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Beschreibung

Es gibt Vordenker in der Organisationsforschung, die bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren haben. Dazu gehören Namen wie Drucker, Follett, Luhmann, Mintzberg, Senge, Watzlawick, Weick und einige mehr. Berater:innen beziehen sich auf sie, Wissenschaftler:innen zitieren sie und jede:r scheint sie zu kennen. Doch wer und was steckt dahinter? Wie hängen die bekannten Theoretiker miteinander zusammen und welche Bedeutung haben sie für heute?   Das Buch liefert mit kompakten, aussagekräftigen Porträts einen Überblick über die Klassiker der Organisationsentwicklung. Deren Leben und Wirken, zentrale Konzepte des Werks, ihr Einfluss auf die Entwicklung​ der Organisationsforschung und die heutige Relevanz werden betrachtet. Eingebettet in die Theorielandkarte der Organisationsentwicklung werden ihre Konzepte anhand konkreter Fragen und Fallstudien lebendig gemacht: Was würde Bruno Latour hierzu sagen? Welche Konsequenzen hätte das für das betrachtete Unternehmen? Entwicklungslinien und Aktualität der Konzepte werden auf diese Weise spannend beleuchtet.​ 

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Inhaltsverzeichnis

InhaltsverzeichnisHinweis zum UrheberrechtmyBook+Impressum1 Zurück in die Zukunft Wozu Organisationstheorie? Wozu die Vordenker*innen?Die Klassikerrubrik in der Zeitschrift für OrganisationsentwicklungOrganisationstheorien – instrumentelle oder konzeptionelle Relevanz für die Praxis?Mögliche Nutzung von Theorien durch die Organisationsberatung und OrganisationsentwicklungLackmustest für Theorie und Praxis: der VW-Dieselskandal2 Topografie der PioniereZur EinführungKontexte von OrganisationsforschungVersuch einer fachlichen TopografieSchlüsselkonzepte der Vordenker*innenKlassik der Zukunft/Zukunft der Klassik3 Der VW-Dieselskandal – eine ZusammenfassungExkurs: Chronologie und Hintergründe des VW-DieselskandalsChronologie und Hintergründe des VW-Dieselskandals4 Aaron AntonovskyWie entsteht Gesundheit?Das Kohärenzgefühl und generalisierte WiderstandsressourcenWas ist Salutogenese?Krank und/oder gesund?Salutogenese in OrganisationenDie Notwendigkeit eines ganzheitlichen GesundheitsmanagementsWas könnte Aaron Antonovsky zum VW-Dieselskandal gesagt haben?5 Chris ArgyrisFrühe EinflüsseDonald SchönPersönlichkeit und OrganisationOrganisatorisches LernenReflexivitätAktionsforschung und die Rolle von BeratungWandel und WiderstandWürdigungWas könnte Chris Argyris zum VW-Dieselskandal gesagt haben?6 Gregory BatesonFeldforschungKybernetikKommunikationsforschungLernenÖkologieWas könnte Gregory Bateson zum VW-Dieselskandal gesagt haben?7 Peter L. Berger und Thomas LuckmannDie gesellschaftliche Konstruktion der WirklichkeitEinfluss auf die OrganisationsforschungImplikationen für die Veränderung von Organisationen und ihrer UmweltFazitWas könnten Peter L. Berger und Thomas Luckmann zum VW-Dieselskandal gesagt haben?8 David BohmFragmentierungDenken und WahrnehmungBewusstsein als subjektive Beziehung zur WeltWeltbild und GanzheitExplizite und implizite OrdnungDialogische HaltungPrinzipien für einen gelungenen DialogRelevanz des Dialogs für die heutige OrganisationsentwicklungOrganisationsentwicklungWas könnte David Bohm zum VW-Dieselskandal gesagt haben?9 Nils Brunsson Was könnte Nils Brunsson zum VW-Dieselskandal gesagt haben?10 Michel Crozier und Erhard FriedbergMachtSpielStrategieChange-ManagementReprises … zur Wirkung von Michel Crozier und Erhard FriedbergWas könnten Michel Crozier und Erhard Friedberg zum VW-Dieselskandal gesagt haben?11 Peter DruckerDie gesellschaftliche Funktion als SchlüsselEin Kind des 20. JahrhundertsDie Gesellschaft der OrganisationenVerantwortung und SelbstentwicklungDie Erfindung des ManagementsImmer wieder praktische WeisheitenZeitlos attraktivWas könnte Peter Drucker zum VW-Dieselskandal gesagt haben?12 Anthony GiddensDie Dualität der StrukturPraktiken im Zentrum sozialwissenschaftlicher Analyse und ErklärungLose Kopplung zwischen Struktur und HandelnRezeption und Beitrag der Theorie der StrukturierungFazitWas könnte Anthony Giddens zum VW-Dieselskandal gesagt haben?13 Erving GoffmanDie Kunst der SelbstdarstellungGoffmans Werk im ÜberblickDer dramaturgische oder dramatologische Ansatz: Selbstdarstellung im AlltagslebenSoziale Wirklichkeit als interaktives RollenspielFassade, Requisiten, Ensemble und HinterbühneTotale OrganisationenDas Unterleben der OrganisationSoziale Identität, persönliche Identität und Ich-IdentitätAlltägliche InteraktionsritualeRahmen-Analyse: die Organisation der ErfahrungVerhaltensweisen außerhalb des Rahmens, Falschrahmungen und RahmenbrücheVerankerung und KlammernGoffmans Vermächtnis für die OrganisationsentwicklungErstes Vermächtnis: eine mikrosoziologische PerspektiveZweites Vermächtnis: Erforschung des Unterlebens von OrganisationenDrittes Vermächtnis: