Vor dem großen Knall - Emma Vall - E-Book

Vor dem großen Knall E-Book

Emma Vall

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Beschreibung

An Svalas Schule wird für ein grosses Theaterprojekt geprobt, das schwedische und ausländische Schüler zusammenführen soll. Doch mit dem Beginn der Proben geschieht eine Reihe gefährlicher Sabotageakte: Ein Brand im Probenraum und verschiedene Unfälle. Wer steckt dahinter? Eigentlich müsste Svala für die Abschlussprüfung lernen, doch mit viel Mut und Geschickt beginnt sie der Spur der Täter zu folgen. Dabei bringt sie sich immer wieder selbst in Gefahr - Dieser schwedische Krimi hält seine Spannung bis zum Ende aufrecht und thematisiert auf begabte Weise unterschiedliche Problematiken, die auch an Schulen im deutschsprachigen Raum zu finden sind.

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Emma Vall

Vor dem großen Knall

Ein Krimi aus Schweden

Aus dem Schwedischenvon Dagmar Brunow

Saga

Diese Geschichte spielt in Enskede, einem südlichen Vorort von Stockholm. Die Straßen, Gebäude, die Schule und die nähere Umgebung Enskedes bilden den Schauplatz für die fiktive Handlung des Romans. Sämtliche Charaktere sind erfunden, sie haben keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt.

Vielen Dank an Elin, Ellen und Emil für kluge Anmerkungen und an August Wiklung für seine nützlichen Ratschläge.

Emma Vall

Feuer

Der Geruch von Schweiß und Staub zog durch die Luft. Beim genaueren Hinschauen konnte man erkennen, wie sich die Ringe im Luftzug leicht bewegten. Die Sprossenwand warf gestreifte Schatten an die Wand. An der aufgestellten Gummimatte hockte eine Person, deren Rücken durch das lange Anlehnen feucht geworden war. Wenn die Turnhalle leer war, schien die Zeit stillzustehen. Doch die Morgendämmerung wich allmählich einem neuen Tag, und wenn bald der Schultag begann, würde alles immer noch genauso hoffnungslos sein wie zuvor. Länger sitzen zu bleiben war unmöglich. Die Gummisohlen quietschten, als sich die Füße gegen den Boden stemmten und sich der steife Körper mühsam hochhievte. Unter dem Basketballkorb lagen zu kleinen Bällen zerknüllte Papiere. Wichtige Schreiben von der Rektorin. Zum Brüllen. Worte ohne Inhalt und Bedeutung.

Die Schuhe hinterließen schwarze Striche auf dem Boden, um den der Sportlehrer solche Angst hatte. Die neue Regelung würde zur Folge haben, dass noch viel mehr solcher Striche den Turnhallenboden verunstalteten. Aber das schien niemanden zu kümmern.

Warum nicht das Unvermeidliche beschleunigen? Alle aufrütteln, sie wecken, nicht feige ausweichen. Der Schweiß auf dem Rücken wurde kühl. Steife Finger und rote Hände sammelten das zusammengeknüllte Papier auf. Es könnte bald heiß werden hier, unerträglich heiß. In den Umkleideräumen stand eine Kiste mit liegen gebliebenen Kleidungsstücken, die zusammen mit dem Papier gut brennen würden.

Das war nur eine erste Warnung. Ein schwelendes Anzeichen von Unzufriedenheit.

Die Clique aus Dalen

Svala rannte über die Straße in Richtung Schulhof. Als sie noch bei ihrem Bruder Pétur im Malmgårdsvägen gelebt und jeden Morgen die U-Bahn genommen hatte, war es ihr leichter gefallen, pünktlich zu sein. Jetzt, seit sie um die Ecke wohnte, kam sie fast immer erst auf den letzten Drücker.

Nesima und ihre Clique schlenderten über den Handelsvägen. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben. Hasim kickte seine Zigarette in Svalas Richtung. Seit Anfang der neunten Klasse waren dies ihre neuen Mitschüler. Svala wusste, dass sie sich Mühe geben sollte, sie zu mögen, aber das tat sie nicht. Birgitta Knapp, die neue Rektorin, hatte die Idee gehabt, dass die Jugendlichen aus Enskede-Dalen mit den Jugendlichen in Alt-Enskede zusammen unterrichtet werden sollten. Integration nannte sie das und hatte trotz aller Proteste rund dreißig Schülerinnen und Schüler aus der Dalen-Siedlung in die Enskede-Schule aufgenommen.

