Von der Reform des 'realen Sozialismus' zur Zerstörung der Sowjetunion -  - E-Book

Von der Reform des 'realen Sozialismus' zur Zerstörung der Sowjetunion E-Book

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Beschreibung

Die nach- und antikommunistische Weltöffentlichkeit hat eine hohe Meinung von Gorbatschow, oder doch wenigstens von seiner historischen Bedeutung. Dabei wird die postkommunistische Welt seiner Hinterlassenschaft gar nicht recht froh. Und erfreulich ist es ja wirklich nicht: Wo der reale Sozialismus geht, werden die Verhältnisse barbarisch.  Wie es zu diesem Ergebnis gekommen ist, erklärt das vorliegende Buch. Mit marxistischem Unterscheidungsvermögen kritisiert es – die politische Ökonomie des realen Sozialismus und ihre ruinöse Reform mit Hilfe marktwirtschaftlicher Erfolgsrezepte; – das Herrschaftssystem der Volksdemokratie und seine Ersetzung durch die Alleinherrschaft des Nationalismus; – die sowjetische Weltfriedenspolitik und ihre Kapitulation vor den zu jeder Erpressung bereiten NATO-Mächten, die an Gorbatschow ihren nützlichen Idioten hatten.  An den guten Absichten des letzten Generalsekretärs der KPdSU läßt das Buch genausowenig ein gutes Haar wie an deren Wirkungen. So stiftet es ein wenig Klarheit über Gorbatschows wirkliche historische Bedeutung.

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Karl Held (Hrsg.)

Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow

Von der Reform des ,realen Sozialismus‘ zur Zerstörung der Sowjetunion

 

GegenStandpunkt Verlag

 

 

© GegenStandpunkt Verlag 2023

Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH Kirchenstr. 88, 81675 München Tel. 089 2721604  Fax 089 2721605 Email: [email protected]

 

1. Auflage 1992 Nachdruck der 1. Auflage

 

Epub ISBN 978-3-96221-019-9

Inhalt
EinleitungDas Lebenswerk des Michail Gorbatschow: Die große Revision
1. KapitelAls der Sozialismus noch eine Weltmacht war ... Polemik gegen die Generallinie der KPdSU
Das Programm des sozialistischen Antikapitalismus: Mit Gerechtigkeitsidealen gegen die Klassengesellschaft
Die politische Ökonomie des realen Sozialismus: Planmäßige Zweckentfremdung von Lohn, Preis und Profit als Alternative zum Kapitalismus
Die Staatsräson des realen Sozialismus
Die sozialistische Ware
Der sozialistische Gewinn
Der Lohn des Sozialismus
Der sozialistische Außenhandel
Die politische Kultur des Arbeiter- und Bauernstaats: Mit aller Gewalt dem Volke dienen
Der „Staat des ganzen Volkes“
Die Partei leitet an
Das reiche politische Leben
Die Entwicklung des sozialistischen Menschen
„Wählen heißt sich bekennen“
Schonungslose Kritik
„Unterdrückung & Stalinismus“
Die Außenpolitik der sozialistischen Weltmacht: Mit Waffen und Friedensliebe in den Imperialismus eingemischt
Weltfriedensmacht mit Atomkriegsrüstung
Sozialistische Nachfrage auf dem Weltmarkt des Kapitals
Weltpolitik statt Weltrevolution
2. KapitelDie neue Generallinie: Glasnost & Perestrojka
Der Mißklang von Reykjavik: Gorbatschow zu seinem Treffen mit US-Präsident Reagan
Wende auf sowjetisch: Das Reformprogramm der KPdSU
Die Politik der Umgestaltung: Moralische Aufrüstung statt materialistischer Systemkritik
Suche nach dem endgültigen „Hebel“ für produktives Wirtschaften
Der Appell an den unzufriedenen Materialismus
Aufruhr im Überbau
3. KapitelDas „neue Denken“: Gutes Betragen als sozialistische Staatsräson
Die Programmschrift: Michail Gorbatschow, Perestrojka – Die zweite russische Revolution. Eine Rezension
Mängel des Stils
„Ein ganzes Arsenal konstruktiver Ideen“
„Ernüchterung über den Sozialismus“
Die fälligen Umwälzungen
Glasnost
Die Weltlage
Kooperation, nicht Konfrontation
Wie Gorbatschow den guten Ruf des Kommunismus ruiniert
Der Mensch Gorbatschow
Gorbatschow – der Anwalt der Menschheit
Liebesgrüße aus Moskau
Die „Überwindung des Dogmatismus“
4. Kapitel„Mann des Jahres“, „Mann des Jahrzehnts“, „Mann der Stunde“: Gorbatschows Welterfolg
Ein paar Anmerkungen zur angeblichen Reformunfähigkeit des Sowjetsystems
Michail Gorbatschow: Warum dieser Mann keinen Respekt verdient
Relativ neues ökonomisches Denken
Absolut verkehrte Politik
Total verrückte Außenpolitik
Methodenkult, den (Miß-)Erfolg der Perestrojka betreffend
Epilog
5. KapitelDie Ruinierung der „Kommandowirtschaft“: Vom Umbau zur Verabschiedung des alten Systems
Der Umbau der „Kommandowirtschaft“: In nur fünf Jahren in die Krise
Neue staatliche Kommandos und ihre Befolgung
Der Erfolg der Reformen: Eine Krise neuen Typs
Die Perestrojka stellt sich ihren Erfolgen – die Regierung arbeitet sich an der Lage ab
Der Überbau erledigt die wissenschaftliche Bankrotterklärung
Der letzte Hebel der Partei: Vertrauen ist gefragt
Die Sowjetunion verabschiedet ihr System: Vorwärts zum Kapitalismus
„Regulierte Marktwirtschaft“
„Hartes“ Geld anstelle von „Geld als Hebel der Ware“
Haushalt statt „Volkseigentum“
„Besteuerung“ anstelle der „Vergesellschaftung des Gewinns“
Der „richtige“ anstelle des „gerechten Preises“
Kredit – Parasiten im Staatsauftrag
Der „Markt“ – der neue universelle Hebel
Rechtshoheit anstelle „materialer Rechte“
Sozialfälle schaffen und betreuen anstelle der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“
Exkurs, betreffend die angebliche Alternativlosigkeit
6. KapitelDie Zerstörung der Sowjetunion: Von der Partei- und Staatsreform zum totalen Machtkampf
Die Zersetzung der KPdSU
,,Alle Macht den Sowjets!‘‘
Kommunismus – national vs. zentral
Von der „führenden Rolle der Partei“ zu „KPdSU kaputt!“
Der Aufstand der Vielvölker
Der Umgang mit dem für die Perestrojka gefährlichen Separatismus
Das Referendum vom Frühjahr 91: Die letzten Gründe für die Union
„Die erneuerte Union – eine sichere Zukunft für alle!“
Der erste gute Grund: Einige Jahrhunderte Staatsschicksale!
Der zweite gute Grund: Trennung schafft nationale Opfer!
Der dritte gute Grund: Wir alle sind eine große Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft!
Der vierte gute Grund: Sicherheit, Atomraketen und Weltmachtverantwortung sind unteilbar!
Der letzte gute Grund: Die Union geht über alles!
Von der bedrohlichen Weltmacht zum Almosenempfänger: Der Zerfall der Sowjetmacht
Von den Vorteilen und Nachteilen der Perestrojka
Der Machtverfall
Die äußeren Aspekte des Machtverfalls
Mit der Perestrojka in den permanenten Staatsnotstand
7. KapitelDie freiwillige Kapitulation: Von der Selbstkritik des Antiimperialismus zur Selbstaufgabe der Weltmacht Nr. 2
Die schwindende Opposition der Sowjetunion gegen SDI: Ende der „revolutionären Wende“ in der Rüstungsdiplomatie
Die Reaktion der USA
Rüstungsdiplomatische Wende? Fehlanzeige!
Die neue Militärpolitik: Frieden durch Rückzug
Innermilitärische Kritik
Die Rote Armee: nicht mehr rot und zwischen Bürgerkriegsfronten
Ideologische und wirkliche Abrüstung
Ohne Verwendungszweck
Die Rote Armee im Bürgerkriegseinsatz
Eine Regierung, die von ihren Einsatzbefehlen nichts wissen will
Alle reden von Putsch, aber die Putschisten fehlen
Kapitel 8Perestrojka geglückt – Sowjetunion tot. Und jetzt? Die Selbstzerstörung einer Supermachtund ihre unheimliche Erbengemeinschaft
Das Ende. Eine kurze Chronologie
Der „Putsch“ und die Folgen
Wie alles anfing: Perestrojka – Unzufriedenheit mit dem Erreichten als neues Partei- und Staatsprogramm
Glasnost: Beschwerden und Besserungswünsche als Therapie aller Mängel
Der Erfolg des Aufrufs zu produktiver Unzufriedenheit: Lauter Interessengegensätze – ignoriert, ins Recht gesetzt, also angestachelt
Kurzer notwendiger Rückblick auf die „klassische“ Lebenslüge des realen Sozialismus
Nochmal: Der notwendige Mißerfolg des Versuchs, jede Unzufriedenheit ins Recht zu setzen, um sie in die Pflicht zu nehmen
Die Logik der Radikalisierung des zersetzenden Reformkurses
Umgestaltung der Wirtschaft: Der ruinöse Wunsch der sozialistischen Staatsgewalt nach abstraktem Reichtum
Das neue Verhältnis der Staatsmacht zu ihrer materiellen Basis: Absahnen statt Planen
Der verlorengegebene Systemvergleich
Das neue oberste Staatsbedürfnis: Abstrakter Reichtum wie im Westen
Der gewaltsame Versuch, ein Wirtschaftssystem komplett auszuwechseln
Das notwendige Ergebnis: Der wirkliche, nicht der gewünschte Kapitalismus
Der kapitalistische Sinn des ökonomischen Ruins: „Gehe zurück auf ‚Los‘!“
Umgestaltung der Staatsmacht: Von der Selbstentmachtung der Partei zur Zerstörung des Staates
Die Freiheit zu opponieren: Ein Freiraum für unbefriedigte Machthaber
Vom Präsidenten bis ganz unten: Freisetzung der Staatsgewalt von der Parteikontrolle
Die Schaffung und Mobilisierung eines beleidigten Nationalismus gegen die zentrale Parteiherrschaft
Der staatszerstörende Kampf der Republiken um Autonomie
Die Selbstzerstörung der Machtzentrale des Sowjetstaats
Die Hinterlassenschaft: „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ – Weder Gemeinschaft noch Staaten in dem Sinn. Aber unabhängig – außer vom Westen
Das Volk: staatsbürgerlich und ökonomisch neu sortiert
Die neue Marktwirtschaft: Warten auf den Aufschwung, Schlußverkauf und Spekulation ohne Wert
Die kapitalistische Perspektive für Rußland & Co: Rohstoffe für Schulden, sonst nichts
Politik mit geerbten Waffen und der Streit um die Erbschaft
Die politische GUS-Hilfe des Westens: Entmachten, das Chaos Kontrollieren, Entscheidungen Offenhalten
Kleiner, aber notwendiger Nachtrag zu einer erbaulichen FrageWorin liegt sie nun, die „historische Bedeutung“ des Michail S. Gorbatschow?
1. Der Siegeszug einer Idee: „Kommunismus tot!“
2. Der unaufhaltsame Triumph der Freiheit in der ehemaligen Sowjetunion
Marktwirtschaft
Demokratie
3. Der Westen stellt sich um (I)
Der wilde Osten
Gefahren aus dem Süden
Wenig bewegt
4. Der Westen stellt sich um (II)
Das Lager
Neue Töne
Alte Töne
5. Gorbatschow nicht unterschätzen!