die Rahmen-AnalyseWas könnte Erving Goffman zum VW-Dieselskandal gesagt haben?14 Bruno LatourIn Philosophie und Bibelexegese ausgebildetAkteur-Netzwerk-Theorie – Aufhebung verschiedener DichotomienSokal-Affäre und der WissenschaftskriegTransformative KlärungenBruno Latour und die Organisationsforschung Organisationale Innovation und Akteur-Netzwerk-TheorieSoziomaterielle VerknüpfungenFazitWas könnte Bruno Latour zum VW-Dieselskandal gesagt haben?15 Kurt LewinDas Verhalten als eine Funktion von Person und Umwelt: die Feldtheorie Wie Theorie und Praxis voneinander profitieren könnenAktionsforschungKonflikt- und EntscheidungsforschungGruppenentscheidungenZur FührungsforschungLewins Bedeutung für organisationales Change-ManagementWürdigungWas könnte Kurt Lewin zum VW-Dieselskandal gesagt haben?16 Niklas LuhmannDer neue ChefLuhmann und der VW-DieselskandalDie Folgen der FormalisierungSoziologie und SystemtheorieFür ein problematisches StrukturprinzipDie Prämissen der EntscheidungGrenzziehung, Temporalisierung, KommunikationNichts als Willkür?17 Niccolò Machiavelli1. Akt: Machiavelli – umstrittener Kronzeuge der Macht2. Akt: Machiavelli – ein gescheiterter Politiker der Renaissance?3. Akt: Machiavelli – Streiter für praktische Vernunft im Umgang mit MachtWas könnte Niccolò Machiavelli zum VW-Dieselskandal gesagt haben?18 James G. MarchEin erneuter Blick auf James G. MarchWie Entscheidungen fallen Warum es schlau sein kann, töricht zu seinEin Gegenentwurf zur populären Beratungsliteratur Was könnte James G. March zum VW-Dieselskandal gesagt haben?19 Henry Mintzberg Die Wirklichkeit des Managers/der Managerin in der Alltagspraxis Aufstieg und Fall der strategischen Planung Orientierungskraft der KonfigurationstheorieStrategie-SafariManagers, not MBAs Kritische Würdigung Was könnte Henry Mintzberg zum VW-Dieselskandal gesagt haben?20 Rosabeth Moss KanterDurch Reflexion der Praxis zur einflussreichen Management-VordenkerinFrühe soziologische StudienMinderheiten, Diversität und GenderAnforderungen an die moderne FührungsrolleChange-ManagementPerspektiven des amerikanischen KapitalismusStakeholder- und Shareholder-ValueWas könnte Rosabeth Moss Kanter zum VW-Dieselskandal gesagt haben?21 Mary Parker Follett Ihre beruflichen StationenMacht Führung KonfliktWürdigungWas könnte Mary Parker Follett zum VW-Dieselskandal gesagt haben?22 Edgar H. Schein Das KulturebenenmodellOrganisationspsychologieRezeption und KritikWas könnte Edgar Schein zum VW-Dieselskandal gesagt haben?23 Martin SeligmanDie Geburtsstunde der Positiven PsychologieFamilienmensch mit Faible für das GlückErlernte Hilflosigkeit: Abwärtsspirale für Denken, Fühlen und MotivationDer Foltervorwurf: Zusammenarbeit mit der CIA?Angezogen von der Zukunft, statt getrieben von der Vergangenheit: homo prospectusDie Wissenschaft vom gelingenden Leben und ArbeitenKann jede Arbeit Berufung sein?Aufblühen statt AusbrennenPraxistipps Positive PsychologieP wie Positive EmotionenE wie EngagementR wie Relationships – gute BeziehungenM wie Meaning – SinnA wie Accomplishment – GelingenPersönliche StärkenWurzeln und Vordenker der Positiven PsychologieWas könnte Martin Seligman zum VW-Dieselskandal gesagt haben?24 Peter M. SengeNeuorientierung von Wirtschaft und Gesellschaft Peter Senges Bedeutung für die OrganisationsforschungWas ist eine lernende Organisation?Was bleibt heute von der Fünften Disziplin?Was könnte Peter Senge zum VW-Dieselskandal gesagt haben?25 Herbert A. Simon Einführung»Bounded Rationality«AnspruchsanpassungstheorieUnternehmungszieleAnreiz-Beitrags-TheorieMachtArbeitsvertrag und AkzeptanzzoneEntscheidungsprämissen: Konditional- und ZweckprogrammeKomplexitätsreduktion, UnsicherheitsabsorptionLob der HierarchieWas könnte Herbert A. Simon zum VW-Dieselskandal gesagt haben?26 Heinz von FörsterEin Kreis schließt sichWiener ModerneBegegnung mit der frühen KybernetikBiological Computer Laboratory (BCL)Maschinen und die Anfänge künstlicher IntelligenzDie Palo Alto-Gruppe Der Sokrates der Kybernetik und der ethische ImperativRezeption, Wirkung und Relevanz für Führung und OEWas könnte Heinz von Förster zum VW-Dieselskandal gesagt haben?27 Paul WatzlawickHintergrund Paul WatzlawicksBeiträge zur SystemtheorieLösungen zweiter OrdnungPraktische Relevanz im Bereich der OrganisationsentwicklungErkenntnissuche als NeugierologieWas könnte Paul Watzlawick zum VW-Dieselskandal gesagt haben?28 Karl E. Weick Wider die Verdummung durch Substantive Organisieren statt Organisation Enacted Environment (Gestaltete Umwelt) Sensemaking (Sinngebung) Rationalität als Rhetorik Mindfulness (Achtsamkeit) Was könnte Karl Weick zum VW-Dieselskandal gesagt haben?29 Auf den Schultern von Riesen Die Originalartikel aus der Zeitschrift OrganisationsEntwicklungDie Herausgeberin und die HerausgeberDie Autor*innenIhre Online-Inhalte zum Buch: Exklusiv für Buchkäuferinnen und Buchkäufer!

