Foodamentalismus - Kathrin Burger - E-Book

Foodamentalismus E-Book

Kathrin Burger

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Beschreibung

Essen als Religionsersatz? Essen nimmt einen immer größeren Stellenwert in unserem Leben ein. Ob vegan, paläo, clean, glutenfrei oder komplett ohne Kohlenhydrate, immer mehr Menschen definieren sich über ihre Ernährung. Keine Essenseinladung und kein Restaurantbesuch mehr ohne Sonderwünsche und immer neue Einschränkungen. Andersgläubige werden schnell verurteilt, in den sozialen Medien herrscht ein regelrechter Krieg zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen und die Angst vor bestimmten Lebensmitteln greift um sich. Das soziale Leben bricht zusammen, es werden Klassen- und Geschlechterkämpfe geführt und die Gesellschaft spaltet sich! Wird es wirklich so weit kommen? Die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Burger geht dem Phänomen »Foodamentalismus « auf den Grund und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der Ernährung und ihren Status in unserer Gesellschaft.

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Seitenzahl: 357

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Kathrin Burger

FOODAMENTALISMUS

Kathrin Burger

FOODAMENTALISMUS

Wie Essen unsere Religion wurde

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

 

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Marcell Mizik

Layout: Andreas Linnemann

Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

 

ISBN Print 978-3-7423-0944-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0568-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0569-2

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

 

Inhalt

Cover

Impressum

Kapitel 1 DIE HEILIGKEIT AUF DEM TELLER: SCHULDIG IM SINNE DER ANKLAGE?

Ausgedachte Leiden oder Luxus?

Die Konvertierung zu einer neuen Ernährungsweise

Kann denn Nahrung Sünde sein?

Ernährung als Popkultur

Die lukrativen Versprechen der Werbung

Ernährungstrends unter der Lupe

»Natürlich« – das ist der kleinste gemeinsame Nenner

Auf der Suche nach dem »bösen« Nährstoff

Der Veganismus

Clean Eating

Low Carb, Keto und Bulletproof

Steinzeitkost oder Paläo-Diät

Glutenfrei und weizenfrei

Fasten und Detox

Zuckerfrei

Laktosefrei oder ohne Milch

Rohkost

Makrobiotik

Anthroposophische Ernährung

Ayurveda

Bio-Aficionados und Local Food

Stillen – Ernährung in einer sehr sensiblen Zeit

Zu oft wird die moralische Keule geschwungen

Kapitel 2 Wie konnte es so weit kommen?

Uns fehlen Religion und moralische Autoritäten

Nahrung stiftet Identität, erlaubt Selbstdarstellung

Jede Kultur hat ihre Nahrungssitten und -Gebräuche

Schnaps für den Mann, Salat für die Frau

Über die Nahrung werden Hierarchien ausgedrückt

Über die Essensauswahl kann man sich inszenieren

Kochen, posten, essen

Essen ist zum Multiproblemlöser geworden

Es gibt eine Freiheit im Essen

Es gibt kein Essen ohne Emotion

Wir leben in einer Bubble-Welt

Unser Essen in den sozialen Medien

Wir als Verbraucher sind verunsichert

Ratgeber und Internetblogs predigen häufig falsche Fakten

Ein Chor verschiedener Stimmen

Panikmache macht Angst, aber sonst nichts

DGE-Regeln ändern sich, weil die Wissenschaft Wissen schafft

Lebensmittel sind zur Bedrohung geworden

Der Healthismus fungiert als eine weitere Ersatzreligion

Die Angst vor dem Tod ist in unseren Köpfen

Psychoanalytische Erklärungsansätze: Wir sehnen uns nach unseren Wurzeln

Wir fürchten, das Essen sei vergiftet

Wir entfremden uns von der Natur

Unsere Ernährung ist eine Form von Kapitalismuskritik

Kapitel 3 Schleichender Prozess oder konkreter Auslöser?

Gibt es einen bestimmten Persönlichkeitstyp, der für den Gesundessenwahn prädestiniert?

Kapitel 4 Ab wann wird es gefährlich? – Nebenwirkungen einer extremen Ernährung

Kapitel 5 Welche Länder sind besonders vom Esswahn betroffen?

USA

Großbritannien

Die skandinavischen Länder

Italien

Israel

Kapitel 6 Auswirkung des Gesundessenwahns auf unser Zusammenleben

Die Gastlichkeit wird abgelehnt

Es kommt zu Klassenkämpfen

Übergewichtige werden diskriminiert

Es kommt zu Geschlechterkämpfen

Die Gesellschaft spaltet sich

Es wird eine ungesunde Angst verbreitet

Tatsächlich Erkrankte haben das Nachsehen

Genuss bleibt auf der Strecke

Kapitel 7 Positive Nebenwirkungen und ein optimistischer Ausblick

Was bringt die Zukunft?

Quellen

Kapitel 1

Die Heiligkeit auf dem Teller: Schuldig im Sinne der Anklage?

Kennen Sie das auch? In letzter Zeit wird es immer schwieriger, ein Abendessen für Freunde oder Verwandte auszurichten. Schon bei der Einladung bekommt man als Gastgeberin und Köchin diverse Einschränkungen mitgeteilt. »Also, ich esse jetzt keine Milchprodukte mehr«, sagte mir neulich eine langjährige Freundin. Auf meine verdutzte Nachfrage antwortete sie vage: »Ich vertrage das einfach nicht mehr, ich bekomme regelrechte Verdauungsstörungen.«. Beim Arzt war sie deswegen nicht, sie vertraue da auf ihre Intuition, auf die Weisheit ihres Körpers. Ein anderer Freund hatte mir schon vor längerer Zeit mitgeteilt, dass er seit Kurzem Veganer sei und darum lieber erst nach dem Essen auf einen Wein kommen würde, falls es nichtvegane Speisen geben sollte. Die gab es. Den Wein brachte er jedoch lieber selbst mit, denn: »Wusstest du? Weine werden teilweise mit Hühnereiweiß geklärt.« Und so geht es weiter: Ein anderer will abends Low Carb essen, also bitte keine Kartoffeln, Nudeln oder so etwas Frevelhaftes wie Pizza! Die Freundin macht Intervallfasten und hat leider immer abends ihre Hungerphase. Alle lehnen obendrein »Industriezucker« auch in kleinsten Mengen ab, oft auch Kaffee und Alkohol. Fazit: Milch, Kohlenhydrate, Gluten oder Zucker – alles ist Teufelszeug! Und wenn man dann doch in langwieriger Kleinarbeit ein Menü erdacht hat, ist das einzige Thema beim Essen: Unverträglichkeiten mit all ihren Symptomen (über die man seit Darm mit Charme[1] offenbar ungehemmt reden darf), welches Restaurant streng glutenfrei kocht, welches Eiweißbrot am besten schmeckt und wie das nun mit dem Ölziehen geht – natürlich mit nativem Kokosöl, anstatt des ursprünglich von indischen Ärzten verwendeten Sesamöls. Ich will das alles eigentlich nicht wissen, schon gar nicht, wenn man zusammenkommt, um einfach ein schönes, selbstgekochtes Essen zu genießen. Früher ging es bei solchen Gesellschaften um Beziehungsgeschichten, zeitweise um Kindererziehung, um die neuesten Bands und Konzerte, um Bücher, die man empfehlen kann, oder ob man mit der Politik zufrieden ist. Ich musste an einen Mann namens Tom Kraftwerk denken, der bereits im Jahr 2014 getwittert hatte: »Wann genau ist aus ›Sex, Drugs & Rock n Roll‹ eigentlich ›Laktoseintoleranz, Veganismus & Helene Fischer‹ geworden?«[2] Eine Zeit lang schob ich es auf mein Alter. Aus Erfahrung weiß man ja, dass »ältere Menschen« (in diesem Fall ab 40) gerne über ihre Krankheiten sprechen, die sich mit der Zeit nun mal mehren. Aber ich habe das auch bei Jüngeren erlebt. Bei Cousins, Neffen, Nichten, die in ihren 20ern oder 30ern waren. Und auch nach einer solchen Essenseinladung sind noch böse Überraschungen möglich. Nämlich wenn man bemerkt, man hat vielleicht doch nicht alle Wünsche bis ins letzte Mehlkorn berücksichtigt, etwa weil in der Lasagne Eier drin waren, die der Veganer natürlich ablehnt. Oder wenn man die Zutatenliste einer Soja-Creme, die als Sahneersatz dient, studiert und bemerkt, dass sich dort so viele Zusatzstoffe tummeln, dass eine »Clean Eaterin« mir stante pede die Freundschaft kündigen würde. Auch in der Gastronomie fallen die Nervensägen auf, die mit ihren Unverträglichkeiten und Sonderwünschen die Köche in den Wahnsinn treiben. Manch ein Koch meint gar, dass normales Kochen nicht mehr möglich sei.