Einleitung

Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow: Die große Revision

Da erringt einer das Kommando über die eine der zwei „Supermächte“ der modernen Welt. Er regiert die Sowjetunion, die der Weltmacht des vereinigten demokratisch-kapitalistischen Westens unter Führung der USA Schranken setzt und dessen hochgerüstete Feindschaft aushält. Dieser Neue – einer der „zwei mächtigsten Männer der Welt“ – mobilisiert sein Volk für einen nationalen Aufbruch, der die beträchtlichen Produktivkräfte des Landes effektiver machen und seine Macht zu eigenständigen Eingriffen ins Weltgeschehen sichern soll. – Nach sechs Jahren ist das „sozialistische Lager“, das die Sowjetunion um sich formiert hatte, unwiderruflich aufgelöst. Die sowjetische Macht ist weltpolitisch im totalen Rückzug begriffen, ökonomisch bis an den Rand der Existenzunfähigkeit heruntergewirtschaftet. Noch bevor der doppelte Staatsbankrott fertig ist, wird der Sowjetstaat selbst in fünfzehn souveräne Bestandteile aufgelöst, die einander das Überleben nach Kräften schwer machen; die armseligsten davon haben ihren Völkern als einziges funktionierendes Produktionsverhältnis den Einsatz für eine gewaltsame Sortierung der ehemaligen Sowjetbürger nach Grenzen und völkischen Gesichtspunkten zu bieten. – Der Urheber des Desasters dankt ab, zusammen mit der von ihm ruinierten Staatsmacht – und erklärt sich weltöffentlich ein ums andere Mal im Prinzip hochzufrieden mit seinem Reformwerk. Ein Verrückter? Ein noch nie dagewesener Fall von Hochverrat? Oder was sonst?

Da boxt sich einer bis zur Führung durch auf der Karriereleiter der sowjetischen Staatspartei, die ihre Aufgabe u.a. darin sieht, ihr 300-Millionen-Volk einigermaßen effektiv an die Arbeit zu bringen, es wenn schon nicht besonders gut, dann doch sicher zu versorgen und mit viel patriotischem Stolz bei Laune zu halten. Das gelingt auch, aber nicht gut genug. Um die Laune zu verbessern, Volk und Führung im Engagement für neue Aufbauziele neu zu einen und so alle unbefriedigenden Fortschrittsbilanzen in Ordnung zu bringen, inszeniert der neue Chef eine allumfassende Kritik- und Verbesserungskampagne und legt seine gesamte Kadertruppe darauf fest. – Nach sechs Jahren unermüdlichen Reformierens hat das Volk wenig zu essen und zu wenig zum Heizen. Wo sein Arbeitseinsatz früher zu unproduktiv ausfiel und die Erträge, vor allem für die Massen selbst, zu wünschen übrig ließen, da findet das Sowjetvolk jetzt gar keine Gelegenheit, sich produktiv, geschweige denn zum eigenen Nutzen nützlich zu machen. Sein bescheidener Wohlstand, soweit vorhanden, ist restlos dahin; die sozialen Schutzgarantien des Staates sind nicht bloß unwirksam geworden, sondern annulliert. Die Staatspartei, die dieses Reformwerk bis zum bitteren Ende mitgetragen hat, ist entmachtet und wird verboten. – Und der Chef hat sich angesichts des angerichteten Massenelends und des Ruins der Sache, der er vorgestanden hatte, nur eines vorzuwerfen: eben diese Reformpolitik nicht entschlossener und schneller vorangetrieben zu haben. Was liegt da vor: Realitätsverlust? Oder ein selbst unter Politikern nicht ganz alltäglicher Fall von menschenverachtendem Zynismus?

Da wird einer an die Spitze der Partei gewählt, die in Rußland die Revolution gemacht hat und sich viel auf ihr Ethos zugute hält, immer nur den Willen des Volkes zu vollstrecken. Der neue Nachfolger Lenins führt einen Feldzug gegen die verlogene Selbstzufriedenheit des Partei-„Apparats“; er appelliert ans Engagement seines Volkes, ermuntert es zu produktiver Unzufriedenheit und revolutionärer Gesinnung, will es dazu anstiften, die Kontrolle über seine Lebensumstände selber in die Hand zu nehmen. – Nach sechs Jahren ist eine „Revolution“ passiert, ohne daß die werktätigen Massen sich selbst zum Subjekt irgendeiner „Entwicklung“ gemacht hätten. Die alte Produktionsweise ist kaputt, die Herrschaft der staatssozialistischen Einheitspartei gebrochen – und das Volk denkbar weit davon entfernt, mit den Ergebnissen etwas Gescheites, für sich Nützliches anzufangen. Es sieht zu, wie nationalistische Führungsmannschaften die Macht übernehmen, um sie zur Abgrenzung ihrer Machtbereiche zu benutzen. Von der althergebrachten politischen „Bevormundung“ ist es befreit – durch das alternativlose Angebot, sich zur Manövriermasse einer neuen völkischen Staatsmacht zu machen und auf gute Herren zu hoffen. Einem alltäglichen Kampf ums Überleben ist es ausgeliefert: ohne taugliche Mittel, total abhängig von ökonomischen „Prozessen“ und Entscheidungen mit Namen „Markt“, auf die es nicht den geringsten Einfluß hat und auch nicht nimmt. Was auch immer man von der ersten russischen Revolution und ihren Ergebnissen halten mag – das als „zweite russische Revolution“ gepriesene Ereignis hat eindeutig konterrevolutionäre Resultate: Die Leute sind politischen und ökonomischen Verhältnissen unterworfen, in denen ausschließlich fremde, ihren Interessen feindliche, herrschaftliche Zwecksetzungen bestimmend sind. – Der Veranstalter dieser „Revolution von oben“ ist durch deren Erfolg gleich selber freigesetzt worden von seinem Amt – und rühmt sich vor und in der ganzen Welt, seinem Volk die Freiheit und zivilisierte Staats- und Lebensverhältnisse beschert zu haben. Selbstbetrug? Oder der Volksbetrug eines Renegaten, der, vom KP-Vorsitzenden zum offenen Reaktionär geläutert, fürs Volk sowieso keine andere Freiheit kennt als die, sich in seiner totalen Abhängigkeit vom Gang der Geschäfte und der bürgerlichen Staatsmacht einzurichten?

Und ein letzter Aspekt: Da wird einer, als Chef, auch zum Cheftheoretiker des real existierenden Sozialismus. Also eines Standpunkts, der die demokratisch-kapitalistische Welt noch immer mit seinen paar Erinnerungen an kommunistische Kritik geängstigt, als „menschenfeindlich“ angeklagt und ihr Dogma von der Alternativlosigkeit der Herrschaft des großen Geldes und der politischen Gewalt praktisch widerlegt hat. Der „sozialistischen Idee“, „es“ müßte doch auch anders gehen, will der Mann mit seinem „neuen Denken“ neue Überzeugungskraft verleihen. – Nach sechs Jahren Redenhalten und Bücherschreiben enthält der „wissenschaftliche Sozialismus“, soweit vertreten durch das Oberhaupt dieser antikapitalistischen Alternative, endgültig nichts mehr, was der bürgerlichen Ideologie – vom „Markt“ als gelungener Versorgungsanstalt und vom Staat als Instanz zur Lösung all der Weltprobleme, die es ohne ihn gar nicht gäbe – fremd wäre, geschweige denn widersprechen würde. Die „Ideale des Sozialismus“ präsentieren sich als moralische Phrasensammlung, an der sogar der polnische Papst und die bayrische CSU nichts Anstößiges mehr entdecken können, sondern bloß noch den Beleg, daß Kapitalismus und Demokratie offenbar auch theoretisch unschlagbar und ohne Alternative sind. – Und der Schöpfer dieses „neuen Denkens“ freut sich an der freundlichen Aufnahme, die er weltweit den „sozialistischen Idealen“ verschafft hätte. Ein Fall von Verblödung im Amt? Oder die wunderbare Bekehrung eines Kommunisten zur alleinseligmachenden Markt- und Staatsgläubigkeit?

*

Wie auch immer: Mit seinen Glanztaten ist der letzte Generalsekretär der KPdSU und Präsident der Sowjetunion „unser Gorbi“ geworden.

*

Freilich erst nach und nach. Gorbatschows „neues Denken“ in der Außenpolitik zum Beispiel war dem vereinigten Westen zu Anfang höchst verdächtig. Da sah es doch lange Zeit so aus, als wollte dieser Mann die NATO und ihre Führungsmacht mit ihren Beteuerungen, keine militärische Überlegenheit anzustreben und zu jeder gleichgewichtigen Abrüstung bereit zu sein, beim Wort nehmen und in Verlegenheit bringen, womöglich sogar so schöne Projekte wie die „eurostrategische“ Aufrüstung der BRD und Reagans SDI erpresserisch verhindern. Seinerzeit mußte der westdeutsche Kanzler noch aus seiner profunden Geschichtskenntnis heraus an Goebbels erinnern, der schon die nationalsozialistische Eroberungspolitik so gut verkauft hätte, und seine sowieso gleichgesinnten NATO-Kollegen vor jeder Leichtgläubigkeit gegenüber dem neuen Häuptling im „Reich des Bösen“ (US-Präsident Reagan) warnen. Stück um Stück kam dann aber doch die praktische Klarstellung, daß der gute Mann im Kreml den Westen auf ganz andere Weise „beim Wort nehmen“ wollte. Er hat getestet, ob die Feindseligkeit der NATO-Staaten und deren Aufrüstung wirklich bloß – wie von ihnen behauptet – die Antwort auf eine durch die Sowjetmacht geschaffene Bedrohungslage wäre – und das Mittel für diese Testreihe war die einseitige Preisgabe einer sowjetischen Machtposition nach der andern, wann immer der Westen sich damit unzufrieden erklärte.

