Von Frauen und Salz - Gabriela Garcia - E-Book

Von Frauen und Salz E-Book

Gabriela García

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Beschreibung

Wir sind stark. Wir sind mehr, als wir denken.   Miami, 2014: Jeanette kämpft jeden Tag gegen ihre Drogenabhängigkeit und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als ihre Nachbarin Gloria von der Einwanderungspolizei abgeführt wird, hat das für sie, selbst Tochter einer kubanischen Migrantin, ungeahnte Konsequenzen. Denn kurz darauf steht Glorias kleine Tochter Ana vor dem verlassenen Haus. Jeanette nimmt das Kind zu sich. Doch es ist ihr unmöglich, Gloria im System der Behörden wiederzufinden. Tief beschämt ruft sie die Polizei und versteckt sich im Schlafzimmer, als Ana abgeholt wird.  Gabriela Garcia entfaltet eine Geschichte starker Frauen über fünf Generationen hinweg, von den kubanischen Tabakfabriken im 19. Jahrhundert bis zu den amerikanischen Auffanglagern der Gegenwart. Mit großer Leichtigkeit und Poesie erzählt sie von Liebe und Verrat, von Müttern und Töchtern, die einander nicht aufgeben wollen. Von Frauen und Salz sucht nach Menschlichkeit in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.  

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Von Frauen und Salz

Die Autorin

GABRIELA GARCIA ist Schriftstellerin, Lyrikerin und Journalistin. Als Tochter von Einwanderern aus Mexiko und Kuba wuchs sie in Miami auf. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Purdue University und engagiert sich für gerechte Einwanderung. Von Frauen und Salz ist ihr Debüt und erscheint in neun Sprachen.

Das Buch

Miami, 2014: Jeanette kämpft jeden Tag gegen ihre Drogenabhängigkeit und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als ihre Nachbarin Gloria von der Einwanderungspolizei abgeführt wird, hat das für sie, selbst Tochter einer kubanischen Migrantin, ungeahnte Konsequenzen. Denn kurz darauf steht Glorias kleine Tochter Ana vor dem verlassenen Haus. Jeanette nimmt das Kind zu sich. Doch als sie Glorias Spur im System der Behörden verliert, ruft sie die Polizei. Tief beschämt versteckt sie sich im Schlafzimmer, als Ana abgeholt wird.Später will Jeanette verstehen, warum ihr die Kraft fehlte, für Ana zu kämpfen. Auf eigene Faust reist sie zurück nach Kuba und stößt im Haus ihrer Großmutter auf ein Buch und zwei Sätze, die sie für immer mit den furchtlosen Frauen ihrer Familie verbinden werden: Wir sind stark. Wir sind mehr, als wir glauben.

Gabriela Garcia

Von Frauen und Salz

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anette Grube

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2021unter dem Titel Of Women and Saltbei Flatiron Books.claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2021 by Gabriela GarciaUmschlaggestaltung: zero-media.net, München,nach einer Vorlage von Katie TookeUmschlagmotive: © Katie Tooke,Picador art departmentAutorenabbildung: © Andria LoE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2848-5

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1 – Tanz nicht bis über die fernen Berge hinaus

2 – Alles hält dich jetzt fest

3 – Eine Enzyklopädie der Vögel

4 – Hartes Mädchen

5 – Findet euren Weg nach Hause

6 – Beute

7 – Privilegio

8 – Sie mögen das Schmuddelige

9 – Diese Leute

10 – Es möge Bomben regnen

11 – Nicht wie andere Mädchen

12 – Mehr als wir glauben

Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

 

Carmen

Miami, 2018

Jeanette, sag mir, dass du leben willst.

Gestern habe ich Fotos von dir als Kind angeschaut. Voll Salz und Sand, zahnlückig und lächelnd am Strand des Ozeans, meine einzige Tochter. Ein Buch in der Hand, weil es das war, was du wolltest. Nicht spielen, nicht schwimmen, nicht in die Wellen rennen. Du wolltest im Schatten sitzen und lesen.

Du als Jugendliche auf dem Trampolin, Arme und Beine ausgestreckt wie ein Seestern. Ist dir unser schiefes Lächeln aufgefallen, der Mund, den wir gemeinsam haben? Du als Jugendliche, das Mädchen aus Florida, Abschlussfeier in Epcot, zwei Beine in zwei unterschiedlichen Orten. In Epcot, in dieser winzigen Welt von Disney, geht das, mit einer Grenze zwischen den Beinen dazustehen.

Sonnenkind, das Haar ständig vom Wind verweht, damals warst du glücklich. Ich kann es sehen, wenn ich diese Fotos anschaue. Immer wieder dein Lächeln. Woher sollte ich wissen, dass du ein Geheimnis hattest? Ich wusste nur, dass du eine Weile lange gelächelt hast, und dann nicht mehr.