Ausgedachte Leiden oder Luxus?

Vegan, Low Carb, Steinzeitdiät (Paläo), Clean Eating, biologisch-dynamisch, anthroposophisch, glutenfrei, laktosefrei, zuckerfrei, makrobiotisch oder Ayurveda – Essen nimmt einen immer größeren Stellenwert im Leben vieler Menschen ein und es ist bereits eine Art »Foodamentalismus« festzustellen. Das ist nicht nur meine Wahrnehmung, sondern wird von Soziologen und Psychologen beobachtet. Wissenschaftler der Dr. Rainer Wild-Stiftung sprechen etwa von einem »Boom an Ernährungstrends, der historisch einzigartig ist«.[3] Wer keine Unverträglichkeit hat und nicht aus gesundheitlichen oder tierethischen Gründen bestimmte Lebensmittel meidet, ist nicht nur langweilig, sondern zählt auch zu den bedauernswerten Nichteingeweihten. Der Ernährungsreport 2019[4] zeigte etwa, dass rund 90 Prozent der Deutschen auf eine gesunde Ernährung Wert legen. Knapp 6 Prozent der Deutschen verzichten auf Fleisch, schätzungsweise 1 Prozent meidet obendrein Fisch, Milch, Eier und Honig. Fast 80 Prozent achten auf die Liste an Inhalts- und Zusatzstoffen eines Produktes. Laut einer repräsentativen Umfrage, die das Marktforschungsinstitut Ears and Eyes im Auftrag von Spiegel online durchgeführt hat, glauben bis zu 23  Prozent der Deutschen, Weizen oder Milch nicht zu vertragen oder an einer Lebensmittelallergie zu leiden.[5] In einer Studie der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017 unter 18- bis 29-Jährigen gaben 13  Prozent der Teilnehmer an, strikten Regeln bei der Ernährung zu folgen. 17  Prozent achten auf Fettarmes, 16  Prozent meiden Zucker, 13  Prozent essen Low Carb.[6] Befragt man Studenten, sind fast 10  Prozent mittlerweile gefährdet, eine Orthorexia nervosa[7], also ein pathologisches Essverhalten zu entwickeln, das den grünen Smoothie und die Chiasamen geradezu heiligspricht und das Leben diktiert. Bis zu 3  Prozent der Deutschen könnten tatsächlich von dieser Essstörung betroffen sein[8] mit Folgen wie Mangelernährung, Vereinsamung und getrübter Lebensqualität.

 

 

Natürlich gibt es Menschen, die medizinisch belegte Lebensmittelallergien haben und deshalb streng auf alle Inhaltsstoffe achten müssen. Auch bei der Zöliakie darf man kein Gramm Mehl essen. Und Laktoseintoleranz sowie Fruktosemalabsorption sind keine Hirngespinste, sondern echte Unverträglichkeiten. Allerdings: Die Menge derjenigen, die wirklich von einem Arzt diagnostizierte Leiden haben, liegt weit unter der Zahl derer, die über Intoleranzen klagen. Von Lebensmittelallergien sind lediglich rund 5  Prozent der Deutschen betroffen[9], von Zöliakie spricht man bei rund 0,3  Prozent[10]. Dagegen sind nichtallergische Unverträglichkeiten wie die Laktoseintoleranz schwer zu beziffern, da diese überhaupt nur bei einem bestimmten Ernährungsverhalten zu Tage treten, etwa bei Latte-macchiato-Fans. Laut dem Ernährungsmediziner Heiko Witt haben nur rund 5 bis 10  Prozent der Deutschen einen so ausgeprägten Laktasemangel, dass nach dem Genuss eines Glases Milch Übelkeit und Durchfall auftreten. Ob es eine Glutenunverträglichkeit als eigene Entität gibt, ist indes in der Wissenschaft umstritten. Aber diejenigen Wissenschaftler, die sie für real halten, wie etwa Andreas Stallmach von der Universität Jena, schätzen die Krankheitszahlen auch nur auf 1 bis 1,5  Prozent.

Die Konvertierung zu einer neuen Ernährungsweise

Viele der heute festgestellten Unverträglichkeiten sind also Selbstdiagnosen, diese Menschen leiden unter dem so genannten »Hype-Syndrom«. Evelyn Roll, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, nannte dieses Phänomen einmal »Nutrismus«. Und dieser sei eine Kulturstörung, keine Essstörung, von der die junge Mittelschicht der westlichen Welt erfasst worden sei.[11] Für diese Menschen ist Essen also zu einem elementar wichtigen Bestandteil des Lebens avanciert. Andere, wie der Psychosomatiker Johann Kinzl, der ehemals an der Universität Innsbruck lehrte, sprechen von »Foodamentalismus«, also ideologisch verbohrten und fundamentalistischen Essenstrends.[12] Die abwechslungsreiche Ernährung ist aus der Mode gekommen, dafür müssen hoch spezialisierte Kostformen her. Das könnte man grundsätzlich gut finden oder einfach ignorieren, wäre da nicht dieser Mitteilungsdrang und die Zwanghaftigkeit, mit der diese Ernährungsweisen bisweilen zur Schau getragen werden. Neben Psychologen und Sozialwissenschaftlern weisen Theologen darauf hin, dass Ernährung geradezu zur Religion oder zu einem Religionsersatz geworden sei. Früher gaben Religionen Ernährungsregeln vor: Katholiken aßen freitags Fisch und fasteten zwischen Aschermittwoch und Karfreitag, Juden aßen koscher, Moslems halal, was etwa Schweinefleisch ausschließt. Heute sind viele dieser Regeln weggefallen oder werden nicht mehr praktiziert, dennoch bleibt die moralische Aufladung des Essens bestehen. Es ist nun die Ernährung selbst, die sinnstiftend wirkt, sie braucht also keinen herkömmlichen theologischen Überbau mehr, der Überbau wird erdacht von selbst ernannten Ernährungsspezialisten (Promis, Foodbloggern und abtrünnigen Ärzten) oder von Philosophen wie Peter Singer, auf die sich teilweise die Thesen der Veganer stützen. »Die Ernährungslehrer von heute konstruieren eine Ernährungsfrömmigkeit, selbst wenn sie sich keiner religiösen Begriffe bedienen«, sagt die Soziologin Eva Barlösius von der Universität Hannover.[13] Das Ganze mag komisch klingen. Denn: Braucht es für eine Religion nicht den Glauben an eine Gottheit oder an überirdische Kräfte? Als Gottheit, als höhere Autorität könnte man bei vielen alternativen Ernährungsweisen die »Mutter Natur« nennen, meint die Anthropologin Jill Dubisch, die an der Northern Arizona University lehrt.[14] Es gibt jedoch noch andere Merkmale, die Religionen oder religiösen Sekten gemein sind und die sich auch bei der Gesundessenbewegung feststellen lassen.

