Von Mistgabeln und Moorleichen - Cecily von Hundt - E-Book

Von Mistgabeln und Moorleichen E-Book

Cecily von Hundt

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Lorie Pfeffer ermittelt in ihrem ersten Fall Eigentlich war es Lories Idee, mit Mann und Tochter aus der Großstadt München in ein hübsches Haus auf dem Land zu ziehen. Doch in ihrem neuen Heim stinkt es auffallend häufig nach Kuhmist, weil der Bauer von Nebenan zu unchristlichen Zeiten seinen Acker düngt. Und dann wird auch noch ihre Tochter in der Schule beim Marihuana Rauchen erwischt. Einziger Lichtblick ist Lories Job bei der regionalen Zeitung. Hier kann sie ihre Leidenschaft für Kriminalfälle ausleben. Als eine Leiche im Moor gefunden wird, ist sie Feuer und Flamme. Beherzt stürzt sie sich in die Recherchen und ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich dabei begibt … Von Cecily von Hundt sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Von Mistgabeln und Morrleichen (Lorie Pfeffer ermittelt 1) Von Bierkrügen und Giftmorden (Lorie Pfeffer ermittelt 2) Die Cavensish-Villa Das letzte Geständnis

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Die Autorin Cecily von Hundt, geboren 1974 in Düsseldorf, studierte Bibliothekswesen in Potsdam und arbeitete als freie Journalistin für BILD Berlin und die Süddeutsche Zeitung. 2004 eröffnete sie in Berlin Mitte den Buchladen Hundt, Hammer Stein. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München.

Das Buch

Lorie Pfeffer ermittelt in ihrem ersten Fall

Cecily von Hundt

Von Mistgabeln und Moorleichen

Ein Bayern-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Januar 2018 (1)   © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat   ISBN 978-3-95819-142-6   Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1. Kapitel

Wenn er die Finger ausstreckte, würde er sie anfassen können. Sie war nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt, und der Duft ihres Parfums wehte zu ihm herüber. Er spürte ein Kribbeln in der Nase, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Was sollte er sagen, wenn sie ihn in ihrem Büro hinter dem Vorhang finden würde? Abends, nachdem alle die Klinik verlassen hatten? Er hätte hier irgendetwas verloren, und das ausgerechnet in ihrem Büro? Unsinn, er musste sich einfach zusammenreißen!

»Mach jetzt keinen Quatsch, Martin«, dachte er und hielt die Luft an. Das Kribbeln wurde stärker und eine Welle der Panik überflutete ihn.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Müde ließ sich Nora Plancke auf dem gepolsterten Drehstuhl nieder und griff nach dem Hörer. »Plancke?«

Sie trommelte mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln auf der Schreibtischplatte herum, neigte den Kopf leicht zur Seite, sodass er ihren Nacken sehen konnte. Zart, zerbrechlich wie ein kleines Vögelchen sah sie aus, und wieder konnte er die Wut spüren, die in ihm aufstieg, gärend wie Gift, brodelnd. Er musste sich noch mehr zusammenreißen, nicht hinter dem Vorhang hervorzukommen, um sie beschützend in seine Arme zu nehmen. Er bohrte die Fingernägel in seine Handflächen, bis es schmerzte.

»Ja, ich weiß«, sagte sie und seufzte leise in sich hinein. »Es tut mir leid. Die Großküche, die bisher unsere Klinik beliefert hat, hat uns versetzt. Ja, das verstehe ich auch nicht.« Nora hielt den Hörer von ihrem Ohr weg. Der Anrufer schien mit großer Lautstärke in das Telefon zu schreien, und Martin sah, wie Nora zusammenschrumpfte. »Ich habe mich schon mit einem anderen in Verbindung gesetzt … Ja, ich melde mich, Frau Stolzenhuber.«

Sie steckte den Hörer zurück in die Ladestation und stützte den Kopf in ihre Hände.