Ich habe auch Geheimnisse. Und wenn du aufhören würdest, dich umzubringen, wenn du clean würdest, vielleicht könnten wir uns dann zusammensetzen. Vielleicht könnte ich sie dir erzählen. Vielleicht würdest du dann verstehen, warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe, warum ich etwa darum gekämpft habe, dass unsere Familie zusammenbleibt. Vielleicht gibt es Kräfte, über die keine von uns nachgedacht hat. Wenn ich die Möglichkeit hätte, die gesamte Vergangenheit zu sehen, alle Weggabelungen, vielleicht hätte ich dann eine Antwort auf das Warum: Warum ist unser Leben so verlaufen?

Du hast immer gesagt: Du weigerst dich, über irgendwas zu sprechen. Du weigerst dich, Gefühle zu zeigen.

Ich gebe mir die Schuld, weil ich weiß, dass du dein ganzes Leben lang mehr von mir wolltest. Ich habe dir so vieles nicht gesagt und bin so oft hart gewesen. Ich dachte, ich muss hart genug für uns beide sein. Du schienst dich immer aufzulösen. Der Boden unter deinen Füßen ist schon immer erodiert. Ich dachte, ich muss stark sein.

Ich habe nie gesagt: Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst. Ich habe aufgehört, mit meiner eigenen Mutter zu reden. Ich habe dir nie den Grund genannt, warum ich in dieses Land gekommen bin. Es ist nicht der Grund, den du vermutest. Und ich habe dir nie erklärt, dass ich glaubte, wenn ich ein Gefühl oder eine Wahrheit nicht ausspreche, dann kann ich sie allein mit meinem Willen zum Verschwinden bringen. Mit meinem Willen.

Sag mir, dass du leben willst, und ich werde alles sein, was du möchtest. Aber mein Wille zu leben ist nicht stark genug für uns beide.

Sag mir, dass du leben willst.

Ich hatte Angst, zurückzublicken, denn dann hätte ich gesehen, was auf uns zukam. Das Davor und das Danach, wie Salz, das sich im Wasser auflöst, bis ich keinen Unterschied mehr erkenne, aber ich kann es jedes Mal auf deiner Haut schmecken, wenn ich bei einem deiner Entzugsversuche deinen fiebrigen Körper halte. Ich hatte Angst, zurückzublicken, denn dann hätte ich gesehen, was auf uns zukam.

1

Tanz nicht bis über die fernen Berge hinaus

María Isabel

Camagüey, 1866

Um halb sieben, als alle Zigarrenroller vor einem Stoß Blätter an ihren Tischen saßen und der Aufseher die Glocke läutete, senkte María Isabel den Kopf, machte das Kreuzzeichen vor ihrer Brust und nahm das erste Blatt in die Hände. Der Vorleser tat auf seiner Plattform vor den Arbeitern das Gleiche, nur dass seine Hände kein braunes Blatt hielten, sondern eine gefaltete Zeitung.

»Meine Herren in der Halle«, sagte er, »wir beginnen heute mit einem überaus wichtigen Brief der geschätzten Herausgeber von La Aurora. Diese gelehrten Männer empfinden eine warme Zuneigung für die Arbeiter, deren Streben nach Wissen – Wissenschaft, Literatur und moralische Prinzipien – Kubas Fortschritt befeuert.«

María Isabel fuhr mit der Zunge über die klebrige Unterseite eines weiteren Blatts, die erdige Bitterkeit war ihr mittlerweile ein so vertrauter Geschmack, als stammte er von ihr selbst. Sie legte das weiche Blatt auf die bereits aufgehäuften Schichten, die langen Blattvenen auf ein Häufchen daneben. Die Dreher, die so viele Zigarren rauchen durften, wie sie wollten, entfachten Zündhölzer und pafften kräftig, hielten die Hände schützend über die Flamme. Die Luft wurde dicker. María Isabel hatte inzwischen so viel Tabakstaub eingeatmet, dass ihre Nase regelmäßig blutete, doch der Aufseher erlaubte den Arbeitern nicht, die Fenster mehr als einen Spaltbreit zu öffnen – Sonnenlicht trocknete die Zigarren aus. Sie verbarg ihren Husten. Sie war die einzige Frau in der Fabrik und wollte nicht schwach erscheinen.

Die Fabrik war nach kubanischen Maßstäben nicht groß: nur ungefähr einhundert Arbeiter, genügend, um für eine eineinhalb Kilometer entfernte Plantage Zigarren zu rollen. In einem Silo aus Holz in der Mitte der Halle wurden die sonnengetrockneten Blätter gelagert, nachgedunkelte, papierne, hauchdünne Bögen, die die Dreher zu ihren Arbeitsplätzen trugen. Neben dem Silo führte eine Leiter auf das Podest, auf dem Antonio, der Vorleser, saß.

Er räusperte sich und hob die Zeitung. »La Aurora, Freitag, den 1. Juni 1866«, setzte er an. »›Die Ordnung und die gute Moral, die unsere Zigarrenroller in den Fabriken einhalten, und die Begeisterung fürs Lernen – sind sie nicht augenscheinlicher Beweis, dass wir Fortschritte machen?‹«

María Isabel ging ihren Stoß Blätter durch und legte die von minderer Qualität als Einlage beiseite.