Auch dieses sowjetische Vorgehen hat die Mächte der Freien Welt zunächst einmal nur in ihrer Skepsis bestärkt. Denn bei allen Rückzugsmanövern der Sowjetmacht blieb ja immer noch das Ärgernis bestehen, daß da ein riesengroßer Staat mit seinem abweichenden System sich und noch ein paar andere Länder als Ausnahme der kapitalistisch-demokratischen Regel entzog und sogar mit weltkriegstauglicher Gewalt auf seinem Recht bestand, das westliche Monopol auf staatliche und internationale Ordnung zu brechen. War die Nachgiebigkeit Gorbatschows nicht im Grund nur eine Falle, um dem Westen hinterrücks eine dauerhafte Koexistenz mit der realsozialistischen Staatsalternative abzulisten? Der Hoffnung des neuen Kreml-Herrn, die Feindseligkeit des Westens ließe sich durch eine Minderung der bedrohlichen Rüstungsbestände entkräften, setzten die NATO-Mächte die Klarstellung entgegen, daß in Wahrheit ja gar nicht – wie immer behauptet – die Feindschaft wegen der Waffen und der von ihnen ausgehenden Bedrohung da sei, sondern die Waffen, die eigenen nämlich, wegen der Feindschaft, die sich das „Reich des Bösen“ schlicht dadurch zugezogen habe und auch verdiene, daß es sich eben nicht in die „Eine Welt“ des weltweiten Kapitalismus und des globalen amerikanisch-westeuropäischen Machtmonopols einfügt. Doch auch da fand Gorbatschow allmählich die richtige Antwort: Reformen, unwiderrufliche, die an den politischen Idealen des westlichen Systems Maß nahmen und dem Sowjetreich die Heimkehr ins Weltreich der kapitalistischen Zivilisation und demokratischen Gewalt bescheren sollten.

Dennoch: So recht überzeugen konnte auch das noch nicht. Denn selbst der Umsturz der abweichenden innenpolitischen Kultur im Sowjetstaat und die „marktwirtschaftlichen Reformen“ waren zunächst einmal noch die autonom gewählte Politik einer souveränen Weltmacht, die sich noch immer auf einen eigenen Staatenblock und ein irgendwie mitmachendes Volk stützen konnte; und insofern waren ihre Ergebnisse noch immer nicht so irreversibel, wie man es im Westen mittlerweile verlangen durfte. Argwöhnisch wurde von den demokratischen Gegnern jeder „bloß destruktiven“ Kritik überprüft, wo die destruktive Kritik der sowjetischen Führung an ihrem System und ihrer Macht doch noch eine konstruktive Absicht verriet – und da gab es eine Menge „Rückfälle“ zu beklagen. Da wurde ja doch noch manche Versorgungsnotlage durch Befehle von oben gebremst; den Balten wurde ihr Ausstieg aus der Union und den Kaukasiern ihr Grenzkrieg nicht erlaubt; bei Personalentscheidungen wurden nicht immer Harvard-Schüler bevorzugt. Und ganz übel wurde von den Anwälten weltweiter Demokratie die Volksabstimmung im Frühjahr 91 vermerkt, die den Fortbestand des sowjetischen Unionsstaats sichern sollte und sogar in diesem Sinne ausfiel. Die geschworenen Feinde jedes revolutionären Umsturzes waren eben mit nichts geringerem mehr zufriedenzustellen als mit dem totalen Umsturz des ganzen Systems; Anhänger des Dogmas, daß der Mensch ohne Staat nicht leben kann, maßen ihren sowjetischen Kollegen an den Fortschritten des staatlichen Zerfalls, den er herbeiregierte.

Unterdessen kam die Sache voran. Zur Überraschung der Freien Welt entledigte sich der Mann in Moskau seiner Bündnispartner, die auf ihre Weise schon seit längerem den Absprung vom realen Sozialismus zum nationalen Kapitalismus suchten; gegen alle Bündnisdisziplin setzte er deren Nationalismus ins Recht, der dementsprechend antisowjetisch aufblühte und im Anschluß an den Westen sein Glück suchte. Ohne große Vorbehalte übergab der Sowjetpräsident die DDR dem NATO-Pfeiler BRD – ab da waren Kohl und sein Volk sich tatsächlich sicher, daß in Moskau kein kommunistischer Goebbels, sondern ein „Ehrendeutscher“ (Bild-Zeitung) regierte. Ganz ungetrübt blieb zwar selbst dieses Verhältnis nicht: „Unser Gorbi“ war, offenbar aus alter kommunistischer Kumpanei, nicht bereit, nach der DDR auch noch deren letzten Chef Honecker an Kohls neue Großmacht auszuliefern. Er kam aber gar nicht mehr dazu, sich mit diesem oder anderen „Rückfällen“ die deutschen Sympathien wieder zu verscherzen. Denn mittlerweile war seine Reformpolitik wirklich irreversibel geworden: Er hatte sich geweigert, den Staatsnotstand auszurufen, den er herbeigeführt hatte; den halbherzigen Rettungsversuch seines Stellvertreters Janajew hatte er scheitern lassen; und statt von dessen Junta ließ er sich von dem führenden Vertreter des nationalrussischen Antisozialismus und neuen Hoffnungsträger des Westens Jelzin absetzen. Am Ende sprach er ein würdevolles Schlußwort über 70 Jahre Sowjetunion; als hätte der einstige Reagan-Scharfmacher C. Weinberger das Drehbuch dafür geschrieben, verabschiedete er das „Reich des Bösen“ aus der Weltgeschichte – „mit einem Winseln“ statt mit einem „Knall“.

*

Damit hat der Mann den Gipfel seiner Beliebtheit erreicht. Freilich: Damit hatte es sich dann auch. Schon Tage nach seinem Rücktritt vom mit ihm erloschenen Präsidentenamt der nicht mehr existierenden Sowjetunion fragt kaum noch einer nach ihm. Der Moskauer „Putsch“ und das weltweite Geschrei nach Freilassung des einzig legalen SU-Präsidenten ist noch kein Jahr vorüber, und Gorbatschow ist ein toter Hund. Für die Ausnutzung der neuen Weltlage, die er herbeigeführt hat, kann keiner ihn brauchen; schon gar nicht seine westlichen Freunde und Kollegen, die voll damit beschäftigt sind, ihre Beute zu zerlegen und verdaulich herzurichten. Geradezu klassisch erfüllt der Mann die Rolle des Mohren, der seine Schuldigkeit getan hat.

Was ihm bleibt, ist die literarische Vermarktung seiner Verdienste um die Sache des Westens. Da hat er noch einen gewissen Marktwert: als Kronzeuge, als authentischer Bürge, ja als Inkarnation einer großen Geschichtslüge, die im Westen prima ankommt, über den wahren Sinn und die tieferen Gründe seines großartigen Lebenswerks. Gorbatschow stellt sich nämlich schlicht auf den Standpunkt des erreichten Ergebnisses und gibt ihm recht: Wenn Sowjetmacht und Sozialismus zugrunde gegangen sind, dann hat nicht er etwas falsch gemacht, sondern dann haben die beiden es nicht besser verdient; dann hat „das Leben“, „die Geschichte“ oder sonst eine metaphysische Rechtsinstanz, an die auch ein gottloser Russe glauben kann, ihr Verdikt über ein ebenso lebensunfähiges wie lebensunwertes „Experiment“ gesprochen. So deutet er sich das faktische Ergebnis seiner Politik als einen Erfolg, der dieser recht gibt: Sein Zerstörungswerk hätte bloß die Lebensunfähigkeit und -unwürdigkeit des kaputtgegangenen Systems – die sonst womöglich verborgen geblieben wäre... – offenkundig gemacht. Die einzige kritische Nachfrage, die er sich damit beim westlichen Publikum einhandelt – warum das fünf lange Jahre gedauert hat und warum er sich anfangs so sehr für die Verbesserung eines verwerflichen und untauglichen Systems eingesetzt hat? – beantwortet der Ex-Präsident öffentlich so: Anders wäre es gar nicht gegangen; um gegen das System Erfolg zu haben, hätte er sich für es engagieren müssen; umgekehrt sähe man doch am Ergebnis, welch gutem Zweck seine Reformen gegolten hätten. Sechs Jahre Perestrojka – ein Trick, um den realen Sozialismus auszuhebeln: Das kommt gut an bei einem Publikum, das vom Weltgeschehen sowieso nicht mehr wissen will, als wo die Guten stehen und wie sie die Bösen fertigmachen. Und wenn der Mann, der mit dem lebenden Leichnam da drüben Schluß gemacht hat, diese Sicht der Dinge bestätigt, dann bekommt er sogar von der CSU, die ihn bis zuletzt für einen weltpolitischen Fallensteller gehalten hat, stehende Ovationen und im Münchner Hofbräuhaus einen Gamsbarthut aufgesetzt, damit auch jeder sieht, welche Gedanken darunter zu Hause sind.

*

Trotzdem: Ganz so ist die Geschichte nun doch nicht abgelaufen.

Was die realsozialistische Parteiherrschaft und ihre staatlich gelenkte Wirtschaft betrifft, über die Gorbatschow 1985 das Kommando übernahm, so hat beides funktioniert; auf seine „volksdemokratische“ und nicht-kapitalistische Weise eben; für die Bedürfnisse der aufstrebenden Sowjetmacht nicht gut genug, aber jedenfalls viel zu gut für die Weltherrschaftsbedürfnisse des Freien Westens, der kein Mittel fand, den Gegner kleinzukriegen oder wenigstens zu paralysieren. Ein produktiver Reichtum ist zustandegekommen, von dem die reformierten Nachfolge-Republiken der Sowjetunion noch eine ganze Zeitlang zehren und mit dessen Zerstörung sie einiges zu tun haben – Fernsehberichte von den jeweils aktuellen Bürgerkriegen im ehemaligen „roten Imperium“ zeigen ganz unabsichtlich nebenher die ansehnliche Ausstattung ehemals sowjetischer Provinzstädte. Und was die Politik der „Umgestaltung“ betrifft, so war der ruinöse Umsturz, zu dem sie geführt hat, wirklich nicht ihr Ziel; sie wollte die Lage verbessern und hat alles aufgeboten, was die zuständige Partei als Mittel zur Verbesserung der Verhältnisse ansah.

