Vor mir wird es Morgen - Kathrin Burger - E-Book

Vor mir wird es Morgen E-Book

Kathrin Burger

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Beschreibung

Bis zum allerletzten Tag ist sie gerne hingefahren, ins Gymnasium, um junge Menschen mit ihrer Liebe für die deutsche Sprache und Literatur anzustecken. Auch wenn ihr das nicht immer gelungen ist und sie der vielen Schulreformen langsam müde wurde. Seit dem Ende ihres Berufslebens ist es ihr, als würde sie »in einem leeren, unbewohnten Raum stehen und in eine Landschaft ohne Konturen hinausschauen«. Einen Spiegel dieses inneren Raums findet die Erzählerin in ihrem Garten. Jeden Morgen beobachtet sie, wie sich der Tag langsam durch die graugrüne Wand aus Haselsträuchern, Schlehdorn und Hartriegel herantastet. Jeder Morgen ist anders und ruft andere Gedanken und Erinnerungen wach. Erinnerungen ans Elternhaus mit dem verwunschenen Park, an die ersten Semester an der Universität während der Jugendunruhen, an die Eltern, die sich in der Bewegung »Moralische Aufrüstung« engagierten, und an den früh verstorbenen Bruder, den Schriftsteller Hermann Burger. In ihrem Haus ist es noch still – überhaupt ist es stiller geworden, nachdem die Kinder ausgezogen sind –, nur Apple, der Kater, streicht um ihre Beine und legt sein »flaumiges Katzengewicht« auf ihre Füße. Kathrin Burgers Roman ist mit autobiografischen Elementen durchflochten. Sie erzählt präzise und poetisch. Sie blickt versöhnt auf das Entschwundene, mit Zuversicht auf das Kommende und immer wieder in ihren Garten, dessen stetige Verwandlungen sie in den feinsten Schattierungen nachzeichnet.

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Bis zum allerletzten Tag ist sie gerne hingefahren, ins Gymnasium, um junge Menschen mit ihrer Liebe für die deutsche Sprache und Literatur anzustecken. Auch wenn ihr das nicht immer gelungen ist und sie der vielen Schulreformen langsam müde wurde.

Seit dem Ende ihres Berufslebens ist es ihr, als würde sie »in einem leeren, unbewohnten Raum stehen und in eine Landschaft ohne Konturen hinausschauen«. Einen Spiegel dieses inneren Raums findet die Erzählerin jeden Morgen, wenn sie von ihrem Fenster aus beobachtet, wie sich der Tag langsam durch die graugrüne Wand aus Haselsträuchern, Schlehdorn und Hartriegel herantastet. Jeder Morgen ist anders und ruft andere Gedanken und Erinnerungen wach. Erinnerungen ans Elternhaus mit dem verwunschenen Park, an die ersten Semester an der Universität während der Jugendunruhen, an die Eltern, die sich in der Bewegung »Moralische Aufrüstung« engagierten, und an den früh verstorbenen Bruder, den Schriftsteller Hermann Burger.

In ihrem Haus ist es noch still, nur Apple, der Kater, streicht um ihre Beine und legt sein »flaumiges Katzengewicht« auf ihre Füße.

Kathrin Burgers Roman ist mit autobiografischen Elementen durchflochten. Sie erzählt präzise und poetisch. Sie blickt versöhnt auf das Entschwundene, mit Zuversicht auf das Kommende und immer wieder in ihren Garten, dessen stetige Verwandlungen sie in den feinsten Schattierungen nachzeichnet.

Kathrin Burger

Vor mir wird es Morgen

Roman

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

© 2023 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Paul Weston, Alamy Stock Foto

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Lydia Zeller

eISBN 978-3-85869-990-9

1. Auflage 2023

Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.

Marcel Proust

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

1.