»› … Man gehe nur in eine Fabrik mit zweihundert Arbeitern, und man ist erstaunt über die größtmögliche Ordnung und sieht, dass alle von einem gemeinsamen Ziel angetrieben werden: ihre Pflicht zu erfüllen …‹«

In María Isabels Schultern breitete sich schon eine prickelnde Wärme aus. Das Prickeln würde im Verlauf der Stunden zu einem Pochen anschwellen, und am Ende des Arbeitstags könnte sie kaum mehr den Kopf heben. Ihre Pflicht zu erfüllen, ihre Pflicht zu erfüllen. Ihre Hände bewegten sich aus eigenem Antrieb. Die Glocke läutete, und sie schaute auf den Stapel Zigarren, glatt wie Lehm, überrascht, dass sie so viele gedreht hatte. Sie stellte sich die braunen Schichten vor, die endlos miteinander verschmolzen – Tische wurden zu Mauern, Blätter wurden zu Augen, und Arme bewegten sich einer hinter dem anderen, bis alles und alle Teil derselben körperlichen Poesie waren, desselben Lieds aus Schweiß. Mittagessen. Sie war müde.

Die einzige unbefestigte Straße der kleinen Stadt führte an den Toren der Zigarrenfabrik vorbei zu einer eineinhalb Kilometer entfernten Zuckerrohrplantage, beide gehörten einer kreolischen Familie, den Porteños. María ging auf diesem Weg nach Hause, der sich durch die Schatten schlängelte und ihr immer wieder kurz Erleichterung von der sengenden Sonne verschaffte. Sie dachte an Antonios Worte: Lernen ist ihnen zur Gewohnheit geworden; heute verschmähen sie den Hahnenkampf, um eine Zeitung oder ein Buch zu lesen; sie meiden die Stierkampfarena; heute sieht man sie ständig im Theater, in der Bibliothek oder den Treffpunkten sozialer Vereine.

Es stimmte, dass die Zuschauerzahl bei Hahnen- und Stierkämpfen zurückgegangen war, seitdem La Aurora sie für unzivilisiert erklärt hatte. Aber es war nicht nur die Empfehlung der Zeitung, die die Menschen dazu brachte, den blutigen Sport zu meiden. Es gab andere Sorgen. Die Arbeiter sprachen von Rebellengruppen, die sich gegen die spanischen Loyalisten erhoben. Über Männer, die in Gruppen trainierten, um sich anderen anzuschließen, die nach Westen Richtung La Habana zogen. María Isabel war zu abgelenkt vom Tod ihres Vaters, den ein teuflisches Gelbfieber innerhalb von Wochen dahingerafft hatte, um es anfangs überhaupt zu bemerken oder sich deswegen Gedanken zu machen. Aber dann sprachen alle nur noch darüber.

Als sich Gerüchte über Guerillakämpfe bis auf ihre Seite der Insel verbreitet hatten, hörten sie auch schon Geschichten über interne Machtkämpfe. Generäle der Milizen kamen und gingen, wurden ausgetauscht, wenn ihre Ideale zu einer Belastung geworden waren. La Habana mit den zahllosen Anwesen spanischer Familien betrachtete die Revolte mit Gleichmut, und es schien immer wahrscheinlicher, dass die Königin hart gegen die Rebellen durchgreifen würde. Seit Langem hatte eine schwelende Angst María Isabels hochfliegende einstige Hoffnungen, Freiheit, Unabhängigkeit, ersetzt. Sie hasste das Nichtwissen. Sie hasste es, dass ihr eigenes Überleben von einer schattenhaften politischen Zukunft abhing, die sie sich kaum vorstellen konnte.

Zu Hause. María Isabels Mutter saß auf dem Boden, den Rücken an den kühlen Lehm des Bohío gelehnt. Aurelia war auch gerade erst von der Arbeit auf den Feldern zurückgekehrt.

»Mamá?« María Isabel war beunruhigt, sie so vorzufinden, eine unnatürliche Röte breitete sich auf Aurelias Gesicht bis zu den Ohren aus.

»Es geht mir gut«, sagte sie. »Nur ein bisschen müde vom Gehen. Du weißt, dass ich immer weniger Kraft habe.«

»Das stimmt nicht.«

María Isabel half Aurelia dabei, sich mit einer Hand an der Wand abzustützen und aufzustehen.

»Mamá.« María Isabel berührte Aurelias Stirn mit dem Handrücken, der so nach Tabaksaft stank, dass ihre Mutter zusammenzuckte. »Bleib draußen in der Luft und ruh dich in der Hamaca aus, ja? Ich mache das Mittagessen.«

Aurelia tätschelte María Isabels Arm. »Du bist eine gute Tochter«, sagte sie.

Sie gingen zur Hängematte, die zwischen zwei Palmen hing.