Am allerwenigsten ist wahr, daß mit dem ruinösen Ergebnis der Reformbemühungen Gorbatschows die Unreformierbarkeit und insofern die letztliche Lebensuntüchtigkeit des realsozialistischen Systems – „in unserer rasch sich wandelnden Welt...“ – bewiesen wäre. Da wäre doch erst einmal der eigentümliche Reformwille selbst ins Auge zu fassen, der sich da betätigt hat; der verbessern wollte, ohne sich einen Begriff von den Prinzipien der unbefriedigenden Verhältnisse, von den das Wirtschaftsleben bestimmenden staatlichen Imperativen und deren Widersprüchen, vom konterrevolutionären Unsinn einer idealen Volksdemokratie und anderen Fehlern der Partei zu machen; der stattdessen sein systemimmanentes Verbesserungswesen mit immer tieferer Bewunderung der Funktionstüchtigkeit des Weltkapitalismus und des in dessen Zentren staatlich verfügbaren Reichtums verbunden und daran ausgerichtet hat. Da wäre das absurde Programm zu würdigen, die realsozialistischen Wirtschaftsbeziehungen durch immer weiter gehende Anleihen beim überwundenen System – Anleihen theoretischer, wirtschaftspolitischer und wirklicher finanzieller Art – in Schwung zu bringen; völlig rücksichtslos dagegen, wie eins zum andern paßte, wie sich die Kopie zum Original verhielt und was der versuchten Nachahmung kapitalistischer Erfolge alles geopfert werden mußte, an eigener Effektivität wie auch an materiellen Mitteln für die Schuldenbedienung. Dem real existierenden Kapitalismus würde doch auch niemand „Reformunfähigkeit“ nachsagen, weil der Versuch, ihn durch Einrichtungen des realen Sozialismus wie z.B. eine tatsächlich wirksame Arbeitsplatzgarantie für jedermann und die Abschaffung der Konkurrenz zu „verbessern“, unweigerlich scheitern müßte – man sollte also auch den sowjetischen Sozialismus nicht dafür haftbar machen, daß sein Leitungs- und Verteilungssystem durch staatliche Diktate wie z.B. dasjenige, den zentral gelenkten Warenabsatz durch „Marktbeziehungen“ zu ersetzen, zersetzt worden ist.

Der Grund dafür, daß der mit Gorbatschow zur Herrschaft gelangte, ganz konstruktiv gemeinte Reformwille nichts als Unheil und Niedergang bewirkt hat, liegt in dessen Fehlern. Vor allem in der zunehmend fanatischen Verehrung dessen, was sozialistische Systemvergleicher für das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus gehalten und zu kopieren versucht haben; außerdem in der verkehrten Rechnung, Anpassung an den Feind und dessen weltpolitische Forderungen würde das „sozialistische Lager“ zum gesuchten und beliebten Partner der „reichen“ Nationen machen. Fehler, die auf einen politischen Standpunkt zurückgehen und verweisen; den Standpunkt nämlich, den eigenen realen Sozialismus gar nicht als das revolutionäre Gegenteil der kapitalistischen Demokratie anzusehen, sondern als alternativen Lösungsweg für identische „Weltprobleme“, der sich ebensogut durch Elemente des andern Systems bereichern könnte, wie dieses von ihm lernen sollte. Ein Standpunkt, der glatt ignoriert, daß der reale Sozialismus die „Probleme“ des kapitalistischen Wirtschaftens und des demokratischen Regierens für sich wirklich abgeschafft hat, und der andererseits von den wirklichen Problemen und Widersprüchen nichts wissen will, die die realsozialistische Partei sich stattdessen geschaffen hat.

Darin freilich, mit diesem Standpunkt, ist Gorbatschow ganz und gar ein Produkt des realen Sozialismus, verlängert nämlich dessen Fehler – und insofern zeugt sein fatales Reformprogramm von der Verkehrtheit der Sache, die er verbessern wollte. Denn so läßt sich der fundamentale Widerspruch dieses Systems durchaus methodisch zusammenfassen: Es hatte prinzipiell mit dem Kapitalismus und dessen politischer Gewalt gebrochen und wollte doch nie deren revolutionäres Gegenteil und richtiger Kommunismus sein. Geld und Kapital, Lohnarbeit und Gewinn wollte dieser Sozialismus nicht definitiv abgeschafft, sondern per Verstaatlichung einer besseren Verwendung zugeführt haben; die Staatsgewalt sollte nicht überflüssig, sondern erst so richtig – als wäre das schon immer ihr wahrer Beruf gewesen – zur Volksbeglückung eingesetzt werden. Die proletarische Revolution wurde so verwaltet, als hätte sie Kapitalismus und Demokratie im Grunde gar nicht abschaffen, sondern bloß radikal und menschenfreundlich reformieren sollen; im Geiste der sozialen Gerechtigkeit, gegen die der übergroße Machtbesitz der Kapitalisten verstoßen hätte. Auf der prinzipiellen Gegensätzlichkeit der beiden „Gesellschaftssysteme“ hat die demokratisch-kapitalistische Seite jedenfalls seit jeher viel radikaler und unversöhnlicher bestanden als die sozialistische. Was die Stalinisten und ihre Nachfolger immer angestrebt haben: im Innern der Staaten „nationale Einheitsfronten“ mit allen aufrechten bürgerlichen Demokraten, im Weltmaßstab die „friedliche Koexistenz“ von Staaten „unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“, genau damit haben sich die regierenden Demokraten nie abgefunden – außer auf Zeit unter dem Druck eines kriegerischen Faschismus und unter der Bedingung weitgehender Selbstverleugnung der als Hilfstruppe akzeptierten Kommunisten –, geschweige denn jemals einverstanden erklärt.

Und sie haben letztlich Recht bekommen – ausgerechnet durch den letzten Chef des realsozialistischen Lagers, der den Standpunkt der Vereinbarkeit und den Willen zur Versöhnung von Sozialismus und demokratisch-kapitalistischem System konsequent ins Extrem getrieben hat; folgerichtig bis hin zur Preisgabe und Zerstörung alles Antikapitalistischen und der bürgerlich-demokratischen Herrschaft Entgegengesetzten am eigenen Gemeinwesen und bis hin zur einseitigen Räumung aller weltpolitischen Machtpositionen, die zur Absicherung der großen und schönen Staats-alternative hatten dienen sollen. Mit seiner Entschlossenheit, notfalls auf eigene Kosten einen „beiderseits gedeihlichen“ Frieden mit der imperialistischen Welt zu machen und von deren „Errungenschaften“ für die Entwicklung des eigenen Lagers zu profitieren, gewissermaßen eine weltweite „Volksfront“ aller fried- und fortschrittsliebenden Kräfte herzustellen und dafür jede Unvereinbarkeit seiner Sache mit dem Weltmarkt und dessen imperialistischen Hütern zu verleugnen und zu eliminieren, war Gorbatschow ein Geschöpf und Verfechter des klassischen sozialistischen „Revisionismus“, der selbst mit der gelungenen Revolution keinen prinzipiellen, „antagonistischen“ Gegensatz zur alten bürgerlichen Welt eröffnet haben wollte. Mit seiner Politik der Perestrojka ist er über diesen Widerspruch hinausgegangen und hat ihn schließlich aufgelöst – gegen sein eigenes System, durch die Revision alles dessen, was darin eben doch an Unvereinbarkeit mit der Herrschaft der bürgerlichen Staatsgewalt und des Kapitals, an Umsturz und Neubeginn auf anderer Grundlage enthalten war. Unausweichlich war diese Auf-Lösung gewiß nicht; der Sowjetsozialismus hätte mit seinem Widerspruch noch munter weiterwursteln können – schließlich wächst der Kapitalismus auch unter lauter Wahnwitz und Widersprüchlichkeit. Es war schon Gorbatschows Radikalismus nötig, um den Fehler des Systems zu seiner Zerstörung werden zu lassen.

*

Aus der Identität des Fehlers erklärt sich nebenbei, warum die Politik der Perestrojka in der KPdSU zwar je länger, je mehr auf Widerstände, nämlich auf den Wunsch nach Erhaltung des Aufgebauten und bei manchen, die irgendwie noch die Ideale eines revolutionären Gegensatzes zum Rest der Welt im Kopf hatten, auch auf ideologisches Unbehagen, aber nicht auf wirkliche Kritik gestoßen ist: Dazu hätten sich die wohlerzogenen sowjetischen Sozialisten ja allen Ernstes die Systemfehler ihres gesamten bisherigen Aufbauwerks klarmachen müssen; sie hätten der Perestrojka mit richtiger Selbstkritik statt mit ihrer konservativen Liebe zu den vertrauten „Errungenschaften“ begegnen müssen.

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Noch weniger Kritik ist Gorbatschow von Seiten der Linken im Westen zuteil geworden. Die sahen sich im Gegenteil in ihrem Kampf um die Anerkennung ihrer politischen Alternativvorstellungen durch das herrschende System bestätigt und bestens unterstützt durch eine sowjetische Politik, die auf Beseitigung alles demokratisch und marktwirtschaftlich Anstößigen am realsozialistischen System aus war. Allenfalls waren sie peinlich berührt, wenn man im „Vaterland aller Werktätigen“ bereits Positionen räumte, die die sozialistischen Kritiker im Westen noch als irgendwie erheblich einschätzten; in der Weltpolitik überholte Gorbatschows bedingungsloses Entgegenkommen bisweilen ja sogar sozialdemokratische Mahnungen, ein wenig müßte der Westen sich doch wohl auch „bewegen“, und blamierte bürgerliche NATO-Gegner und SDI-Skeptiker. Nur ziemlich vereinzelt mochten Systemkritiker im Westen nicht billigen, daß das realsozialistische Lager gar nichts anderes mehr anstrebte als die „Heimkehr“ in eine imperialistische Welt, an der sie Entscheidendes auszusetzen fanden.

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Zu diesen abweichenden Stellungnahmen gehören die im folgenden dokumentierten – zum Teil neugefaßten – Artikel, hauptsächlich aus der politischen Zeitschrift „MSZ – Gegen die Kosten der Freiheit“, die bis 1991 in München erschienen ist. Am Anfang steht ein ausführlicher Verriß der „Generallinie“ der sowjetsozialistischen Partei, an die der seinerzeit ins Amt gelangte KP-Generalsekretär Gorbatschow so vehement angeknüpft und die er korrigiert hat, ohne sie zuvor einer stichhaltigen Kritik zu würdigen. Die folgenden, in sechs Kapiteln geordneten, überarbeiteten und neu eingeleiteten Beiträge aus den Jahren 86 bis 91 sind so etwas wie ein fortlaufender Kommentar zu Programm und Praxis der Perestrojka, der die Fortschritte dieser Politik bis hin zur Aufgabe des 1917 revolutionär etablierten realen Sozialismus nicht schildert, sondern erklärt. Das Ende des Unternehmens behandelt ein Aufsatz, der der Nr. 1-92 der politischen Vierteljahreszeitschrift „Gegenstandpunkt“ entnommen ist. Die Frage nach der Bedeutung des Geschehenen – für die Geschichte, die Linke, den Kapitalismus, die Welt usw. – wird in einem abschließenden Originalbeitrag nach bestem Wissen und Gewissen des Herausgebers beantwortet.

