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In der Nacht zu ihrem 20. Geburtstag erhält Donella ein Geschenk ganz besonderer Art: Ein mysteriöser Albtraum führt sie nach Schottland, wo 1692 das MASSAKER OF GLENCOE stattfand. Zielsetzung dabei war die Eliminierung des CLAN MACDONALD. (Das Massaker wie auch die versuchte Auslöschung des Clans sind historische Ereignisse.) Donella weiß bis zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2012, weder sonderlich viel über das Massaker noch weiß sie, dass sie ein Abkömmling des Clans ist. Was sie jedoch innerhalb des Traumgeschehens tief berührt: Sie muss die Not ihrer Namensvetterin Donella miterleben, der ihr Kind genommen wird. Trotzdem war es vorerst nur ein grauenvolles Erlebnis für sie - bis der nächste Traum folgt; offenbar eine Fortsetzung, und er wartet erneut mit dramatischen Szenen auf. In Oma Erika (Donella lebt seit dem Tod ihrer Eltern bei ihr) wecken die Träume Erinnerungen; ein Gespräch mit Donellas Vater vor etlichen Jahren kommt ihr in den Sinn, bei der er ihr eine Tasche übergab. In der Tasche befinden sich brisante Papiere und ein Medaillon (es gehörte Donellas mehrfacher Urgroßmutter - der tragischen Figur in den Träumen). Die Papiere informieren Donella über ein Erbe in Schottland. Auch wird von einer Schuld berichtet, die seit über 300 Jahren besteht und noch nicht beglichen ist ... Der Roman schildert das Ineinandergreifen der Zeit; er erzählt von der Gier mancher Menschen, wenn das Streben nach Reichtum zum Mittelpunkt deren Denkens wird.
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Seitenzahl: 463
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Der Roman bezieht sich in einigen Rückblenden auf das Jahr 1692 in Schottland, als in den Highlands das „MASSAKER OF GLENCOE“ stattfand.
Historische Personen, die an dem Massaker beteiligt waren, werden mit vollem Namen erwähnt; alle weiteren Akteure sind jedoch fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären deshalb rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Die Autorin
Sie ist nahe München geboren und aufgewachsen. Beruflich war sie im Bereich Marketing bei verschiedenen Münchener Firmen tätig und ging für einen der Arbeitgeber für einige Jahre nach Frankreich. Sie kam nach Deutschland zurück und hat sich jetzt in einer Ortschaft in der Pfalz angesiedelt.
Bereits vor Jahren fing sie erst zu malen an, dann begann sie Kurzgeschichten zu schreiben; einige davon veröffentlichte sie auf einem online-Portal.
Für Freunde von Krimi-Komödien:
Das erste Buch der Autorin mit dem Titel „Dilettantenpoker“ ist beim Verlag Tredition in Hamburg erschienen. Eine Leseprobe und Rezensionen sind im Netz unter dem Suchwort „Dilettantenpoker“ zu finden.
Prolog
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Epilog
Das harte Licht der Wintersonne schlich am Morgen erst gegen zehn Uhr die Front von Haus Nummer 24 hinauf.
Auf den unteren Etagen hatte es noch etwas mit den Nebelschwaden zu kämpfen, die der Firth of Forth (Nordseebucht vor Edinburgh) in steter Regelmäßigkeit der Stadt bescherte. Doch im 5. Stock angekommen, strahlte es plötzlich gleißend durch die sechs mannshohen Sprossenfenster des eleganten Patrizierhauses, ließ das spiegelblanke Parkett des rechteckigen Büroraums aufleuchten, tastete sich weiter vor und erreichte eine mittig stehende, u-förmig angeordnete Sitzgruppe, bestehend aus drei taubenblauen Ledersofas und zwei Sesseln.
Dann landeten die Strahlen, irisierende Lichtfunken sprühend, auf einer kristallenen Karaffe mit fünf Gläsern auf silbernem Tablett, die auf einem kleinen Tisch zwischen der Ledergarnitur stand und von der schottischen Maxime kündete „ein kräftiger Schluck Whisky (das die Schotten als das 'Wasser des Lebens' bezeichnen) ist nach erfolgreichen Verhandlungen eine gute Sitte, um eine Sache zu besiegeln.“
In den zwei freien Ecken zwischen den Sitzmöbeln befand sich jeweils ein Tisch mit eleganter Leuchte, die rückwärtige Wand zierte eine Bildergalerie, und Seidenblumen in zwei Bodenvasen aus Granit schufen verhalten farbige Punkte.
Im hinteren Teil des Raums glänzte das Mahagoniholz eines prachtvollen Schreibtisches. Davor waren zwei etwas zu klein geratene Besucherstühle platziert, und im Rücken des Schreibtischs reckte sich ein Regal mit akkurat angeordneten Aktenordnern in die Höhe.
An der fensterlosen Wand, im rechten Eck zum Schreibtisch, versuchte eine Bücherwand mit schätzungsweise zweitausend Büchern die eintretenden Klienten gleich im Vorfeld davon zu überzeugen, dass sie die richtige Wahl bezüglich Kompetenz getroffen hatten.
Jedenfalls, die gesamte Ausstattung ließ vermuten, ein Besuch in dieser Kanzlei dürfte nicht mit 'Peanuts' zu begleichen sein.
Hinter dem Schreibtisch thronte Mike in seinem Ledersessel; wie immer in bestes Tuch gekleidet, wie (fast) immer mit makellos weißem Hemd. Allerdings wirkte er in dem monströsen Sessel etwas verloren; er war zu kurz geraten, glich es aber aus, indem er seinen feisten Bauch weit nach vorne reckte, sich mit den Armen auf den Lehnen gewichtig abstützte, und dabei den ihm gegenüber sitzenden Archie bei seinen vergeblichen Bemühungen beobachtete, es sich in dem viel zu engen Stuhl bequem zu machen.
Das ließ eine steile Zornesfalte auf Mikes Stirn entstehen, die jedoch sofort wieder verschwand, da er sich sagte 'das kann ich jetzt nicht bringen – ich will ja was von ihm. Also ruhig Blut, nicht gleich die Pferde scheu machen ...'
Gleichzeitig lehnte er sich vor, fixierte Archie, und konnte sich dann doch nicht beherrschen – er richtete den Kugelschreiber in seiner rechten Hand wie einen Dolch auf ihn und meinte gepresst „Archie! Jetzt hör' endlich auf mit dem Stuhl herum zu manövrieren - hör' mir lieber zu – es geht schließlich um was!“
Und weicher ergänzte er „oder hab' ich mich zuvor zu undeutlich ausgedrückt und du kannst die Sachlage noch nicht ganz umreißen?“
Archie hob den Kopf, fuhr sich über sein schlecht rasiertes Kinn, schwieg aber trotzdem beharrlich. Er wich Mikes Blick aus und murmelte nur zwei Worte, die sich wie „beschissener Stuhl“ anhörten.
Mike hatte diese murrend vorgebrachte Aussage sehr wohl gehört und er umriss plötzlich 'okay, ich bin ihn zu hart angegangen … das verträgt er nicht, ich hätt's wissen müssen. Er war immer schon eine Mimose … eine andere Strategie muss her ...'
Er ließ den Kugelschreiber fallen und legte seine Handflächen auf die polierte Tischfläche. Dann nahm er sie nach oben und faltete sie, wie zum Gebet, vor seinem Gesicht, während er mit theatralischem Ton anfügte „denk doch bitte mal nach, mein Lieber ... Das ist doch alles ganz einfach! Du sorgst dafür, dass sie mir ihr Land überlassen, und ich besorg' den Rest. Mehr musst du weiß Gott nicht tun, denn das Okay vom Gemeindevorstand hab' ich längst schon eingesackt - dieses Filetstück zwischendrin ist so gut wie in meiner Tasche!“, dazu grinste er satt, lehnte sich mit breiter Brust zurück, strich weich über seine Seidenkrawatte und lächelte Archie gewinnend an.
Der schaute jedoch nur ungläubig hoch, kratzte sich unschlüssig am Kopf, erwiderte aber immer noch nichts.
'Maulfaul wie fast alle meine Landsleute; die aus den Highlands sowieso – und er bockt, ist misstrauisch – das muss ich jetzt aber unbedingt irgendwie gebacken kriegen ...', überlegte Mike.
Er nahm den Kugelschreiber wieder auf und ließ ihn zwischen seinen Fingern tanzen, ließ ihn mit einer schnellen Bewegung fallen, und während der Kugelschreiber noch über die Schreibtischplatte kullerte, kam er mit dem Oberkörper erneut nach vorne.