Wie verzweifelt und verlassen sie wirkte Niemand sah, was er sehen konnte. Niemand bemerkte ihre Tränen, wenn sie allein zu sein glaubte. Natürlich kannte er ihr kleines Geheimnis, die Flaschen mit klarem Wodka, die sie überall in den Schubladen und hinter den Büchern der Regale versteckt hatte. Wodka hinterlässt keine Fahne, hatte er mal gelesen, vielleicht trank Nora ihn deshalb. Dennoch wussten alle Bescheid. Nicht in dem Ausmaß, in dem er es wusste, aber die Leute in der Klinik hatten sie zum Freiwild erklärt. Hinter ihrem Rücken tuschelten sie über sie: die »feine Frau Plancke«, Frau des »Chefarzt Plancke«, eine Säuferin, ein seelisches Wrack. Er konnte sie lästern hören, er hatte seine Augen und seine Ohren überall. Er war wie ein Schatten, ihr Schatten, der ihr überallhin folgte, über sie wachte.

Sie war viel zu gut für diesen Haufen von Angebern, Wichtigtuern in weißen Kitteln, und ganz besonders für ihren Mann, dieses widerliche, aufgeblasene Stück Dreck. Sie war die perfekte Frau, aber der feine Herr Doktor hurte herum. Alle in der Klinik wussten es, und Martin wusste es natürlich auch. Als Hausmeister hatte er den Vorteil, dass die Leute nicht auf ihn achteten. Er konnte kommen und gehen wie ein Geist. Sie sahen einfach durch ihn hindurch. Er existierte nicht in ihrer Welt, abgehoben, dort droben irgendwo, und das kam ihm sehr zugute. Nur Nora schenkte ihm hin und wieder ein abgekämpftes, müdes Lächeln aus ihrem schmalen Gesicht, wenn er ihr im Gang begegnete, und dann schlug ihm das Herz so hoch im Halse, dass er dachte, es müsste explodieren.

Einmal hatte er an ihrem Hals geschnuppert, an der warmen, weichen Haut zwischen Schlüsselbein und der kleinen Kuhle am unteren Ende ihrer Kehle, als er sie auf das Sofa gebettet und die Decke über ihren Körper gebreitet hatte. Natürlich hatte sie sich am nächsten Tag nicht daran erinnern können, dass er derjenige gewesen war, der sie vom Boden aufgehoben und ihr Gesicht vom Erbrochenen gereinigt hatte. Nora hatte einen schlechten Tag gehabt, und nachdem er sie gewaschen, abgetrocknet und zum Schlafen auf das Sofa gebettet hatte, hatte er die Wodkaflaschen mit ein wenig klarem Wasser verdünnt. Er machte sich Sorgen um Noras Gesundheit, und das immer mehr.

Das Kribbeln in der Nase war verschwunden. Er merkte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn trocknete. Hoffentlich übernachtete sie heute nicht im Büro, dann wäre er angeschmiert. Sie erhob sich, streckte sich einmal, schlüpfte in ihre Schuhe, nahm ihre Tasche und Mantel vom Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Dann ließ sie den Blick noch einmal prüfend durch den Raum gleiten, und einen kleinen Moment überfiel ihn wieder die Angst, sie würde ihn hinter dem Vorhang sehen. Aber ihre müden Augen huschten nur über ihn hinweg. Er konnte es durch den schmalen Schlitz erkennen, der ihm Luft zum Atmen gab – Nora hatte ihn nicht entdeckt. Gott sei Dank, der Schein der Schreibtischlampe warf einen Schatten in seine Richtung.

Martin konnte sehen, wie Nora mit langsamen, traurigen Schritten in Richtung Tür lief, sie öffnete und das Schreibtischlicht am Generalschalter löschte. Als die Tür hinter Nora ins Schloss fiel, blieb Martin mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit zurück.

2. Kapitel

»Es stinkt tatsächlich nach Kuhscheiße. Nach ordentlicher, echter, unverfälschter Kuhscheiße. Ist das zu fassen?«

»Wie bitte?«

Lorie gähnte und schob sich eine Strähne aus der Stirn, blinzelte kurz, hielt sie sich vor die Augen – so nah wie möglich – und blinzelte wieder missmutig.

»Spliss!«

»Bitte was?« Die Stimme ihrer Freundin Hanne am anderen Ende des Telefons klang leicht irritiert.