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1. Kapitel

Als der Sozialismus noch eine Weltmacht war ... Polemik gegen die Generallinie der KPdSU

Was war der reale Sozialismus? – Ein Verbrechen.

Wie hat er funktioniert? – Schlecht.

Was war sein Fehler? – Eigentlich alles.

Kaum gestellt, sind Fragen nach der früheren sowjetischen Art, Staat zu machen und zu wirtschaften, schon beantwortet. Es genügt, daß da nach anderen Prinzipien regiert wurde als nach denen, die in den westlichen Heimstätten der Freiheit das Geschäft garantieren, und daß dort dem Zugriffsrecht der demokratisch legitimierten Weltmächte Schranken gesetzt waren – mehr braucht der demokratische Verstand gar nicht zu wissen, um sich sicher zu sein, daß das alles erstens unmöglich in Ordnung, sondern Unrecht war und zweitens nie und nimmer gut gehen konnte, letztlich. Und damit weiß er auch schon alles: Dort hat eine Staatsgewalt Gewalt ausgeübt, was bei uns undenkbar ist, also eine „Gewaltherrschaft“ ihr Unwesen getrieben. Dort haben keine wohlgefüllten Kaufläden die Kaufkraft der Massen zum Preisvergleich eingeladen und öfters überfordert, so daß ihre Schaufenster wohl gefüllt blieben, also haben Mangel und Mißwirtschaft geherrscht. Entbehrungen gingen nicht – wie heute im Osten und wie im Westen schon immer – auf das Konto marktwirtschaftlicher Sachzwänge und gediegener Haushaltsführung im Staat, waren also kein „Problem“, zu dessen „Bewältigung“ man den verantwortlichen Inhabern von Geld und Gewalt viel Glück wünschen muß, sondern das Ergebnis systembedingter Menschenfeindlichkeit. Kein einziger freiheitlicher Medienkonzern hat für Meinungsvielfalt, Unterhaltung und Produktinformation gesorgt, also eine geistige Wüste die Köpfe gleichgeschaltet. Eine Armee war vorhanden, also für sämtliche legitimen Verteidigungsbedürfnisse viel zu groß. Und so weiter. Marode, böse und gefährlich – wem diese Erkenntnis nicht genügt, der steht schon im Verdacht, er wäre ein Liebhaber hinfälliger Unrechtssysteme.

Dies um so mehr, als der altbekannte Erkenntnisstand über den realen Sozialismus mittlerweile durch keinen geringeren als den letzten Oberkommandierenden der Sowjetmacht und seine Staatspartei selbst Recht bekommen hat. Die haben ihr System eigenhändig verworfen, wegen Funktionsuntüchtigkeit und unüberbrückbaren Differenzen zum Volkswillen – freilich erst am Schluß, nachdem sie es sechs Jahre lang heruntergewirtschaftet hatten. Zu Anfang war die Diagnose mangelhaften Funktionierens und einer gewissen Entfremdung zwischen Führung und Basis noch anders gemeint: als Identifizierung lösungsbedürftiger Probleme und nachdrückliche Anmeldung von Reformbedarf. Da war der politische Patriotismus der regierenden wie regierten Sowjetmenschen, der sich um festgestellte Mängel konstruktiv sorgt, noch intakt – allerdings auch bloß der. Die neue Parteileitung, so „revolutionär“ sie mit ihrem selbstkritischen Reformwillen auch auftrat, hat sich weder Rechenschaft darüber gegeben, wie denn ihr realer Sozialismus – außer eben „nicht optimal“ – funktionierte, noch die Frage auch nur aufgeworfen, ob ihre Partei den Kommunismus, der doch irgendwie im Programm war, überhaupt richtig angepackt hatte. Sie war so befangen in ihrem dringlichen Wunsch, alles Bisherige besser zu machen, daß ihr am Ende das westliche Vorbild, an dem sie ihre Mißerfolge und Reformbedürfnisse bemaß, und eine Politik der Versöhnung auf eigene Kosten als Weg der Verbesserung mehr einleuchteten als ihre bisherige Art sozialistischen Regierens selbst, die doch eigentlich verbessert werden sollte. Keine Spur mehr von, keinerlei Interesse an dem „wissenschaftlichen Sozialismus“, auf den die Partei doch einmal als zuverlässigen Leitfaden geschworen hatte; stattdessen jede Menge gute Absichten und ein Ideal vom sozialistischen Fortschritt, dem zuerst etliche Funktionsbedingungen des real existierenden Sozialismus und am Ende das realsozialistische Programm selbst geopfert wurden.

Schon allein deswegen hat die im Folgenden nachgedruckte Analyse des sowjetischen „Systems“ und Polemik gegen seine Widersprüche und Verkehrtheiten auch damals, als im Sowjetreich schonungslose Kritik angesagt war, keine Chance gehabt, von den reformwütigen Verbesserern des realen Sozialismus auch bloß beachtet zu werden. Ihr Nutzen blieb theoretischer Natur und auf Leute beschränkt, die es wissen wollten, wie das alternative Weltreich, das aus Lenins Revolution hervorgegangen war, denn wirklich funktionierte, und die sich weder mit der tiefsinnigen Antwort „Noch nicht gut genug!“ noch mit Bekundungen demokratischen Abscheus und kapitalistischen Erfolgsdünkels abspeisen lassen mochten. Diesen Nutzen haben Analyse und Polemik behalten und sind daher nach wie vor politisch brauchbar gegen das alte Feindbild, das heute allenthalben und vor allem im Osten triumphiert. Und das nicht zuletzt auch da Anerkennung findet, wo man sich vom realen Sozialismus distanziert, also der Verurteilung des kaputtgegangenen Systems berechnend Recht gibt, um wenigstens die „Ideale des Sozialismus“ ein wenig zu retten. Dem Sozialismus als „geistige Tradition“, als Beitrag zur Geschichte des „utopischen Denkens“ ein Plätzchen im Arsenal ehrbarer bürgerlicher Ideologien sichern und dafür auf der Leiche des realen Sozialismus herumtrampeln, der so etwas Edles „verfälscht“ hätte: damit mögen sich linke Sinnsucher trösten.

Das Programm des sozialistischen Antikapitalismus: Mit Gerechtigkeitsidealen gegen die Klassengesellschaft 1)

Die KPdSU und ihre Schwesterparteien – diejenigen, die in den Staaten des Ostblocks 40 Jahre lang an der Macht waren, wie auch die meisten anderen KPs, die in der Freien Welt nie so recht zum Zug kamen – haben eine traditionsreiche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft beerbt und dort, wo sie regieren durften, zur Richtschnur ihrer Gewaltausübung gemacht. Erstens behaupten sie wie alle Kommunisten, daß es sich um Klassengesellschaften handelt, in denen sich das Privateigentum durch die Indienstnahme der Lohnarbeit vermehrt, so daß der Reichtum in Form von Kapital akkumuliert wird und seine Produzenten dauerhaft von ihm ausgeschlossen werden; beteiligt sind sie daran nur insoweit, wie die Erhaltung ihrer Arbeitskraft ihre Entlohnung notwendig macht. Zweitens richtet sich die sozialistische Kritik gegen die politische Herrschaft, die ihre Gewalt ganz in den Dienst des Kapitals stellt, die Abhängigkeit der arbeitenden Klasse vom Privateigentum durch Recht und Ordnung absichert und die Alternativen dieses Geschäfts, nämlich alternative Geschäftsführungen, zur Wahl stellt und so die Gewalt demokratisch besiegelt.

Bei diesen Einsichten lassen es die Verfechter des Sozialismus allerdings nicht bewenden. Als müßten sie ihren beiden zentralen Einwänden – die im übrigen Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktionsweise zusammenfassen – erst noch den gebührenden Nachdruck verleihen; als wäre die Erklärung der materiellen Abhängigkeit, also wie und warum die Leute ein Leben lang im Betrieb, als Verbraucher und Steuerzahler, als Wähler und Arbeitslose, als Mieter und Soldaten usw. zur Manövriermasse der Inhaber des Kapitals und der politischen Macht gemacht werden, noch gar kein definitives Argument dagegen; als wären die Geschädigten, die „für den Sozialismus gewonnen“ werden sollen, nie und nimmer durch die Erkenntnis zu beeindrucken, warum sie mit Lohnarbeit auf keinen grünen Zweig kommen, sondern von den hohen Werten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit völlig ausgefüllt und nur durch deren Beschwörung aufzuregen: So schreiten die linken Parteien, von denen hier die Rede ist, zu einem dritten Vorwurf gegen die bürgerliche Ordnung. Nämlich dem: Diese Ordnung verfahre, indem sie der Herrschaft über die arbeitenden Volksmassen und ihrer Ausbeutung dient, ungerecht gegen die Massen und überhaupt nicht demokratisch, werde also den in ihrer Verfassung niedergelegten Prinzipien nicht gerecht. Nur zur Verschleierung der wirklichen Verhältnisse bedienten sich die Mächtigen der formellen Praktiken der Volksherrschaft, wenn sie ihre Vor-Rechte sicherten.