María Isabels Mutter, geschwächt von Jahrzehnten des Verlusts und harter Arbeit, hatte sich eine gewisse Eleganz bewahrt. Ihre Haut war glatt mit kaum einer Falte, ihre vollständigen Zahnreihen makellos. Nach dem Tod ihres Mannes hatten viele Männer bei ihr angefragt, Männer mit fehlenden Zähnen und sonnenverbrannter, papierner Haut, die, was Wohlstand anbelangte, so gut wie nichts aufweisen konnten – einen Esel, ein kleines Grundstück mit Mango- und Kochbananenbäumen –, ihr jedoch Fürsorge boten, die sie ablehnte. »Eine Frau gibt nicht die Liebe zu Gott, zum Land, zur Familie auf«, sagte sie in den Tagen, als die Männer sie noch aufsuchten. »Ich werde als Witwe sterben, das ist mein Schicksal.«

Doch María Isabel entging nicht, dass ihre Mutter schwächer wurde. Die Mutter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, unbedingt einen Mann für ihre Tochter zu finden. María Isabel protestierte: Am glücklichsten war sie in der Fabrik, auf den Feldern, wenn sie, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt, über einem Feuer schwitzte, Maniok und Bananen schälte und sie in eine gusseiserne Cazuela mit kochendem Wasser warf, wenn sie Schweineblut in einem Blecheimer auffing, um schwarze glänzende Würste zu machen, wenn sie eine reife Kokosnuss voller Wasser mit einer Machete aufschlug. Das Zigarrenrollen war eine begehrte, geachtete Arbeit – sie war fast ein Jahr lang ausgebildet worden, bevor sie einen Lohn bekam. Die Fabrik zahlte sie je Stück, die Hälfte dessen, was sie den Männern zahlte, und sie war die einzige Frau in der Fabrik und wusste, dass die Männer sie nicht mochten. Sie hatten von der neuen Erfindung in La Habana gehört – eine Pressform, die es nahezu jedem ermöglichte, eine feste Zigarre zu rollen – und befürchteten, María Isabel wäre eine Vorbotin dessen, was kommen würde: ungelernte, unmoralische Frauen und schmuddelige Kinder, die ihre Arbeit für praktisch nichts übernahmen. Sie schlugen ihr vor, sie »zu unterhalten« und dabei besser zu verdienen. Sie zweigten einen größeren Anteil ihres Lohns für den Vorleser ab.

In manchen Augenblicken wie jetzt, als sie durch das Fenster ihre Mutter mit rotem Gesicht in der Hängematte liegen sah, stellte sie sich eine bessere Welt vor, in der Aurelia nicht arbeiten müsste, in der sie sich um ihre Mutter kümmern könnte, statt mit den Männern Zigarren zu rollen. Und sie wusste, dass sie resigniert zu jedem Mann Ja sagen würde, der ihr ein leichteres Leben bot. Das war ihr Schicksal.

Auf die Mittagspause folgten die Romane: Victor Hugo, Alexandre Dumas, sogar William Shakespeare; Der Graf von Monte Christo, Les Misérables, König Lear. Manche waren bei den Drehern so beliebt, dass ihre Protagonisten zu Namensgebern von Zigarren wurden: die dünne, dunkle Montecristo und die dicke, süße Romeo y Julieta, auf den Banderolen Bilder von Ritterturnieren und unglücklich Liebenden.

Sie waren am Anfang des zweiten Bandes von Les Misérables, wofür sie sich in seltener Einmütigkeit entschieden hatten, nachdem der Vorleser Der Glöckner von Notre-Dame beendet hatte. Der gesamte Saal war am Ende von Notre-Dame in Applaus ausgebrochen, woraufhin Don Gerónimo, der die Fabrik regierte, als wäre er Notre-Dames böser Archidiakon höchstpersönlich, sie gemaßregelt hatte. Doch die Arbeiter jubelten, als Antonio ihnen mitteilte, dass sich in seinem Besitz die spanische Übersetzung eines anderen Romans von Victor Hugo befand, der fünf Bände über Rebellion, Wiedergutmachung, politische Aufstände und Liebe umfasste und vor einem schmerzhaften Ende Rührung und Aufklärung versprach.

Es war die am wenigsten umstrittene Entscheidung in der Geschichte von Porteños y Gómez gewesen. Und jetzt reiste María Isabel jeden Nachmittag vorbei an den Zuckerrohrfeldern und meersalzigen Plantagen zu den wolkenverhangenen Küsten Frankreichs. In Gedanken ging sie über das Kopfsteinpflaster von Paris, tauchte die Füße in die Seine, fuhr wie eine Adlige in der Kutsche über Brücken und durch Bögen. Sie glättete mit angehaltenem Atem ein knotiges Blatt zwischen den Lippen, als Polizeiinspektor Javert den entlaufenen Sträfling Valjean erneut einfing. Sie dachte an Flucht, an Wiederergreifung. Sie dachte an sich selbst. Wie es wäre, wenn jemand ein Buch über sie schriebe. Jemand wie sie ein Buch schriebe.