»Ich habe Spliss.«

»Jeder hat Spliss.«

»Nein, du nicht! Du hast deinen eigenen schwulen Privatfriseur Esteban, der jeden Dienstagnachmittag zu dir nach Hause kommt und dir auch den allerletzten, mikroskopisch kleinsten Spliss herausschneidet. Und obendrein hast du einen Ehemann, der dir solche wundervollen Dinge wie Esteban aus der linken Hosentasche zahlt.«

Hanne seufzte genervt. »Du warst bei der Kuhscheiße.«

»Ja, davon bin ich geweckt worden! Ist das zu fassen!« Lorie ließ sich ein Stück weiter unter die gemütlich warme Bettdecke rutschen und versuchte durch den Mund zu atmen, damit sie diesen wahnsinnig natürlichen Geruch nicht mehr riechen musste.

»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mir vor zwei Jahren die Ohren vollgeheult, dass deine Tochter auf dem Land aufwachsen sollte, und dass die Wohnung in München viiieeel zu klein für euch drei wäre, und du würdest die Jahreszeiten in der Stadt vermissen und …«

»Ja, ja, ist schon gut.« Lorie tat es schon wieder leid, dass sie sich bei ihrer Freundin Hanne ausheulte, schließlich hatte Hanne damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und dieses wunderhübsche Haus im Norden von München für Ferdinand, Sophie und sie selbst gefunden. Zwanzig Minuten mit der S-Bahn vom Marienplatz entfernt, Schulen in Fußnähe, außerdem mit dem Auto problemlos zu erreichen, was man zum täglichen Leben brauchte, und ihre Freundin Hanne nur ein paar Häuser weiter. Hanne, mit der sie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dortmund aufgewachsen war. Lorie, schon immer klein und rund und mit dem Kopf irgendwo in den Wolken und Hanne, groß, schlank, blond, unerträglich und gleichzeitig wunderbar pragmatisch, die Philip geheiratet, eine Galerie in München eröffnet und der die Sonne schon immer aus dem Arsch geschienen hatte. Was würde sie nur ohne Hanne machen?

»Hallo? Jemand zu Hause? Bist du wieder eingeschlafen?«

»Quatsch«, knurrte Lorie und nahm einen tiefen Atemzug. »Ich lausche dir andächtig.«

»Das würde ich dir auch raten. Ich muss mich jetzt ins Auto schmeißen, wir haben heute Abend eine Vernissage. Willst du kommen? Du hast zwar noch nicht zugesagt, aber ich gebe nicht auf, dich aus deinem hübschen, kuscheligen Lieblingssessel herauszulocken.« Hanne machte eine kleine Pause, und Lorie konnte hören, wie sie durch die Nase Luft holte, um erst leise loszukichern und schließlich mit einem lauten Röhren, das irgendwo aus den Untiefen ihrer Eingeweide kam, loszuprusten. »Es gibt auch Schnittchen und Schokotörtchen. Die warmen, mit dem weichen Kern drin. Weißt du, welche ich meine?«

»Sehr witzig.«

»Also, bis dann.« 

Lorie ließ den Hörer sinken, und beinahe hätte sie es geschafft, ihn in die Ladestation zu stellen. Wenn er nicht so furchtbar schwer wäre. Der kalte Nordwind zog durch die Fensterritzen und ließ die hellblauen Schlafzimmervorhänge leise rascheln. Durch das Sprossenfenster konnte sie die hohen Bäume sehen, die den großen Garten begrenzten und sich im Wind hin und her wiegten. Natürlich, dachte sie, es war ihre eigene Idee gewesen, aus der Stadt weiter raus zu ziehen. Sie hatte es sich so romantisch vorgestellt, kein Stadtlärm, kurze Schulwege für Sophie, sie würde im Garten Tomaten anpflanzen und im Sommer wieder Reitstunden nehmen können. Aber wie das Leben so spielte: Die Tomaten waren im Nullkommanix von den Ameisen gefressen worden, obwohl sie sich sogar das sauteure Hochbeet bestellt hatte, und die Reitstunden hatte sie jedes Mal mit zusammengebissenen Zähnen absolviert. Sie hatte nämlich panische Angst vor der Reitlehrerin. Hanne hatte sie ausführlich von ihren Vermutungen erzählt, dass Frau Gerstenmeier bestimmt aus dem Osten sei und früher in der DDR kleine Mädchen im Schlittschuhlaufen unterrichtet habe. Hanne hatte müde gelächelt und sie ihre Lieblingsverschwörungstheoretikerin genannt. Im Geheimen kam sich Lorie auch ziemlich lächerlich vor, aber trotzdem hatte sie sich die letzten vier anvisierten Reitstunden eine lahme Entschuldigung nach der anderen einfallen lassen, um nicht mehr hingehen zu müssen, und jetzt traute sie sich schon gar nicht mehr abzusagen.