Zu Péturs Schulzeit waren diejenigen Schüler, die nicht schwedisch aussahen oder ungewöhnliche Namen hatten, fast alle Adoptivkinder gewesen. Svala musste an Lisa denken, die ihren chilenischen Namen absolut nicht benutzen wollte. Es gab auch ein paar, deren Eltern Einwanderer waren, aus Ungarn oder Italien, und deren Familien schon lange in Schweden lebten. Und dann gab es natürlich Svala und Pétur selbst, mit ihrer isländischen Mutter Aisa. Aber Einwanderer aus den anderen skandinavischen Ländern wurden sowieso als Schweden angesehen, hatte Svala festgestellt. Wären ihre Eltern aus der Türkei oder dem Iran hergekommen, hätte sie größere Schwierigkeiten gehabt.

Sie wusste, dass sie sich bemühen sollte, Nesima, Hasim und die anderen näher kennenzulernen, jedenfalls bis zum Ende des Schuljahres halbwegs mit ihnen klarzukommen. Aber sie ging ihnen aus dem Weg. Wenn sie ehrlich war, hatten ihr in der letzten Zeit manche Situationen in der Schule Angst gemacht. Hass lag in der Luft.

In ihrem neuen Zimmer unter dem Dachfirst im Stora-Gungans-Väg, wo nur ein Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein großer, alter dunkelroter Samtsessel Platz fanden, hatte sie ein Zitat an die Wand gepinnt. Es stammte von Nietzsche: »Wer einst den Blitz zu zünden hat, muss lange Wolke sein!«

Im letzten Sommerhalbjahr hatte sie sich beinahe wie ein Blitz gefühlt. Als sie nach der Scheidung ihrer Eltern mit Pétur zusammenwohnte und nach ein paar Anfangsschwierigkeiten gut allein zurechtgekommen war. Damals hatte sie das Wolkenhafte eine Zeit lang hinter sich gelassen und war sie selbst gewesen.

Jetzt bin ich wieder eine Wolke, dachte Svala, eine kleine, wollige Wolke, die keiner sieht. Sie hatte zumindest eine Ahnung davon, was es hieß, als Blitz einzuschlagen. Sie wusste, wonach sie sich sehnte.

Heute ging sie voller Vorfreude zur ersten Stunde. Ihr Englischlehrer Satya Dipraborty, genannt Dip, kam aus Indien. Er war schwer in Ordnung. Vor einem Jahr war er neu an ihre Schule gekommen, voller Engagement und mit unzähligen Plänen. Svala freute sich über die Anmerkungen, die er ihr unter ihre Englischaufsätze schrieb. Unter ihren Schwedischaufsätzen standen immer nur herablassende Kommentare, dass sie nichts als Teenagergeschwätz zu Papier brächte. Dip dagegen nahm ihre Texte ernst. Endlich bekam sie auch in Englisch eine Eins.

Mama war von der Idee der neuen Rektorin natürlich begeistert gewesen: »Endlich lässt sich diese verstaubte Schule mal was Sinnvolles einfallen«, hatte Aisa gesagt, als Svala ihr von den neuen Mitschülern erzählt hatte. Svala hatte ihr gegenüber bisher kein Wort darüber verloren, wie anstrengend sie die Neuen fand. Sie schämte sich für diese Gefühle.

Andererseits hatte sie Aisas psychologische Erklärungen satt. Es nervte sie total, dass sich Nesima im Klassenzimmer ständig unterhielt, dass Fatimah immer so sauer guckte, Sozan so frech war, Hasim so selbstherrlich und Ali so faul. Die Integration, von der die Rektorin geträumt hatte, fand nicht statt. Stattdessen bildeten die Dalener eine feste Gruppe. Auf dem Schulhof passierten eine Menge Dinge, von denen die Lehrer keine Ahnung hatten.

Svala ging nun langsamer, um hinter Nesima, Hasim und den anderen zurückzubleiben. Sie wollte nicht mit anhören, wie man ihr »Scheißschwedennutte« hinterherrief. Einmal hatte sie zurückgeschrien – mit der Folge, dass die Dalener ihr danach bei jeder Begegnung den Finger zeigten und sie als Rassistin beschimpften.

