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Verbunden werden die Geschichten dieser Retrospektive durch die Erkenntnis, dass es nicht die Zeit ist, die alle Wunden heilt, sondern die Liebe. Die Frauen sind nämlich alle sinkende Schiffe und wir ihre Kapitäne ...
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Seitenzahl: 106
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Den Frauen gegenüber
darf man nie die Nerven verlieren.
Die Frauen sind alle sinkende Schiffe,
sagt der Papa, und wir ihre Kapitäne.
Ob wir sie dann auch als letzte
verlassen müssen,
hab' ich ihn einmal gefragt.
Da ist er ganz ernst geworden:
Immer verlassen die Frauen uns.
Immer.
Das wirst du noch lernen.
(Andre Heller1)
Vorwort
I. WIR LEBEN NOCH
Du und der Schmetterling
Sag’ mir doch, wo Suzanne ist
Aus dem tiefsten Tief heraus
Ich hab zum Sterben kein Talent
Sonnenfinsternis
II. ZWISCHENDURCH GESAGT
Der Liebhaber
Vom Zu-spät-kommen und Ähnlichem
Doppelmoral
III. ICH HALT FÜR DICH EIN MIRAMARE BEREIT
Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
Morgen kommt der Weihnachtsmann
Gold war es nicht
Anmerkungen
In einem Traum sagte einmal ein Mädchen zu mir, dass es nicht die Zeit ist, die alle Wunden heilt, sondern die Liebe. Dies war wohl die Quintessenz meines bisherigen Lebens, wobei sich das Phänomen Zeit von einer linearen zu einer eher epochalen Betrachtungsebene verschoben und sich die Liebe von einem persönlichen zu einem allumfassenden Phänomen gewandelt hatte.
Mit dem Schreiben verband ich immer die Hoffnung, kreisende Gedanken einzufangen und gewissermaßen hinter einem Buchumschlag einzusperren. Dieser Versuch scheiterte meist kläglich. Übrig blieb stattdessen oft eine Leere, die das Chaos geradezu anzog.
Chronologisch betrachtet, schöpften meine ersten Geschichten und Abhandlungen noch aus dem christlichen Glaubensgut und rutschten dann, nach dem Tod einer lieben Freundin, ins nihilistische Lager ab. Jetzt, da ich aufgehört habe zu schreiben, hätten sie vermutlich einen tautologischen oder phänomenologischen Einschlag.
Somit ist auch der Grund dieser Retrospektive angedeutet. Zuviel wurde schon über Liebe, Tod und dergleichen geschrieben, dass es mittlerweile ein sinnloses Unterfangen geworden ist, etwas Neues anzuhängen. Es bleibt ein stummes Klagen.
Ja, und meine Heldenträume werden langsam schwach.
Ich hab zum Sterben kein Talent
und hab fürs Leben kein Gefühl
Mir fehlt ein gutes Argument
um das zu wollen, was ich will
Ich hab zum Sterben kein Talent
und bin fürs Leben kaum begabt
Auch wenn‘s im Innern manchmal brennt
Ich hab noch nichts von mir gehabt
(Konstantin Wecker)
Du sahst ihn oft umherflattern, diesen Schmetterling. Aber eines Tages blieb ein Tropfen Honig an dir kleben und der Schmetterling flatterte immer näher heran, denn der süße, verführerische Duft dieses Honigs lockte ihn an.
In einem Augenblick, da du es nicht merktest, tastete er seine Fühler nach dem Honig und er erschrak, als er daran kleben blieb. Er wollte sich mit seinen Beinen abstoßen, um sich aus dieser peinlichen Lage zu befreien, tappte aber auch mit ihnen in den Honig und sank immer tiefer.
Jetzt erst bemerktest du ihn. „Ach, schau, ein Schmetterling hat sich an mir verfangen“, sagtest du mit einem mitleidenden Ton in deiner Stimme. „Schau nur, wie zart und zerbrechlich er ist“, bekam der Schmetterling zu hören, als du versuchtest seine zwei hauchdünnen Flügel mit dem Daumen und dem Zeigefinger in der Senkrechten zu erwischen. „Warum bist Du nur so stürmisch und flatterst so heftig?“, fragtest du ihn, „So tue ich Dir ja noch weh!, ergänztest du etwas verbittert.