Seine rechte Hand, die klein, etwas schwammig und mit fahlem Hautton davon erzählte, dass Arbeit unter Körpereinsatz ihm fremd war, landete auf Archies linker Hand, die sehnig derb und ungewöhnlich groß mit gespreizten Fingern auf der Schreibtischplatte lag.
Archie behagte dieses feuchtwarme Ding nicht. Trotzdem zog er seine Hand nicht weg, sondern rückte auf die Kante des Stuhls vor; vielleicht ließe sich ja so das Problem unauffällig regeln – doch Mike verstärkte den Druck, hielt die Hand jetzt fest umklammert, während er eindringlich sagte „hör zu. Das ist für uns alle ein Gewinn. Mich kostet es zwar erst mal eine Stange Geld, aber wenn das läuft, dann sind wir saniert. Darum brauch' ich eure Grundstücke, hab's dir doch wirklich genauestens erklärt ... auch, dass ich euch vorerst nichts dafür geben kann – aber später? Da sahnen wir kräftig ab, machen ein bombastisches Gemeinschaftsprojekt draus! … Und? Das ist doch endlich mal eine ordentliche Perspektive! Jetzt sag' schon endlich was!“, und lehnte sich zurück; mit den Armen auf den Stuhllehnen abgestützt.
'Na Gott sei Dank!', dachte Archie sich und ließ seine jetzt vom Druck erlöste Hand schnell unter dem Tisch verschwinden, wo sie der anderen Gesellschaft leisten konnte. Gleichzeitig antwortete er „ja – hört sich schon irgendwie gut an. Aber noch hast du den Grund nicht wirklich ...“
„Die Gemeinde überlässt in mir – alles schon abgesegnet – die haben keine Verwendung dafür und sie hätten auch kein Budget. Auflagen haben sie mir übrigens auch keine gemacht; Hauptsache, sie kriegen Geld in ihre klamme Kasse gespült“, erklärte er und wedelte erneut mit seinen Händen herum, verblieb aber in der zurückgelehnten Position, Archie fest im Blick.
„Noch lebt sie aber.“
„Aber nicht mehr lange, kann sich nur noch um ein paar Tage handeln. Sie ist bereits am Abnippeln, wie mir jemand vom Personal zuverlässig gesteckt hat.“
Archie, der jetzt Mikes Hände in gesicherter Entfernung wusste, tippte ein einsames Staubkörnchen auf, das sich frecherweise eingefunden hatte. Es bot ihm damit die Möglichkeit, sein nicht gerade gefälliges Konterfei (runde Birne mit von links nach rechts gekämmtem, spärlichen Haarwuchs) zu löschen, das sich auf der Tischplatte widerspiegelte. Dann räusperte er sich gründlich, um seiner Stimme Volumen zu geben, und setzte zu seiner Nachfrage an „aber wer soll -“,
Mike unterbrach ihn „da spann' ich David für ein, der ist mir zu Dank verpflichtet – ein guter Architekt ist er ja. Wenn's um Industrieprojekte geht, allemal – auch wenn er damals Scheiße gebaut hat; aber das ist Schnee von gestern; man muss ja auch mal verzeihen können ... das gilt übrigens für uns alle.“
'Wenn er jetzt noch einmal die Hände faltet, stehe ich auf und geh', sagte sich Archie, fragte aber dennoch nach „und? Weiß er's schon?“
„Nein. Und keiner sagt ihm was – das übernehme ich – ist das klar? Ich kann mit ihm noch am besten umgehen.“
„Okay – ich reiß' mich wirklich nicht drum. David ist schwierig. Aber die andern übernehme ich, das krieg' ich locker hin. Wir sind schließlich alles alte Freunde, können uns vertrauen – und endlich mal ordentlich Kohle machen wollen wir schließlich alle.“
Kurz blieb er etwas nachdenklich. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, klatschte auf den Tisch, brachte seinen riesigen Bauch in die Höhe, atmete, endlich von dem Stuhl befreit, kräftig durch, zog die Jeans wieder hoch, die ihm schon verdächtig weit nach unten gerutscht war, streckte Mike die Hand entgegen und sagte anerkennend „ein Hund bist du ja schon, Mike, das muss man dir lassen. Drehst dir die Dinge immer sehr geschickt hin - und das schon seit unserer Jugendzeit. Aber wenn wir damit aus der Misere rauskommen - dann soll's gelten!“
„Das ist ein Wort. Und sag den andern: Das Projekt ist absolut sauber.“ Auch Mike war aufgestanden, griff nach der dargebotenen Hand und ein kräftiger Handschlag wurde ausgetauscht.
Archie drehte sich zur Türe, marschierte schon los und winkte noch nachlässig ab, als Mike hinter seinem Schreibtisch hervorkam „find' allein raus, brauchst nicht mitkommen - ich ruf' dich an, wenn ich sie im Sack hab' - dauert höchstens zwei Tage!“
Mike ließ sich mit einem Seufzer in seinen Sessel zurückfallen; er sah Archie hinterher, wie der da mit seinen groben Profilsohlen das feine Parkett traktierte 'na einmal wird es das ja hoffentlich aushalten', dachte er sich.
Als endlich die Bürotür krachend zufiel, meinte er „na also, geht doch!“, und lehnte sich entspannt zurück.
'Himmel! Wo bin ich hier bloß? Und warum ist es hier so duster und so kalt?', fragte sich Donella verblüfft, als sie plötzlich in einem großen rechteckigen Raum stand und überrascht feststellte - ein Nachthemd war ihr einziges Kleidungsstück, nicht mal Socken trug sie an den Füßen.
Sie rollte die Zehen ein, ließ wieder los und trippelte auf der Stelle 'na ja, die sind wenigstens warm; und auch sonst ist mir erstaunlicherweise nicht kalt', stellte sie fest, während sie schon anfing sich in diesem eigenartigen Raum umzusehen; noch in diese Verwunderung eingebunden.
Knapp hinter ihr befand sich ein monströses Eingangsportal aus Eichenholz und gegenüber, etwa acht Meter entfernt, ragte eine Außenwand aus groben Steinquadern empor, in der mittig ein Fenster aus milchigen Butzenscheiben saß. Die Wand wiederum endete unter einem Satteldach, das von quer über den Raum laufenden Balken abgestützt wurde.
'Grob geschätzte drei Meter dürfte dieses schmale Fensterding da hoch sein', vermutete sie 'trotzdem hat nur der vordere Bereich ein bisschen Licht … Alles schon sehr merkwürdig - stehe ich wirklich in diesem eigenartigen Umfeld? Und wenn ja, warum?' Sie hörte in sich hinein, aber da kam keine Antwort. 'Tja – mal abwarten; irgendeinen Sinn und Zweck wird das Ganze ja wohl haben!'
Vorerst beunruhigte sie die Situation nicht sonderlich; sie wurde eher sogar neugierig, machte ein paar Schritte nach vorne, blieb stehen und sah sich genauer um:
Der Raum teilte sich in zwei Hälften. Linker Hand führten drei flache Holztreppen zu einer Art Podest hinauf, auf dem ein simpel gezimmerter Holztisch mit je sechs kantigen Stühlen an den Längsseiten stand. Wie eingeklemmt wirkte die Einheit zwischen den finsteren Wänden; nur drei dicke Kerzen, im eigenen Wachs auf der Tischplatte festgeklebt, gaben ein schummrig flackerndes Licht ab.
Auf der rechten Seite blieb der Raum eben, wurde aber von einer gut mannshohen Wand der Breite nach unterteilt. Was sich dahinter befand, blieb für Donella vorerst nicht sichtbar, diese 'Wandbarriere' schottete komplett ab.
'Wahrscheinlich ein Windschutz. Der Eingang hinter mir muss direkt ins Freie führen, sonst käme da nicht so ein kalter Hauch den Boden entlang geschlichen ...'
In diesem abgetrennten Teil schien es ebenfalls eine Lichtquelle zu geben, und es schien sich auch jemand dort aufhalten; sie hörte ein kurzes Aufschlagen, als würde etwas zu Boden fallen, anschließend kullerte es träge vor sich hin. Als mystische Dreingabe sah sie schnell über den Dielenboden huschende Schatten, die von Geräuschen begleitet wurden – dumpf dunkle, ruckartige Töne waren das, denen Zischlaute folgten.
Sie reckte den Kopf wie ein Huhn nach vorne, hielt den Atem an, lauschte 'keine Ahnung was das sein könnte …' Um aber die Ursache herauszufinden, hätte sie sich zumindest neben die Wand stellen müssen; doch im Moment fühlte sie sich dafür noch nicht mutig genug. Sie entschied, sich erst die Raumhälfte mit dem Tisch anzusehen, machte einige Schritte nach links, blieb stehen und schaute zu dem Tisch hoch.
Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würden die Kerzen verlöschen. Doch plötzlich schienen sich die Luftverhältnisse zu ändern; die Flammen reckten sich, wurden gerade, und schon leuchteten sie die Front hinter dem Tisch aus.
'Was ist das da an der Wand? Ah, ein Bild, oh, ein ziemlich großes Bild – das muss ja mindestens zwei Meter hoch und drei Meter breit sein!', sie kniff die Augen zusammen und schlich noch dichter heran. Jetzt konnte sie das Ölgemälde, vorherrschend in dunklen Farbtönen gehalten, besser erkennen.
Staunend betrachtete sie es und war zuerst verblüfft, dann eigenartig fasziniert, bis sie sich dachte 'das schau' ich mir nicht weiter an – das ist mir etwas zu viel Leben …'
Das Gemälde stellte eine Jagdszene dar: Fünf Reiter, begleitet von einer Hundemeute, hatten einen Hirsch in eine von Bäumen umgrenzte Senke gejagt. Er war umzingelt und die Männer richteten ihre Lanzen auf das Tier. Der Hirsch bäumte sich auf, verlagerte sein Gewicht auf die Hinterläufe, gleichzeitig hoben seine Vorderläufe eingeknickt vom Boden ab. Er reckte den Hals nach oben, die angespannten Muskeln traten wie armdicke Stränge hervor, während er den Kopf himmelwärts reckte und das Geweih auf den Rücken legte. Sein Maul mit der blass lila Zunge hatte er röhrenförmig geöffnet und seine dunkelbraunen, in panischer Angst geweiteten Augen zeigten eine leuchtend weiße Iris.
Einer der Hunde setzte zum Sprung an seine Kehle an, zwei stürzten sich mit geöffneten Fängen in seine Flanken, und der Rest attackierte seine Hinterläufe. Es waren sehr große Hunde mit grauem Fell, das in der Farbtiefe von Hund zu Hund variierte. Sie wirkten drahtig, hatten lange Beine und eine tief angesetzte Brust. Ihre Augen glänzten, die hochgezogenen Lefzen ließen furchterregende Raubtiergebisse aufblitzen – und über diese Szenerie wölbte sich ein mit Gewitter drohender dunkler Himmel. Einzig ein kleiner blauer Fleck, hell strahlend in der sonst so düsteren Stimmung des Gemäldes, verschaffte dem Geschehen das nötige Licht.
Donella wandte sich ab 'also das muss ich mir jetzt nun wirklich nicht antun - dieses schreckliche Bild da! Lieber mal rauskriegen, was da hinter der Wand vorgeht, das will ich jetzt schon wissen!' Sie wagte sich beherzt einige Meter vor, bis sie neben der Wand stand und um die Ecke spähen konnte.
Was sie jedoch sah, überraschte und beruhigte sie zugleich - im Gegensatz zur anderen Raumhälfte strahlte diese Seite fast Gemütlichkeit aus:
Ein an die Wand gemauerter Kamin war Auslöser für die ruhelosen Schatten und die Geräusche: Bereits rot glühend und mit hellgrauer Asche überzogen, sackten Holzscheite ruckartig nach unten durch. Der aufgeschichtete Rest rückte rumorend nach, und das löste einen glitzernden und zischenden Schauer verpuffender Funken aus.
'Da hat wohl jemand noch nicht so ganz trockenes Holz aufgeschichtet ...', dachte sie erleichtert.
In kurzer Distanz zum Feuer lag ein bunt gewebter Teppich; eine Frau kniete darauf und drehte Donella den Rücken zu. Vor der Frau spielte ein etwa zweijähriges Kind mit Holzklötzen, bekleidet war es nur mit einem langen Hemd. Zwischendurch warf es die Klötze im großen Bogen von sich, sie fielen auf den Boden und kullerten, träge werdend, über den Teppich.
'Aha, das war das andere Geräusch – Gott, was bin ich bloß für ein Weichei!'
Den Abstand zwischen Teppich und Kamin füllten zwei Hunde aus, die entspannt auf dem Dielenboden lagen.
'Wahnsinn! Das sind ja die gleichen wie auf dem Bild!', stellte Donella überrascht fest und drehte den Kopf zurück zur Wand 'ja! Tatsächlich! Genauso groß und mit diesem irgendwie zottelig wirkendem Fell - schon alles sehr eigenartig – wo bin ich hier und vor allem, warum?'
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie legte ihre rechte Hand auf die Brust und sagte sich 'komm, hol erst mal kräftig Luft, Mädel, das wird sich schon noch aufklären – der Hirsch bin ich nicht und die Hunde liegen ja ganz ruhig, also erst mal abwarten; was anderes kann ich ja anscheinend sowieso nicht tun!'
Sie sah sie sich noch die restliche Möblierung an, die jedoch nur aus einer Holzbank mit Tisch und zwei Stühlen bestand; Bank und Stühle waren mit farbenfrohen Kissen belegt 'alles ziemlich schmucklos und ohne elektrisches Licht. Strom ist anscheinend noch nicht angesagt ...', stellte sie fest und erkannte 'das ist nicht meine Zeit und auch nicht mein Jahrhundert. Aber was mach' ich dann hier? Sie blickte sich ein paar Sekunden unentschlossen um, dann entschied sie 'die Frau! Die kann mir das bestimmt sagen.'
Sie ging auf die Frau zu, da fiel ihr auf 'die sieht und hört mich nicht, und die Hunde ebenfalls nicht. Die wären doch sofort aufgesprungen, wenn sich plötzlich eine Fremde in ihrem Terrain aufhält – das kann ja nur heißen: Ich bin unsichtbar! Mann, das ist aber mal eine echt heiße Kiste! Richtig spannend. Ja, dann mal los und sehen, was hier warum noch so passiert; aber jetzt seh' ich mir erst mal die Frau genauer an ...' sie ging noch näher heran und blieb knapp hinter der Frau stehen.
Dunkles bis zur Taille reichendes Haar wurde von einem silbernen Band zusammengehalten. Ein beiges Kleid mit Kapuze und langen Ärmeln ließ den Körper wie in einem unförmigen Sack verschwinden, und an den Füßen trug sie gestrickte Socken. Ihre weiblichen Formen wurden nur schwach von einer um die Hüften liegenden dunklen Kordel modelliert. Sie hielt den Kopf gesenkt und zerrte fahrig an etwas herum, das Donella nicht sehen konnte. Sie trat deshalb vor die Frau - und flüchtete sofort ein Meter zurück - sie selbst war das! Oder ein exaktes Ebenbild von ihr 'verflixt! Was soll das! Wieso geistere ich hier herum, knie aber gleichzeitig auf dem Teppich!?'
'Ruhe, Donella, Ruhe',sagte sie sich. Ihr wurde klar, dieser eigenartige Zustand dürfte vorerst keine Erklärung parat haben, also setzte sie ihre Betrachtungen fort:
Diese andere Donella beobachtete mit leerem Blick die Lichtspiele des Feuers auf dem Fell der Hunde, zugleich zerrte sie fahrig an einem Taschentuch herum und beknabberte ihre Unterlippe 'sie ist nervös, viel zu nervös – aber warum?', fragte sich Donella.
Doch plötzlich richtete sich ihr Ebenbild auf, fasste nach den Armen des Kindes und zog es mit den Worten „komm Donald, komm her zur Mama“, heran.
Das Kind reagierte abwehrend quengelig 'wahrscheinlich versteht es nicht, warum es aus seinem Spiel gerissen wird – und ich versteh es auch nicht ...', dachte sich Donella; da wurde sie mit einem Knall aus ihren Betrachtungen gerissen:
Das Eingangsportal wurde aufgestoßen. Grau nebeliges Tageslicht füllte den Bereich um das offen stehende Portal und ein Schwall eisig kalter, mit Schneeflocken durchsetzter Luft drang herein. Wie scharf gezeichnete Silhouetten tauchten zwei Männer in diesem Grau auf und marschierten mit krachenden Stiefeln herein.
Der kleinere Mann blieb nach einigen Schritten im Licht stehen. Der andere, groß und athletisch gebaut, ging auf die Trennwand zu und rief „Donella! Ich muss sofort mit dir reden!“
Donella erschrak 'woher kennt der mich?' Gleichzeitig wurde ihr klar 'er meint ja nicht mich, er meint SIE'.
Ihre Doppelgängerin stand mit dem Kind in den Armen auf, ging einige Meter nach vorne und blieb abwartend stehen.