Svala spürte, wie die Wut in ihr hochstieg, und rannte impulsiv an der Clique vorbei auf den Schulhof, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen und sich nicht mit ihnen durch das Gedränge im Treppenhaus schieben zu müssen.

Nach Englisch war Schwedisch an der Reihe. Britt Magnell stand am Pult und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Lehrerin verabscheute, dass die Ordnung, die sie in der Klasse durchgesetzt hatte, von den lauten neuen Schülern zerstört wurde, denen die festen Regeln, die in ihrer Stunde herrschten, egal waren. Eine kleine Gruppe von Lehrern hatte an der Schule lange den Ton angegeben. Das war allgemein bekannt. Neben Britt Magnell gehörte der Französischlehrer Magnus Smedjegård dazu, der mit seiner Ironie und seinen fiesen Tests die Schüler in Angst und Schrecken versetzte, und außerdem der Mathematiklehrer Göran Svanberg, der den Schülerinnen nie in die Augen sah, sondern nur auf die Brüste.

Svala hatte Aisa nie von alldem erzählt. Eltern wollten nicht an ihre Schulzeit erinnert werden. Sie wollten die Schrecken von damals vergessen, sie wollten nicht wissen, wie die Lehrer ihre Macht ausnutzten, sobald sich die Tür zum Klassenraum schloss. Beim Elternabend saßen Lehrer und Eltern lächelnd da und taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Mit Aisa war es genauso.

Seit sie aus Island zurückgekehrt war, um sich um Svala zu kümmern, hatte sich vieles verändert, doch längst nicht so, wie Svala gedacht hatte. Dies war ihr letztes Schuljahr auf der Gesamtschule und Aisa nervte sie die ganze Zeit damit, wie wichtig es war, dass Svala gute Noten bekam, um aufs Gymnasium wechseln zu können. Aber seit Svala letzten Winter allein mit Pétur zusammengewohnt hatte, war sie daran gewöhnt, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Damals waren Aisa und auch Jan, Svalas und Péturs Vater, weggezogen, um sich selbst zu verwirklichen.

Svala ging jetzt ihre eigenen Wege, obwohl es ihr das Leben hätte leichter machen können, dass sich Aisa nach ihrer Rückkehr wieder um alles kümmerte. Aber Svala hatte beschlossen, nicht wieder zum Kind zu mutieren. Aisa war erstaunt, dass Svala Wäsche wusch, sauber machte und Essen kochte. Auf diese Weise konnte Svala gut ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen.

»Diese Schwedischstunde fällt aus, stattdessen sollen sich alle Schüler von der siebten bis zur neunten Klasse in der Schulkantine versammeln. Rektorin Birgitta Knapp wird über ein neues Projekt informieren, mit dem dieses Schuljahr abgeschlossen wird.« Britt Magnell verzog angewidert die Lippen.

Matilda imitierte die verhasste Lehrerin, indem sie Svala mit gespitzten Lippen anguckte. Svala kicherte.

»Gleich kommt es«, flüsterte sie.

Magnell wandte sich wieder an die Klasse.

»Bevor ich gehe, möchte ich euch daran erinnern, dass dies euer letztes Schuljahr auf der Gesamtschule ist. Die meisten von euch können es sich nicht leisten, einen Gang herunterzuschalten, nur weil es langsam auf die Ferien zugeht. Das Schuljahr dauert noch einen ganzen Monat und eure Noten stehen noch lange nicht fest.«

Svala und Matilda wechselten einen Blick.

»Dumme Kuh«, murmelte Hasim hinter ihnen.

Doch seine Worte gingen in dem Lärm unter, mit dem die Schüler aus dem Klassenzimmer stürmten. Svala und Matilda schlenderten langsam über den Schulhof zur Kantine.

»Hast du dich schon für ein Gymnasium entschieden?« Matilda warf einen besorgten Blick auf Svala, die mit dem Kopf schüttelte.

»Und du?«

»Nee, meine Eltern wollen, dass ich aufs naturwissenschaftliche gehe, aber das ist was für verdammte Streber. Markus nimmt den Schwerpunkt Gesellschaftskunde. Meinst du, das wär was für mich?«

Svala gab keine Antwort, ihr hing das Thema Markus zum Hals raus. Sie vermisste die frühere Vertrautheit mit Matilda.