Sie hatte das Leben in München gemocht – sehr sogar! Damals, als sie als Studentin Ferdinand kennengelernt – und aus der WG mit Hanne ausgezogen war – und mit ihm in seiner Wohnung gelebt hatte. Sie hatten jeden Morgen frische Brezeln vom Viktualienmarkt gefrühstückt, und im Sommer hatten sie abends an der Isar gesessen, die Füße in das kalte Wasser gehalten und Bier getrunken. Lorie liebte das quirlige Treiben in der Stadt, die Biergärten, die immer voller Leben waren. An den Wochenenden, noch bevor die Sonne aufgegangen war, waren sie oftmals mit ihrem kleinen Auto nach Italien gefahren, nach Mailand, Florenz, Tausende von Kilometern, und dann am Sonntagabend todmüde und glücklich ins Bett gefallen. Nach dem Studium hatte Lorie bei einem kleinen Frauenmagazin gearbeitet, die Auflage war winzig klein gewesen, aber hin und wieder war sie zu Filmeröffnungen oder Vernissagen gegangen, und sie hatte das Gefühl gehabt, es wäre die große, weite Welt, die ihr mit diesem ganz besonderen Duft um die Nase wehte. Als Ferdinand immer mehr arbeiten musste, wurden ihre Wohnungen größer, die Reisen wurden weniger und schließlich war Lorie schwanger.

Dann waren sie also aufs Land gezogen. Und jetzt verdrängte der durchdringende Geruch von Kuhmist die schönen Erinnerungen an Münchener Zeiten, die sich mit der unheilvollen Vorstellung von blassen, dünnen, schlittschuhfahrenden Mädchen und der gertenschwingenden Frau Gerstenmeier in Lories Halbschlaf vermischt hatten.

»Und auch noch Herr Nebelmaier!«, seufzte Lorie halblaut unter der Bettdecke.

Herr Nebelmaier, der Bauer, einer der letzten, der sein Häuschen und Feld in ihrem teuren Villenvorort verteidigte, liebte es, wahrscheinlich aus Protest, sein Feld zu düngen. Lorie hatte mal davon gehört, dass man nur im Spätsommer düngen durfte, aber Herrn Nebelmaier war das offensichtlich total wurscht. Sein Feld wurde von ihm munter zu jeder Jahres-, Tages- und Nachtzeit mit der Ausscheidungsproduktion seiner fünf Kühe besprenkelt, und heute war offensichtlich wieder einer dieser Tage. Lorie öffnete probehalber ein Auge und schloss es sofort wieder. Es war noch nicht mal richtig hell draußen, aber das Zwitschern der Vögel war bereits ohrenbetäubend. Himmelherrgott, wie war sie hier nur gelandet? In der Stadt war es immer hell. Der typische gelbe Nachthimmel hatte sie begleitet, die Vorstellung, dass sie von Tausenden von Menschen umgeben war, die atmeten, lachten, lebten und stritten, hatte sie immer beruhigt. Hier, am Arsch der Galaxis, wie sie es insgeheim nannte, hatte sie häufig das Gefühl, sie wäre der einzige Mensch auf der Welt.