Der Garten gewinnt aus dem Nachtschwarz allmählich schattenhafte Konturen. Haselgebüsch, Wiese, Obstbäume, Dächer, Hügelhorizont, noch keine Farben. Seit ich nicht mehr arbeite, habe ich viel Zeit. Ich muss nicht so früh aufstehen. Trotzdem sitze ich gerne am Fenster, bevor der Tag kommt. Ich weiß nicht, warum, und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Vielleicht hängt es ja mit dem Alter zusammen. Früher, als ich dauernd unter Zeitdruck stand, als mir die Zeit davonlief und ich deshalb immer zu wenig davon hatte, da lag das Leben vor mir wie ein offenes weites Feld. Nun, wo es kleiner und überschaubarer geworden ist, kommt sie mir lang vor.

Nach der Pensionierung war die neue Freiheit etwas Unglaubliches. Wie eine Verdurstende schlürfte ich die Zeit aus einem weiten Kelch, der nie leer wurde. Ich konnte nicht genug davon bekommen, war wie betrunken von dem Gefühl, unbeschränkt freizuhaben, nichts tun, liefern, erledigen, leisten zu müssen, und empfand jeden neuen Tag als unverdientes Geschenk. Inzwischen bin ich nicht mehr berauscht, oder ich habe mich an den Rauschzustand gewöhnt. Aber ich blicke immer noch mit einem ungläubigen Staunen auf die gewonnene Freiheit.

Schon seltsam, denke ich, während es draußen heller wird. Die Zeit an sich vergeht tagein, tagaus gleich; wir sind es, die sie zu einem gierigen Ungeheuer machen, das uns auffressen will, zu einem anfahrenden Zug, hinter dem wir herrennen, zu einer Glücksfee, die uns schwerelos auf einer Wolke schweben lässt, oder zu einem gähnend schwarzen Loch, in das wir versinken.

Langsam haben sich aus den schattenhaften Konturen Farben entwickelt. Ich schaue gebannt zu, wie das Bild entsteht, das wie aus dem Entwicklerbad gehoben wird. Die graugrüne Wand aus Haselsträuchern, Schlehdorn und Hartriegel zeigt Durchblicke auf die Wiese des Nachbarn, die mit niederen Obstbäumen bepflanzt ist; am linken Bildrand schieben sich die ausladenden Dächer der Nachbarhäuser ins Bild, und hinter dem Dorfensemble aus Häusern und Gärten wird ein Hügelausschnitt mit Reben sichtbar, hinter dem sich der bewaldete Horizont auftürmt und vom hellgrauen Himmel abhebt.

Es wird Zeit für den Tag.

2.

Schon viele Wochen verbringe ich nun damit, nicht mehr zu arbeiten. Für Lohn zu arbeiten. Noch keinen Tag, keine Stunde, keine Minute lang habe ich die Schule vermisst. Bis zum Schluss war ich gerne hingefahren, ins Gymnasium der nahen Provinzstadt, um dort meinen manchmal mehr, meist weniger motivierten Klassen die Augen und Herzen für die Höhepunkte der deutschen Literatur zu öffnen, sie zu eigenständigem Denken, Reden und Schreiben zu bringen und sie anzustecken mit meiner Liebe für die Sprache. Nach über dreißig Jahren Schuldienst, einem Drittel eines Jahrhunderts – eine erschreckend lange Zeit, die ich mir als junge Lehrerin nie im Leben hätte vorstellen können durchzustehen –, wurde ich mit allen Ehren verabschiedet. Und so kam der letzte Schultag, an dessen Ende ich an Grüppchen von Schülerinnen und Schülern vorbei, die lässig auf der Rasenfläche saßen oder lagen, diskutierten, lachten oder Musik hörten, durch den Park zu den Parkplätzen schlenderte, mit dem Auto aus dem Parkplatz bog und nach Hause fuhr. Damit war mein Berufsleben beendet.

Seither ist es, als habe sich ein großes Fenster vor mir geöffnet, das frische Luft zum Atmen hereinlässt. Als würde ich in einem leeren, unbewohnten Raum stehen und in eine Landschaft ohne Konturen hinausschauen. Und als müsste ich mir als Nächstes überlegen, wie ich das Zimmer möblieren will. Ich prüfe die Möglichkeiten, die mir während meines Erwerbslebens als Sehnsuchtsziele vorgeschwebt waren: Wenn ich später mal Zeit habe für mich, werde ich … Wieder Klavier spielen. Das Italienisch auffrischen. Eine neue Sprache lernen, Holländisch zum Beispiel. Einen Nähkurs besuchen. Endlich den englischen Blumengarten anlegen. Sie sind in meinem Wunschgedächtnis gespeichert. Aber ich bin seltsamerweise nicht fähig, mir etwas vorzunehmen, ein Ziel zu setzen, eine Struktur zu geben. Ich lasse mich im Gegenteil treiben, in die Tage hinein und wieder aus ihnen hinaus.