 

 

Laut Kai Funkschmidt, Theologe und Forscher an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, ist vor allem der Veganismus bei einigen wenigen zu einer religionsartigen Weltanschauung geworden, denn: Veganer streben nach individuellem und universalem Heil, sie wollen andere bekehren, beanspruchen für ihre Theorien einen universalen Geltungsanspruch, grenzen sich gegenüber anderen ab, haben eine Mission, ein identitätsstiftendes Minderheits- und Elitebewusstsein und argumentieren mit einer ausgefeilten Dogmatik und Ethik. Zudem gibt es innerhalb der »Glaubensrichtung« Konfessionsstreits darüber, wer moralisch besehen der Super-Veganer ist, und Veganer ringen sogar um juristische Anerkennung. Funkschmidts Fazit: »Und für Teile der veganen Bewegung trägt er [der Veganismus] Züge einer quasi-religiösen Weltanschauungsgemeinschaft mit Heilsversprechen sowie umfassender lebensgestaltender und sinnstiftender Funktion.«[15] So verzichtet der Veganer etwa nicht nur auf bestimmte Lebensmittel, sondern auch auf Kleidungsstücke oder Kosmetik, die mithilfe von tierischen Materialien hergestellt wurden. Das ganze Leben baut dann darauf auf, durch das eigene Verhalten Tiere zu schützen, die Umweltzerstörung aufzuhalten – schlicht die Welt besser zu machen. Dies betrifft nach Funkschmidts Beobachtung wie gesagt jedoch nur eine kleine Minderheit der Veganer, der Großteil der Pflanzenfans esse entspannt und lasse auch andere Ernährungsweisen gelten. Dennoch prägen die verbissenen Heilsprediger und Missionierer das Bild, die so tun, als ob Gott ihnen vorgeschrieben habe, wie sie sich richtig zu ernähren haben. Sie treten öffentlich und negativ in Erscheinung, etwa auf Podiumsdiskussionen, Internetforen und wenn man Pech hat, auch im Freundeskreis oder in der Familie. Gespräche über den Gesundheitswert von rein pflanzlicher Nahrung werden dann bisweilen anstrengend.

 

 

Benjamin E. Zeller, Soziologe am Lake Forest College, hat neben den Veganern die Glutenfrei-Community analysiert und kommt zu dem Schluss, dass auch hier oft die Rede von Gemeinschaft, Identität, Rettung und transzendentalen Ideen wie das »Böse« (Gluten und Weizen) ist und dies durchaus ebenfalls etwas Religiöses habe.[16] Zudem seien auch die Vertreter der weizenfreien Kost sehr intolerant gegenüber Andersdenkenden, ähnlich wie bei Sekten oder Religionen. Auch die Steinzeitkost ähnelte mit ihren ganzen Regeln und Glaubenssätzen über die menschliche Natur einer Religion. Sie basiere wie alle anderen Ernährungstrends vor allem auf Glauben und nicht auf Wissenschaft und sei damit ebenso eine Ideologie. Manche alternativen Ernährungsweisen integrieren auch von vorne herein spirituelle Praktiken in den Lebensstil, etwa der Ayurveda oder die Makrobiotik. Häufig berichten die Gesundesser von Erweckungserlebnissen, davon, wie schlecht das Leben vor der Ernährungsumstellung war, und dass sich alles zum Guten gewendet habe, seit man auf Gluten, Milchzucker oder ultraverarbeitete Lebensmittel verzichte. Es gibt also eine Art Konvertierung zu einer bestimmten Ernährungsweise.

 

 

Der zentrale Punkt der Foodamentalisten sind jedoch Heilserwartungen. Die Ziele heißen Gesundheit, Schlankheit, Fitness, Schönheit und Unsterblichkeit. »Der Schlanke erhält a priori die Absolution«, schreibt etwa Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der Universität Fulda im Buch Gesundheitsängste[17]. Und noch mehr: Vom eigenen Körper wird Erlösung, also die Befreiung von allem Negativen erwartet – was früher die Religion leistete. Diese Erlösung findet jedoch nicht nach dem Tod im Paradies statt, sondern im Hier und Jetzt. Und sie ist laut Klotter »körpernah«, das heißt, sie ist sinnlich erfahrbar. Auch Produkthersteller haben dieses Bedürfnis des modernen Menschen nach Esoterik und Spiritualität erkannt und nutzen diese als Storytelling – etwa bei den »Veganen Buddha-Bärchen« –, um ihre Produkte zu verkaufen. Neue Rezeptbücher tragen Titel wie Burger unser[18], Die Essigbibel[19] oder Soulfood[20].

Tatsächlich gehen immer weniger Menschen in die Kirche oder beten – wir leben in einer immer stärker säkularisierten Welt. Auch das Ordnungssystem Familie bröckelt. Eine strikte Ernährung bietet hier Halt, durch Rituale, durch Identitätsstiftung, durch Sinnhaftigkeit. Zudem gewährleistet der Verzicht-Konsum eine praktische Orientierung im Alltag voller Widersprüche. Ganz konkret: Ein Supermarkt führt durchschnittlich 25 000 Produkte[21], ein Verzicht auf Gluten, Laktose oder alles Tierische erleichtert die Auswahl hier erheblich. Halt gibt auch, dass offizielle Ernährungstipps ausgeblendet werden können, die von vielen Verbrauchern als verwirrend und sich ständig ändernd wahrgenommen werden. Zudem kommunizieren die offiziellen Ernährungsexperten auch gerne mit dem Zeigefinger, von oben herab. Selbsternannte Ernährungsexperten, die sich etwa in Büchern oder auf Blogs äußern, haben dagegen ein vermeintlich stringentes Glaubenssystem mit strikten Regeln, deren Erfüllung vielen Menschen offenbar einfacher fällt als das schwer greifbare Mantra »die Ernährung sollte abwechslungsreich sein« – eine Devise, die übrigens schon in der Antike galt.

Kann denn Nahrung Sünde sein?

Zur Verwirrung der Verbraucher tragen auch Lebensmittelskandale bei und die Unfähigkeit vieler Menschen, die Risiken, die mit Ernährung einhergehen, richtig einordnen zu können. Hier wäre ein besserer Mathematikunterricht hilfreich. Denn »Gifte« in der Nahrung tragen nur zu einem ganz geringen Teil der schwerwiegenden Krankheiten wie Krebs bei. Zugleich werden diese Vergiftungsfantasien auf vollkommen harmlose Substanzen wie Gluten oder Laktose übertragen. Wer Angst vor dem Essen hat, wird jedoch dank der »self-fulfilling prophecy« gleich tatsächlich von Krankheitssymptomen wie Bauchschmerzen, Durchfall oder Übelkeit geplagt. Zudem kann er nicht mehr genießen, ein trauriges Leben. Auch die Naturentfremdung und das Unwissen, wie Grundnahrungsmittel hergestellt oder zubereitet werden, sind Gründe, warum neuerdings Schmalhans der Chef in vielen deutschen Küchen ist. Schließlich wägt sich auf der sicheren Seite, wer ganze Lebensmittelgruppen wie Kohlenhydrate (Brot, Reis, Nudeln) oder Tierisches (Fleisch, Milch, Eier) von seinem Speiseplan streicht.