»›Ein Mensch ist nicht müßig, nur weil er in Gedanken ist. Es gibt sichtbare Arbeit und es gibt unsichtbare Arbeit.‹«

Antonio las Victor Hugo mit einer Leidenschaft vor, als hinge ihre Arbeit, das Rollen der Tabakblätter, von seinem Vortrag ab. Und in vieler Hinsicht war es auch so. María Isabel dachte, dass sie, eine junge Frau, die zu Hause auf Verehrer warten sollte, in dieser heißen Fabrik schuftete, weil sie nur ein unfruchtbares Stück Land besaß und keinen Vater oder Bruder hatte, der für sie sorgte. Doch sie freute sich auf jeden Tag, hungerte nach den Welten, die sich ihr eröffneten, während sie sich über Blätter neigte und jede Zigarre samt Kappe perfekt drehte – Neuigkeiten aus der Hauptstadt, in der sie nur einmal gewesen war, Mitteilungen über wissenschaftliche Kuriositäten und Anklagen gegen barbarische oder unehrliche Plantagenbesitzer, Reiseberichte über ferne Orte, die sie sich kaum vorstellen konnte.

Und sie bekam Geschenke. Als sie aufgebrochen war, hatte sie Antonio neben dem Aufseher Don Gerónimo gesehen, der die Produktion und Quoten des Tages vorlas.

Antonio hatte sein Pferd an einen Pfosten gebunden und ihm einen Sattel auf den Rücken geschnallt, etwas, das María Isabel bislang nur aus La Habana kannte, wo die Oberschicht nicht wie auf dem Land ungesattelt ritt. Das beeindruckte sie, und vielleicht hatte er ihren Blick falsch gedeutet, denn am nächsten Morgen lag ein Zweig violetter Bougainvilleablüten auf ihrem Tisch. Und bevor Antonio die Nachrichten des Tages vorzulesen begann, tippte er sich an den Hut, schaute ihr in die Augen und lächelte.

Sie hatte natürlich Angst gehabt – Angst, dass Don Gerónimo die Blumen auf ihrem Tisch sehen und sie unanständig nennen würde, womöglich ihren Lohn kürzte oder, schlimmer noch, seine Annäherungsversuche intensivierte. Wer wusste schon, was Don Gerónimo für statthaft hielt. Sein Zorn war unbezwinglich, unvorhersehbar, grundlos. Er hatte ihr viele Male gedroht, sie einmal am Nacken gepackt, als sie sich vom Vorlesen hatte ablenken lassen und langsamer gerollt hatte. Seine Finger hatten blaue Flecken hinterlassen, die noch wochenlang zu sehen gewesen waren. Kein Mann hatte sie verteidigt, nicht einmal Antonio. Also hatte sie sich die Blumen in die Bluse gestopft. Und abends ging sie mit gesenktem Blick hinaus, besorgt, dass Antonio wieder zu ihr schauen würde, und überzeugt, dass sie nicht wüsste, was sie sagen sollte.

Doch sie erhielt weitere Geschenke – eine duftende reife Mango; ein Tintenfass mit einer zierlichen Feder; eine winzige, filigrane Brosche aus Blech. Sie fand sie versteckt zwischen den Tabakblättern und verbarg sie so gut wie möglich. Sie erzählte niemandem von ihrem Verehrer und wich Antonios Blick aus, aber manchmal, wenn er eine besonders bewegende Passage las, schaute sie ganz kurz auf, und immer sah er sie an.

Und dann war sie eines Morgens gekommen, und auf ihrem Tisch lag für alle sichtbar: ein Buch, der Rücken blau und rau, die Seiten aus dünnem, glattem Papyrus. Sie konnte den Titel nicht lesen und verbarg es unter dem Brett mit den fertigen Zigarren. María Isabel wusste, dass Don Gerómino sie wegen des Buchs für anmaßend halten würde, ihr Faulheit vorwerfen, sie vielleicht nach Hause schicken würde in der Überzeugung, dass eine Frau nie die strengen Regeln der Arbeit lernen könnte. In der Mittagspause rannte sie nach Hause, das Buch unter dem Arm, und während sie Süßkartoffeln über einem Holzfeuer kochte, fächelte María Isabel den Rauch mit den Seiten. Als sie sicher war, dass ihre Mutter nicht hinsah, fuhr sie mit den Fingern die Wörter nach, die Kurven und abrupten Ecken ihrer Form. Es war wie das Tabakrollen, dieses Bedürfnis, den Bögen und Windungen auf den Seiten zu folgen, sich das Gefühl einzuprägen. Sie versteckte das Buch unter ihrem Bett.

Als sie am Nachmittag Antonio neben seinem Pferd stehen sah, stellte sie ihm, noch bevor er etwas sagen konnte, eine Frage: »Vergeben Sie mir die Taktlosigkeit, wenn ich so dreist sein und Sie nach dem Titel des Buchs fragen darf, das Sie auf meinen …«

»Warum glauben Sie, dass ich es war?« Antonios Lächeln spannte seine pockennarbigen Wangen. María Isabel raffte instinktiv ihren Rock, um zu gehen.