Sie quetschten sich mit an einen Tisch, an dem es noch freie Stühle gab. Im ohrenbetäubenden Stimmengewirr, das die Kantine erfüllte, rang Birgitta Knapp vergeblich um Aufmerksamkeit. Schließlich erhob sich Ville Hedlund, der Hausmeister, und pfiff so laut durch die Finger, dass es einem die Gehörgänge freiputzte. Es wurde schlagartig still.

»Danke. Wie allgemein bekannt ist, hatten wir im letzten Schuljahr Probleme mit Sachbeschädigung und Mobbing. Aber wir unternehmen alles, um ein Schulleben zu verwirklichen, auf das wir stolz sein können. Damit wir einander besser kennenlernen, auch über die ›Klassengrenzen‹ hinweg sozusagen, sind uns Gelder für ein spannendes Projekt bewilligt worden. In den Wochen bis zu den Sommerferien widmen wir uns dem Theater. Manche Unterrichtsstunden fallen aus, damit in der Turnhalle geprobt und Schauspielunterricht gegeben werden kann. Wir werden mit Szenen aus Shakespeares ›Romeo und Julia‹ arbeiten. Katja Kallin wird das Projekt leiten. Sie inszeniert gleichzeitig ›Romeo und Julia‹ in einem Zirkuszelt im Margaretapark; auch hier werden Schüler und Lehrer unserer Schule mitarbeiten. In meinen Augen ist dies eine große Chance für uns alle, negative Denkmuster zu überwinden und eine offene Atmosphäre an unserer Schule zu erzeugen. Ergreift sie, im Interesse von uns allen.«

Svala schnappte nach Luft. Katja Kallin! Katja, die Svala im letzten Jahr auf Tynningö kennengelernt hatte. Sie lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück. Vielleicht würden die letzten Monate auf der Enskede-Schule sogar ganz erträglich werden. Svala interessierte sich fürs Theaterspielen und Katja war total nett.

Plötzlich unterbrach das Geheul des Feueralarms die Rede der Rektorin. Die Schüler sahen sich teilnahmslos an und zeigten keinerlei Reaktion. Es kam gelegentlich vor, dass der Feuermelder losging, aber das war fast immer falscher Alarm oder eine Übung. Nur hin und wieder brannte ein Papierkorb. Aber jetzt trieben die Lehrer sie bis auf den Schulhof. Hier draußen wurde das Geheul immer unerträglicher. Matilda und Svala ließen sich auf dem Asphalt nieder, während um sie herum die Lehrer versuchten, die Schüler im Klassenverband zu sammeln.

»Das mit dem Theater klingt super!«

Matilda guckte Svala desinteressiert an. »Nee, find ich nicht. Ist doch eher peinlich.«

Svala lehnte sich zurück. Auf die Arme gestützt, sah sie zum Himmel hoch. Als jemand aufschrie, zuckte sie zusammen.

»Aus der Turnhalle kommt Rauch! Es brennt!«

Im selben Moment waren Sirenen zu hören und die Feuerwehr brauste auf den Schulhof. Alle Schüler und Schülerinnen sammelten sich in Gruppen vor der Turnhalle und starrten mit offenen Mündern auf das Spektakel.

»Das ist ja ein richtig guter Tag heute!« Svala hörte Nesimas hämische Stimme hinter sich. Die übrige Clique lachte. Dann zogen sie ab.

»Shit, ich hab sie so satt, diese Haltung.« Matilda sah ihnen zornig hinterher. Doch dann grinste sie und fügte hinzu: »Aber wenn man es genau bedenkt, hat sie ja recht: Wer hat schon was gegen eine abgefackelte Turnhalle?«

Doch das Feuer war bald gelöscht und der Schultag ging weiter wie üblich. Auf dem Weg in den Chemieunterricht entdeckte Svala am Schwarzen Brett große Plakate, die Katjas Theaterprojekt ankündigten. Als sie stehen blieb, um sie näher anzuschauen, hörte sie, wie sich Britt Magnell und Magnus Smedjegård ein Stückchen weiter auf dem Korridor unterhielten.

»So ein Unsinn«, hörte sie ihre Schwedischlehrerin sagen. »Und dafür will die Rektorin kostbare Unterrichtszeit verschwenden. Theater spielen können die Schüler doch in ihrer Freizeit. In der Schule sollten sie Ordnung und Disziplin lernen, das kann den meisten von ihnen wirklich nicht schaden.«

»Ja. Wenn man sich vorstellt, was wir an Sachbeschädigung hatten, seit wir die da aufgenommen haben. Man kann doch an einer Hand abzählen, wer hinter dem Brand steckt«, sagte der Französischlehrer.