 

 

Die um sich greifenden Schonkostformen ermöglichen jedoch zudem Selbstdarstellung. Denn es werden Werte wie Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Altruismus, Naturverbundenheit oder Disziplin über besondere Ernährungsweisen übermittelt. Ernährung dient als Möglichkeit, sich selbst zu definieren und zu präsentieren. Gemäß der Erkenntnis des Philosophen Ludwig Feuerbach: »Der Mensch ist, was er isst.« Wer auf tierische Produkte verzichtet, zeigt sich empathisch und altruistisch, wer glutenfrei oder Low Carb lebt, ernährt sich vermeintlich gesund und kommt damit seiner sozialen Verantwortung nach. Er gilt als »guter Mensch«, der die Krankenkassen nicht belastet und die Ressourcen schont. Es geht bei den vielen Ernährungstrends also um nicht weniger als »das richtige Leben«, das im Sinne der Moral richtige. Diese Frage wurde früher an Gott ausgehandelt, heute an der Diät. Und wer nicht zu den Besseressern zählt, gilt wie im Mittelalter die Heiden als »schlechter Mensch«. Auch der Wunsch nach Zughörigkeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter wird mit den verschiedenen Ernährungstrends erfüllt. Schließlich kann man sich online vernetzen (so gibt es etwa spezielle Datingforen für Veganer), oder in bestimmten Restaurants treffen. Gesundes Essen wird damit zum Multiproblemlöser, bietet Bewältigungsstrategien für das Leben, ist sinnstiftend.

 

 

Ungesundes oder zu viel Essen gilt umgekehrt als Sünde, führt zu Unwohlsein und regelrechtem Ekel. Verstöße gegen die selbst auferlegten Regeln lösen Anspannung, Angst, Schuldgefühle oder Selbsthass aus. Schon zur Zeit Augustinus und bis ins Mittelalter hinein galt die Völlerei im Christentum als Todsünde. Und diese Vorstellungen haften offenbar bis heute in unserem kollektiven Gedächtnis. Bestimmte Nahrung als »Sünde« zu bezeichnen ist schließlich bis heute üblich. Man muss sich dann nach Fehltritten in Detox- oder Fastenkuren von diesen Sünden befreien, man muss Buße tun. Superfoods fungieren als Ablassgebete, um den Höllenqualen zu entgehen. Umgekehrt heißt das: Wer krank wird, ist selbst schuld, er lebte eben nicht fromm und rein genug. Wer zu viel raucht, trinkt und isst, gilt als asozial, er steht am Pranger. Es kommt also zu einer sozialen Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden oder auch Menschen, die kein Bohei um (vermeintlich) gesundes Essen machen – der Graben zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet oder Frau und Mann wird so noch tiefer. Veganer (zumeist weiblich) fühlen sich beispielsweise gegenüber Fleischessern (zumeist männlich) als Elite und bezeichnen diese als »Tiermörder«. Doch auch die vielen anderen Ernährungstrends von der Rohkost bis zur Stillpropaganda machen deutlich, dass Essen heute massiv ideologisch aufgeladen ist.

 

 

Strikte Ernährungsregeln sind so zur Basis einer quasireligiösen Gemeinschaft geworden, mit heiligen Schriften, Tabus (Lebensmittel, die verteufelt werden) und Online-Foren auf denen sich die einzelnen Jünger vernetzen und vom Mainstream abgrenzen. Es fehlt den Gesundessern allerdings in einigen Fällen an Toleranz; Andersdenkende sollen missioniert werden und darum fühlen sich auch viele Menschen, die Ernährungstrends wie dem Veganismus eigentlich wohlwollend gegenüberstehen, eher abgestoßen. Es ist toll, wenn sich jemand Gedanken über sein Essen und die Tiere macht und sich damit besser fühlt. Aber viele Essensjünger sind so versunken in ihr starres Gedankenkorsett, dass sie hochgradig intolerant werden und anderen das Gefühl geben: Wir sind heiliger als ihr. So werden Köche und selbsternannte Experten zu Ernährungspäpsten und Priestern, Rezeptbücher, Ratgeber und Blogs sind die neuen Bibeln und heilige Schriften, etwa von Attila Hildmann Vegan for Fit[22], Ella Woodwards Deliciously Ella[23] oder Weizenwampe – Warum Weizen dick und krank macht[24] von dem US-Kardiologen William Davis. Markthallen, Food Trucks, Food Courts, Food Festivals oder Bio-Supermärkte sind die neuen Kirchen und Tempel, in denen man Reinheit erfährt. Superfood, Proteinbrot, Tofuwürstchen oder Wildlachssteaks werden zu Hostien. Aber auch das alljährliche Fasten boomt, entsprechende Kliniken sind wahre Pilgerstätten. Und sogar einen »Antichrist der Esskultur« hat das Handelsblatt[25] ausgemacht: den Publizisten und Lebensmitteltechnologen Udo Pollmer, der einst für den Bio-Landbau kämpfte, weil in der konventionellen Landwirtschaft zu viele Pestizide versprüht wurden, und heute einer der härtesten Kritiker der Gesundessenszene ist (s. Seite 119–120).

 

 

Dennoch darf man bei dieser Debatte nicht vergessen, dass der Gesundessenwahn immer noch eine (gut situierte) Minderheit betrifft. Diese hat eigentlich alles, versagt sich jedoch gerade beim Essen jeglichen Genuss. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung kauft hingegen Billigfleisch, Fertigpizza und Fast Food, teils aus finanziellen Gründen, teils aus mangelnden Kochkenntnissen. Die so genannte Food Literacy,das Koch- und Ernährungswissen, nimmt also bei vielen Deutschen ab, während eine Minderheit sich regelmäßig auf Ernährungsblogs informiert oder monatlich mit neuen Ratgebern eindeckt, die Gesundheit, Selbstheilung, Schlankheit ohne Hungern, Fitness, Entgiftung, Großartigfühlen, Vitalität, Glück und nichts weniger als Langlebigkeit versprechen, und das teils mit phänomenalen »5 Minuten«-Rezepten.