Was wie eine geringfügige Abwandlung der materialistischen Anklage gegen Ausbeutung und die sie organisierende politische Gewalt klingt – und sich auch desselben Materials als Beleg bedient –, bringt einen gänzlich anderen Standpunkt zum Charakter bürgerlicher Herrschaft zum Ausdruck. Wer die schädlichen Wirkungen der Lohnarbeit und des staatlichen Zwangs auf die arbeitende Klasse auf die Abwesenheit von Recht und Demokratie zurückführt, der hält von diesen Verkehrsformen erstens unendlich viel, zweitens etwas ganz anderes, als was sie wirklich sind und leisten, und verlangt drittens als politische Konsequenz ihre Verwirklichung, als wäre der demokratische Rechtsstaat gar nicht das, was er ist. Und zwar verlangt er das im Namen der Opfer und von der politischen Gewalt, deren Ideologie – für die Untertanen ebenso unverzichtbar wie segensreich zu sein – bitter ernst genommen wird. Nicht in der Weise jedoch, daß sie als billige Idealisierung der politischen Herrschaft zurückgewiesen wird. Das maßen sich die Herren Sozialisten im 20. Jahrhundert nicht an, den Anspruch auf Gerechtigkeit, der niemandem einen Vorteil zuerkennt, der nicht auf Leistungen und Opfer seinerseits verweisen kann, als die Moral einer Klassengesellschaft anzugreifen. Statt in dem Verlangen nach gerechter Behandlung – das es auch ohne das Zutun linker Kritiker reichlich gibt: es ist der Standpunkt, der das praktische Sich-Fügen begleitet, nämlich in ein selbstbewußtes Pochen auf allgemeinverbindliche Normen umdeutet – das falsche Bewußtsein der kapitalistischen Konkurrenz und ihrer rechtlichen Verwaltung zu bekämpfen, feiern moderne Sozialisten diese affirmative Unzufriedenheit, die nicht wahrhaben will, wie andere mit einem umspringen. Daß die Gleichheit – die gleiche Behandlung sehr unterschiedlicher Sorten Bürger, die Unterwerfung von sehr ungleich ausgestatteten Klassen unter die Zwänge des Gesetzes – nur in einer Gesellschaft Sinn macht, die auf Gegensätzen beruht, will ihnen nicht in den Kopf. Das wirkliche Recht, die praktizierte Gleichheit und Freiheit, alles also, womit der Staat gewaltsam die Dienste einer Klasse für das Eigentum der andern festschreibt – „Jedem das Seine!“ –, blamieren sie vor dem Ideal, das sie dem „Auftrag“ des Staates unterjubeln. Am „eigentlichen“ Zweck statt am wirklichen gemessen, verfehlt die politische Herrschaft ihre Aufgabe – und die Erniedrigten und Beleidigten haben in Sozialisten, die ihnen die Verwirklichung ihres Rechts durch den Staat versprechen, ihre Anwälte.

Diese stört es nicht im geringsten, daß in ihrer Kritik am Kapitalismus die arbeitende Klasse zum potentiellen Nutznießer der politischen Gewalt aufrückt. Als Volk ist sie dazu ausersehen, für den idealen Staat zu kämpfen, der ihr dann zu dem verhilft, was ihr gebührt. Anerkannt und bestätigt werden dabei die, die von ihrer Arbeit und für sie leben müssen, einerseits darin, daß sie sich als Demokraten betätigen. Die Frage, was die Arbeiterklasse durch die Abgabe von Stimmzetteln, durch die Mitgliedschaft in demokratischen Organisationen und durch die staatstreue freie Presse eigentlich für sich gewinnt, wird schroff durch einen Vergleich mit dem Faschismus zurückgewiesen. Daß auch die reale Demokratie schon einmal besser ist als eine Diktatur: dieses noch jedem bürgerlichen Politiker vertraute Argument, das die Unterwerfung, das Mitmachen für eine unwidersprechliche Notwendigkeit ausgibt, tut auch für linke Kapitalismuskritiker seine Dienste. Mehr Möglichkeiten für das kämpferische Bemühen um den besten aller Staaten biete die Demokratie: so lautet dann die Fortsetzung; und weil diese Möglichkeiten weniger wahrgenommen als vor allem verteidigt werden müssen, findet mitten in der florierenden Ausbeutung und Kriegsvorbereitung der Demokratie ein antifaschistischer Kampf statt. Ganz als ob die Erniedrigung der Arbeiter zur Manövriermasse hoher Herren nur per Diktatur zu machen ginge, erhält die demokratische Variante der bürgerlichen Herrschaft das Prädikat „wertvoll“.

Nicht nur anerkannt, sondern gelobt wird das arbeitende Volk für seine Leistungen. Das Lob der Arbeit beherrschen sie alle; drüben, wo es Staatsdoktrin ist, wie auch in der Freien Welt, wo kommunistische Parteien aus den Opfern der Arbeiter das Recht ableiten, die „Verwirklichung der Demokratie“ einzuklagen. Daß sie ihren Adressaten damit erst einmal dasselbe Kompliment ausstellen wie bürgerliche Politiker, die den Beitrag der Arbeit zum Aufbau der Nation durchaus zu würdigen wissen, irritiert die sozialistischen Parteien nicht: Sie wollen ja darauf hinaus, daß diejenigen, die selbstlos alles aufgebaut haben, sich damit nichts geringeres als eine gerechte Behandlung durch die Obrigkeit verdient hätten, wenn nicht sogar den Anspruch auf einen Arbeiter-Staat – oder doch wenigstens ein Verfassungsrecht auf, ausgerechnet: Arbeit. Kein Gedanke daran, daß sich in den geschätzten, von den Lohnabhängigen erpreßten „selbstlosen“ Arbeitsleistungen deren ganze „Klassenlage“ zusammenfaßt, gegen die kommunistische Kritik sich richtet. Durch ihre Not, ein Leben lang – wenn sie gebraucht werden und solange sie sich brauchbar erhalten – Reichtum in Gestalt von Kapital produzieren zu müssen, erwerben sich die Lohnarbeiter nach sozialistischer Meinung das Recht auf politischen Lohn: auf eine ihnen verpflichtete Staatsgewalt.

Beim Hinweis auf den kleinen Widerspruch, daß eine Herrschaft über das Volk reichlich überflüssig ist, wenn sie ohnehin nur das ausführt, was das Volk braucht und will, werden orthodoxe und belesene Arbeiterfreunde sehr historisch und revolutionstheoretisch. Auch die „Diktatur des Proletariats“ sei ein Staat, heißt es dann, und zur Niederhaltung der Feinde des Sozialismus bitter nötig. Daß alles, was die Staatstätigkeit im Verhältnis zum Volk ausmacht – die Maßregelung der Mehrheit, der Zwang zum Verzicht, die ausgeklügelte Organisation von Rechten und Pflichten –, entfällt, wenn das Volk eine Revolution veranstaltet hat; daß „Ordnung“ dann vielleicht endlich etwas anderes ist als die gewaltsame sozialfriedliche Regelung von Diensten und Entbehrungen einer ganzen Klasse, für die sich der Fleiß am vom Arbeitgeber „geschaffenen“ Arbeitsplatz nicht lohnt; daß man wegen einiger hundert von der Last ihrer Verantwortung freigesetzter „Unternehmer“ keinen Gewaltapparat braucht, der getrennt von der Arbeitermacht über, also gegen sie regiert: Das alles leuchtet Leuten nicht ein, die den Sozialismus für die Einlösung der Ideale halten, die die bürgerliche Politik seit ihren ersten Tagen pflegt – und einen nach Plan funktionierenden Materialismus für eine Utopie.

Normalerweise sind die sozialistischen Arbeiterfreunde allerdings nicht mit Einwänden von kommunistischer Seite konfrontiert, sondern mit der Anwendung ihrer Vorstellung von gerechter Gewalt auf die Realität des Kapitalismus befaßt. Diese ist nach ihrer Auffassung aus zwei Lagern zusammengesetzt: Auf der einen Seite eine Arbeiterklasse, die als Produzent des Reichtums, als „die Produktivkraft“ schlechthin, auf Sozialismus orientiert ist bzw. werden darf, weil auf der anderen Seite eine Bourgeoisie und ein Staat stehen, die eben dieser Klasse, ihrem Volk gegenüber keine Pflicht kennen. Aus jedem Schaden, den das Volk verordnet kriegt, wird nach der Logik dieses Sozialismus ein Beweis für das moralische und faktische Versagen der Regierenden. Vor dem idealen Maßstab einer Politik und Wirtschaft, die für ihre Knechte dazusein hätte, gerät jede erfolgreich durchgeführte Deckelung des Volkes zum Scheitern der Herrschaft und zum Beleg ihrer Unfähigkeit.

Diese Kritik verwechselt ganz unbekümmert den Mißerfolg der Untertanen mit dem der Herrschaft; sie macht sich stark für gelungene Politik, deren Ausbleiben an all dem vorgeführt wird, was die wirkliche Politik leistet und dem gemeinen Volk zumutet. Einem Staat, der das Privateigentum sichert und das Wirtschaftswachstum in Geld beziffert, das in den Händen von Geschäftsleuten und Bankiers zu mehr Geld gemacht wird, läßt sich dann das „Versäumnis“ vorwerfen, die Gewinnsucht von Kapitalisten nicht gebremst zu haben; Unterlassungen bei der demokratisch so wünschenswerten Beaufsichtigung und Beschränkung profitbesessener Zylindermänner sind der Grund für Preiserhöhungen, Lohnsenkungen und Arbeitslose. Und diese Sünden des Staates, seine Verfehlungen gegenüber seinen eigentlichen Pflichten, erfahren ihre passende „Erklärung“: Die Politik zeigt in ihrer Willfährigkeit gegenüber den Reichen, daß sie gar nicht „unabhängig“ gemacht, sondern „hörig“ betrieben wird und von den Monopolen gesteuert. Die Reichen üben die Macht aus! lautet der Grund- und Hauptsatz der „Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus“, die in ihren unterschiedlichen Ausführungen immer nur beteuert, daß der Staat ein Werkzeug des Volkes nicht sei, da ihn die andern besetzt haben.

In seiner Sorge um die gerechte Verteilung von Reichtum und Rechten durch den Staat bekennt sich der moderne Sozialist sehr umstandslos zu seinem alternativen Nationalismus. Er will nichts von einer Aufkündigung der Dienste wissen, die „die Wirtschaft“ wachsen lassen, mit denen über die Verteilung des Reichtums bereits entschieden ist und die der Klassenstaat dann um die Verstaatlichung von so vielen Lohnteilen ergänzt, wie er für nötig erachtet. Eine Kritik dieser Dienste am Reichtum der Nation, die mit der Lohnarbeit ein Leben lang verbunden sind und ein lebenslanges Auskommen noch nicht einmal gewährleisten, hält dieser Sozialismus für eine Beleidigung der Arbeiter, die er wegen ihrer Leistungen so schätzt. In deren Namen, und weil sie es verdienen, fordert er, daß ihnen der gerechte, ihnen zustehende Anteil am Fortschritt nicht länger vorenthalten wird. Alle Lasten und Kosten, die ihnen aufgehalst werden, sind vor dem Maßstab einer „sozialen“ Herrschaft Zeichen für den Mangel des Systems.