'Wow!', dachte sich Donella, als auch die Hunde hochsprangen 'wenn die jetzt neben mir wären, würden ihre Rücken fast auf der Höhe meiner Hüften abschließen, obwohl ich nicht gerade klein bin ... Gott! Sind das Riesen!'
„Platz und still!“, kam als Anweisung von der anderen Donella. Die Hunde knickten die Beine ein und legten sich sich wieder hin; ihre langnasigen Köpfe blieben wachsam angehoben, die kleinen Ohren stellten sie in einer eleganten Rosette auf und ihre haselnussbraunen Augen waren auf die Männer gerichtet: 'Jederzeit zum Angriff bereit', signalisierten sie.
Der Mann in der Lichtschneise hakte den linken Daumen in seinen Rockbund, umschloss mit seiner rechten Hand den Knauf seines Schwertes und nickte kurz in Donellas Richtung.
'Ah, die kennen sich bestens. So knapp und kurz begrüßt man nur Vertraute, interessant!'
Er drehte den Kopf zum Eingang zurück und schaute unschlüssig in die graue Nebelsuppe. Offenbar war er besorgt, ob es nicht besser wäre, das Portal zu schließen. Er entschied sich dagegen, drehte sich zurück und blieb mit angespanntem Rücken stehen, die Beine dabei gegrätscht.
'Wie ein Bär sieht der aus – Mann, ist das ein Brocken! Mehr breit als hoch! Aber wieso tragen beide Röcke? Sehen wie die Kilts der Schotten aus, nur die Farben sind sehr blass; und Falten haben sie auch keine – und diese bis zu den Waden reichenden Umhänge! Schrecklich! Dreckig wirkendes Mausgrau mit grauem Pelz obendrauf, und auf den Schultern haben sie den Schnee von draußen mit hereingebracht! … Wo bin ich hier bloß gelandet? Ganz eindeutig in einem anderen Jahrhundert; wo die Männer noch zusammengenähte Stoffbahnen als Hosen trugen … Hoffentlich haben die noch was drunter, sonst könnt's da, im wahrsten Sinne des Worts, arschkalt sein - wie, verdammt noch mal, komm ich hier hin und was soll ich hier?!'
Donella verstand langsam nichts mehr – aber irgendwie konnte sie hier nicht weg; also verharrte sie an ihrer seltsamen Position und sah mit zunehmend bangem Herzen weiter zu.
Um sich jedoch wieder zu beruhigen, sagte sie sich 'na ja. Wenigstens können die mich nicht sehen; sie wissen nicht, dass ich ebenfalls hier bin … Was immer da jetzt passiert, ich habe damit nichts zu tun, nur mein Ebenbild, leider – aber helfen kann ich ihr sowieso nicht – schon irgendwie blöd!', und in sich hineinkichernd, die aufkommende Angst verdrängend, ergänzte sie 'sieht schon komisch aus, so ein Mann mit Rock. Ganz rote Knie haben die beiden … Rheuma ist bei denen ja fast schon vorprogrammiert, da nützt auch das dick aussehende Zeug nichts, das sie da auf den Oberkörpern tragen … 'Wams' nennt man das, glaub' ich, und wieder alles in 'erdigen' Farbtönen!'
Während Donella noch diese Überlegungen anstellte, ging der vordere Mann, einen breiten Streifen Schneekrumen hinter sich herziehend, mit schnellem Schritt auf die andere Donella zu und hielt vor dem Teppich an.
'Na die Erziehung hat scheinbar schon damals funktioniert – den Teppich betritt er nicht, braver Mann!', feixte Donella; doch es ging schon weiter und sie konzentrierte sich wieder.
Der Mann hob den rechten Arm und winkte ungeduldig die andere Donella herbei; zugleich sagte er sehr entschlossen „es ist etwas passiert, Donella! Und du musst sofort von hier verschwinden!“
Donella stellte das Kind auf den Teppich zurück, zog die Kordel um die Taille etwas enger, band sie zum Knoten, nahm eine Decke vom Boden auf, schlang sie um das Kind und setzte es wieder auf ihren linken Arm – 'Zeit, sie will Zeit gewinnen. Aber warum?', fragte sich die beobachtende Donella.
Der Mann zog hörbar die Luft ein und straffte sich ungeduldig. Trotzdem wartete er ab, bis sie die Prozedur erledigt hatte, auf ihn zuging und zu ihm aufsehend fragte „warum verschwinden? Was redest du da, Ragnald?“
Er senkte den Blick, die Ungeduld schien plötzlich wie weggeblasen. Anschließend hörte sich sein Ton gebrochen, müde an „es ist nicht in unserem Sinn gelaufen … unser Vater – er wurde ermordet ...“
Er schluckte, Wasser schoss ihm in die Augen, er schnappte nach Luft und wischte an seinen Augen herum, und nach kurzer Pause fügte er murmelnd an „aber das ist leider nicht alles -“.
Donellas Mund war vor Verblüffung geöffnet und ihr herzförmiges Gesicht, davor schon fast wächsern wirkend, wurde gräulich weiß. Ihre Augen starrten auf den Mann vor ihr und dabei drückte sie das Kind so fest an sich, als wolle sie sich an ihm festhalten; gleichzeitig flüsterte sie „Alasdair – ist – tot?“, sie schüttelte ungläubig den Kopf „das kann, das will ich nicht glauben - bitte sag', dass es nur ein schlechter Witz ist!“
Sie warf einen gehetzten Blick zu dem zweiten Mann. Der nickte nur bestätigend und sagte „leider, kein schlechter Witz, Donella – es ist wirklich so, Vater ist tot!“
Sie drehte sich zurück zu Ragnald „aber Alexander, er war doch bei ihm … er wollte mit ihm zusammen den Treueeid auf den neuen König leisten … oder ist das etwa nicht geschehen? Und wenn nicht, warum nicht? Was ist da passiert, Ragnald?“
„Doch, sie leisteten den geforderten Treueschwur. Allerdings nicht wie befohlen vor deinem Onkel, Sir Colin Campbell in Inveraray, sondern in Fort William, vor Kommandeur Colonell Hill. Denn sie mussten wegen der grauenvollen Witterungsverhältnisse eine Dreitagespause einlegen und konnten deshalb nicht rechtzeitig zum Abgabetermin in Inveraray eintreffen. Als das Wetter zumindest etwas besser wurde, reisten sie sofort nach Inveraray weiter. Im Gepäck hatten sie einen Schutzbrief von Hill dabei, der deinem Onkel bestätigte, dass der Eid rechtzeitig zum Abgabetermin geleistet wurde – aber eben nicht vor ihm in Inveraray, sondern in Fort William, vor Kommandeur Colonell Hill.“
„Und? Damit war doch alles geklärt!“ Kurz blieb sie still, aber schon brach es aus ihr heraus “Ragnald! Erklär's mir! Was ist da genau passiert und warum? Vielleicht habt ihr euch doch geirrt?“, doch Ragnald wehrte entschieden mit den Händen ab, senkte den Kopf auf die Brust, blieb stumm und schluckte trocken.
„Gott! Ich will das einfach nicht glauben“, meinte sie leise und starrte, ebenso wie Ragnald, auf den Boden.
Für einige Momente wirkten die drei wie in der Zeit eingefroren; nur das Kind spielte, unbeeindruckt von irgendwelchen schlechten Nachrichten, mit dem Medaillon um Donellas Hals und zog an der Kette herum.
Ragnald hob den Kopf wieder an, holte Luft, da kam sie ihm schon zuvor, zerrte an seinem Ärmel und fragte mit sich überschlagender Stimme nach „und wo ist Alexander, wo ist mein Mann? Warum ist er nicht mit euch zurückgekommen? Wo ist er, sag es mir, sag es mir sofort!“
'Wie es ihr beibringen?', schien Ragnald durch den Kopf zu gehen (zumindest empfand das die beobachtende Donella so). Er schaute nach oben, atmete aus und wollte schon antworten, da meinte sie leise „und was hast du damit gemeint mit dem 'das ist aber leider nicht alles ...?!“
Er wich aus; die Not in ihren Augen war für ihn kaum zu ertragen, und zudem kämpfte er auch noch mit seiner eigenen Not, als er antwortete „dein Verwandter, Captain Robert Campbell, 5. Laird of Glenlyon und sein Heer starteten einen Überraschungsangriff in den Morgenstunden, als alle noch schliefen … und töteten alle, ohne Ansehen der Person ...“, und wieder verstummte er.