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Reihe Systemisches Management

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Thomas Schumacher/Martin J. Eppler/Oliver Haas/Heiko Roehl/Brigitte Winkler

Vordenker der Organisationsentwicklung

1. Auflage 2024

© 2024 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

[email protected]

Bildnachweis (Cover): © Umschlag: Stoffers Grafik-Design, Leipzig

Produktmanagement: Dr. Frank Baumgärtner

Lektorat: Angelika Schulz, D.A.S.-Büro, Zülpich

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart Ein Unternehmen der Haufe Group SE

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1 Zurück in die Zukunft

Vordenker*innen der Organisationsforschung stiften Orientierung im Dickicht der ­Organisationsentwicklung

Thomas Schumacher

Wozu Organisationstheorie? Wozu die Vordenker*innen?

Organisationen sind aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Mit ihren Produkten und Dienstleistungen schaffen sie Voraussetzungen, ohne die das gesellschaftliches Zusammenleben nicht möglich wäre. Praktisch jeder gesellschaftliche Handlungsbereich – längst nicht nur in der Wirtschaft – basiert auf dem Funktionieren und der, im wahrsten Sinne des Wortes, »Wertschöpfung« von Organisationen und wird durch diese geprägt: Das Gesundheitssystem ist auf Krankenhäuser, Pflegeheime und Krankenkassen angewiesen, das Erziehungssystem steht und fällt mit Kindergärten, Schulen und Universitäten, die Politik ist ohne Parteien und staatliche Organisationen nicht vorstellbar und was eine leistungsfähige Verwaltungsorganisation ausmacht, hat jeder schon auf die eine oder andere Art und Weise erlebt. Gerichte, Gefängnisse, Forschungsorganisationen und religiöse Organisationen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wir sind mit dem Phänomen »Organisation« tagtäglich konfrontiert und verbringen eine nicht unerhebliche Lebenszeit in ihm. Es eignet sich fast schon zum Schulfach, um uns auf das Leben in und mit Organisationen vorzubereiten. Doch statt die Sache entsprechend ernst zu nehmen, laufen wir mit recht naiven Vorstellungen über das, was Organisationen eigentlich sind, durchs Leben.