»Wobei wir sicher um das Theaterprojekt herumkommen, wenn die Turnhalle nun nicht mehr benutzbar ist.« Britt Magnell klang zufrieden.

»So schlimm wird es nicht sein. Ein bisschen Rauch von ein paar brennenden Kleidern, mehr war da nicht. Aber was sagst du eigentlich zum Treffen bei der Rektorin? Ist es nicht ein Jammer, dass Göran die Stelle nicht bekommen hat?«, hörte Svala Magnus Svedjegård sagen. »Dabei ist er pädagogisch viel kompetenter als sie, das zeigt sich immer deutlicher.«

»Kein Wunder. Schließlich hat Birgitta Knapp ja als Sportlehrerin angefangen«, antwortete Britt Magnell, woraufhin sich die beiden vielsagende Blicke zuwarfen.

Demonstrativ schrieb Svala ihren Namen auf die Liste, nachdem sie gelesen hatte, dass Katja für die Inszenierung im Park Statisten und freiwillige Helfer suchte. Aber das hätte sie auch getan, wenn die beiden Lehrer nicht so abfällig über das Projekt geredet hätten.

Leben im Park

In der großen Pause lief Svala in den Margaretapark.

Hier herrschte ein totales Durcheinander aus Zeltplanen, Leuten, die an Seilen rissen und zogen, und langen Pfählen, die donnernd in die Erde gerammt wurden.

Im Zentrum des Geschehens enteckte Svala eine vertraute Gestalt, eine Frau Mitte dreißig. Sie hatte wildes, ungekämmtes Haar und trug einen alten Overall, wie den, den Svalas Vater immer trug, wenn er an seinem Segelboot herumbastelte. Sie schrie und fluchte, weil etwas nicht geklappt hatte.

Svala ging auf sie zu, war aber plötzlich unsicher. Nach ihrer Begegnung im letzten Jahr hatte sie geglaubt, dass sie weiter mit Katja Kontakt haben würde. Aber Katja war anscheinend auf Tournee gewesen, Svala hatte sie ein paarmal vergeblich anzurufen versucht. Und jetzt war Katja hier. Würde sie Svala wiedererkennen? Svala war kurz davor, auf der Stelle kehrtzumachen, da hörte sie, wie Katja ihren Namen rief.

»Svala! Das ist ja schön!«

Katja kam auf sie zu. Unter ihrer Oberlippe steckte wie üblich eine Portion Kautabak.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie fröhlich.

»Ich wohn doch hier«, sagte Svala verwirrt, doch dann fiel ihr ein, dass Katja davon ja gar keine Ahnung hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie mit Pétur in der Wohnung ihres Vaters Jan im Stadtteil Södermalm gewohnt. Aisa lebte damals auf Island und Jan war mit seinem ersten Hilfstransport nach Bosnien unterwegs.

Katja zog Svala mit sich zu einem schäbigen alten Gartenstuhl, der vor einem Zirkuswagen stand. Svala setzte sich auf die Wagentreppe und sah sich um.

»Ich würd gern mitmachen«, sagte sie, als ihr Blick auf einen süßen Jungen fiel. Er war dunkelhäutig, nicht größer als sie selbst, und hatte dicke, glänzende schwarze Haare. Er sah aus wie ein Indianer.

»Super Einfall von eurer Rektorin, in der Schule Theater zu spielen. Sie sieht total trutschig aus, aber sie hat’s echt drauf. Leider scheinen nicht alle Lehrer vom Theaterprojekt angetan zu sein. Sie haben was dagegen, dass sich jemand in ihren Unterricht einmischt.«

»In der Turnhalle, wo ihr arbeiten sollt, hat es ein Feuer gegeben.«

»Ich hab’s gehört, aber es ist wohl nicht so schlimm gewesen. Jetzt müssen wir alle mit einbeziehen, damit niemand auf die Idee kommt, uns zu sabotieren«, erklärte Katja.