Da der Schmetterling diese Worte nicht ernst zu nehmen schien, wurdest du immer zorniger, zupftest einmal an dem und dann wieder am anderen Flügel und obwohl du sehr wohl spürtest, wie weh ihm das tun musste, versuchtest du ihn trotzdem so schmerzfrei wie möglich von dir zu entfernen. Der Schmetterling machte es dir ja auch nicht gerade leicht, klebte schon vom ängstlichen Strampeln am ganzen Körper von deinem Honig und wehrte sich mit all seinen Kräften.
Da kam dir eine Idee: Du nahmst ein scharfes Messer und kratztest den Honig samt dem Schmetterling von dir herunter, legtest ihn auf das Fensterbrett und sagtest: „Flieg!“
Die Nacht war kalt, der Schmetterling zitterte am ganzen Körper und hätte diese eisige Nacht beinahe nicht überlebt. Am nächsten Morgen weckten ihn die ersten Sonnenstrahlen; er wollte auf, wollte fliegen und merkte, dass er auf dem Fensterbrett kleben blieb. Langsam begann er nun mit seinem Rüssel überall den Honig aufzulecken.
Nach einigen Tagen war er soweit, dass er doch schon einige Schritte gehen konnte, aber ans Fliegen, nein, daran musste er noch lange nicht denken. Auf seinen zarten Flügeln waren nämlich deine Fingerabdrücke so tief hineingepresst, dass es womöglich noch lange dauern würde, bis sie von neuen Schuppen überwachsen sind.
Sei gewiss, der Schmetterling wird sich hüten, noch einmal dem süßen, verführerischen Duft deines Honigs zu verfallen. Nächstes Mal wird er sich vielleicht mit einer kleinen, im Sonnenschein in allen Farben glänzenden, Schweißperle auf deinem Handrücken zufrieden geben. Er wird ganz ängstlich zur Landung ansetzen, vorsichtig seine Fühler suchend ausstrecken und bei der kleinsten Bewegung von dir davon flattern.
Irgendwo auf einer blühenden Wiese wird er sich auf die schönste aller Blumen niederlassen und sich für einen Augenblick darüber ärgern, warum er denn nicht als Hummel auf die Welt gekommen ist. Da hätte er damals zurückstechen können.
Und du - du hättest ihn dann bestimmt erschlagen. Also war er doch froh als Schmetterling geboren zu sein, dankte Gott dafür und flatterte weiter.
Es war nicht eine jener Treibhausrosen, die mittels der modernen Chemie innerhalb kürzester Zeit zum Blühen gezwungen werden und dies mit dem Hängenlassen des Blütenkopfes am zweiten Tag in der Vase rächen, sondern es war eine, die vor einer viertel Stunde noch im Garten des Nachbars, der wohlwissentlich nicht zu Hause war, fröhlich in die Sonne gelacht hatte. Dafür, dass er diesem älteren Herrn ab und zu eine Fuhre Kompost für seinen Dschungel im Garten vor sein Haus führte, dachte er, muss schon hin und wieder eine kleine rote Rose rausschauen.
Er klopfte vier Mal schnell hintereinander an ihre Türe. Das war ihr Zeichen - vier Mal schnell hintereinander - da wusste sie, wer vor der Türe wartete. Ein Fremder sucht nämlich zuerst verzweifelt eine Glocke und wenn er dann feststellen muss, dass nirgends so ein kleiner runder Knopf zu finden ist, dann klopft er gewöhnlich zwei oder drei Mal hintereinander, aber vier Mal, das kommt schon eher selten vor. Wahrscheinlich hatte sie es nicht gehört. Er klopfte noch einmal, aber dieses Mal mit einem stärkeren Anschlag. Es rührte sich nichts. Mario setzte sich auf die kalte Stiege, die ein Konglomeratgestein nachahmen sollte und legte die Rose vor sich hin.