Auch heute sitze ich früh am Fenster und schaue in den herbstfeuchten Morgen. In der graugrünen Wand hat es eine Lücke, in der das hellere Grün der Wiese, die Gartenbeete der Nachbarn und weiter oben das Stück Hügelhorizont sichtbar werden; eine Metallleiter steht an den Apfelbaum gelehnt, an dem zwei einzelne rote Äpfel hängen. Nebel verschleiert den Wald.

Und wieder gleite ich im Zeitraum zwischen Nacht und Tag unversehens in jenen inneren Raum, in dem ich nichts erkennen, nichts ins Auge fassen kann. Was ist nur los mit mir? Meine Augen sind in den letzten Jahren schlechter geworden. Das Sehvermögen ist eingeschränkt, nicht sehr stark, doch so, dass ich es merke. Beim Autofahren, Lesen, Kochen oder Einkaufen. Aber nun, so scheint es mir, sind die Augen irritiert, weil sich die Dinge um mich herum verschoben haben. Sie passen nicht mehr zusammen.

»Das Auge ist das Fenster zur Seele.« Plötzlich sehe ich das Zitat in der schwungvollen Schrift meiner Mutter vor mir, königsblaue Tinte, die runden Unterbögen wie Girlanden über die Zeilen gezogen. Sie hatte es mir in mein Poesiealbum geschrieben, auf die erste Seite. Ich war vielleicht neun Jahre alt. Alle in meiner Klasse hatten damals solche Büchlein, die wir Vergissmeinnicht nannten, genauer alle Mädchen, für die Buben war das »Weiberzeugs« und kam nicht infrage. Aber wir trugen die Büchlein wie ein kleines Heiligtum herum. Einer Klassenkameradin einen Sinnspruch, ein Sprichwort, ein kleines Gedicht hineinschreiben zu dürfen, kam dem Beweis gleich, als Freundin ausgewählt worden zu sein. Wie sehr lechzte ich danach, gewählt zu werden, Freundinnen zu haben, dabei zu sein.

Das Sprichwort, das meine Mutter mir ins kleine Album geschrieben hatte, verstand ich damals nicht. Aber das Bild von den Augen als Fenster war geheimnisvoll und gefiel mir gut. Ich stellte mir vor, wie ich später einmal, wenn ich in der Welt der Erwachsenen angekommen wäre, diese winzig kleinen Fenster öffnen könnte, um ins Innere des Menschen zu blicken. Ein Schauer ergriff mich bei dieser Vorstellung, in meinen eigenen Körper hineinzuschauen und dann alles zu wissen. Mit einem Blick wären alle Geheimnisse gelüftet, auch die der andern, der Eltern, Brüder und Lehrer.

Ich stehe auf, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Ich fröstle.