Noch konnte sie die ganze Tragweite nicht erfassen; vor allem die bis jetzt unausgesprochene Nachricht vom Tod ihres Mannes schien sie, zumindest momentan, noch zu verdrängen, als sie fragte „und das im Auftrag meines Onkels, Sir Colin?!“
„Teilweise. Er münzte nur den Befehl unseres neuen Königs, Wilhelm von Oranien, zu seinen Gunsten um. Da unser Vater sich anfänglich beharrlich sperrte, den Treueeid auf ihn zu leisten … du weißt das nur zu gut, du hast ihn mit viel Mühe dazu überredet. Aber dein Onkel gab den Befehl, die eigentlich überholte Order auszuführen, die besagte: Wenn Alasdair, der 12th Chief of MacDonald, zum Stichtag den Treueschwur nicht abgegeben hat, sollen er und alle seine Leute, die unter 70 Jahre alt sind, getötet werden – dein Onkel ignorierte damit das amtliche Schreiben von Hill, das unseren Clan gerettet hätte. Er hat so getan, als gäbe es dieses Stück Papier nicht ...“
„Gott im Himmel! - Warum?!“
„Sir Colin will, ebenso wie Robert, sich unsere Ländereien, unseren gesamten Besitz endlich einverleiben – da ist den beiden offenbar jedes Mittel recht -“.
„Nur deshalb haben sie alle getötet? Auch meinen Mann, Alexander? Und meinen Schwiegervater ebenfalls? Und deren ganze Begleitung gleich mit dazu?“
„Ja, alle wurden niedergemetzelt. Robert führte damit nur einen Befehl von oberster Stelle aus; er kann somit seine Hände in Unschuld waschen. Und zudem bot der Befehl ihm und deinem Onkel endlich die Möglichkeit, neben der Auslöschung unseres Clans, auch noch unseren gesamten Besitz für ihren Clan zu annektieren - die alte Fehde zwischen den Campbells und den MacDonalds hat jetzt einen grauenvollen, äußerst brutalen Höhepunkt erreicht ...“
Sein Gesicht wirkte wie versteinert, die Lippen hatte er eingekniffen und seine Augen waren voller Zorn; doch die Erkenntnis der Machtlosigkeit holte ihn ein, als er anfügte „wir beide ...“, er nickte in Richtung des Mannes an der Tür „haben bis jetzt nur überlebt, weil wir zu spät eintrafen. Aber sie sind schon hinter uns her, sie haben uns verfolgt.“
„Aus purer Habgier getötet. Nur wegen diesem verdammten Land! Obwohl wir Robert und sein Heer noch vierzehn Tage bewirtet haben - und Onkel Colin meiner Heirat mit Alexander voll zustimmte ... Mein Gott! Zu was sind diese beiden bloß fähig!“
Sie fing leise zu wimmern an, ihr ganzer Körper schüttelte sich, trotzdem versuchte sie sich wegen des Kindes zu beherrschen - sie verschloss den Mund mit der freien Hand – aber die tragische Wahrheit war bei ihr angekommen: Der Schock nahm ihr den Atem, sie schwankte, zitterte und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten; dabei wäre ihr beinahe das Kind aus den Armen gerutscht.
'Gott, die arme Frau! Das ist ja furchtbar!', dachte sich die beobachtende Donella.
Ragnald erwiderte „ja, so ist es. Alexander und Vater – beide werden nie mehr zurückkommen ... und nicht nur sie! Viele unseres Clans wurden von den Knechten deines Onkels ermordet – und das Morden hört nicht auf.“ Er schien nur eine Tatsache zu bekräftigen; sein Ton blieb eigentümlich ruhig, als er anfügte „Donella, du musst jetzt stark sein. Gib mir Donald, wie das schon mal vereinbart war -“.
„Nein. Er bleibt bei mir.“, antwortete sie knapp und hart, drehte sich ab und presste das Kind gegen ihren Körper.
Doch Ragnald griff nach ihrem Arm, drehte sie zu sich, sah ihr in die Augen und hielt ihren Blick fest „das geht nicht, und du weißt das auch. Er könnte am Ende dieser blutrünstigen Tage der letzte männliche Überlebende der MacDonalds sein. Wir werden uns zwar aus Leibeskräften wehren ... aber eine Garantie, ob wir uns retten können, gibt es nicht.“
Das Kind schrie wegen der engen Umklammerung auf. Sie lockerte den Griff und strich ihm beruhigend über den Rücken, bis das Kind sich wieder an eng sie schmiegte und den Kopf an ihrer Brust vergrub. Sie legte ihre Wange auf den dunklen Scheitel, das silberne Band löste sich wie in Zeitlupe aus ihrem Haar und schwebte zu Boden. Ihre Haare öffneten sich zu einem dunklen Schleier - und für einen kurzen Augenblick flüchtete sie in diese behütende Dunkelheit.
Ragnald sah stumm zu, macht- und hilflos schien er sich zu fühlen, doch die Zeit drängte. Leise sagte er „Donella, hör bitte zu, es ist wirklich wichtig ...“
Sie warf die Haare auf den Rücken und fing sie mit der freien Hand ein; jetzt lagen sie wieder glatt und geordnet bis zur Taille hinunter.
Sie schaute zu Ragnald auf 'Augen wie ein Hirschkalb, wenn es in Panik flüchtet ...', dachte er sich, und weiter 'aber ich kann ihr da jetzt nicht helfen, ich habe mit meinem eigenen Schmerz schon genug zu kämpfen.'
Zugleich sagte er „wir können uns unmöglich um dich kümmern, du bist jetzt auf dich selbst gestellt. Und du musst innerhalb der nächsten Stunde in die Berge fliehen, aber ohne das Kind. Denn sie werden auch dich verfolgen, es ist nur ein Frage der Zeit. Nur mit Donald zusammen geht das nicht, er würde die Strapazen nicht überleben, denn es ist bitterkalt, das schafft er nicht.“
Er breitete seine Arme aus, senkte den Kopf zum Kind und sagte weich „komm Donald, komm zu Onkel Ragnald“, und der Junge wechselte ohne zu zögern an seine Brust.
„Alles wird gut, du bist bald wieder bei deiner Mutter ...“, sagte er sanft, streichelte ihm die Wange, drehte sich um, ging bereits in Richtung Türe und fügte noch bedauernd an „es tut mir unendlich leid, Donella, aber es geht nicht anders; und du weißt das auch.“
Der zweite Mann drehte sich ebenfalls ab und rief drängelnd „Ragnald, komm, es wird langsam verflucht knapp!“
Donella lief Ragnald hinterher, fasste nach seinem Arm und klammerte sich fest. Das Kind fing zu greinen an, es wollte wieder zu ihr und trommelte mit seinen kleinen Händen gegen Ragnalds Brust. Er umfing die Kinderfäuste mit seiner riesigen Hand, zog den Arm aus Donellas Umklammerung, zugleich beruhigte er das Kind „still, Donald, still – es ist alles gut. Wir gehen nur ein bisschen reiten - du darfst bei mir im Sattel sitzen, das machst du doch so gerne ...“
Das Kind änderte seine Meinung, fing in freudiger Erwartung zu strahlen an „ja! Reiten! Ganz schnell reiten!“
Donella, dicht hinter Ragnald stehend, flüsterte „bitte, lass mich ihn noch mal küssen, bitte!“
Er war hin- und hergerissen, die Zeit macht ihm zu schaffen. Doch dann drehte er sich um und hielt ihr das Kind entgegen, ohne es jedoch loszulassen.
Sie strich über den kleinen Kopf, die dunklen Haare „keine Angst Donald, ich komme nach und hole dich bald zurück. Bleib jetzt bei deinen Onkeln und geh' mit ihnen reiten, das wird schön. Du darfst auf ‚Sunflower‘ sitzen, das ist doch dein Lieblingspferd, oder?“, das Kind klatschte in die Hände und krähte „ja! Sunflower reiten, ja!“
Sie schaute auf das freudig strahlende Kind; ihr Mund schloss sich zum Strich und ihre Hände tasteten an den Hals, lösten das goldene Medaillon ab und legten es um den Hals des Kindes „es wird dich beschützen, wenn du auf Sunflower sitzt ...“, hauchte sie dem Kind ins Ohr. Und in einem letzten, verzweifelten Versuch wollte sie es aus Ragnalds Armen zurückholen.