Aber Antonio hielt sie mit einer Hand auf ihrem Arm fest. »Cecilia Valdés«, sagte er. »Eine Novelle. Ich wusste nicht, dass Sie nicht lesen können. Ich hätte nicht so überheblich sein sollen. Ich hoffe, Sie vergeben mir, und ich versichere Ihnen aufrichtig, dass ich Sie nicht kränken wollte.«

»Warum haben Sie es mir gegeben?«

»Es klingt wahrscheinlich abgedroschen, wenn ich sage, dass Sie die Protagonistin, Cecilia Valdés, verkörpern. Vielleicht fühle ich mich deswegen zu Ihnen hingezogen.«

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, blickte weg und sagte nur: »Ich muss nach Hause, bevor es dunkel wird.« Woraufhin er sie nach ihrem Namen fragte.

»María Isabel, darf ich Ihnen vorlesen?«

»Sie meinen außerhalb der Fabrik?«

»Es wäre mir das größte Vergnügen.«

Sie reichte ihm das Buch.

»Vielen Dank für das großzügige Angebot«, sagte sie. »Aber leider kann ich es nicht annehmen.«

María Isabel hatte geglaubt, dass sie bereit wäre, ein solches Angebot anzunehmen, ihre Pflicht zu erfüllen. Kann man sich in eine Seele verlieben? Sie betrachtete den stiernackigen Vorleser. Wie amüsant, dass Männer glaubten, eine Frau so einfach durchschauen zu können. Sie würde warten, bis sie nicht mehr warten konnte.

Ihrer Mutter ging es immer schlechter. Sie merkte es an ihrem Husten, der sie krümmte und schüttelte. An manchen Abenden hatte sie überhaupt keinen Appetit, ging ins Bett und ließ María Isabel allein essen. Und dennoch erwachte ihre Mutter jeden Morgen und bereitete sich für die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern vor. María Isabel flehte sie an, aber Aurelia würde jeden Tag bis zu ihrem Tod arbeiten – und auch noch danach, wenn möglich. Das wussten sie beide.

Und dann breitete sich der blutige Krieg bis nach Camagüey aus. María Isabel verstand, dass es unvermeidbar war. Jedes Jahr berichtete La Aurora über mehr Kubaner und weniger Arbeit; die Wirtschaft konzentrierte sich zunehmend auf Zucker, auf Plantagen, auf denen Sklaven schufteten. Zudem in der Zeitung: die Bewegung, die die Sklaverei abschaffen wollte, die Erhöhung der spanischen Steuern. Sie hatte gehört, dass ein reicher Plantagenbesitzer in Santiago seine Sklaven freigelassen und sich von Spanien unabhängig erklärt hatte. Sie hatte Gerüchte über geheime Treffen gehört. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Leben so schnell von den Kämpfen betroffen wäre.

Eines Nachts erwachte María Isabel vom Geräusch von Stiefeln, die durch die Vegetation brachen, und dem Lichtschein von Laternen, der über die Mauern tanzte. Sie spähte vorsichtig aus dem Fenster und sah Dutzende Männer in den unverwechselbaren rot-blauen Uniformen der Monarchie, auf ihren Revers die Farben der Flagge. Sie waren mit Musketen und Schwertern bewaffnet, ihre Gesichter angespannt und erschöpft, und sie sah auf den Hosen etwas, das getrocknetes Blut zu sein schien.

In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen und umklammerte ihren Körper, sie hörte die ersten entfernten Gewehrschüsse, ihre Mutter erwachte und hustete krampfhaft die ganze Nacht. So verbrachten sie zwei Tage, kauerten sich in die Schatten ihrer erhöhten Betten, als wären es hölzerne Schilde. Schreie und Schüsse, Eisen, das auf Eisen traf, Männer, deren Schreie in der Nacht widerhallten.

Am dritten Tag hatte Aurelia Fieber, und María Isabel zog sie in ihren Schoß, kühlte ihr Gesicht mit einem nassen Waschlappen und betete flüsternd zu Nuestra Señora de la Caridad, während ihrer Mutter der kalte Schweiß ausbrach. Am vierten Tag hörten die Kämpfe auf. So durchdringend der Lärm des plötzlichen Kriegs gewesen war, so intensiv waren auch die Stille, die darauf folgte, und der Gestank nach Verwesung. Sie hatten seit Tagen nichts gegessen, also öffneten sie Gläser mit gezuckerten Guaven und Papaya und Tomaten, die sie Monate zuvor eingemacht hatten. María Isabel löffelte kleine Stückchen in den Mund ihrer bettlägerigen Mutter. Und als sie sicher war, dass die Stille andauern würde, ging María Isabel den Weg entlang, den sie jeden Tag zur Arbeit ging, jetzt schwebten Rauchwölkchen darüber und es roch nach verbrannten Palmen. Sie musste Essen auftreiben. Sie musste ihre Nachbarn finden. In der Ferne sah sie Feuer, und sie betete lautlos zum Dank, dass ihr Haus verschont worden war. Sie ging durch die Stille, horchte nach anderen Menschen, nach Lebenszeichen. Doch sie hörte nur das Rascheln des Zuckerrohrs und des Riedgrases.