Erst viele Jahre später, als ich längst keine Freundinnenbeweise in Poesiealben mehr sammelte, verstand ich den Spruch in seiner metaphorischen Bedeutung. Ich war im zweiten Semester und belegte eine Pflichtvorlesung über das 19. Jahrhundert, »Das Lyrische im Wandel der Zeit. Von der Frühromantik bis zum poetischen Realismus«. Die Aula war bis auf den letzten Platz besetzt, wenn der berühmte Professor Emil Staiger seine Vorlesung hielt, die von den Studierenden nur die Elf-Uhr-Messe genannt wurde mit spöttischem Unterton. Seit seiner öffentlichen Ablehnung der modernen Literatur, die den »Zürcher Literaturstreit« auslöste, war seine Glaubwürdigkeit erschüttert. Trotzdem war der Zustrom zu seinen Veranstaltungen enorm, und so saß ich, eingeklemmt hinter der klappbaren Schreibfläche, und wartete mit zweihundert anderen Studierenden auf den Meister. Ich konnte weder in einem Vertrauen erschüttert sein, das noch gar nicht hatte entstehen können, noch verfügte ich über kritische Argumente dem Germanistenfürsten gegenüber. Ich war beeindruckt von seiner Berühmtheit und nun von der Brillanz seiner Worte, auch wenn ich vieles nicht oder nur halb verstand. Sein Vortrag war so gemeißelt wie sein klassisch römischer Kopf mit der großen, breiten Stirne, den aufmerksamen, etwas auseinanderstehenden Augen, den schmalen Lippen. Ihm zuzuhören war wie einem musikalischen Vortrag zu lauschen. Die Stimme hob und senkte sich melodisch, im sonoren Wohlklang schwang hintergründig ein hellerer Oberton mit, die dialektale Einfärbung der Vokale, die den Ostschweizer verriet. Dazu kam als Drittes die überdeutliche Akzentuierung, die wie ein Versmaß seinen Vortrag rhythmisierte. So waren seine Vorlesungen über die Werke der deutschen Literatur selber vollendete sprachliche und musikalische Kunstwerke. Was es nicht einfacher machte, ihnen auch inhaltlich zu folgen.

Fasziniert lauschte ich also eines Morgens seiner Stimme, die im Zusammenhang mit der Poetologie der Frühromantiker aus Novalis’ Blüthenstaub-Fragmenten zitierte: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren.« Der Satz traf mich wie ein Blitz von der Kuppel der Universitätsaula herab, durchfuhr meinen Körper heiß und kalt. Das Geheimnis der Augenfenster war plötzlich gelüftet: Das war es, Innen und Außen durchdrangen sich, und die Augen waren das Verbindungsorgan dieses Austausches, durch die Augen drang die Welt in mich hinein und mein Inneres nach außen.

Und heute? Heute schaue ich durchs Fenster, wie der Tag entsteht, aber eigentlich schaue ich nach innen, wo sich eine schwingende Leere auftut, aus welcher Gedanken auftauchen und verschwinden.

3.

Etwas ins Auge fassen. Etwas in der Hand haben. Rückgrat zeigen. Ich habe nichts in der Hand. Ich kann nichts ins Auge fassen. Ich habe kein Rückgrat mehr. In der frühen Morgenstunde geraten die Metaphern zur Körpersache. Ich nehme alles nicht nur persönlich, sondern körperlich.

Bis jetzt hatte ich immer etwas in der Hand in meinem Leben: einen Beruf mit einem Pensum und mit damit verbundenen Aufgaben, eine Familie mit Kindern, einem Haus und Garten, ein Einkommen und damit materielle Sicherheit. Ich schaue meine Hände an, sie sind leer. Alles, was ich habe, ist viel Zeit, die mir nun wie Sand durch die Finger rieselt und am Boden ein kaum sichtbares Muster bildet.

Die Metaphern bringen etwas zum Schwingen in mir. Ich lasse mich ergreifen und gerate in einen Zustand, der etwas Aufregendes, Erotisches hat.

4.

Die beiden Äpfel hängen noch immer am Baum des Nachbarn und leuchten feuerrot durch die Lücke. Ich schaue dem Morgen zu, wie er sich aus dem Grau der Nacht in matte Grüntöne aufhellt, wie sich in der Dunkelkammer ein Herbsttag vorbereitet.