Das Schlafzimmer war der Ort, den sie am meisten im ganzen Haus liebte, sie nannte es im Stillen ihre kleine Festung. Hier wollte niemand etwas von ihr. Sie liebte den weichen, flauschigen Teppichboden unter ihren Füßen, und der warme braunrote Mahagonischrank duftete immer nach frischer Wäsche und Lavendel. Sie hatte den Frisiertisch, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, restaurieren lassen, und vor dem alten Blattgoldspiegel stapelten sich tonnenweise Cremedöschen und Parfumflaschen. Lorie genoss es, sich durch die unterschiedlichen Duftsorten zu schnuppern, manchmal fuhr sie sogar extra nach München in ihre Lieblingsdrogerie und kam mit einer Tüte, bepackt mit neuen Duftproben, nach Hause. Ihre Mutter hatte immer gesagt: »Eine Dame verlässt nie das Haus ohne einen eleganten Duft.« Lorie war Welten davon entfernt, eine elegante Dame zu sein, aber sie konnte wenigstens danach duften. Dabei behauptete Ferdinand, er würde sich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer immer mehr und mehr in eine Frau verwandeln, zwischen dem ganzen Samt und Plüsch. Aber Lorie liebte diesen Raum über alles. Ihr Schlafzimmer war so, wie sie sich selbst sah: warm, kuschelig und immer ein wenig im Dämmerlicht.

Ohne dass sie es bemerkt hatte, war sie wieder in einen leichten Schlummer gerutscht. Lorie öffnete noch einmal kurz ein Auge und schielte auf den Wecker, der neben ihr auf dem Nachttischchen stand. Sie hatte Ferdinand gar nicht gehen hören, und Sophie war schon seit Stunden in der Schule. Niemand, der etwas von ihr wollte, herrlich. Sie hatte alle Zeit der Welt, sich einen ihrer sechs neuen Krimis, die sie sich beim Onlineversand bestellt hatte, zu schnappen und den ganzen Vormittag mit Lesen zu verbringen. Das Leben in ihren Kriminalgeschichten war so viel spannender und bunter als ihr eigenes.

»Was passiert schon im Leben einer übergewichtigen, überforderten und schokoladensüchtigen Menopausentante?«, dachte sie. Nichts. Das war das Problem, und deshalb konnte sie sich auch ruhig eine Dosis Krimigenuss gönnen. Oder noch eine Mütze Schlaf. Lorie gähnte noch einmal lauthals, drehte sich auf die andere Seite, kuschelte sich in ihre herrlich weiche und warme Decke und schlief ein.

3. Kapitel

Der Garten sah zauberhaft aus in der Morgensonne, der Raureif hatte eine weiße, feine Schicht darüber gestäubt, und die zarten Kristalle glitzerten im Licht. Schnee lag in der Luft. »Ein perfekter Villenvorort-Vorgarten«, dachte Lorie, während sie in ihrer warmen, sonnendurchfluteten Küche saß und darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde. »Perfekt gemähter Rasen, kunstvoll geschlungene Buchsbäume und Lorbeerrabatten. Wie in einem dieser dämlichen Gartenmagazine, perfekt bis ins kleinste Detail und sooo todsterbenslangweilig!« Lorie gähnte ausgiebig und schob sich noch einen tröstend knuspernden Schokoriegel in den Mund. Sie schielte schon nach dem nächsten Riegel, der verführerisch aus der geöffneten Packung lugte, als das Telefon klingelte. Lorie zuckte zusammen. Schnell nahm sie den Hörer ab, als wäre sie bei etwas Ungehörigem ertappt worden.

»Pfeffer?«

»Spricht dort Frau Pfeffer?«

Die Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor und schien nichts Gutes zu verheißen.

»Ja. Wie gesagt.«

»Hier spricht Frau Meissen.« Kleine Pause. »Die Direktorin des Findel-Gymnasiums!«

»Ah, ach ja! Guten Morgen, Frau Meissen!«

Ohne dass Lorie wusste, warum, hätte sie heulen können, dabei hatte Frau Meissen noch nicht einmal losgelegt. Aber die Tatsache, dass die Direktorin der Schule ihrer Tochter morgens um zehn bei ihnen zu Hause anrief, konnte tatsächlich nichts Gutes bedeuten.

»Das ist ja nett, dass Sie anrufen. Ist alles in Ordnung?«

»Keineswegs.« Frau Meissens Stimme klang schneidend, und Lorie ließ sich kraftlos auf den Barhocker sinken, den Ferdinand letzte Woche von Ikea mitgebracht und stolz zusammengebaut hatte. Er sah zugegebenermaßen gut zu ihrer Kücheninsel aus, aber er war einfach zu hoch. Oder Lories Beine zu kurz, zumindest passte sie nur mit einer halben Pobacke darauf.