»Weiß man, wer es war? Ich hab gehört, dass ein paar Lehrer den Kids aus Dalen die Sache in die Schuhe schieben.«

»Das ist mal wieder typisch! Aber gerade die müssen wir mit ins Boot holen, damit es keine Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs gibt wie im Stück. Im Moment sind hier, wie es aussieht, eher Jugendliche aus Alt-Enskede.«

Katja zeigte auf die Interessierten, die über das Gelände spazierten und zuschauten, wie das Zelt aufgebaut wurde. Der vertraute Margaretapark verwandelte sich mit dem blau-weiß-rotgestreiften Zelt, den bunten Wimpeln und den fünf Zirkuswagen in einen Zirkusplatz. In einem der Wagen wohnte Katja. Drei andere waren als Garderoben für die Schauspieler vorgesehen und im fünften wurde gekocht.

»Französisch!«, schrie Svala plötzlich auf. Die Zeit war wie im Flug vergangen. »Ich komm nach der Schule wieder«, rief sie und rannte zum Unterricht, den sie mit fünf Minuten Verspätung erreichte.

Magnus Smedjegård musterte sie von oben bis unten.

»Wenn ihr glaubt, ihr könnt wegen des Theaters fehlen, dann habt ihr euch gewaltig geirrt«, sagte er und startete die Stunde mit einem unangekündigten Test. Fatimah war als Erste fertig. Sie sprach fließend Französisch, weil sie aus Algerien stammte, aber Smedjegård meckerte ständig an ihrem arabischen Akzent herum. Ihre schriftlichen Arbeiten dagegen waren tadellos.

Partir, partant, parti ... Svala schrieb die Verben hin, aber mit den Gedanken war sie wieder im Park. Sie fühlte sich zwar noch zu schüchtern, um selbst im Rampenlicht zu stehen, aber sie wollte unbedingt beim Theater mitmachen und Katja helfen.

Und wie von selbst wanderten ihre Gedanken weiter zu dem Jungen mit den schwarzen Haaren. Wie er wohl heißen mag, überlegte sie und nagte dabei an ihrem Stift.

Nach Unterrichtsschluss ging sie auf ihrem Heimweg an der Turnhalle vorbei. Es roch immer noch nach Rauch und die Absperrungen waren noch da, auch wenn die Feuerwehr abgezogen war. Was waren das für Idioten, die in der Turnhalle Feuer gelegt hatten?

Graffiti auf dem Zirkuswagen

Am nächsten Tag ging Svala direkt nach der Schule in den Park. Es war kühl, aber sonnig. Katja hatte sich in ihren alten Gartenstuhl zurückgelehnt und faulenzte. Doch nur auf den ersten Blick. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, während sie verärgert im Textbuch blätterte.

Nach dem Inferno am Vorabend, als fünfzig Personen zur Probe erschienen waren, war es im Park ruhig. Von der Schule waren allerdings nur wenige Leute gekommen. Svala hatte bei dieser Gelegenheit eine ganz neue Katja kennengelernt. Ruhig und bestimmt hatte sie das Kommando übernommen, und sobald sie ihre Stimme nur ein klein wenig erhob, hatten alle zugehört. An diesem Abend sollten sie zu verschiedenen Themen improvisieren.

Svala hatte die meiste Zeit über am Rand gesessen und zugeschaut. Sie wäre zwar gern dabei gewesen, aber sie wusste auch, dass sie sich komisch vorgekommen wäre. Die eine Svala wollte auf der Tribüne sitzen bleiben und kritische Beobachterin sein, während die andere Svala liebend gern auf der Bühne improvisiert und eine lebende Statue oder was auch immer verkörpert hätte.

Svala fühlte sich oft wie zwei verschiedene Personen. Eine, die beobachtete und registrierte, und eine andere, die eine Sache in Angriff nahm und dabei sein wollte. Allzu oft siegte die Zuschauerin. So wie gestern Abend. Svala hatte für die anderen immer eine Ausrede parat, warum sie lieber am Rand saß – aber sich selber konnte sie nur schwer anlügen.

Svala setzte sich auf die Treppe zum Zirkuswagen und wartete darauf, dass Katja das Gespräch eröffnete.

»Diese verdammten Kids«, sagte Katja unvermittelt und seufzte.

»Was ist denn los?«, fragte Svala vorsichtig.

»Komm mal mit.«

Katja sprang auf und zog Svala hinter sich her zu dem Zirkuswagen, der am äußersten Ende der Reihe stand und allmählich zum Schminkwagen umfunktioniert werden sollte. Über seine gesamte Rückseite stand mit großen schwarzen Buchstaben: Hier fögln Nutten und Schwuhle. Das Ganze war mit einem Tag signiert, den Svala noch nie gesehen hatte.