Für den ›Normalbetrieb‹ bleibt dabei das ›Wie‹ des organisationalen Funktionierens in der Regel überraschungsfrei. Eine Beobachtung, die der große Organisationstheoretiker Kurt Lewin bereits machte und in deren Zusammenhang er immer wieder mit dem Hinweis zitiert wird, dass, wer etwas über eine Organisation lernen will, versuchen soll, sie zu verändern. Sowohl Führungskräften als auch Beratenden ist diese Erfahrung sicher vertraut, denn im Zuge von Veränderung offenbart sich häufig erst die Wirksamkeit der strukturgebenden Grammatik der Organisation – dann oftmals in überraschender Weise.

Auch die Theorien selbst sind einer Entwicklung unterworfen. Die in jüngster Zeit zunehmenden Herausforderungen für Organisationen – von der Pandemie über die weltweiten Lieferkettenprobleme, den Krieg in der Ukraine, die Klima- und Energiekrise, bis hin zum Fachkräftemangel etc. – lassen uns die Lewin’sche Annahme phasenweise statischer Organisationen in einem Wechsel von Unfreeze-Move-Refreeze als zunehmend illusionäre Beschreibung erscheinen. Nicht umsonst fordert uns Karl Weick auf, alle Substantive einzustampfen und zum besseren Verständnis der Organisationsverhältnisse im Gebrauch von Substantiven geizig, im Gebrauch von Verben freigiebig und im Gebrauch von Gerundien verschwenderisch zu sein. Diese Einladung zu einer radikalen Prozessperspektive anzunehmen, gilt es insbesondere dann, wenn man verstehen will, wie das kontinuierliche, zuverlässige Organisieren unter Bedingungen von Komplexität und Ungewissheit ermöglicht werden kann (Weick 1985).

Die Klassikerrubrik in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung

Die Idee zu diesem Buch ist unserem geschätzten Kollegen und Mitbegründer der Zeitschrift für Organisationsentwicklung, Karsten Trebesch, zu verdanken. Er hat vor über 20 Jahren die damals neue Rubrik »Klassiker der Organisationsforschung« in der Zeitschrift ins Leben gerufen. Die Ankündigung liest sich heute genauso aktuell wie damals:

Mit der aktuellen Ausgabe startet eine Reihe, in der ausgewählte Organisationsforscher vorgestellt werden. Ziel dieser Reihe ist es, Ihnen in konzentrierter Form einige Klassiker mit ihren Kernideen vorzustellen. Hierbei haben wir Ideen im Sinn, die sich nicht nur als zeitlos herausgestellt und die Moden des Organisierens überdauert haben, sondern die viele der vermeintlich neuen Erkenntnisse alt aussehen lassen.

Trebesch 2002, S. 58

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Torsten Groth diese Reihe anfangs betreute, der in diesem Buch auch als (Co-)Autor von drei Beiträgen fungiert. Das Anliegen der Reihe, den Umweg über die Theorie zu wagen, um das Neue im Lichte alter Erkenntnisse zu sehen, war ganz im Sinne von Marcel Proust, nach dem ja die wahre Entdeckungsreise nicht darin besteht, dass man neue Landschaften sucht, sondern darin, dass man bekannte mit neuen Augen sieht. Dieser neue Blick ist oftmals die Voraussetzung und ermöglicht es erst, kreativere und praxisrelevantere Lösungen zu entwickeln. Gerade deshalb führen wir seitdem die Klassikerrubrik fort und bringen sie in diesem Buch in überarbeiteter und erweiterter Form neu zusammengestellt heraus.