Auch für diese Diagnose schöpfen Linke aus dem Fundus bürgerlicher Ideologien, nämlich über Krisen, die das nationale Ganze aus mancherlei Gründen befallen können. Während jedoch die Hüter der Marktwirtschaft und ihrer Freiheit mit dem Hinweis auf diese „Gefahr“ alles rechtfertigen und als sachnotwendig hinstellen, was sie veranstalten – „Rationalisierungen“, also Entlassungen, Einschränkungen im „sozialen Bereich“ usw. –, lesen die linken Kritiker daraus einen Offenbarungseid heraus: das Eingeständnis der Unfähigkeit, für Beschäftigung, Versorgung usw. im Volk zu sorgen. Sie beschweren sich, im Namen des Fortschritts des Ganzen, über die Verschwendung und Zerstörung von „Produktivkräften“ durch die „Produktionsverhältnisse“, so als wäre ihnen der enorme Reichtum entgangen, der durch die kapitalistische Form der Ausbeutung von Mensch und Natur zustandekommt – und wähnen sich dabei im Gefolge von Marx, wenn sie nicht mehr den Ausschluß einer Klasse vom Reichtum monieren, sondern aus den „Produktivkräften“ gleich eine moralische Kategorie machen.

Von der „Krise des Systems“ und ihren Folgen sind schließlich alle betroffen. Die „Herrschenden“ müssen sich vorwerfen lassen, „keine Lösung“ zu wissen. Und jede Regung von Unzufriedenheit, schon gleich alles, was sich „Bewegung“ schimpft, erfreut sich der uneingeschränkten Sympathie der Sozialisten, die die Mißachtung des Volkes für den Grund der Katastrophe halten, vor der allein sie die Nation retten können. „Nationale Solidarität“, das Bündnis aller Betroffenen, ist diesen Klassenkämpfern keine verhaßte Losung, im Gegenteil: Von unten aufgemacht, „isoliert“ sie die Feinde des Volkes, eint selbiges und vermittelt den gläubigen Vertretern des Fortschritts die Sicherheit, den Wunsch der Menschheit nach der Morgenröte des Sozialismus zu verkörpern.

In Extremsituationen passiert dann womöglich der Umsturz, zu dessen Notwendigkeit auch diese Sorte Kommunisten sich bekennt und ohne den selbst die Entmachtung der Eigentümerklasse, die sie sich vorstellen, tatsächlich nicht zu machen ist. Ihr ganzes Programm ist jedoch zugleich ein einziger Widerruf des kommunistischen Vorhabens, die gewaltsamen Garantien der kapitalistischen Ausbeutung außer Kraft zu setzen und alle dazugehörigen Verkehrsformen abzuschaffen, um jenseits von ökonomischen Sach- und staatlichen Gesetzeszwängen eine Planwirtschaft zu eröffnen. Ihr Vorhaben, dem Proletariat, wie es ist, im Staat, wie sie ihn kennen, mit den Mitteln, die bislang „bloß“ den Reichen zur Verfügung stehen, die Gerechtigkeit und die wahre Heimstatt zu verschaffen, die noch nicht verwirklicht sind, ist von sich aus nicht weiter revolutionär; wenn es nach ihnen ginge, wäre für die wahre Demokratie, die sie aufbauen wollen, in der wirklichen durchaus Platz.2) Und daran halten sich seit der russischen Revolution alle kommunistischen Parteien, auch wenn der real existierende bürgerliche Staat fortwährend klarstellt, daß er für ihre Volksdemokratie keinen Raum bietet: Wo sie nicht durch die Rote Armee an die Macht gebracht worden sind – und selbst da inszenieren sie allumfassende „Volksfronten“, so als hätten sie gar nicht als Partei die Staatsmacht übernommen! –, da bereichern sie, sofern sie nicht verboten sind, mit ihrem zunehmend gemäßigten Radikalismus die parlamentarische Parteienkonkurrenz.

1) Die nachfolgenden Überlegungen sind dem Aufsatz „Das System des realen Sozialismus“ entnommen, der in Karl Held, Abweichende Meinungen zu Polen, München 1982, als Anhang veröffentlicht worden ist. Der Auszug wurde redaktionell überarbeitet.

2) Diesen Widerspruch mag man eine „Revision“ der Marx’schen Kritik nennen, und in diesem Sinn wird gelegentlich von „Revisionismus“ die Rede sein, wenn die dargestellte Art von Sozialismus gemeint ist. Von Marx abzuweichen, ist freilich für sich kein Vorwurf – außer für Leute, und dazu gehören nun wiederum ausgerechnet diese Linken, die sich für ihre Politik auf Marx als Autorität berufen. Aber auch die vertreten nicht deswegen den Standpunkt einer massenfreundlichen Verteilungsgerechtigkeit, weil sie Marx falsch verstanden haben. Daß sie sich bei der Begründung ihrer Politik in Widerspruch zu Marx’ Ansichten über den Klassenkampf im Kapitalismus befinden, ist die Folge ihres Standpunkts: ihrer berechnenden Liebe zu den „Massen“ und ihres Rechtsfanatismus, mit dem sie dem bürgerlichen Staat vorwerfen, den Gedeckelten vorzuenthalten, was ihnen zusteht.

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Die politische Ökonomie des realen Sozialismus: Planmäßige Zweckentfremdung von Lohn, Preis und Profit als Alternative zum Kapitalismus 1)

Die Staatsräson des realen Sozialismus

galt der Herstellung historisch neuer gesellschaftlicher Verhältnisse – einer Wirtschaftsordnung, die in ihren Zielsetzungen und Verkehrsformen ausdrücklich in Gegensatz zu den ökonomischen Maßstäben und Methoden des Kapitalismus steht. Für dessen Überwindung hatte die erste Generation der sozialistischen Staatsparteien noch unter der bürgerlichen Herrschaft gekämpft; nachdem diese Parteien an die Macht gelangt waren, haben sie unter dem Titel „Aufbau des Sozialismus“ nicht nur alternatives Regieren einer ansonsten nach den überkommenen Regeln funktionierenden Gesellschaft betrieben. Was zunächst in der Sowjetunion, seit dem 2. Weltkrieg auch in den osteuropäischen Staaten vollzogen wird, ist eine praktische Kritik des Kapitalismus.

Die politische Gewalt, die sich an die Stelle der beseitigten Staatsmacht setzt, übernimmt nicht einfach die Macht, die Aufgaben und Mittel ihrer Vorgänger – sie legt ein neues Programm auf, in dem das Wohl der Nation anders definiert ist. Politik hört auf, die Freiheit und den Erfolg des Kapitals als Lebensmittel der Nation zu behandeln, so daß die Unterwerfung staatlicher Maßnahmen unter die „Sachzwänge“ des Marktes zum Gebot der politischen Vernunft wird. Die Staatsgewalt setzt mit dem Recht der alten Ordnung die Privatmacht des Geldes außer Kraft, sie erklärt alle Interessen für nichtig, die sich aufgrund der Freiheit des Privateigentums auf Kosten der Lohnabhängigen durchsetzen. Der Staat betätigt sich als Subjekt der Ökonomie: Mit seiner Gewalt lenkt er Produktion und Verteilung; an die Stelle der freien, durch die öffentliche Gewalt gewährleisteten Konkurrenz auf dem Markt tritt die Planwirtschaft. Was, wo, wie und wieviel im Wirtschaftsleben der Nation geschieht, ist das Werk staatlicher Regie. Diese Umwälzung der gesamten Produktionsverhältnisse begründen Führer und Anhänger des realen Sozialismus mit einer grundsätzlichen Kritik, die seit Marx und unter Berufung auf ihn am Kapitalismus geübt wird: Wo es um das Wachstum des Kapitals geht, verkommt die arbeitende Klasse zum Material und Mittel des Reichtums, den sie schafft – und das bekommt ihr nicht gut.

Die Politiker des realen Sozialismus haben also aus den „sozialen Fragen“, die auch Liebhaber der Marktwirtschaft zur Kenntnis nehmen, einen anderen Schluß gezogen als die zahlreichen Befürworter von politischen Reformen. Wo letztere „Mißstände“, „Ungerechtigkeiten“, „soziale Härten“ ausmachen und zum Anlaß nehmen, Markt und Meinung besser zu verwalten, bestehen die antikapitalistischen Kritiker darauf, daß den Unterschieden, die bisweilen für zu groß gehalten werden, der ökonomische Gegensatz zwischen den Klassen zugrundeliegt. Sie wollen diese Gegensätze nicht im Namen des sozialen Friedens und im Interesse der Nation entschärfen, sondern beseitigen, indem sie die Grundrechnungsarten der bürgerlichen Geschäfts- und Arbeitswelt abschaffen. Sie erteilen den Versuchen, die Freiheit des Kapitals zu gewährleisten und ihre Wirkungen auf die Lohnabhängigen erträglich zu gestalten, eine eindeutige Absage. Realsozialisten verwechseln nämlich – zurecht – Sozialpolitik nicht mit Leistungen, welche die notorische Erzeugung von „sozial Schwachen“ ungeschehen machen. Es geht ihnen um die Einführung eines Wirtschaftssystems, das keiner sozialpolitischen Korrekturen bedarf, weil es keine „sozialen Probleme“ schafft und „die Wirtschaft“ von vorneherein nicht auf Kosten, sondern zum Nutzen der Werktätigen organisiert. Im Arbeiter- und Bauernstaat verpflichtet sich die Staatsmacht darauf, Produktion und Verteilung im Interesse derjenigen zu regeln, die mit ihrer Arbeit für den gesellschaftlichen Reichtum sorgen. Dies ist das Programm des sozialistischen Staates, wenn er mit der Aufhebung des Privateigentums den besitzenden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft ihre Existenzgrundlage entzieht und seine politische Gewalt als Diktatur des Proletariats versteht.

An diesem Unternehmen ist ein Widerspruch nicht zu übersehen. Es zielt auf Beseitigung der Armut, auf Erleichterung der Arbeit, die sich lohnen soll, indem ihr der Charakter eines erzwungenen Dienstes für fremden Reichtum genommen wird – und doch wird dieses Programm als Werk politischer Gewalt durchgeführt. Nicht nur der Umsturz der kapitalistischen Machtverhältnisse und ihrer rechtlichen Regeln, auch die planwirtschaftlichen Direktiven werden der Gesellschaft, den Werktätigen als erklärten Nutznießern des Sozialismus durch die Staatsmacht aufgeherrscht. Die Auflösung dieses Widerspruchs, die dem Inhalt des Programms entspricht, war den Klassikern – trotz ihrer berüchtigten Zurückhaltung, was Aussagen über den Sozialismus angeht – durchaus bekannt: Mit dem Gelingen der sozialistischen Planung, einer Produktion, die aus der Arbeit ein Mittel zunehmender Bedürfnisbefriedigung macht, wird die politische Herrschaft überflüssig; wo es keinen Gegensatz zwischen Klassen gibt, wo die Konkurrenz um privaten, andere ausschließenden Reichtum die Gesellschaft nicht in Gewinner und Opfer scheidet, bedarf es keiner gewaltsamen Beaufsichtigung beschränkter Interessen mehr.