Dann wandte sie sich zum Fluss, wo sie jeden Sonntag die Wäsche wusch und im Sonnenschein badete, und stolperte über etwas, das sich anfühlte wie ein Baumstamm im Gras. Sie blickte hinunter und schrie.

Einem Mann, die aufgerissenen Augen in den Himmel gerichtet und den Mund ungläubig geöffnet, war mit einem Schwert der Hals durchbohrt worden. Dickes geronnenes Blut bildete eine Pfütze um seinen Kopf, und Fliegen schwirrten um die Wunde. María Isabel blickte auf und sah sie – ungefähr ein Dutzend Männer lag wie er verwesend in der Hitze, ihre Eingeweide und ihre Haut nicht mehr zu erkennen, eine riesige Masse versengtes Fleisch, und als letzter Affront stapfte ein Schwein durch die Überreste, den Kopf und die Hauer mit dunklem Blut verschmiert. Sie erkannte das Gesicht eines Kollegen aus der Fabrik.

Das Gras zitterte wie María Isabel, wusste nichts von dem Blutbad, dessen Zeuge es war. Es begann zu regnen, und sie blieb stehen, bis ein rotes Rinnsal sich einen gewundenen Weg zum Fluss bahnte. Dann lief sie los, ihr Kleid zerrissen, schmutzig, nass, und rief nach ihrer Mutter, wie sie es als Kind getan hatte, sie schrie den ganzen langen Weg, bis sie schluchzend vor der Tür ihres Zuhauses zusammenbrach.

In dieser Nacht starb ihre Mutter.

Nichts war mehr wie früher nach dem Gemetzel in Camagüey. Bei Porteños y Gómez arbeitete nur noch ein Drittel der Zigarrenroller, der Rest war entweder abgeschlachtet worden oder nach La Florida geflohen, weil dort gerüchteweise Tabakfabriken Zuflucht im Exil boten. Don Gerónimo war gegangen, und Porteños, der Besitzer der Tabaquería, beaufsichtigte die Arbeit jetzt selbst. Die Stimmung war ernüchtert, der Lesestoff ein anderer.

Nach Wochen der Beerdigungen und des Wiederaufbaus setzte sich Antonio am ersten Tag in der Fabrik wieder ans Lesepult und verkündete, dass sie nicht mehr wie üblich La Aurora lesen würden, da die Rebellion die Auslieferung nach Camagüey verzögerte. Sie würden nach der Mittagspause Les Misérables weiterlesen, und heute Morgen würden sie mit einem Roman von einem kubanischen Schriftsteller anfangen.

María Isabel brachte es nicht über sich, zu ihm aufzublicken. Sie konzentrierte sich stattdessen auf das Rollen der Blätter, um immer festere Zigarren zu drehen.

»Cecilia Valdés«, begann Antonio, »von Cirilo Villaverde.«

Ihre Hände zitterten. Festere Rollen, sagte sie sich. Festere Rollen.

»›Für die Frauen von Kuba: Da ich weit weg von Kuba und ohne Hoffnung bin, seine Sonne, seine Blumen oder seine Palmen jemals wiederzusehen, wem, wenn nicht euch, liebe Mitbürgerinnen, die ihr die schönste Seite unserer Heimat widerspiegelt, könnte ich mit größerem Recht diese traurigen Seiten widmen?‹«

Antonios Stimme begleitete die Arbeiter durch diesen trübseligen Morgen. Sie erzählte von der spanischen und kreolischen Elite; Liebe zwischen freien und versklavten Schwarzen Kubanern; von einer Mulattin, ihrem Platz in der Geschichte der Insel. Obwohl der Autor Kreole war, war er ein einflussreicher Mann. Nach dem Mittagessen aus hartem Brot und bitterem Kaffee, allein in ihrem jetzt leeren Haus, kehrte María Isabel zurück, um die Fortsetzung von Les Misérables zu hören.

So verging ein Tag nach dem anderen. Auf Albträume und Weinkrämpfe folgten erschöpfte Zusammenbrüche. Und aus welchem Grund auch immer, vielleicht aus Einsamkeit, vielleicht aus der Erkenntnis, dass sie niemanden mehr auf der Welt hatte, wartete sie einen Monat später auf Antonio und sagte: »Ich bin nicht Cecilia Valdés.« Und dann: »Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir einen Text vorlesen würden.«

Als Kind hatte ihr Vater María Isabel einmal ins Zentrum von Camagüey mitgenommen, um Körbe mit der Kaffeeernte des Plantagenbesitzers bei den Markthändlern abzuliefern. Sie schaute verwundert zu, wie wohlhabende spanische Familien über die Promenade der Stadt flanierten, die Frauen trugen Sonnenschirme und rüschenbesetzte Unterröcke aus feinem Leinen, die Kinder spielten mit Reifen und Stöcken und hatten Bündel mit Schulbüchern dabei. Auf dem Markt sah sie zu, wie Sklavinnen hinter weißen Frauen gingen und ihre Einkäufe trugen, wie die Spanierinnen deuteten und Schwarze Frauen die Körbe füllten, ihre Kleider wie die Kittel der Frauen auf dem Land.