Da fiel ihm der Botaniker Carl von Linne ein, der sich im 18. Jahrhundert intensiv mit Blumen beschäftigt hatte und das Sexualleben dieser Ordnung aufs Korn nahm. Wir bilden uns ein, hieß es da in einem Buch, durch die Blumen zu reden, aber wissen meist nicht einmal was sie sagen: Blüten sind Geschlechtsorgane, die mit leuchtenden Farben, raffinierten Formen und verlockenden Düften unverblümt zum Geschlechtsverkehr animieren. Jeder Kelch eine Peep-Show.
Ob sie auch schon etwas von diesem Linne gehört hat? Was müsste sie dann über ihn denken, wenn sie der Sprache der Blumen mächtig war? Darauf wollte er es nicht ankommen lassen, und es kam ihm grad recht, dass ein kleines Mädchen die Stiegen heraufkam. „Weißt du nicht, wo Suzanne ist?“, fragte er sie. Das Mädchen schüttelte ihren Kopf und Mario gab ihr mit gutem Gewissen die rote Rose, da sie noch kaum in die Schule ging und sicher nichts von der Blumensprache gehört haben konnte. Sie freute sich darüber, sah ihn mit großen Augen an und rannte schnell die restlichen Stiegen hinauf zu ihrer Haustüre. Jetzt musste er selbst den Kopf schütteln und über sein kindisches Verhalten schmunzeln. „Nicht zu Hause“, sagte er vor sich hin, stand auf, ging die zwei Stockwerke hinunter und trat unter einen herrlich blauen Himmel, der von Dachgiebeln eingezwängt wurde.
„Ciao Mario!“, rief ein Mädchen aus einem kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Gassenseite. „Come sta, signorina?“, erkundigte er sich über ihr befinden. „Sto cosi cosi!“, rief sie in die enge Gasse hinunter und zuckte dabei einige Male mit ihren Schultern. Mario winkte ihr zu und spazierte diese enge Gasse, die von weiß gekalkten Häusern begrenzt wurde und in der kaum drei Personen nebeneinander Platz hatten, hinunter. Sie führte direkt zum Strand. Schon nach einigen Schritten gab sie den Blick auf einen schmalen Streifen des blauen Meeres frei.
Hier in diesen schmalen Gassen, wo jeder froh wäre, wenn ihm Ariadne, wie einst ihrem geliebten Theseus, einen Wollknäuel mitgegeben hätte, den er am Beginn dieses Labyrinths festbinden hätte können und der ihn dann wieder ins Freie geführte hätte, hier war er aufgewachsen. Auf diesen gepflasterten Gassen, in denen es nach frischen Fischen, eingemachten Oliven und allerhand südländischen Speisen roch, saß er oft und spielte seine ersten Lieder. Die Mädchen des Dorfes versteckten sich dann meistens in den dunklen Hauseingängen, um ja nicht gesehen zu werden, wenn sie ihm zuhörten. Die Mutigeren unter ihnen setzten sich zu ihm und hörten seine Lieder aus der Nähe.
„Mario, du wirst einmal ein berühmter Sänger!“, sagte ihm Papa Francesco vor vielen Jahren und klopfte ihm auf die Schultern. Daran erinnerte er sich immer wieder, wenn er zwischen einer Tournee oder nach einem Konzert durch die Gassen seiner Jugendzeit spazierte.
Suzanne, die er eben besuchen wollte, kannte er schon so lange, dass er nicht mehr zu sagen vermochte, wo und wie diese Freundschaft begonnen hatte. In der Schule saßen sie schon nebeneinander, erinnerte er sich gerade. Dort war die einzig legitime Art, mit einem Mädchen körperlichen Kontakt zu haben, ihr eine runterzuhauen. Dafür wurde man seitens der Schulkollegen gelobt und auch die Lehrer pflegten zu sagen, man dürfe sich nicht alles gefallen lassen. Oft aber wäre er gerne durch ihre langen, dunklen Haare gefahren oder hätte ihr am liebsten einen Kuss gegeben, und das meistens während einer langweiligen Unterrichtsstunde. Er schickte ihr dann kleine Liebesbriefe und schrieb dafür auch periodisch seitenweise Strafen, wenn sie in die Hand eines Lehrers gerieten.