Die realen Sozialisten, die sich stets gern als Erben ihrer Berufungsinstanzen präsentierten, waren in dieser Hinsicht von Anfang an anderer Auffassung. Ihrem Staat haben sie eine bleibende Rolle zugeschrieben, indem sie ihn mit einem eigenen, von der übrigen Gesellschaft getrennten Haushalt ausstatten, über den er die Umwidmung des Reichtums zum Wohl der Werktätigen vornimmt. So zur Instanz der ökonomischen Fürsorge ernannt, ist die politische Gewalt – mag sie sich mit noch so unschönen Machtmitteln durchsetzen – natürlich nie und nimmer in Zweifel zu ziehen. Sie hat eben nicht „nur“ die Aufgabe, die Umwälzung der Produktionsverhältnisse vorzunehmen und gegen ihre Feinde zu sichern; sie organisiert nicht einfach die zweckmäßige Arbeitsteilung und Kooperation sowie die technischen Verbesserungen der Produktivkräfte, von der die Massen etwas haben. Die politische Gewalt erhält das Monopol auf die Verteilung des Reichtums, der ihrer Verwaltung unterstellt ist, und sie definiert diesen Gebrauch ihrer Macht als Dienst an den Werktätigen, über die sie gebietet. Umgekehrt besteht der Staat darauf, daß die Werktätigen auch dem sozialistischen Gemeinwesen dienen, das durch sein Recht ihre Interessen organisiert. Damit er nach den Maßstäben sozialistischer Gerechtigkeit verfahren kann, verstaatlicht der Staat sämtliche Leistungen seiner Bürger nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit, die er bei den Betrieben wie bei seinem Haushalt dann gegeben sieht, wenn in Geld berechnete Bilanzen aufgehen und wachsen. Er übernimmt die kapitalistische Wertrechnung, um ihre Resultate dem Privateigentum zu entziehen und den Reichtum per staatlicher Verfügung zu sozialisieren – und damit korrigiert er sie auch erheblich.

Allerdings ist dieser Entscheidung für die historische Mission der Staatsmacht im Sozialismus – noch vor jeder Befassung mit den Techniken der „Planung und Leitung“ im realen Sozialismus des 20. Jahrhunderts – eine andere Sorte Kapitalismuskritik zu entnehmen als die, welche auf die Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft und der ihr gemäßen Staatsgewalt zielt. Der östliche Marxismus hat sich offenbar auf einen Vergleich mit dem Kapitalismus verlegt, der sich explizit oder implizit an „gesellschaftlichen Aufgaben“ orientiert, die in beiden Systemen bewältigt werden müssen und der Staatsmacht obliegen. In diesem Vergleich schneidet der Sozialismus gut ab, insofern er Dinge erledigt, die mit den Zielsetzungen, Notwendigkeiten und Erfolgskriterien des Kapitalismus nichts zu schaffen haben, ihm allerdings als Versagen zur Last gelegt werden.

Kapitalismus ist nach dieser Lesart des Marxismus erstens eine respektable Ansammlung von Produktivkräften, deren Nutzung freilich unter der Fessel geschichtlich überholter Produktionsverhältnisse leidet. Der Staat hält diese Produktionsverhältnisse wider alle Gebote wirtschaftlicher Vernunft mit Gewalt aufrecht. Kapitalismus ist zweitens eine gesellschaftliche Produktionsweise, was zu begrüßen ist; aber eine, die durch private Aneignung verunstaltet wird und „der“ Gesellschaft das Ihre vorenthält. Er ist drittens eine Wirtschaftsweise, in der die objektiven Gesetze „der Wirtschaft“ zum Tragen kommen und ihre Wirkung tun, ohne daß ihnen jedoch durch die maßgeblichen Instanzen Rechnung getragen wird. Es handelt sich also viertens um ein System, das in Sachen Entwicklung der Produktivkräfte seine Schuldigkeit getan hat, inzwischen aber auf diesem Gebiet versagt. Es produziert hauptsächlich Anarchie und Krisen, laboriert an Unordnung und regelmäßigen Mißerfolgen. Von Fäulnis gekennzeichnet, ist es dennoch nicht bereit, seinen Platz dem historisch fälligen Sozialismus zu räumen. Denn es wird fünftens von einem Staat aufrechterhalten, der keinerlei gesellschaftliche Notwendigkeiten durchsetzt, weil er dazu gar nicht in der Lage ist. Er ist dem Kapital zu Diensten, was von seiner begrenzten Souveränität zeugt; aufgrund seiner Abhängigkeit vom großen Geld vergeht er sich ständig an den Interessen der Mehrheit. Politik ist ein Betätigungsfeld von „Kreisen“, die sich und den Monopolen ihre Privilegien sichern und der Arbeit, also den Massen das Recht vorenthalten, das ihnen als Schöpfern des Reichtums zusteht.

Die Liste der Mängel, die dem Kapitalismus zur Last gelegt werden und den Sozialismus auf den Plan rufen, relativiert den „klassischen“ Vorwurf gegen das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, das die Politik des Klassenstaates betreut, sehr gründlich. Ausbeutung ist nach dieser Sichtweise nicht die nötige Konsequenz der Scheidung der Gesellschaft in Klassen, welche durch die staatliche Sicherung des Privateigentums erzwungen wird; das Recht schreibt nicht die Regeln fest, nach denen die mit dem Eigentum etablierten Gegensätze auszutragen und zu ertragen sind – und Politik ist nicht die Ausübung des Gewaltmonopols, das sich in den Wachstumsraten des Kapitals, die auf Kosten der lohnarbeitenden Klasse erzielt werden, seine Mittel verschafft. Vielmehr geraten sämtliche Nachteile und Nöte, Ärgernisse und Opfer der lohnabhängigen Massen zur Konsequenz eines Versagens – und zwar der politischen Herrschaft im Kapitalismus, eines Versagens vor den Gesetzen, die zu befolgen eine verantwortungsbewußte, den geschichtlichen Aufgaben verpflichtete Staatsmacht gehalten ist. An die Stelle einer Kampfansage gegen die Notwendigkeiten des Kapitals tritt eine alternative Benutzung und Betreuung der Lohnarbeit; der Sozialismus präsentiert sich als historisch fällige Korrektur von Versäumnissen, die sich einer Mischung von unsozialer Vorteilssuche, Mißachtung von Gesetzmäßigkeiten „der“ Wirtschaft wie der Geschichte und viel Unfähigkeit verdanken.

Insofern nimmt sich das Projekt „Verwandlung des Privateigentums in gesellschaftliches“ resp. „Volkseigentum“ gar nicht so revolutionär aus – jedenfalls nicht aus der erfahrungsreichen Perspektive der arbeitenden Klasse im Sozialismus. Denn die gibt es im realen Sozialismus erklärtermaßen noch und erst recht, nachdem die Existenzgrundlage des Kapitals – das Privateigentum an Produktionsmitteln – außer Kraft gesetzt worden ist. Diesen Schritt vollziehen die realen Sozialisten ausdrücklich, um den im Kapitalismus angeblich bereits waltenden und zugleich vernachlässigten Gesetzen zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Lohnarbeit verhelfen sie dabei völlig programmgemäß zu einer gerechten Benutzung durch eine ebenso gerechte politische Gewalt, die den Werktätigen wegen ihrer in Anspruch genommenen Leistungen auch eine gerechte Entschädigung, nämlich ihre Existenzsicherung und jede Menge Respekt, einräumt. Deswegen ahmen die realen Sozialisten manche Rechnung aus der Welt des Kapitals nach, wenn sie ihre Planwirtschaft einrichten. Sie übernehmen die ökonomischen Techniken aus dem System des Schachers, der Konzernbilanzen und der Kalkulation mit Lohnkosten – um sie als Hebel des verstaatlichten Reichtums einzusetzen, der die arbeitende Klasse zu dem Stand im Staate erhebt. Diese Emanzipation erspart den Lohnarbeitern den Kapitalismus ebenso wie eine von ihren Interessen geleitete Planwirtschaft – sonst nichts.

Die sozialistische Ware

Sozialismus aufbauen heißt für die kommunistischen Parteien des Ostblocks nichts Geringeres, als die Alternative zum Kapitalismus herbeizuregieren. Im Kapitalismus sind die Preise der Waren Mittel des privaten Gewinns. Die gesellschaftliche Armut ist die Folge davon, da der Gewinn der einen das Einkommen der Mehrheit beschränkt. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, und der Staat tut nichts dagegen. Erst im Sozialismus, wo die Partei der Arbeiterklasse die Kommandohöhen „der Wirtschaft“ erklimmt, ist mit der Abschaffung des Privateigentums der Staat in der Lage, Kosten und Nutzen des Reichtums so zu regeln, daß jedermann in seinen preiswerten Genuß kommt. Der sozialistische Staat, der die Produktion und Verteilung des Reichtums lenkt, bestimmt den Preis der Waren. Damit gebietet er Austauschrelationen zwischen den verschiedenen Warengattungen, die er für nützlich und gerecht hält.

In Sachen Gerechtigkeit wird dieser Staat aktiv, weil er als „die Wirtschaft lenkendes Subjekt“ angetreten ist, um der arbeitenden Klasse das Recht widerfahren zu lassen, das ihr als Mittel des Kapitals vorenthalten wird. Er besteht darauf, daß diejenigen, die den Reichtum schaffen, bei der Bewältigung ihrer Lebensnotwendigkeiten nicht an einem Markt scheitern, auf dem die Verfügung über Geld und die geschäftstüchtige Preisgestaltung derer, die etwas zu verkaufen haben, das Bestimmende sind. Dieser Staat ist Gegner der Privatmacht des Geldes, die die Welt des Privateigentums kennzeichnet – und Befürworter eines gesicherten Lebensunterhalts der Werktätigen, deren Lohnhöhe er ebenso zu einer Frage seiner Entscheidung macht wie die Erschwinglichkeit der Gebrauchsartikel, die sie brauchen.

Daß es ihm überhaupt nützlich erscheint, den Resultaten der unter seiner Herrschaft vonstatten gehenden Produktion eine Preisform anzuhängen, ist freilich angesichts dieser Praxis, die sich doch kritisch gegen die Unterwerfung des Gebrauchswerts unter die Preise richtet, seltsam. Die Lenker des Staates setzen einen Markt ins Werk, um ihn zu planen. Sie wissen von der Beschränkung, welche im Preis der Verfügung über den Genuß von Gebrauchswerten aufgemacht wird; sie kennen den Gegensatz von Interessen, der sich zwischen Käufer und Verkäufer allemal abspielt (das Bedürfnis nach Gebrauchswerten widerspricht dem nach der Anhäufung von möglichst viel Geld, dem Äquivalent für jede beliebige Sorte Reichtum) – und