Doch er ließ es nicht mehr zu; nachsichtig meinte er nur „Donella, bitte lass los, wir müssen sofort verschwinden ... du willst doch, dass er überlebt. Sieh es doch bitte ein, das war doch schon mal so besprochen; er muss überleben - egal, was mit uns allen passieren mag ...“
Sie kämpfte mit ihrem Verstand, der ihr 'es muss sein' sagte, und gleichzeitig mit ihren Gefühlen, die die Trennung nicht zulassen wollten. Der Verstand siegte und sie fragte still „aber wohin, wohin bringt ihr ihn denn?“
„Wie abgemacht, zu der Bauernfamilie, da ist er sicher. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Du kannst ihm keinen Schutz mehr bieten; entweder würde er durch ihre Hand erschlagen werden, oder ihr würdet beide erfrieren. Du alleine kannst dich vielleicht noch retten, um dann später wieder bei ihm zu sein ...“
Ragnald sah ihre Tränen, aber mit Trost spenden konnte er sich nicht aufhalten. Nur eine Erklärung gab er noch ab „es war eine hinterhältige Falle. Und jetzt, Donella, lass uns bitte gehen!“, die unendliche Not in Donellas Augen hielt ihn jedoch noch für einen Augenblick fest.
Er legte den freien Arm um ihre Schultern, die andere hielt das Kind fest an sich gedrückt „und du - versteck' dich in den Bergen. Lauf hinauf, du weißt wohin. Nimm nur -“, er deutete auf das Kind „seine Münzen mit, er wird sie irgendwann dringend brauchen. Wir werden versuchen sie aufzuhalten, bis du in Sicherheit bist. Doch mit dem Jungen kannst du das nicht schaffen – aber er muss unbedingt überleben! Es gibt außer uns beiden ...“, dabei sah er kurz zu dem Mann im Lichtstreifen „und ihm niemanden mehr in direkter Linie. Und die, die vom restlichen Clan noch am Leben sind, werden den Hunger und die mörderische Kälte, in die sie sie gejagt haben, nicht überstehen.“
„Ragnald! Jetzt mach schon!“, rief der zweite Mann ungeduldig aus.
Donella faltete die Hände vor dem Gesicht, schluchzte und strich gleichzeitig die Tränen wieder weg; sie sah auf ihr Kind „ja, dann muss das wohl so sein!“
Ein letztes Mal versuchte sie sich noch zu beherrschen und fragte „aber, was wird aus euch?“
„Ich weiß es nicht; bete für uns Donella, vielleicht hilft es ja ...“
„Komm endlich, Ragnald! Sie sind uns schon so verdammt dicht auf den Fersen! Wir schaffen das sonst nicht mehr!“, kam es von seinem Bruder.
Mit einem „Gott behüte dich Donella!“, und einem schnell auf ihre Wange gehauchten Kuss ging er auf das graue Rechteck zu.
Bereits mit einem Fuß draußen drehte er sich zurück und rief ihr zu „Donella! Bitte denke immer an den Wahlspruch der Mac-Donalds, deren Mitglied du ja nun seit drei Jahren bist ...“ seine Stimme wurde zu dröhnendem Bass „wir sind Löwen, keine Lämmer!“ Und wieder leiser werdend, ergänzte er „er wird dir dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen!“
Er warf seinen Umhang über den Kopf des Kindes und verschwand, gesenkten Hauptes gegen den Wind ankämpfend, im Schneegestöber.
Der zweite Mann schlug die Haken zusammen, beugte den Oberkörper in Richtung Donella, und folgte Ragnald mit einer schnellen Drehung.
Was blieb ihr? Nichts. Sie schloss ihre Arme ganz eng um sich und ging zum Teppich zurück.
Wie ein Hund kringelte sie sich darauf nieder, während sie ihr Kind, bereits verhallend, freudig brabbeln hörte „Sunflower! Ja, Donald darf auf Sunflower reiten!“
Der tiefe Schmerz ließ Donella aufschreiend erwachen. Kerzengerade saß sie im Bett, ihr Körper schüttelte sich krampfartig, ihr war kalt, und trotzdem stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Ihre Hände zitterten, der Atem ging flach, und ihr Herz pochte so laut, als wolle es ihr im nächsten Moment aus der Brust springen.
Sie versuchte tief Luft zu holen, doch das funktionierte noch nicht richtig. Dazu hämmerte es in ihrem Kopf 'was war das? Was war das denn für ein schrecklicher Traum? Wieso träume ich so was? Und so echt! Als wenn ich ganz dicht neben ihr gewesen wäre - und jedes Wort, dass die da gesagt haben, sitzt noch wie eingestanzt in meinem Kopf! Himmel nochmal! Gott war das schrecklich!‘
Verstört sah sie sich in ihrem Zimmer um – alles stand wie immer an seinem Platz, und langsam beruhigte sie sich wieder. Nach mehreren Sekunden konnte sie auch endlich wieder durchatmen, der Druck auf der Brust verschwand.
'Gott sei Dank, das geht schon wieder einigermaßen ...‘, sagte sie sich, strich sich die feuchten Haare aus dem Gesicht und knotete sie zu einem Pferdeschwanz. Sie stand auf - und musste sich an der Wand abstützen - ihre Beine schwächelten; also lief sie vorsichtig, sich mit ausgestreckten Armen ausbalancierend, auf das Mansardenfenster zu, öffnete es, und nahm einen kräftigen Zug der milden Nachtluft. Die geballte Ladung Sauerstoff brachte ihren Kreislauf in die Gänge, sie holte sich ihren Bademantel von der Bettkante und wickelte sich fest darin ein. Dann ging sie zum Fenster zurück und streckte ihren Kopf hinaus.
Schmeichelnd zart umfing sie die Luft, ungewöhnlich mild erschien sie ihr; obwohl es erst Mitte Februar, exakt der 13. Februar 2012, war. Die Bäume vor den Häusern trugen schon dicke Knospen, der Winter brachte nur anfänglich Eis und Schnee, aber seit Ende Januar fielen die Temperaturen selbst in der Nacht nicht mehr unter null Grad.
Sie sah in den grauschwarzen Himmel, an dem ein kalt wirkender, weißer Halbmond hing. Weit im Osten jedoch, zum benachbarten Rheinland-Pfalz hin, tauchte schon zaghaft das Licht der aufgehenden Sonne auf und ließ den Mond langsam verblassen. Eine ganze Weile stand sie so am Fenster, immer noch im Traum gefangen.
Langsam drangen erste Geräusche an ihr Ohr; ein Amselhäher setzte mit seinem Gesang ein, sie hörte ein trällerndes Rotkehlchen und ein Auto fuhr ziemlich schnell die Straße an der Reihenhaussiedlung entlang. Im letzten Haus der bereits seit Jahrzehnten bestehenden Siedlung, in Homburg an der Saar, lebte Donella mit ihrer Oma Erika.
Donella versuchte sich abzulenken 'wahrscheinlich ein Arbeiter, der seine Tagesschicht bei Bosch antritt und schon zu spät dran ist‘. Doch dieser Ablenkungsversuch brachte nichts; die Grübelei um den Albtraum hielt an. Also schloss sie mit Nachdruck das Fenster und sagte sich 'jetzt erst mal unter die Dusche, das lenkt ab‘, und lief die Treppe in den ersten Stock hinunter.
Das Schlafzimmer ihrer Oma Erika befand sich gleich nebenan. Als Donella die Tür zum Bad öffnete, stand Erika, leise herangeschlichen, im Nachthemd schon hinter ihr.
Sie legte ihre Hände auf Donellas Schultern, brachte ihren Kopf dicht an ihr Ohr und flüsterte „herzlichen Glückwunsch zu deinem zwanzigsten Geburtstag, mein Lämmchen!“, und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
Donella fuhr erschreckt zusammen „Himmel! Ich hab‘ dich nicht kommen gehört! Ja danke – entschuldige, aber ich bin noch ganz durcheinander!“
„Hab' es mitgekriegt, du hast kurz aufgeschrien, was war los? Hast du was Schlimmes geträumt?“
„Das kann man wohl sagen ...“
Donella war noch zu verwirrt, sie konnte noch nicht reden. Doch gleichzeitig wollte sie auch ihre Oma nicht vor den Kopf stoßen.
Sie drehte sich zu ihr „ganz schön blöd was? Ausgerechnet heute. Na ja, was soll's, es ist vorbei.“
„Ich mache uns jetzt Kaffee. Und dann erzählst du mir, was du da geträumt hast, darüber reden schafft Abstand“, antwortete Erika.
Dabei ging sie schon die schmale Treppe zum Parterre hinunter, wischte mit dem Arm durch die Luft und meinte nur lapidar „jetzt geh' erst mal unter die Dusche, dann sieht die Welt sofort wieder ganz anders aus. Ich räume mal ein bisschen diese Sauerei von deiner Geburtstagsfete zusammen; da habt ihr anscheinend gestern ordentlich abgefeiert, so wie das im Wohnzimmer aussieht. Kein Wunder, dass du schlecht geträumt hast. Da schlägt wohl das schlechte Gewissen in dir durch!“
Donella hörte die letzten Sätze nicht mehr, sie verschwand bereits im Bad.