»Oh. Das tut mir leid zu hören. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert?!«

»Nun, das ist eine Ermessenssache, würde ich sagen. Wenn Sie mich fragen, ja!«

»Nun …« Lorie rutschte unwohl hin und her und versuchte mit ihrem Hintern den Stuhl unter Kontrolle zu bringen. »Könnten Sie mir bitte sagen, was passiert ist? Sophie geht es doch gut, oder?«

»Sophie geht es gut, ja. Sie sitzt hier vor mir und möchte Ihnen gerne etwas sagen.«

Es war ein Rauschen und Knacken zu hören und schließlich Sophies Stimme, die ungewohnt unterwürfig klang.

»Mami?«

»Ja?«

»Bist du es?«

Lorie verdrehte die Augen. »Natürlich bin ich es, wer sollte es sonst sein? Was ist los, Sophie?«

»Ich, ähm, ich muss dir etwas sagen.«

»Das sagte Frau Meissen schon. Was ist los?«

»Aber du darfst nicht sauer sein!«

»Das hängt ganz davon ab, was du mir jetzt erzählen wirst!«

»Es könnte sein, dass ich geraucht habe.«

»Du hast bitte was? Geraucht?! Du bist dreizehn!«

»Ja. Aber das ist noch nicht alles, fürchte ich.«

»Noch nicht alles?« Lorie hielt sich mit den Händen am Küchentresen fest. Ihr war schwindelig, doch das konnte auch an diesen Hormonpillen liegen, die sie seit ein paar Tagen nahm. Aber wahrscheinlich eher nicht.

»Das reicht mir ehrlich gesagt schon! Was denn noch?«

»Es könnte sein, dass es keine normale Zigarette war, also, du weißt schon …«

Jetzt könnte sie eigentlich tatsächlich heulen, wenn sie nicht so sauwütend wäre.

»Jetzt hör mir mal gut zu, mein Fräulein …«

»Frau Pfeffer? Hier spricht wieder Frau Meissen. Ja, das ist also die grandiose Neuigkeit Ihrer Tochter. Ich muss ehrlich sagen, dass ich sehr enttäuscht von Sophie bin. Es sieht so aus, als hätte sie nicht nur Marihuana auf dem Schulgelände geraucht – mit dreizehn! –, sondern dass sie es auch mit in die Schule gebracht und unter ihren Freundinnen verteilt hat! So etwas können wir an unserer Schule nicht dulden, und schon gar nicht eine Woche vor Weihnachten! Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, Frau Pfeffer, dass das einige Konsequenzen nach sich ziehen wird. Sophie wartet hier, bis Sie sie abholen. Ich spreche Sie dann.«

Zack. Aufgelegt. Die alte Ziege hatte einfach aufgelegt! Nicht zu fassen. Lorie ließ den Hörer sinken und starrte auf die Tischplatte des Küchentresens. Da waren sie jetzt also so weit, und sie hatte geglaubt, von Katastrophen dieser Art wären sie mindestens noch drei bis fünf Jahre entfernt. Aber wie immer war ihre Tochter für Überraschungen gut. Fantastisch.

Ferdinand würde begeistert sein und sie, Lorie, wäre mit Sicherheit wieder schuld. Ihre Gene, ihre Nachgiebigkeit, die Tatsache, dass Sophie die ersten vier Jahre in dem sauteuren Montessori-Kindergarten verbracht hatte. Irgendetwas würde ihm schon einfallen, das war sicher. Und sie konnte schon die Panik in seinem Gesicht lesen, wenn das in der Klinik rauskäme – die Tochter von Professor Pfeffer, vom Klinikleiter und Chef der Orthopädie – ogottogott … Dabei jammerte Ferdinand ihr schon seit Monaten die Ohren voll, welchen Ärger er mit diesem Chefarzt Plancke hatte, und jetzt auch das noch …