Ernährung als Popkultur

Bei Instagram findet man derzeit zum Hashtag #food fast 315 Millionen Beiträge. Hier versammeln sich neben den Gesundessern auch die so genannten Foodies, eine Gruppe, der laut Untersuchungen der Universität Göttingen rund 10 Prozent der Deutschen angehören, weitere 20 Prozent sind so genannte Light-Foodies.[26] Das ist eine Konsumentengruppe, die eine große Leidenschaft fürs Kochen und Essen sowie authentische Lebensmittel und Herstellungspraxen hat. Sie brauen Bier selbst, fahren zu entlegenen Bauernhöfen, um Fleisch einer bestimmten Schweinerasse zu erstehen, und schwärmen von den Vorzügen einer traditionell hergestellten Pasta- oder Brotsorte. Foodies fotografieren auch gerne vor dem Essen ihre Speisen und stellen sie ins Netz – kurz: Sie kochen, posten, essen. Gemein haben sie mit den Gesundessern, dass Essen für sie eine Form der Selbstdarstellung, eine Identifikationsmöglichkeit ist. Dass das Internet mittlerweile teilweise von farbenprächtigen Food-Fotos überschwemmt ist, nennt man »Foodporn«. Dies sind laut dem Göttinger Ernährungspsychologen Thomas Ellrott so etwas wie »digitale Tattoos«, die die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wie Turnschuhe oder eine bestimmte Handymarke signalisieren. Wegen dieser Bewegung wurde Ernährung im Food Report 2016 des Frankfurter Zukunftsinstituts[27] Essen als »der neue Pop« bezeichnet und die Markthallen wären dann die Clubs oder Bühnen, wo diese Kultur abgefeiert wird. Laut der Trendforscherin Hanni Rützler geht die Szene, die sich früher bei Ausstellungen oder Konzerten getroffen hat, heute etwa in die Berliner Markthalle Neun. In der auf neu getrimmten Backsteinhalle sollen auch die großen Trends entstehen. Wird plötzlich das Sauerteigbrot gefeiert, dann kann der Ursprung gut in dieser Markthalle liegen, die etwa eine Bäckerei, eine Brauerei und eine Tofurei neben zahlreichen Streetfood-Ständen beherbergt. Ein großer Unterschied besteht jedoch zwischen den Foodies und den Gesundessern: Die Foodies zelebrieren den Genuss und kochen und essen gerne gemeinsam, während die Gesundesser eine Ideologie aus dem Ganzen machen, sich eher kasteien und durch ihre Mäkeligkeit von Andersessenden isolieren. Aber natürlich gibt es hier auch Überschneidungen: 6 Prozent der Foodies sind beispielsweise Steinzeitköstler.

 

 

Dass gesunde Ernährung heute für so viele Menschen wichtig ist, freut die Ernährungsindustrie, denn die Märkte der westlichen Industrieländer sind gesättigt, erfolgbringende Innovationen fehlen und die Gewinnmargen bröckeln. Nun, mit den »Freefromern« verdient die Ernährungsindustrie gut. Supermärkte modeln ganze Abteilungen um. Denn nun müssen Ersatzprodukte für Fleisch, Milch, Käse und Eier her, glutenfreie Brote und Nudeln und laktosefreie Milchprodukte bevölkern mittlerweile die Regale vieler Supermärkte, der »frei von«-Markt boomt. 2014 wurden in Deutschland beispielsweise 105 Millionen Euro mit glutenfreien Lebensmitteln umgesetzt, 2017 waren es bereits 174 Millionen Euro.[28] Auch glutenfreie Reisen, Tiernahrung oder Kosmetik gibt es im Angebot. Im Jahr 2012 kauften dreimal so viele Menschen laktosefreie Produkte wie noch 2007.[29] Auch die Nachfrage nach Veggie-Produkten hat in den letzten Jahren deutliche Umsatzsteigerungen erlebt. Von 2016 zu 2017 ist etwa der Markt von Tofuwürstchen, Lupinen-Bulette und Co. um 30 Prozent gestiegen.[30] Seit 2017 geht die Nachfrage jedoch wieder zurück.[31] Milchersatzprodukte wie Hafermilch oder Soja-Creme erreichten von 2012 auf 2013 eine Wachstumsrate von bis zu 40 Prozent.[32] Dem Wunsch nach weniger Zusatzstoffen und weniger Verarbeitungsschritten kommt die Industrie mit dem so genannten De-Processing nach. So entsteht laut dem Food Report 2018[33] eine Natural Food Industry, die komplett auf andere Herstellungsverfahren setzt und darum neue, innovative Unternehmen hervorbringt. Diese präsentieren sich auf Messen, die »Veggie world« oder »frei von und veggie« heißen.

Die lukrativen Versprechen der Werbung

Auch Nahrungsergänzungsmittel sind gefragt. Jeder dritte Deutsche nimmt Multivitamintabletten ein[34] und die Absatzzahlen von Magnesium, Vitamin D und Co. steigen. Im Jahr 2018 wurden laut dem Verband der Lebensmittelindustrie BLL 10 Prozent mehr B-Vitamine sowie 20 Prozent mehr Vitamin-D- und -A-Präparate als im Jahr zuvor verkauft[35] – und das obwohl sich Ernährungswissenschaftler einig sind, dass gesunde Menschen über die Nahrung genügend Vitamine und Mineralstoffe aufnehmen, es also keinen echten Nährstoffmangel in Deutschland gibt. Aber nur ein Drittel der Menschen ist sich dessen offenbar bewusst. Auch für die Einnahme von derzeit besonders gehypten Vitamin-D-Tabletten gibt es keinen belegbaren Nutzen, dennoch nehmen 31 Prozent der Deutschen diese ein. Auch in Omega-Fettsäuren legen 24 Prozent der Deutschen ihre Hoffnungen.[36] Diese sollen eine gute Herzgesundheit bescheren – auch das ist bis dato nicht bewiesen. Immer häufiger versprechen die Tablettenhersteller nicht nur Gesundheit, sondern auch Schönheit. Die US-Branche hat etwa im Jahr 2017 60 Prozent mehr an »beauty supplements« verkauft als noch 2016.[37]

 

 

Ein weiterer Absatzmarkt, der massiv vom neuen Gesundheitsbewusstsein profitiert, ist der Superfood-Markt. Zu den Superfoods zählen besonders nährstoffreiche und meist exotische Lebensmittel wie Quinoa, Matcha, Chiasamen, Spirulina, Moringa, Goji-, Acai- und Aronia-Beeren sowie Weizen- oder Gerstengras. Laut dem Marktforschungsunternehmen Nielsen optimiert bereits jeder vierte Deutsche seinen Speiseplan mit solchen Lebensmitteln. In nur zwei Jahren, von 2014 bis 2016, stiegen die Absatzzahlen von schlappen 1,5 Millionen auf 42,6 Millionen Euro, wobei Chiasamen zwei Drittel des Umsatzes ausmachen. Die Studie zeigt zudem, wer zu den Superfood-Käufern zählt: Meist sind es wohlhabende und bereits gesund essende Paare oder Familien mittleren Alters (40–49 Jahre), die sich durch eine erhöhte Affinität zu bio, aber auch zu vegetarischen Alternativen auszeichnen.[38]

 

 

Auf der anderen Seite feuert die Industrie mit ihren Werbesprüchen zudem die »frei-von«-Trends an, indem sie sie auch für Gesunde oder solche, die es sein wollen, vermarktet. So sollen die Lacto-Zero-Produkte von Ehrmann, die nicht nur laktose-, sondern auch glutenfrei sind und Kalzium liefern, »ideal für alle« sein, »die ernährungsbewusst genießen wollen«. Ein Discounter bewarb in einem Flyer laktose- und glutenfreie Produkte mit der Überschrift »Alles fit?« und »Bewusste Ernährung muss nicht teuer sein«. Aber auch die Verwendung von glutenfrei- oder laktosefrei-Labeln auf Produkten, die aufgrund ihrer Zusammensetzung nie diese Stoffe beinhalteten, suggeriert Gesunden einen Mehrwert. So prangt etwa auch auf Hartkäse oft die Aufschrift »laktosefrei«, obwohl die Laktose durch die lange Reifung vollständig abgebaut wird. Der Markt wird dadurch selbstverständlich wesentlich größer und für die Unternehmen lukrativer. Laktose-, gluten-, fleisch- oder milchfreie Produkte werden zudem auch teurer verkauft – ein Umstand, der freilich nicht vom Kauf abhält, sondern eher noch das Bild des Nahrungsmittels als »Functional Food«, als Wundermittel verstärkt, denn was teuer ist, muss auch wirken. Zudem zieren immer mehr Gesundheitsversprechen einfache Lebensmittel. So bewarb die Firma Teekanne einen schnöden Kräutertee mit dem Slogan »Schlank & Fit« – eine Behauptung, die laut der Verbraucherzentrale Hessen nicht belegt ist und weshalb Teekanne den Spruch von den Verpackungen entfernen musste.[39] Weiter gibt es Schokogetränke für »gesunden Schlaf«, Joghurt, der als »Verdauungsjoghurt« angepriesen wird oder Detox-Tees, die ein langes, gesundes Leben versprechen. Wurst kommt gerne auch mal mit »qualitativ hochwertigen Omega-3-Fettsäuren« auf den Markt.