Sie hatte auf ihre Haut gezeigt und ihren Vater gefragt: »Wo sind Leute wie ich?« Er hatte ihr eine Ohrfeige gegeben, damit sie still war. Kinder sagten nicht einfach, was ihnen einfiel, erinnerte er sie. Kinder stellten keine Fragen, Kinder gaben Antworten. Kinder taten, was ihnen gesagt wurde.

Jetzt kannte sie die Antwort. Die Frauen waren hier auf den Feldern, manche frei, andere nicht, manche gingen als Kreolinnen durch. Das nicht unbedingt geflüsterte Diktat der Sklavenhalter: vermischen, para mejorar la raza, um die Ethnie zu verbessern. Spanische Männer, mit eurer Gewalt tut ihr uns einen Gefallen, eure Gewalttat bessert das Volk dieser Kolonie auf. Damit man zu jemandem wie ihr sagen konnte: Du bist nicht Schwarz. Du bist eine Mulattin, und Mulattin ist besser, und deine Nachkommen werden vielleicht noch heller sein, näher und näher an Weiß, und das Diktat verinnerlichen. Auf manchen Plantagen wurden Sklaven gehalten, und auf anderen arbeiteten Bauern, die auf kleinen Parzellen ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten. Aus je eigenen Gründen hassten alle, ob Landarbeiter oder Sklaven, ob indigene Bauern oder kreolische Landbesitzer, Königin Isabella II.

In den letzten Tagen des Kriegs wurden die Berichte aus den Provinzen immer schlimmer: öffentliche Hinrichtungen, ganze Dörfer niedergebrannt, ehemals freie Schwarze Bauern in die Sklaverei gezwungen. Die Menschen hatten Hunger, verhungerten. Krankheiten breiteten sich aus und rafften ganze Familien dahin, die Gefängnisse füllten sich mit Guerillakämpfern. Ihre Helden starben.

Doch jeden Tag während der Mittagspause saßen Antonio und María Isabel für eine Stunde im Schatten von Bananenstauden und lasen. Antonio las ihr Gedichte von kubanischen Dichtern und politische Theorie von europäischen Philosophen vor. Karl Marx und andere. Oft diskutierten sie. Er brachte ihr bei, ihren Namen zu buchstabieren, hielt die Feder in ihrer zitternden Hand fest, als sie Bögen und Kurven auf einem kleinen Stück Papier formte, und obwohl sie die Buchstaben nicht entziffern konnte, entdeckte sie darin eine Art Kunst, eine Art Schönheit.

»Heute lese ich etwas Besonderes vor«, sagte er eines Tages. »Heute Nachmittag. In der Fabrik.«

»Du wirst nicht aus Les Misérables lesen?« Sie waren beim letzten Band, und das Lesen war das Einzige, auf das es sich zu freuen lohnte, in diesen düsteren Tagen, wenn das Geräusch von Hufen die Angst vor weiteren Verlusten mit sich brachte.

»Doch, aber zuerst etwas Besonderes.«

María Isabel war noch immer die einzige Frau in der geschrumpften Arbeiterschaft der Fabrik. Die anderen Zigarrenroller waren Väter und Ehemänner, aber auch Kinder, deren hartgesottenes Verhalten ihre Unschuld Lügen strafte und die Puros größer als ihre Hände rauchten. María Isabel war dankbar – manche dieser Jungen hatten ihre gesamte Familie verloren, waren in einer blutigen Nacht erwachsen geworden, waren als Versorger jüngerer Geschwister mit knurrenden Mägen erwacht.

»Heute habe ich euch etwas Aufrüttelndes zu verkünden«, sagte Antonio am Pult, als die Arbeiter an ihre Tische zurückkehrten. »Eine unserer großen Vordenkerinnen im New Yorker Exil, Emilia Casanova de Villaverde – Anführerin der Frauenbewegung und Ehefrau des berühmten Autors von Cecilia Valdés – hat an Victor Hugo geschrieben. Unsere geliebte Señora Casanova de Villaverde hat Señor Hugo in Kenntnis gesetzt von der Beliebtheit von Les Misérables in diesen unseren Tabakfabriken, die Kubas Kunstfertigkeit zu den Massen bringen. Sie hat ihn von dem Los in Kenntnis gesetzt, das unsere Frauen allmählich ereilt – wie auch ihre Hände die Arbeit der Männer machen, während sie danach streben, unsere Insel zu befreien. Ich besitze eine Übersetzung von Victor Hugos Antwort an seine treu ergebene Verehrerin Emilia Casanova de Villaverde – und an euch, die Menschen von Kuba.«

Im Saal setzte Gemurmel ein, und Porteños, der an seinem Schreibtisch im ersten Stock saß, hob den Kopf. Doch alle verstummten und sahen aufmerksam zu, als Antonio ein langes Schriftstück entrollte. Im Licht war die schwarze Tinte durch das Papier erkennbar.

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