Der Wagen hatte gerade erst einen frischen Anstrich in einer fröhlichen roten Farbe bekommen. Und jetzt leuchteten ihnen die Worte in der schwarzen Schrift entgegen.

»Soll ich probieren, ob es abgeht?«, fragte Svala.

»Lass es uns zusammen versuchen.«

Schweigend schrubbten sie mit diversen Chemikalien, ohne dass die Farbe verschwand. Stattdessen sah nun alles noch schlimmer aus.

»Immerhin haben sie den Wagen nicht abgefackelt, wie sie es mit der Turnhalle versucht haben«, sagte Svala.

Katja verwuschelte ihr liebevoll das Haar.

»Das nenn ich positives Denken.« Dann wurde sie ernst. »Wir müssen es wegschleifen. Ich hab letzte Nacht keinen Ton gehört, der Täter muss verdammt still gewesen sein.«

»So was rufen uns die Typen aus Dalen nach«, sagte Svala schließlich. »Schwule Sau, Schwedennutte und solche Sachen.«

»Und das lasst ihr euch gefallen?« Katja rümpfte die Nase und Svala zuckte mit den Schultern.

»Was können wir denn machen?«

»Ich muss mehr Kids aus Dalen einbeziehen und nicht nur diejenigen aus dem Schulprojekt. Ist doch klar, dass sie sich ausgegrenzt fühlen. Eigentlich hätte ich das Zelt mitten in Dalen aufbauen sollen. Ich hab eine Gruppe von dort gesehen, die supergut tanzen kann. Wenn ich die bloß mit ins Boot holen könnte.« Katja sah Svala nachdenklich an.

»Zwischen den Leuten aus Dalen und uns aus Enskede hat es immer gekracht. Mein Bruder Pétur hat ständig was auf die Fresse gekriegt, als er hier gewohnt hat. Er ist andauernd verprügelt nach Hause gekommen. Ich pass immer auf, wenn ich spät noch unterwegs bin.«

»Rivalität und Angst, genau wie in ›Romeo und Julia‹. Dass dieses Drama sich ständig wiederholt, auch nach Hunderten von Jahren noch.« Katja lächelte traurig, bevor sie deklamierte:

»Zwei Häuser in Verona, würdevoll,

Wohin als Szene unser Spiel euch bannt,

Erwecken neuen Streit aus altem Groll,

Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand.

Das ist aus dem Prolog zu ›Romeo und Julia‹«, erklärte sie.

»Ich weiß, es hört sich schrecklich an, wenn ich so rede«, sagte Svala schnell. »Wo ich auf antirassistische Demos gehe und meine Mama selber eingewandert ist. Aber das Sexgerede von diesen Typen nervt total. Sie sind überhaupt nicht so wie Ervin aus Kroatien, der Freund von meinem Bruder.«

»Glaubst du nicht, dass sie sich in deiner Schule außen vor fühlen? Du findest ja selbst die Stimmung da nicht so toll«, sagte Katja. »Was denkst du, wie es für sie ist?«

Mit einer Schleifmaschine schafften sie es schließlich, die Graffitischrift zu entfernen, allerdings ging dabei der Anstrich vom Wagen gleich mit runter.

»Bewachst du abends den Platz?«, fragte Svala.

»Ich wohne doch sowieso in einem der Wagen. Aber bevor noch öfter solche ärgerlichen Sachen passieren, sollten wir nachts wohl wirklich Wachen einteilen, wenn jetzt die Proben anfangen. Wir machen einen Plan, wer wann zuständig ist. Bist du dabei?«

Die Frage munterte Svala auf. Ihr erster Reflex war allerdings der sonderbare Gedanke: Ich frag mal meine Mutter. Doch sie schluckte die Worte hinunter und sagte stattdessen: »Ja, klar. Wann du willst.«

Katja hob die Hand und winkte jemandem zu. Der süße langhaarige Junge, den Svala am Vortag gesehen hatte, kam über den schmalen Weg vom Handelsvägen auf sie zu.

»Hallo, Petter. Gut, dass du kommst. Da können wir gleich über die Beleuchtung sprechen. Kennt ihr euch?«, fragte Katja.