 

 

Doch auch ohne Werbung empfindet der Verbraucher bestimmte Produkte, wie Bio- oder »frei von«-Produkte als gesünder. In Studien sagen Konsumenten regelmäßig, dass man von Lebensmitteln mit einem entsprechenden Siegel auch mehr essen könne, weil diese ja gesund seien. Dies wird mit dem so genannten »Halo-Effekt« erklärt, der dazu führt, dass positive Eigenschaften (in diesem Fall bio oder »frei von«) andere, vielleicht auch negative Eigenschaften wie etwa einen hohen Zuckergehalt, überstrahlen. Passenderweise heißt dieser Halo-Effekt auch »Heiligenschein«-Effekt. Gesund erscheinende Produkte werden also quasi heiliggesprochen, sie zu verzehren, verspricht Glückseligkeit und Erlösung im Diesseits. Offenbar gilt heute: Mit dem Fressen kommt die Moral. Und hier schließt sich der Kreis.

 

 

In den folgenden Kapiteln werde ich also mögliche Gründe für diesen Gesundessenwahn tiefergehend beleuchten. Ich werde in verschiedene Ernährungsformen eintauchen und sie auf ihr Potenzial als Religionsersatz abklopfen. Ich versuche, Antworten darauf zu finden, was die Auslöser sind, wann es gefährlich wird und was es mit der Orthorexia nervosa auf sich hat. Zudem werfe ich einen Bick in andere Länder, die wie Israel als veganes Mekka gelten und warum es in Italien sogar glutenfreie Hostien gibt. Besonders wichtig an der Diskussion über die Überwertigkeit von Nahrung ist jedoch, ob, und wenn ja, was das Ganze für Folgen für unser Zusammenleben hat. Ganz am Schluss wage ich mithilfe von Experten noch einen kleinen Ausblick, ob sich diese Hypes noch ausweiten werden oder ob das Ende der Fahnenstange erreicht ist.

Meine Geschichte: Die Nahrungsumstellung zur Makrobiotik

Ich selbst habe fünf Jahre eine alternative Ernährungsweise verfolgt, ich habe makrobiotisch gegessen. Meine Mutter erkrankte 1986 an Brustkrebs und hat in ihren letzten drei Lebensmonaten ihre ganze Hoffnung auf diese Diät gesetzt. 1988 starb sie, ich war 14 Jahre alt. Während der Zeit, als meine Mutter makrobiotisch aß, kam eine Köchin zu uns ins Haus. Ich habe manchmal probiert, aber mir schmeckte das meiste davon nicht. Algen? Bäh! Vollkornreis? Uah! Fast keine Süßigkeiten? Niemals! Erst als ich ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter eine Katze hatte, entschied ich mich für diese Gesundkost. Denn ich reagierte allergisch auf die Katzenhaare. Nach zwei Wochen Makrobiotik ging es mir besser und die Symptome verschwanden mit der Zeit fast vollkommen. Das war natürlich eine enorme Motivation weiterzumachen. Dazu kam: In unserem Haus lebten Freunde meiner Mutter, die auch makrobiotisch aßen und dort ging ich fast jedes Mal nach der Schule zum Mittagessen. Mein Vater hielt nicht viel von dem Essen, er fand es damals schon ideologisch und unentspannt. Er aß aber mit, wenn etwas gekocht wurde. Und ich kochte viel, denn es machte mir Spaß, das Essen nach den verschiedenen Aspekten zusammenzustellen. Das Ritualhafte gefiel mir. Und je öfter ich Reis, Gemüse, Tofu und Algen aß, desto besser schmeckte es auch. In der Schule hatte ich oft Reiswaffeln dabei. Sicher war die Allergie nur der letzte Auslöser. Das Essen hatte vielmehr Bedeutung für mich. Tatsächlich gab es mir Halt in einer so schwierigen Lebensphase – unsere Familie war nicht religiös. Zudem war es einfach eine Beschäftigungsmöglichkeit, schließlich war ich nachmittags allein und hatte viel Zeit, Bücher zu dem Thema zu lesen und zu kochen. Und: Ich hatte das Gefühl, etwas zu tun, das mich meiner Mutter näher brachte. Dazu kam, dass ich natürlich furchtbare Angst hatte, selbst an Krebs zu erkranken. Und genau das verspricht ja die Diät – Prävention vor Krebs. In unserer Familie wurde allerdings nie viel Fleisch gegessen und Vollkorn war bei uns kein Fremdwort. Eine Schwester meiner Mutter hatte schon Anfang der 1980er-Jahre ein Reformhaus in Esslingen. Wenn wir dort zu Besuch waren, aß ich Vollkornbrot mit vegetarischen Aufstrichen, Gemüse mit Grünkern und Sauermilch und zum Nachtisch holte ich mir die geliebten Haselnuss-Schnitten. Es fiel mir also nicht allzu schwer, auch noch auf Eier und Milch zu verzichten. Zudem wurde ich schlank mit der fettarmen Pflanzenkost. Ich war damals ein wenig übergewichtig und das war doch sehr belastend in einer Phase, in der das andere Geschlecht interessant wird. Ich wurde zwar nie gehänselt, aber ich bekam durchaus oft dumme Sprüche zu hören, vor allem auch aus der Familie. Entweder: »Oh, du hast abgenommen, das ist ja toll!« Oder: »Hm, dir schmeckt es aber offensichtlich zurzeit wieder gut!« Es war für mich sehr nervig, dass jedes Mal mein Gewicht Thema war. Die Makrobiotik brachte mir also erstmal viele Vorteile.

