen. Ich besuche meine... äh.“ Sie kam ins Stocken, weil sie immer noch nicht sagen konnte, wer Cora eigentlich war.
Das Mädchen legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus. „Du besuchst Deine Äh?“
„Ja. Nein.“ Emily kam sich etwas dumm vor. „Es ist ein bisschen schwierig zu erklären.“ Jetzt hatte sie tatsächlich dieselben Worte verwendet, wie ihr Papa.
„Ist auch egal.“ Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Lynn. Willkommen in Heuberg. Es ist schön, dass Du da bist. Es gibt hier nicht so viele Kinder in unserem Alter. Die meisten meiner Freunde wohnen in den Nachbardörfern.“
„Ich bin Emily“, sagte Emily und war froh, das Thema wechseln zu können. Sie schüttelte die ausgestreckte Hand. „Du kannst mir bestimmt zeigen, was es hier zu entdecken gibt.“
Lynn zog einen Flunsch, was lustig aussah. „Hier gibt es nicht viel zu entdecken. Die Eisdiele hast Du ja schon allein gefunden.“ Sie deutete auf die halb aufgegessene Waffel in Emilys Hand. „Aber ich kann Dir meine Tiertour zeigen.“
„Tiertour?“
„Ja, Tiertour. Hier gibt es ziemlich viele Tiere. Hunde und Katzen und so. Frau Meier hat Wellensittiche und hängt den Käfig oft ins offene Fenster. Meine Nachbarn haben Meerschweinchen in einem Stall im Garten. Im Teich hinter den Wiesen leben ein paar Karpfen. Und auf den Höfen gibt es Hühner und Pferde. Solche Tiere eben. Die meisten sind meine Freunde.“ Lynn grinste verlegen.
„Ich mag auch Tiere“, stellte Emily fest. „Ich würde gerne Deine Tiertour kennenlernen.“
„Super!“ Lynn lachte erleichtert. „Aber jetzt kann ich noch nicht. Meine Mutter hat gesagt, dass ich zum Friseur muss. Wenn ich das jetzt nicht mache, brauche ich mich zu Hause nicht mehr blicken zu lassen.“
Jetzt war es an Emily zu grinsen. „Ja, das kenne ich. Meine Mutter kommt auch manchmal auf solche Ideen.“ Sie blies sich demonstrativ eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Heute Nachmittag dann?“
Lynn musste wegen der Haarsträhne lachen, schüttelte aber den Kopf. „Da habe ich noch Klavierunterricht.“ Sie streckte den Arm aus und zeigte auf einen der Marktstände. „Siehst du den Wagen da hinten? Den mit der roten Markise?“
Emily nickte.
„Der gehört meiner Oma. Ich helfe ihr morgen Vormittag, Eier zu verkaufen. Aber um zwölf Uhr kann ich dort weg.“
„Alles klar. Dann hole ich Dich morgen dort ab, einverstanden?“
„Einverstanden.“ Lynn winkte ihr kurz zu and wandte sich zum Gehen. Doch da fiel Emily noch etwas ein.
„Sag mal, wenn Du Dich so gut mit Tieren auskennst...“
„Ja?“ Lynn war neugierig stehen geblieben.
„Gibt es hier auch Ratten? In der Gasse in der meine..., äh, Tante wohnt, habe ich gestern so komische Schatten hin und her huschen sehen.“
Lynn runzelte die Stirn. „In welcher Gasse wohnt denn Deine..., äh, Tante?“
Emily wurde rot. Das war wirklich zu dämlich, wenn man nicht wusste, wen man eigentlich besuchte. Aber sie ließ sich nicht beirren. „In der Gasse mit den ganz alten Steinhäusern. Die mit den Strohdächern.“
Lynn sah sie einen Moment lang an.
„In Heuberg gibt es Fachwerkhäuser“, sagte sie dann. „Aber keine Häuser mit Strohdächern.“
Emily starrte verwirrt zurück. „Kopfsteinpflaster? Ein alter Brunnen mit Zieheimer?“
Lynn schüttelte nur stumm den Kopf. Sie sah aus, als habe sie sich gerade mit dem Finger an die Stirn tippen wollen, es sich dann aber anders überlegt. „Ich muss jetzt los“, presste sie schließlich hervor. Und ehe Emily noch etwas sagen konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Emily stapfte über den Marktplatz und ärgerte sich. Da hatte sie vielleicht das einzige Mädchen kennengelernt, das man in Heuberg kennenlernen konnte, und nur, weil sie so blöd nachgefragt hatte, dachte die andere jetzt, sie ticke nicht richtig. Dabei wusste sie nicht einmal, was sie falsch gemacht hatte. Sie war doch eben noch in der Gasse der Strohdächer gewesen.
Frustriert schüttelte sie den Kopf und aß den Rest ihrer Eiswaffel. Dabei hielt sie den Blick fest auf die Häuserreihe gerichtet. Dort hinten, vor der alten Scheune mit dem schiefen Giebel, hatte Cora sich verabschiedet. Gleich daneben musste es in die Gasse hineingehen, die zu dem Platz mit dem Ziehbrunnen führte. Eigentlich war der Eingang kaum zu verfehlen.
Sie erreichte die Stelle und sah sich um. Die Lücke zwischen den Häusern war durch einen Fahrradständer blockiert. Dahinter lagen alte Kisten, die dort garantiert schon seit Jahren vor sich hin gammelten. Hier konnte es also doch nicht gewesen sein. Vielleicht nebenan?
Sie ging ein paar Mal auf der Straße auf und ab. Die meisten Häuser waren direkt miteinander verbunden, ohne dass man zwischen ihnen hindurchgehen konnte. Und dort, wo es Durchgänge gab, waren diese vollgestopft mit altem Kram oder wurden am Ende durch eine Mauer begrenzt.
„Das gibt‘s doch gar nicht“, murmelte Emily und kratzte sich