Später, als er das Dorf verließ, um in der großen Stadt zu studieren, versprachen sie einander, immer treu zu sein. Unten am Strand, er erinnerte sich noch als wäre es gestern gewesen, schenkten sie einander an einem herrlichen Sommerabend gegenseitig einen Ring, um an diesen Vorsatz immer wieder erinnert zu werden. Sie hielten ihr Versprechen die ganzen Jahre der Trennung und wollten diesen Sommer sowohl den weltlichen als auch den geistlichen Segen für ihre gemeinsame Zukunft einholen.
„Mario! Mario!“, kam Mama Lucia mit ihren Händen die Luft zerschlagend auf ihn zu. „Suzanne accidente!“, schrie sie und fuchtelte immer noch mit ihren Armen. Er hielt sie an ihren Schultern, um sie ein bisschen zu beruhigen und sagte: „Sag' mir doch, wo Suzanne ist!“ Mario hörte immer nur etwas von Unfall und Krankenhaus. So schnell er konnte fuhr er auf diesen kleinen Berg, von dem Mama Lucia sprach, auf dessen Anhöhe das nächstgelegene Krankenhaus stand. Dort sprach gerade ein Arzt mit ihren Eltern, als er dazukam: „… wir haben jetzt unser Möglichstes getan, aber ich muss ihnen auf Grund der starken inneren Verletzungen ganz ehrlich sagen, dass kaum mehr Chancen bestehen…“
„Kaum mehr Chancen“, wiederholte sich immer wieder in seinem Gehirn. Als der Arzt ging, teilten ihm ihre Eltern mit, dass Suzanne von einem Auto angefahren wurde, als sie nach Hause gehen wollte.
Mario glaubte es einfach nicht, er konnte es nicht glauben. Solche Grenzsituationen führten bei ihm meistens zu einem totalen Realitätsverlust. Er hatte dann die größten Schwierigkeiten mit der vierten Dimension, die ja an seinem linken Handgelenk gemessen wurde, klarzukommen.
Die ersten drei Dimensionen hatten gerade noch Platz in seinem Gehirn: Länge, Breite und Höhe, die Vorstellung eines Raumes also, aber die vierte, die Zeit, konnte er dann nicht mehr diesen ersten drei nachordnen. Selbst die klügsten Physiker, Philosophen etc. könnten ihm nicht erklären, woher die Zeit kommt oder wohin sie geht, sie wissen auch nur, dass sie vergeht. Gestern hat sie noch gelacht - in einer Stunde wird sie nicht mehr leben.
Mario setzte sich auf einen Sessel, der im Korridor stand. Jetzt in der Lage sein, dachte er sich, zu sagen: „Sie schläft nur, ihr Ungläubigen, steh’ auf!“, so wie es damals Jesus gemacht hatte, als man ihn zu einem Mädchen gebracht hatte, welches kurz zuvor gestorben war. Sie mit der Hand berühren und sagen: „Steh’ auf…“
Da hilft der ganze Glaube nichts - sie wird nicht aufstehen, niemals - ich bin nicht Jesus. Das Christentum ist ein Glaube für Schwache und Ausgestoßene. Wer glaubt denn tatsächlich noch an diese Geschichten aus der Bibel. Ja, erst wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie ganz unten sind, beginnen sie an diese fantastischen Geschichten, an Wunder, zu glauben. Erst wenn es ihnen schlecht geht, hoffen sie, dass es stimmt mit dem Reich Gottes, welches dieser Jesus da verkündet hatte; dass sie dann für ihre Schmerzen und ihre Trauer mit dem ewigen Leben belohnt würden.