»Jetzt reiß dich zusammen«, schalt sie sich innerlich. »Du bist hysterisch.«

Sie sehnte sich danach, sich einfach in ihr Bett zurückzuziehen. Sollte Sophie doch selbst gucken, wie sie klarkam! Oder besser noch Ferdinand, sollte er sich doch mal von seinem Chefsessel hinab in die Niederungen ihres Alltags begeben und sich mit ihrer Tochter herumschlagen, die sich – plötzlich, wie über Nacht – von einem kleinen, zarten, blond gelockten Mädchen in ein pickeliges Monster verwandelt hatte! Genau! Sollten sie ihr doch alle mal im Mondschein begegnen und gucken, wie sie selbst zurechtkamen! Einen Moment lang genoss sie die Vorstellung, wie Ferdinand schwitzend Frau Meissen gegenüber auf dem unbequemen Sofa versank und ihre Strafpredigt über sich ergehen ließ, während Sophie daneben ungerührt an ihren Fingernägeln herumpopelte. Eine herrliche Vorstellung, aber das würde natürlich niemals passieren.

Lorie erhob sich mühsam vom Barhocker und schnappte sich einen der selbstgemachten Muffins, die verführerisch auf dem Teller vor der Mikrowelle vor sich hin dufteten. Die Schokolade zerging ihr im Mund wie Butter in der Sonne. Sie hatte die Muffins eigentlich für den Adventsmarkt in Sophies Schule gebacken, der traditionell am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien stattfand, aber so wie es aussah, würde sie die kleinen Kuchen wahrscheinlich eh nicht mehr brauchen. Da konnte sie sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen. Und weil die so schrecklich klein waren und schnell verzehrt, könnte sie auf dem Weg zur Schule noch einen kleinen Abstecher bei »Floris Feingebäck« machen. Ihre Florentiner mit Vollmilchüberzug halfen eigentlich immer, in jeder Lebenslage.

»Anziehen, Lorie«, sagte sie so laut zu sich, wie es der Muffin in ihrem Mund zuließ. »Keine Müdigkeit vorschützen und dann auf in den Kampf!«

4. Kapitel

Lorie ergriff ihre Handtasche und sprintete zu ihrem knallroten, heiß geliebten Jeep. Im Auto ließ sie die Fensterscheibe herunter und atmete tief ein. Die Luft war schneidend kalt, sie brannte ihr beinahe in den Lungen, aber es tat auch gut, sie machte ihren Kopf klar. Mit der linken Hand fummelte sie am Knopf ihres Rocks. Wann, verdammt noch eins, war der so klein geworden und Sophie so groß?

Als sie Sophie als kleines Baby auf ihren Knien geschaukelt und den warmen, süßen Geruch nach Baby eingesogen hatte, hatte sie sich geschworen, nie, niemals ihrer Tochter das Gefühl zu geben, sie sei nicht gut genug, nicht hübsch genug, nicht schlank genug. Sie hatte sie vor allem Bösen bewahren wollen. Das war ja wohl ziemlich in die Hose gegangen!

Die Ampel schaltete auf Rot. Das riesengroße Schild der Esso-Tankstelle neben ihr leuchtete enervierend, und einer plötzlichen Eingebung folgend drückte Lorie den Blinker runter und kam mit quietschenden Reifen vor der gläsernen Eingangstür zu den Verkaufsräumen der Tankstelle zum Halten. Sie stieg aus, ließ die Autotür ins Schloss fallen, und schon auf dem Weg zur Kasse suchte sie nach Münzen in den Tiefen ihrer XXL-Tasche. In der Tankstelle roch es nach Desinfektionsmitteln und Duftbäumchen. Hinter der Theke stand eine junge Frau mit schlecht gefärbten blonden Haaren und einem Kaugummi im Mund. Sie kaute bedächtig wie eine Kuh auf der Weide und sah auch ungefähr so helle aus.

»Eine Marlboro«, flüsterte Lorie mit zitternder Stimme.

»Was?«

Lorie räusperte sich und straffte die Schultern. »Eine Marlboro!«, sagte sie noch einmal, diesmal mit lauter Stimme.

»Welche?«

Lorie starrte sie verwirrt an.

»Wie, welche?«

Das Mädchen kaute gelangweilt weiter und hob die Augenbrauen.