 

Ernährungstrends unter der Lupe

Dass der Mensch sein Essen als Heilmittel ansieht, ist eigentlich nichts Neues – nur gibt es heute wesentlich unterschiedlichere Kostvarianten, die als gesund betitelt werden. Immer wieder in der Geschichte gab es jedoch ähnliche Strömungen, die Ernährung mit Gesundheit, Moral und Spiritualität verbanden und sich damit vom Mainstream absetzten. Vor 2000 Jahren propagierten etwa proto-taoistische Mönche in China eine getreidefreie Ernährung. Damit sollte man ihnen zufolge Krankheiten verhindern, unsterblich werden, ja sogar fliegen und sich teleportieren können. Auch in der hebräischen Bibel folgte der Prophet Daniel einer 10-tägigen Diät aus Gemüse und Wasser, was ihn »besser und gesünder« als seine Altersgenossen aussehen ließ, die sich an herkömmlicher Nahrung labten.[40] In der griechischen Antike war es vor allem der Philosoph Pythagoras (570–510 v. Chr.), der glaubte, ein übermäßiger Fleischgenuss mache aus dem Menschen eine Kriegsmaschine, aggressiv und mordlüstern. Er empfahl eine Diät aus Honig und Brot zum Frühstück sowie abends »Brot aus Hirse oder Gerstenlaib, gekochtes und rohes Gemüse, selten Fleisch von Opfertieren und dies nicht einmal von jedem Teil«[41]. Ovid, Plutarch und Seneca traten ebenso für eine vorwiegend vegetarische Ernährung ein, eine größere Bewegung wurde jedoch damals nicht daraus. Platon (ca. 428–348 v. Chr.) war der Meinung, dass falsches, zu üppiges Essen nicht nur zu Krankheiten führe, sondern dass seelische Verwirrungen oder geistiger Wahnsinn auch die moralische Folge sein könnten[42]. Die vom 12. bis 14. Jahrhundert lebenden Katharer im Süden Frankreichs waren eine radikale Strömung im christlichen Mittelalter. Die meisten Anhänger waren Asketen, sie mieden Fleisch und glaubten an die Perfektionierung der Seele durch mehrmalige Reinkarnation.[43]

So richtig an Fahrt gewann die Auflehnung gegen herkömmliche Ernährungsweisen jedoch erst vor rund 200 Jahren. Sylvester Graham, ein US-amerikanischer Priester, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, glaubte, dass Gesundheit nur in einem bescheidenen Leben zu erreichen sei. Er forderte eine Abstinenz von Alkohol und favorisierte die vegetarische Diät, den Konsum von Vollkornprodukten sowie regelmäßige Bewegung. Zudem war er ein Gegner der Schulmedizin. Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war es Dr. John Harvey Kollegg, der ein Sanatorium in Michigan gründete und ebenfalls Fleischverzicht predigte. Denn dieses sei giftig und für etwa 90 Prozent aller Krankheiten verantwortlich. Er verordnete seinen Patienten ein Frühstück mit Weizenflakes sowie großen Mengen Joghurt. Zudem sollte man jeden Bissen etwa 100-mal kauen.[44]

Auch hierzulande finden sich zu derselben Zeit Wurzeln der Gesundessenbewegung. Die Frühromantiker, die um 1800 lebten, verachteten ausschweifende Gelage. Auch die Lebensreformbewegung, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts versammelte und bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkte, predigte Verzicht und Askese. Man lebte vegetarisch und lehnte Alkohol ab. Einige Vertreter fanden im Fleischverzicht spirituelle Offenbarung. Lebensreformer priesen zudem die Freikörperkultur, Lichtbäder und das Barfußlaufen. Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), der symbolistische Maler, der als Sozialreformer und als Pionier von Lebensreform und Friedensbewegung gesehen wird, wurde laut Jörg Albrecht, Religionswissenschaftler an der Universität Leipzig, von seinen Gegnern damals schon als »Kohlrabi-Apostel« bezeichnet. Demonstrativer Verzicht-Konsum wurde also auch in dieser Zeit bereits als quasireligiöses Verhalten gewertet. »Der ethisch motivierte Fleischverzicht wurde bereits in der Zwischenkriegszeit – als viele lebensreformerische Anliegen wie u. a. das Ideal einer gesünderen Ernährung bereits Teil der Alltagskultur geworden waren – als ›verkappte Religion‹ bezeichnet«, so Albrecht.[45]

Zu den Vorreitern der Lebensreformbewegung gehörten auch die Siebenten-Tags-Adventisten, eine protestantische Freikirche. Bis heute gibt es Adventistische Gemeinden weltweit. Sie sehen den Körper als ein Haus Gottes, weswegen sie einen gesunden Lebensstil verfolgen, ohne Alkohol, Tabak oder andere Drogen. Viele Adventisten sind Vegetarier. Ihre Lebensweise wird darum in ernährungswissenschaftlichen Langzeitstudien untersucht, um die Vor- und Nachteile einer vegetarischen oder veganen Ernährungsweise zu klären. Und in Reformhäusern findet man auch noch Marken adventistischen Ursprungs wie etwa EDEN oder GranoVita.

Während der Weltkriege gab es verständlicherweise kein größeres Interesse an freiwilligem Nahrungsverzicht. Von oberster Stelle, von der so genannten Reichsvollkornkammer, wurden jedoch Vollkornbrot und Vitamintabletten empfohlen, um den »Volkskörper« zu stärken.[46] Auch das Stillen wurde als oberste Pflicht einer Mutter gegenüber ihrem Vaterland angesehen. »Eine gute Mutter stillt«, so hieß es damals. Dies trägt dazu bei, dass die Diskussion um Muttermilch oder Ersatznahrung heutzutage so derart moralisch ausgetragen wird (s. Seite 120–123). Erst nachdem es Deutschland wirtschaftlich wieder gut ging, wuchs in den 1960er-Jahren die Skepsis gegenüber der Mainstream-Ernährung, die zunehmend industriell produziert und damit als künstlich wahrgenommen wurde. Man setzte darum auf »natürliches Essen«, frei von Chemikalien. Später verschärften Lebensmittelskandale wie mit Glykol gepanschter Wein, die BSE-Krise oder Dioxin-verseuchte Eier den Argwohn gegenüber der Lebensmittelindustrie. Heute wird gegen die Gentechnik in Ackerpflanzen und Glyphosat mobil gemacht, Letzteres steht schließlich im Verdacht, Krebs zu erregen. Bei all diesen Grabenkämpfen, die sich vor allem gegen die Großkonzerne richten, und teilweise berechtigt sind, wird leicht vergessen, wie gut es um die Lebensmittelsicherheit hierzulande bestellt ist und dass die industrielle Landwirtschaft, wie sie derzeit arbeitet, vor allem unserer Natur und weniger unserer Gesundheit schadet.

»Natürlich« – das ist der kleinste gemeinsame Nenner

Besieht man sich nun die verschiedenen alternativen Ernährungsweisen, so wird deutlich, dass alle mit einem starken Schwarz-Weiß-Denken arbeiten. Das »Manna«, das Himmelsbrot, sind die guten Lebensmittel, also die Pflanzenkost, das glutenfreie Brot oder die Rohkost. Sie symbolisieren laut der Anthropologin Jill Dubisch das Lebendige, das Leben schlechthin[47]. Benjamin Zeller nennt die guten Lebensmittel dagegen Totem (nach Siegmund Freud)[48]. Diesen werde gehuldigt, sie gelten als geradezu heilig. Im Gegensatz dazu stehen die schlechten, unreinen, ungesunden Lebensmittel für das Tabu oder sogar laut Dubisch für den Tod. Gluten soll in unserem Körper sogar »wissentlich« Schaden anrichten. Gluten wird quasi zum Teufel, der uns von innen heraus zerstört. Diese Zuteilungen findet man bereits in frühen philosophisch-religiösen Texten, die der Nahrung ebenfalls ein stark dichotomes Gedankengebäude zuordneten.