Die Leiter war auch an die Apfelbäume meiner Kindheit gelehnt, wenn wir an Samstagnachmittagen beim Ernten helfen mussten. Körbe und Kisten standen am Boden, um die verschiedenen Sorten, alte Apfelsorten, die es heute nicht mehr gibt oder die mit dem Gütesiegel ProSpecieRara eine Renaissance erleben, für den Transport in den Keller aufzunehmen: Klaräpfel, Sauergrauech, Berner Rosen, Goldparmäne, Renette und Gravensteiner. Der Vater stand auf der Leiter, den Pflückkorb mit einem alten Ledergurt um die Hüfte geschnallt, und pflückte die reifen Äpfel Stück um Stück, während wir die zu Boden gefallenen zusammenlasen; nur die unversehrten, makellosen durften wir in die Kisten legen, die andern wanderten in den Korb zum Mosten, nachdem die angefaulten Stellen ausgeschnitten worden waren. Ich erinnere mich an das gebräunte Gesicht meines Vaters mit dem glatt nach hinten gekämmten schwarzen Haar, das sich vom tiefblau leuchtenden Herbsthimmel abhob; dann verschwand es mit dem ganzen Vater wieder in der Baumkrone, nur seine Beine auf der Leiter hingen herunter. Während mein Bruder, der jüngere von beiden, damit beschäftigt war herauszufinden, wie man den Transport der Apfelkisten von der Wiese in den Apfelkeller, wo die Ernte auf großen Hurden ausgelegt wurde, rationeller abwickeln könnte, bückte ich mich nach den Äpfeln am Boden und vermied es, die faulen anzufassen, an denen bleichnackte Schnecken klebten und Ameisen in den klaffenden Wunden wimmelten.

Mich erinnern heißt, gegen das Vergessen ankämpfen. Gegen das Verdämmern, Versinken, Verleugnen. Festhalten bedeutet, nicht aus den Augen verlieren. Auch Haselstrauchwand, Apfelbaumlücke mit Leiter, Waldausschnitt und Hügelhorizont haben klare Farben bekommen vor dem lichtgrauen Himmel.

5.

Die Kurzsichtigkeit habe ich von meiner Mutter geerbt. Eine Brille zu tragen, war, als ich noch klein war, nicht schick oder cool wie heute. In der Schule machte mich die Brille zusammen mit den guten Noten zur Streberin, die nicht an Partys eingeladen wurde, die an klirrenden Winternachmittagen auf dem Schlittschuhfeld allein am Rand stand, während die andern im Paarlaufen lachend ihre Runden drehten, die, auch dies, jeden Donnerstag allein den weiten Weg zum alten Schulhaus auf dem Schlosshügel hinaufstapfte, um beim pensionierten Dorflehrer in der Bibliothek neue Bücher zu holen. Dort oben, im Labyrinth der zimmerhohen Regale, in denen sich Buchrücken an Buchrücken reihte, war es egal, dass ich kurzsichtig war. Die Brille machte mich eher zur Verbündeten des passionierten Bücherkenners, der, wie ich erst später erfuhr, mit Hermann Hesse und Thomas Mann korrespondiert hatte und sich in der deutschen Literatur auskannte wie kein anderer. Für mich war er der Verwalter all der Schätze, die in den Gestellen lagen. Von ihm hing ab, ob ich zwei oder drei Bücher mitnehmen durfte, wenn er mich über den Rand seiner Brille hinweg kurz musterte, bevor er sich wieder den Papieren auf seinem Pult zuwandte. Meistens sprach er kein Wort mit mir, nie kommentierte er meine Bücherwahl, manchmal brummelte er Unverständliches vor sich hin, während er durch die schmalen Gänge zwischen den Bücherwänden humpelte und zurückgebrachte Bücher wieder einreihte. Ich las alles, was sich mir bot. So trug ich nach und nach sämtliche Karl-May-Bände den Schlosshügel hinunter. Wenn ich dann nachts im Schein der Taschenlampe in die Abenteuer von Old Shatterhand und Winnetou eintauchte, wenn ich mit ihnen die harten Prüfungen ihrer Freundschaft bestand und mich anstelle der schönen Schwester Winnetous in Old Shatterhand verliebte, dann lebte und fühlte ich, dann war ich unerschrocken, tapfer und treu wie meine Helden, dann war ich dabei, eine von ihnen.

Die Brille, die da oben im Reich der Bücher als Erkennungszeichen galt, war unten im Klassenverband ein Merkmal der Unbeliebtheit. Da nützte es auch nichts, dass ich mit meiner Mutter beim Optiker des Nachbardorfs ein modisches Gestell auswählen durfte, das mir gefiel. Eine Brille tragen zu müssen, blieb ein nicht wettzumachender Makel und schloss mich aus dem Reigen der Klassenschönheiten aus. Auch wenn ich später das Nichtdazugehören mit anderen Dingen verband als mit der Brille, kaufte ich mir mit meinem ersten Lehrerinnenlohn Kontaktlinsen.