Eine halbe Stunde später saßen sie in der kleinen Küche am Küchentisch. Der Raum wirkte alt und verbraucht, kein neuwertiges Gerät schaffte Glanzpunkte. Ein schmales Sprossenfenster, über der Spüle angebracht und mit Blick auf die Seitenstraße, ließ zwar etwas Helligkeit herein, aber die eigentliche Lichtquelle kam von der Terrassentüre im angrenzenden Wohnzimmer, das durch einen breiten Durchgang mit der Küche verbunden war.
Gerade mal ungefähr fünfzehn Quadratmeter maß dieses Wohnzimmer, das mit seiner farbenfrohen Couchgarnitur, bestehend aus einem Zweisitzersofa mit zwei Sesseln und einem rechteckigen Couchtisch davor, so gut wie ausgefüllt wirkte. Ein Fernsehapparat (altes Modell) drückte sich in eine Ecke, daneben stand ein reich bestücktes Bücherregal und einige Bilder frischten den Raum zusätzlich bunt auf. Zwei Pflanzen schafften mit ihrem Blattgrün belebende Punkte, und den Boden bedeckte ein maisfarbener Sisalteppich.
Die Terrassentüre führte in den mit hohen Büschen umpflanzten Garten (wobei Donella bei diesem 'Garten' nur immer von 'Terrasse mit etwas Grün' sprach). Im Zusammenspiel wirkte alles gemütlich, heimelig, mit einem Touch von Spießertum.
Donella hatte das kleine Päckchen mit ihrem Geburtstagsgeschenk (zwei goldene Ohrstecker) ausgepackt und sich bei Erika mit einer kurzen Umarmung bedankt. Sie probierte sie jedoch nicht an, sondern blickte nur nachdenklich auf das offene Etui und drehte es in den Händen.
Erika nahm Donellas Hände zwischen die ihren und sagte „komm, jetzt erzähl, was du da geträumt hast. Das lässt dich ja anscheinend nicht mehr los, da hilft nur reden.“
Zuerst konnte Donella nur stockend erzählen; doch je mehr sie redete, um so freier wurde sie; und plötzlich hatte sie auch mehr Abstand zum Traum, seine beklemmende Wirkung verschwand.
„Ja das war's, so lief er ab“, sagte sie leise, als sie geendet hatte, Stille eintrat und beide in ihre Kaffeetassen schauten.
„Jetzt sag schon - was denkst du?“
„Ja, keine Ahnung – “.
„Ich bin doch nicht verrückt, oder?“
„Ach Quatsch, das war nur ein Traum ...“, meinte Erika etwas unsicher.
Donella stand auf und ging auf der kurzen Distanz zwischen Wohnzimmer und Küche auf und ab. Die ersten Sonnenstrahlen drückten sich herein, tasteten sich zu ihrer Gestalt vor und ließen ihr Haar kastanienbraun aufleuchten.
Die Unsicherheit in Erikas Ton fiel ihr nicht auf - ein Novum bei ihr. Normalerweise war Donella eine exzellente Zuhörerin. Mit ein Grund, neben ihrer stillen Schönheit und ihrer Intelligenz, weshalb sie einen Job in einer Saarbrücker Nobelboutique angeboten bekommen hatte. Sie konnte das teils hirnlose Geplapper der exaltierten Kundschaft mit viel Geduld ertragen, blieb dabei aber freundlich mit einer gewissen Distanz. Sie erinnerte sich auch noch nach Wochen an Gesagtes, was der Eitelkeit der vornehmlich weiblichen Kunden überaus schmeichelte. Doch eigentlich strebte sie immer noch ein Medizinstudium an, aber ihr Abiturzeugnis hatte den geforderten Notendurchschnitt nicht erreicht. Gelegentlich ärgerte sie sich mächtig nicht mehr gebüffelt zu haben; wegen einer Liebschaft ging sie alles etwas zu locker an und musste jetzt die Konsequenzen tragen.
„Er war nur so verdammt intensiv!“ Sie sah den zweifelnden, etwas mokanten Blick von Erika „ja, ja, schon klar. Natürlich war es trotzdem nur ein Traum, aber so real, so deutlich! So, als wollte er mich auf etwas aufmerksam machen, mich irgendwie – ach, ich weiß auch nicht!“
„Komm setz dich wieder hin, dieses hin und her macht mich ganz nervös!“, antwortete Erika etwas unwirsch darauf, da Donella immer noch mit den Armen gestikulierend auf und ab lief.
Als Donella wieder saß, meinte Erika nachdenklich „ja, komisch ist das schon ...“
„Komisch? Das trifft’s wohl nicht so ganz, eher schon grauenhaft!“
„Wie auch immer! Jedenfalls erinnert es mich an deinen Vater ...“
„Wieso ausgerechnet an Papa? Das versteh ich nicht … erzähl, was meinst du damit ...“
„Na erstens, weil er mit seinem zweiten Vornamen Alasdair hieß; und zweitens, weil er damals eisern darauf bestand, dir den Vornamen ‚Donella‘ zu geben. Davon ließ er sich nicht abbringen. Obwohl er sonst eigentlich immer nachgab und einknickte, wenn seine zwei Frauen, wie er deine Mutter und mich nannte - du warst ja noch so klein, als ‚Frau‘ konnte man dich wirklich noch nicht bezeichnen - etwas bei ihm durchsetzen wollten“, meinte Erika und schmunzelte; eindeutig hing sie einer Erinnerung nach.
Da fiel ihr die Ungeduld in Donellas Blick auf; sie ärgerte sich einen Augenblick darüber „also ein bisschen Zeit musst du mir schon geben, das ist alles schon so lange her. Außerdem, ob das was mit deinem Traum zu tun hat - eher unwahrscheinlich. Vielleicht hast du einfach wieder mal einen verrückten Film gesehen mit ‚wilden Rittern‘ und so. Hängst ja immer viel zu lange vor der Glotze!“
„Also Oma, jetzt hör aber auf, erzähl lieber weiter ...“
„Ja, ja, ich mach ja schon! Ich weiß noch, wie er sich verhalten hat, als wir, er und ich, Isabella nach deiner Geburt das erste Mal im Krankenhaus besuchten. Er war vollkommen überrascht, dass du kein Junge warst und sagte, fast mit Enttäuschung in der Stimme „was, ein Mädchen? Das kann aber nicht sein!“ Erst als wir ihn verwundert ansahen fiel ihm auf, was er da von sich gegeben hatte. Er entschuldigte sich sofort und meinte nur murmelnd „vielleicht ist es besser so! Dann ist das Thema möglicherweise endgültig erledigt!“ Wir, deine Mutter und ich, schoben dieses Gerede darauf, dass manche Erstväter irgendwie nicht sauber ticken, bis sie sich mit dem so vieles veränderndem Umstand vertraut gemacht haben. Später dann war ja auch alles normal und er schlug den Doppelnamen ‚Donella-Isabella‘ für dich vor, den wir als sehr schön empfanden – also blieb's dabei.“
„Aber hat er zu dieser Vornamenssache wenigstens eine Erklärung abgegeben?“
„Ja, das meinte ich ja zuvor. Er sagte, und es war das einzige Mal, dass Isabella und ich ihn fast ruppig erlebten, als er erklärte ‚Donella‘ sei die weibliche Form von ‚Donald‘. Und der Vorname ‚Donald‘ hätte wiederum sehr viel mit seiner Familie zu tun.
„Schwieriges und ziemlich unerfreuliches Thema!“, wie er noch ergänzte und dabei mit der Hand, die Sache abschließend, durch die Luft strich. Mehr wollte er dazu einfach nicht erzählen, klappte zu wie eine Auster und ließ sich nichts mehr aus der Nase ziehen. Etwas später meinte er dann noch, wieder versöhnlicher werdend, er würde das noch aufklären, aber das hätte noch Zeit.“
Donella wurde unruhig, rückte auf ihrem Stuhl hin und her „also viel hast du mir ja eigentlich nie von ihm erzählt ...“
„Gott, da war ständig so viel anderes, und du hattest den Kopf voller Flausen, wenn ich dich mal daran erinnern darf“, dabei lächelte sie Donella an und knuffte ihren Arm „und so richtig interessiert hat es dich auch nicht. Außerdem, was vorbei ist, ist vorbei, da nützt das hinterher darüber Reden auch nichts mehr ...“
„Ja, kann sein. Aber jetzt würde ich da schon mal gerne mehr darüber wissen, denn ich weiß eigentlich nicht viel – wenig von meiner Mutter, und noch viel weniger von meinem Vater ...“
Stille trat ein, nur das Radio dudelte leise vor sich hin.