Fast allen Ernährungstrends ist gemein, dass das »Natürliche« als das absolut Gute und die Künstlichkeit, das Industrieprodukt, als das Böse angesehen wird. Die von Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) formulierte Ideologie der Natürlichkeit hat diese Debatte erheblich beeinflusst. Er hielt die Vorliebe für Fleisch für unnatürlich und glaubte, übermäßiger Fleischkonsum mache die Menschen grausam. Zudem plädierte er – erstaunlich modern – für regionale und saisonale Lebensmittel. »Von ihr [der Rousseau’schen Ernährungsbotschaft] ausgehend, lässt sich die Welt in ›gutes‹ (natürliches, unschuldiges) versus ›schlechtes‹ (künstliches, überfeinertes, den Menschen und die Tiere versklavendes) Essen einteilen«, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Christine Ott in ihrem Buch Identität geht durch den Magen[49]. So sind stark verarbeitete Produkte nicht nur bei Clean Eatern verpönt, auch die Vertreter der Steinzeitdiät, der Rohkost, der Low-Carb-Diät, der anthroposophischen Ernährungslehre, des Ayurveda und der Makrobiotik lehnen maschinelle Verarbeitungsschritte und kryptische Zusatzstoffe ab. Auch gentechnisch veränderte oder mit Pestiziden behandelte Lebensmittel werden als »unnatürlich«, als »Frankenfood« angesehen und daher gemieden. In den USA sollen rund 50 Prozent der Menschen im Supermarkt nach Produkten Ausschau halten, die »all natural« sind. Die Sehnsucht nach naturbelassener Nahrung zeigt sich auch an der Tatsache, dass Kaffeeläden »Röstereien« heißen oder Konditoreien »Backmanufakturen«.

 

 

Dabei gab es Zeiten, in denen man das raffinierte Essen als das dem Menschen durch seine Kultiviertheit zustehende und gesundheitsförderliche ansah. Im alten China etwa hatte man Mitleid mit den Menschen aus der Vorzeit, die noch keine Landwirtschaft oder verschiedene Zubereitungsmethoden kannten. »In früherer Zeit aßen Menschen Wildpflanzen und tranken von Bächen. Sie pflückten Obst von den Bäumen und aßen das Fleisch von Krustentieren und Insekten. In dieser Zeit gab es viele Krankheiten und Leiden, aber auch Versehrungen durch Gifte«, so liest man in der alt-chinesischen, philosophischen Schrift Huainanzi[50]. Damals galt das Kochen als einzige Möglichkeit, ranzige und verdorbene Speisen in etwas Gutes zu verwandeln.

Natürliche, unverarbeitete Lebensmittel erfuhren dann erst im 18. Jahrhundert mit den Romantikern, angeführt von Rousseau, eine starke Aufwertung. Denn raffinierte Speisen wurden als Laster der Reichen angesehen. Dagegen wurde das Essen der Bauern als das gute, weil natürliche, nicht vom Menschen veränderte Essen gepriesen. Tatsache war, dass das damalige Industrieessen mit erheblichen Risiken verbunden war, denn in der aufkeimenden Industrialisierung wurde die Nahrungsmittelproduktion praktisch nicht kontrolliert, zahlreiche lebensgefährliche Panschereien waren üblich. So fand man Strychnin in Bier, Kupfer in Gemüsekonserven oder Schwermetalle in Süßigkeiten. Später war die Verwendung von Pestiziden wie Lindan oder DDT in der Landwirtschaft üblich.[51] Sie wurden erst verboten, als ihr Gefahrenpotenzial erkannt wurde – und sie bereits Schaden angerichtet hatten. Dennoch gibt es eine natürliche Ernährung nicht. »Ernährung ist Teil der Evolution und der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen«[52], so Kurt Kotrschal von der Universität Wien.

Auf der Suche nach dem »bösen« Nährstoff

Ausgehend von der Vorstellung des »Natürlichen« wird heute auch die Landwirtschaft verklärt. Vor allem Städter sehnen sich nach saftig-grünen Wiesen, friedlich grasenden Kühen und glücklichen Hühnern und sind dann enttäuscht, wenn sie der industriellen Agrarbetriebe gewahr werden, die heute den Großteil unserer Lebensmittel produzieren. Oft vergöttern die Gesundheitsapostel die Naturvölker und zitieren sie als Vorbilder herbei. Der moderne Mensch romantisiert die vermeintlich unzivilisierten Bevölkerungen, die über ein Weltwissen verfügten, das unserer Zivilisation verloren gegangen sei. Hierin steckt die Idee des edlen Wilden, wie er im 18. und 19. Jahrhundert vorherrschte. So sollen etwa die Hunza, ein in einem abgeschiedenen Tal lebendes Volk in Pakistan, so alt werden, da sie sich gesund, etwa mit besonders nährstoffreichen Aprikosen ernährten. Dies ist laut Dubisch das Konzept eines »Goldenen Zeitalters«, in dem alles gut gewesen sei. Es zeige eine Nostalgie in der Gesundessenbewegung nach der Vergangenheit und damit gehe das Gefühl einher, von der Natur abgeschnitten zu sein[53]. Seltsam ist dies schon, wenn man sich ansieht, wie der Mensch in den vergangenen 100 Jahren durch technische und wissenschaftliche Neuerungen Gefahren für die Gesundheit zurückgedrängt hat. In den Industrienationen haben wir sauberes Wasser und vergleichsweise sichere Lebensmittel, schwere bakterielle Infektionen wurden auch durch Medikamente zurückgedrängt. Dennoch wird nicht der Fortschritt gefeiert, sondern die Natur mit all ihren Gefahren wird als das Paradies angesehen.

 

 

Aber die Ernährungswissenschaft ist ebenfalls nicht frei von starren Einteilungen, die das Essen moralisieren. Auch hier wird indirekt vor der Völlerei gewarnt, indem der maßvolle Konsum propagiert wird. Und der Verzehr von zu viel verarbeiteten Produkten wie etwa Gebäck oder Fleischwaren gilt als ungesund. Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollten viele Jahre lang Eier wegen ihres Gehaltes an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin nicht allzu oft auf dem Speiseplan stehen. Seit Kurzem gibt es hier jedoch eine Lockerung der Ernährungsempfehlungen. Auch verarbeitetes Fleisch steht auf dem Index, während eine Pflanzenkost angeraten wird. Fett war ebenso viele Jahre ein ungern gesehener Gast auf dem Teller, seit einigen Jahren wird klar, dass der Fettgehalt einer Nahrung allein wenig über deren gesundheitlichen Wert aussagt. Insgesamt hat man sich in der Vergangenheit auf jeden Fall sehr, zu sehr, auf einzelne Nährstoffe fixiert. Zudem wird immer wieder mantraartig beklagt, dass die Deutschen »zu viel, zu fett, zu süß, zu salzig« äßen, wie im kürzlich erschienenen Ernährungsreport 2019[54]. Der Ernährungspsychologe Christoph Klotter hält die DGE darum für die Kirche, während die alternativen Ernährungstrends Sekten für ihn darstellen. »Die DGE tritt vermutlich unbeabsichtigt die Nachfolge der Kirchen an und füllt die Lücke, die die Schwächung der Kirche hinterlassen hat«, so Klotter. Sie vermittele mit ihrer Ernährungskommunikation »quasi von der Kanzel« das Gebot-und-Sünde-Modell.[55] Dennoch versuchen offizielle Ernährungsexperten vermehrt, nicht mehr von einzelnen Nährstoffen oder Lebensmitteln abzuraten, sondern Ernährungsmuster zu erkennen, die eine gesunde Ernährungsweise gewährleisten. Denn sicher ist: Der Mensch ist ein Allesfresser und er hat sich damit an die Vielfalt der verschiedenen klimatischen Regionen angepasst.

So ernährt sich der Rest der Welt