Was konnte meine Mutter am Schluss noch sehen? Was wollte sie sehen? Wir merkten nichts von ihrer Sehschwäche. Erst in meiner Erinnerung wird ihre Unsicherheit beim Gehen sichtbar: Wie sie die Treppe vom oberen Stock herunterkam, die Schritte abgemessen, die Bewegungen steifer, langsamer, vorsichtiger; wie sie dann in die Küche schritt und in die dunkel getäferte Stube, Schritt vor Schritt setzend, bewusst setzend, sage ich heute, weil ich weiß, wie sich die zunehmende Sehschwäche anfühlt. Damals wusste ich es noch nicht, und Mutter verlor kein Wort darüber, jammerte nicht, teilte sich nicht mit, erledigte schweigend die alltäglichen Verrichtungen in ihrem kleinen Witwenhaushalt. Heute sehe ich sie vor mir, die Augen hinter den dicken Brillengläsern optisch verzerrt, das eine war blind, das Gesicht schien stets ein bisschen zu lächeln, es war das Lächeln der Unsicherheit, das die Angestrengtheit überlagerte. So richtete sie ihr Frühstück, das sie am Küchentisch verzehrte, eine Brotscheibe getoastet, dünn mit Butter und Bitterorangenkonfitüre bestrichen, dazu eine Tasse Schwarztee. Gepflegt, auch als plötzlich gealterte Witwe, zerbrechlich, geschrumpft. Sie aß wie ein Vögelchen. Ihr Blick ging vielleicht zum Küchenfenster hinaus in das neblig verhangene Grün der Apfelbäume und zu den von links ins Fenster hineinragenden Ästen der Hemlocktanne neben dem Haus. Er schweifte über den Kiesweg bis zum eisernen Gartentor, das auf der Nordostseite aus dem Park hinausführte, und weiter über den nun verwilderten Pflanzgarten mit den Reihen von Johannisbeeren, den noch erahnbaren Gartenbeeten, ihrem Reich in früheren Zeiten, als sie noch rüstig war und den Nutzgarten gekonnt bewirtschaftet hatte.

Heute sitze ich wie meine Mutter am Fenster, geht mein Blick auf den Garten hinaus. Ich bin nur zwei Jahre jünger als sie, als sie Witwe wurde.

6.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ich gefragt werde, wie es mir als Pensionierter gehe, was ich denn nun den ganzen Tag mache, ob ich eine neue Aufgabe oder ein Projekt habe. Ich könne doch jetzt vermehrt reisen! Oder ein Buch schreiben! Gut, dass die Gelegenheiten für ein Gespräch selten geworden sind. Ich gehe kaum aus dem Haus. Gereist bin ich noch nie gern, wieso also heute. Und ich hasse diese Fragen, so wie ich das Wort Pensioniertenleben hasse. Ich hasse den gesellschaftskonformen Zwang, Auskunft zu geben. Über die Arbeit, den Stress, die nervenden Kollegen im Beruf, über die Kinder und ihre Ausbildungen, über die Karriere des Ehepartners oder über Ferien können wir uns in Gesellschaft ungefährdet unterhalten. Aber über das Nichtstun – unvorstellbar. Es existiert in unserem Denken nur im Freizeitlook, als Erholung von, Abwechslung im, Ausgleich zum. Aber nicht als Lebensinhalt.

Ich orientiere mich nach innen, nicht mehr nach außen. Was vorher Aufgaben, Pflichten, Klassen, Kollegium und Familie waren, nach denen ich mich ausrichten und denen ich mich anpassen musste, sind jetzt innere Räume, in denen ich mich tastend und suchend bewege. Meine Ansprechpersonen sind in mir drin, bin in erster Linie ich selber, sind Menschen aus meiner Vergangenheit. Mein Leben findet auf einer inneren Bühne statt. Hier suche ich nach Anhaltspunkten, hier suche ich nach einem Konzept, hier suche ich nach einer Rolle. Was vorher Auftritte waren in meiner Öffentlichkeit, der Schule, sind jetzt Besprechungen mit mir selber. Ob mir die Auftritte nicht fehlen? Die Frager werden nicht müde zu fragen. Ich habe das Interesse daran verloren. Der Aufwand, so kommt es mir heute vor, war sehr hoch, und er wurde immer größer, je älter ich wurde. Auf der Höhe zu sein, zu genügen oder, noch mehr als das, zu gefallen, beliebt zu sein – was für Marathonleistungen in der Schularena.