Erika rückte sich zurecht und meinte entschlossen „also! Was willst du wissen? Heute hast du ja frei und musst nicht zu deinem Job. Wir haben Zeit, ich kann dir alles erzählen und außerdem könnten wir uns mal die Tasche von deinem Vater vorknöpfen, die noch auf dem Dachboden steht ...“
„Wieso? Was für eine Tasche? Davon hast du mir nie etwas erzählt!“
„Ja, weiß ich. Aber das ist mir doch gerade eben erst wieder eingefallen, dass dieses Ding noch irgendwo auf dem Speicher rumliegt.“
„Warum hast du sie dann aufgehoben?“
„Jetzt werd‘ aber nicht nervig, Donella. Sagte ich doch gerade, ich hab' sie vollständig vergessen. Und da oben lagert so viel altes Gerümpel; du wirfst deinen alten Rotz ja auch einfach da hinauf, kümmerst dich auch um nichts.“
Erika wirkte etwas verschnupft und belegte etwas zu eifrig ein frisch aufgetautes Brötchen. Eines dieser kleinen und so unnötigen Gefechte war das, die sie öfters mal miteinander hatten; wie das eben so ist, wenn man etwas zu dicht aufeinander sitzt.
Deshalb schluckte Donella den Rüffel weg und sagte verhalten „ich will einfach mehr über ihn wissen. Und wenn da eine Tasche ist, dann wird da auch was drin sein von ihm. Ich muss ja sogar noch eine andere Verwandtschaft haben, da irgendwo in Schottland, denn wenigstens das weiß ich von ihm - er war beim Militär und kam aus Schottland ...“
„Gott, der Traum hat dir aber wirklich zugesetzt – und deine Verwandten in Schottland, ja. Aber die haben sich nie sonderlich um dich gekümmert; zu deinem zweiten Geburtstag kam da noch eine Karte, aber dann nichts mehr. Wahrscheinlich auch, weil ich nicht darauf geantwortet habe, ich kann ja kein Englisch. Und dein Vater war tot, ebenso wie deine Mutter ...“
Erika stand seufzend auf, bestückte die Kaffeemaschine neu, briet Spiegeleier, ordnete die aufgetauten Brötchen im Korb und Donella richtete, ebenfalls schweigend, den Rest des Frühstückstisches her.
Als sie wieder am Tisch saßen, meinte Donella „ich weiß ja, du bist immer für Harmonie und vertrittst die Ansicht, was vorbei ist ... und so weiter. Aber darum geht es jetzt nicht. Mir steckt einfach der Traum noch in den Gliedern. Vielleicht hängt es doch irgendwie mit mir zusammen. Und das wäre schon ziemlich verrückt, meinst du nicht auch?“ Sie streichelte dabei weich über den Oberarm von Erika.
Erika tätschelte die streichelnde Hand und antwortete „nein, das glaub' ich jetzt nicht. ‚Stimmen aus der Vergangenheit‘, alles Quatsch, zumindest für mich. Da ist eher die Fantasie mit dir durchgegangen. Aber das mit John, deinem Vater - lass mich mal kurz nachdenken, damit ich die Sache wieder sauber auf die Reihe kriege ...“
Wie das so ist, wenn man Geschehnisse aus einer lange vergangenen Zeit im Kopf ausgraben soll, die noch dazu mit Trauer besetzt sind, dauerte es etwas, bis Erika die Fakten beisammen hatte. Dazu kam, sie verdrängte unangenehme Dinge gerne. Sie entsprach dem typischen Saarländer, der es am liebsten gemütlich angeht und Schwierigkeiten vermeidet; sollten sie dennoch auftauchen, so will er sie möglichst schnell erledigen, vom Tisch haben. Oder, wenn es sich anders nicht erledigen lässt, sitzt er sie einfach aus und wartet ab, bis sie sich von selbst erledigen, was meistens auch ganz gut gelingt.
Nur half das jetzt nicht wirklich weiter, wie sie erkannte, also fing sie zu erzählen an: „Dein Vater, John-Alasdair Gordon, wie er exakt hieß, kam als englischer Verbindungsoffizier der Nato nach Deutschland auf die Air Base Ramstein in der Westpfalz; das liegt in der Nähe von Kaiserslautern, wie du weißt - wobei ich immer noch keine Ahnung habe, was diese Bezeichnung 'Verbindungsoffizier' eigentlich bedeutet, aber das ist jetzt sowieso nicht mehr wichtig“, fügte sie im Nebensatz ein, erzählte dann aber schnell weiter.
„Jedenfalls, Isabella und er lernten sich bei einem Deutsch/Amerikanischen Freundschaftsfest in Landstuhl (kleine Stadt, in der Nähe der Air Base liegend) kennen und verliebten sich ineinander. Alles ging dann sehr schnell; John mietete ein möbliertes Haus an, das zwischen Landstuhl und Homburg lag, die beiden zogen ein und einige Monate später wurdest du geboren. John musste zehn Monate nach deiner Geburt zurück nach England auf einen Lehrgang, weshalb die geplante Hochzeit vorerst ins Wasser fiel, sie sollte nach seiner Rückkehr nachgeholt werden. Dazu kam es jedoch nicht mehr; er und Isabella verunglückten drei Tage vor dem Hochzeitstermin. Ein Autounfall auf regennasser Fahrbahn war der Auslöser, wie du weißt.“
Sie musste schlucken, Wasser schoss ihr in die Augen, als sie mit gesenktem Kopf ergänzte „beide waren sofort tot ...“
Sie holte tief Luft, wischte die Tränen weg „und du warst zu diesem Zeitpunkt bei mir, denn sie wollten ein befreundetes Paar besuchen, um einen Geburtstag zu feiern. Anschließend wollten sie die Nacht bei denen verbringen - der schottische Whisky wird reichlich fließen und deshalb fahren wir besser nicht zurück -, meinte John noch lachend dazu“, erklärte Erika wehmütig und mit wieder feuchten Augen.
Eine Weile blieb es still, bis Donella meinte „komm, das ist Vergangenheit. Außerdem ist es ewig lange her ...“
Zugleich fiel ihr ein, natürlich wusste sie schon vieles davon, weil in Kindertagen oft nachgefragt wurde, wie sie als geborene Becker zu diesem ungewöhnlichen Vornamen gekommen war.
Erika erzählte ihr damals kindgerecht die Fakten und beschloss zugleich, Donella solle sich zukünftig nur noch mit ihrem zweiten Vornamen ‚Isabella‘ vorstellen, um das Thema endgültig zu beenden, und um nicht ständig daran erinnert zu werden.
Daraus wurde von ihren Mitschülern etwas später der Einfachheit halber ‚Bella‘ gemacht; nur zwischen ihnen beiden blieb der Vorname Donella erhalten.
Sehr viel mehr sprachen sie nicht mehr darüber. Auch die Sache mit der Tasche wurde vorerst auf Eis gelegt; denn dieser schöne Tag, so meinte Erika, habe es verdient in vollen Zügen genossen zu werden; und sich nicht stattdessen „vielleicht sogar tränenreich“ wie sie extra betonte, mit altem Kram zu beschäftigen.
Erika war die treibende Kraft. Donella hätte nur zu gerne einen Blick in die Tasche geworfen. Doch Erika wollte ihre Enkeltochter, wie auch sich selbst, nicht noch mehr beunruhigen und sagte sich 'was können alte Unterlagen wohl schon noch bringen ...‘ Außerdem beschlich sie immer ein ungutes Gefühl, wenn sie an Donellas Vorfahren väterlicherseits dachte.
Die beklemmenden Erinnerungen an den Traum verblassten im Laufe dieses schönen Tages und ließen Erfreulicheres in den Vordergrund treten. Nachmittags gingen sie zusammen spazieren und genehmigten sich später ein Festessen bei einem der vielen 'Italiener‘. Der Traum verschwand komplett aus Donellas Bewusstsein, allerdings sollte dieser Zustand nur bis zur darauf folgenden Nacht vorhalten. Denn wieder hatte sie so einen seltsamen Traum - doch dieses Mal verlief er anders; sie war nicht nur beobachtend dabei, sondern es passierte ihr selbst:
Sie hetzte über eine Wiese. Nur ein bis zu den Knöcheln reichendes baumwollenes Hemd mit langen Ärmeln bekleidet sie. Ihren mit Fellen gefütterten Umhang hatte sie längst verloren; der Wind sprengte durch sein ständiges Zerren die Gemme an der Brust auf, riss ihr den Umhang von den Schultern und wehte ihn auf eine Astgabel - unerreichbar für sie. Und so lief sie halbnackt immer weiter über das unebene Gelände; dabei war sie diesem