»Welche Sorte?«

»Na, hab ich doch gesagt! Marlboro!«

Lorie brach der Schweiß unter den Achseln aus. Was machte sie hier eigentlich? Sie müsste schon im Zimmer von Sophies Direktorin sitzen, und jetzt stand sie hier in einer Esso-Tanke und stammelte vor sich hin.

»Normale, light, zum Selbstdrehen, extra stark …«, zählte das Mädchen ungerührt auf und starrte Lorie weiter an. »Welche?«

»Ach, ähm, normale bitte.«

»Sechs Euro.«

Gott, war das teuer! Wann waren Zigaretten so teuer geworden? Fahrig zählte Lorie das Geld zusammen und legte es auf die Theke. Das Mädchen griff mit geübtem Blick nach hinten, zog ein Päckchen Zigaretten aus dem Regal und knallte es vor Lorie auf den Tresen.

»Getankt?«

»Äh, nein.«

Lorie schnappte sich die Schachtel, drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück in ihr Auto. Jeder konnte sie hier sehen, aber das war ihr im Moment egal.

Der Zigarettenanzünder war schon warm. Sie fummelte eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an, lehnte sich im Sitz zurück und nahm einen tiefen Zug. Göttlich. Wie immer. Als hätte zwischen dieser und ihrer letzten Zigarette vor ihrer Schwangerschaft nicht ein Tag gelegen. Sie hätte die ganze Schachtel aufrauchen können, jetzt, hier und sofort.

Hatte sie nicht damals in Sophies warmen Babynacken geflüstert, sie würde alles aufgeben für sie, dafür sorgen, dass sie niemals mit den schlechten Dingen, die auf dieser Welt lauerten, in Berührung kam? Ihre kleine Tochter war wie ein Wunder in ihrem Leben. Lorie hatte sie herumgetragen wie ein kleines, warmes Löwenbaby und den weichen Duft ihres Köpfchens eingeatmet. Auch als Kindergartenkind war Sophie entzückend gewesen, mit ihren großen, wachen Augen und ihrem unkomplizierten Wesen, so anschmiegsam und verschmust. 

Als sie größer wurde, hatte Sophie es geliebt, Lorie kleine Bildchen zu zeichnen, und stundenlang konnte sie, an Lorie geschmiegt, dasitzen und sich Geschichten vorlesen lassen. Lorie hatte das Gefühl gehabt, ihre Brust müsse bersten vor Glück. Sogar Ferdinand hatte sich wortlos in die zweite Reihe gestellt, als Sophie in Lories Leben getreten war.

Aber das war jetzt wohl definitiv vorbei. »Hasch in der Schule rauchen! Ich glaube, ich spinne!«, knurrte Lorie wütend einem Autofahrer zu, der sie entnervt auf der rechten Spur überholte. Gott, wie hatte sie geheult, als Sophie in den Kindergarten kam, eingeschult wurde, aufs Gymnasium ging bis zu dem Tag, als Sophie ihrer Mutter unmissverständlich und gepfeffert deutlich gemacht hatte, sie solle bitte aufhören, ständig zu heulen, das sei wirklich totpeinlich. »Aber das ist ja auch zu überleben«, hatte Lorie gedacht, als Sophie sie angefleht hatte, sie nicht mehr jeden Tag zum Schulbus zu bringen, sie sei schließlich kein Baby mehr.

Das erste Mal, als Lorie Sophie hatte allein ziehen lassen müssen, hatte sie sich eine große Schachtel von den richtig guten Pralinen von »Elly Seidel« gegönnt, dem Pralinenladen in München, und sie ganz allein aufgefuttert, denn Schokolade ging immer.

Jetzt also keine Schokolade, sondern Zigaretten. »Von nun an geht’s bergab«, dachte Lorie. Was würde Ferdinand denken, wenn er sie so sähe? Wahrscheinlich würde er nur mitleidig den Kopf hin und her wiegen und sich an der beginnenden Glatze kratzen. Rührend mitfühlend wie immer, aber auch irgendwie enervierend.

Aber sie sollte nicht undankbar sein, er liebte sie und hielt zu ihr. Was wollte sie mehr? Lorie fühlte, wie sie wider Willen sentimental wurde, wie immer, wenn sie in Krisensituationen an Ferdinand dachte.