7.

Durch die Lücke in der bald haushohen Haselstrauchwand sehe ich in den Nachbargarten hinüber, heller Fleck mit Wiese, angeschnittene Gartenbeete, dunkler Ast des Apfelbaums.

So spähte ich durch Baum- und Heckenlücken hinaus, wenn ich im Park meiner Kindheit hoch oben im Kastanienbaum saß, wenn ich im Tannenhaus mit den Puppen spielte oder wenn ich mich im Fliederhäuschen hinter dem Rasen mit den Rosen- und Ritterspornrondellen duckte. Wie viele Spielplätze, Kinderreiche, Schattenhäuser gehörten mir allein! Ich spielte im Schatten ausladender Bäume und Tannen, ich träumte im Schatten von niederen Heckengespinsten, ich lebte im Schatten von Blättern und Ästen, die still in die Nachmittagsstunden hineinragten oder flüsternd und hüpfend im Morgen tanzten. Ich war beschützt von den schattengrünen Dächern und aufgehoben im weichen Teppich aus Moos und Tannennadeln. Ich war mit dem Garten, in dem ich spielte, verwachsen. Und wenn ich heute durch die Lücke in der Hecke schaue, so scheint es mir, dass der Garten dem meiner Kindheit immer ähnlicher wird. Gegen Abend wuchsen die Schatten des Hauses in den Garten hinaus. Sie erreichten das Kind noch nicht, das ich war und das im Schutz der Bäume spielte und träumte. Aber sie lagen über dem Park und wanderten von Westen nach Osten, liefen der Sonne davon. Im Hausinneren lauerten die Schatten der Erwachsenen, riesenhafte Gestalten, die durch die Räume huschten. Wenn ich in meinen Verstecken spielte, sah ich sie nicht und wurde nicht gesehen.

Mein Kater könnte sie sehen. In der einbrechenden und in der schwindenden Nacht öffnen sich seine zu Schlitzen verengten Pupillen zu kreisrunden leuchtenden Kugeln, mit denen er die riesenhaften Gestalten wahrnehmen könnte.

8.

Apple streicht um meine Beine, er drängt mich zum Platz am Fenster, wo er sein flaumiges Katzengewicht auf meinen Fuß legt. Ich streichle sein samtschwarzes Fell und schaue ins Grau des entstehenden Morgens hinaus, der sich mit meinen Nachttraumfetzen vermischt. Die Äpfel auf dem Nachbargrundstück sind inzwischen gepflückt, die Lücke ist größer geworden, die Wand aus Haselsträuchern hat sich in ein löchriges Netz aus Astgerippe und Blätterwerk verwandelt. Es ist Ende Oktober. In den Augen des Katers schimmert ein blasses Bernsteingelb auf, wie die Blätter, die sich mit dem durchbrechenden Sonnenlicht gleich in klingende Münzen verwandeln werden. Er scheint sich dem Wechsel der Jahreszeiten anzupassen. Katzennatur.

Letzte Nacht habe ich vom Haus meiner Kindheit geträumt. Verlassen lag es im dunklen Park zwischen den hohen Bäumen da, Abenddämmerung, im oberen Stock waren zwei Fenster erleuchtet, was mir seltsam vorkam, war es doch schon seit vielen Jahren unbewohnt, meine Eltern und mein älterer Bruder schon lange gestorben, das Haus mit großem Verlust verkauft, und der Sargschreiner, der es erschwindelt hatte, lag auch bereits unter dem Boden, Selbsttötung, er war dem Druck seines Lügenlebens nicht mehr gewachsen gewesen. Ich stand im Traum im Garten und starrte gebannt zur Villa hin, als ich hinter den erleuchteten Vierecken Schatten hin und her huschen sah.