Der Mehrwert dieser Texte zeigt sich u. a. in der Auseinandersetzung mit Managementmoden und dem Ruf nach einfachen, klaren und schnellen Lösungen, weil zentrale Themen wie Strategie, Kultur, Wissen, organisationale Flexibilität oder Vertrauen von ihnen vielfach aufgegriffen wurden. Die Ex-post-Bezeichnung als ›Klassiker‹ in der Rubrik unserer Zeitschrift nutzen wir im Rahmen dieses Buchs gerne synonym mit dem Begriff der ›Vordenker*innen‹, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie ihrer jeweiligen Zeit oft voraus waren. Klar ist: Wer z. B. Luhmanns Organisation und Entscheidung liest (2000), wird nicht den Eindruck eines leicht konsumierbaren Textes inkl. Videos und Bildern erhalten – wahrlich keine leichte Unterhaltungslektüre für zwischendurch. Es bietet auch nicht die ›fünf goldenen Regeln‹ für erfolgreiche Unternehmen, eine gelungene digitale Transformation oder den Weg zur angesehenen Führungskraft.

Warum also dann die Auseinandersetzung mit der Organisationswissenschaft und -theorie? Es geht aus unserer Sicht gerade nicht um eine Vereinfachung, sondern darum, eine Vorstellung von der real erfahrbaren Komplexität in Organisationen zu vermitteln. Ein scharfes Bild von Unschärfe ist unscharf – und vermittelt keine künstliche Schärfe oder Einfachheit. Wie ist aber dann das Verhältnis von Theorie und Praxis zu denken? Weshalb dieser Theorieaufwand für praktizierende Beraterinnen und Berater oder Führungskräfte?

Über das Verhältnis von Theorie und Praxis äußert sich bereits Immanuel Kant, wenn er darauf hinweist, dass Anschauung ohne Begriff blind bleibt. Auf die Organisations- und Managementpraxis übertragen heißt das, dass es Sprache, Konzepte und Theoriefiguren braucht, um Praxis sichtbar und verständlich zu machen. Umgekehrt gilt auch: Theorien und Begriffe bleiben ohne Anschauung leer, deshalb lassen wir die Vordenker*innen in diesem Buch sich anschaulich zu einem konkreten Praxisfall äußern. Dabei entstehen durchaus überraschende, oft genug irritierende und hilfreiche Perspektiven auf die Organisations- und Managementpraxis. Das ist ganz im Sinne von Gregory Bateson (1972/1981): Aus dem Theorieverständnis entsteht in der Praxis ein Unterschied, der einen Unterschied macht.

Organisationstheorien – instrumentelle oder konzeptionelle Relevanz für die Praxis?

Die im Folgenden vorgestellten organisationstheoretischen Vordenker*innen treffen mit den von ihnen formulierten Theorien und Konzepten zunächst im und für das Wissenschaftssystem begründete Aussagen. Diese sind geeignet, Gesetzmäßigkeiten oder Muster zu erklären und Prognosen oder Hypothesen über die Zukunft zu formulieren. Die theoretisch abgeleiteten oder empirisch entwickelten Theorien genießen eine breite wissenschaftliche Anerkennung. Sie bieten tiefgreifende, wissenschaftlich fundierte Grundlagen für das Verständnis von Organisationen und Managementprozessen.

Es finden sich dabei im Sinne Mertons (1949/2017) Theorien unterschiedlicher Reichweite wieder – von Universaltheorien, die umfassende und kohärente Theoriegebäude liefern, bis hin zu solchen mittlerer Reichweite, die stärker einzelne Phänomene thematisieren. Beide Arten von Theorien, die im Wissenschaftssystem nach entsprechenden Standards und Prozessen entwickelt wurden, sind im Falle der Organisations- und Managementwissenschaft durch einen erheblichen Pluralismus gekennzeichnet. Sprich: Die Theorien oder Paradigmen sind an vielen Stellen widersprüchlich und teils unvereinbar.

Organisations- und Managementtheorien unterscheiden sich wesentlich von Managementmoden, die häufig kurzlebige Trends oder Modeerscheinungen in Organisationen und Management propagieren und häufig – anekdotisch unterlegt – scheinbare Modelle für einfache und schnelle Lösungen anbieten. Und doch erfüllen Managementmoden bei genauerem Hinsehen eine durchaus wichtige Funktion, wenn es etwa darum geht, bisher Latentes (das man sich nicht traute anzusprechen) offiziell zum Thema zu machen, Umstrukturierungsprojekte zu initiieren, politische Manöver während des Umsetzungsprozesses zu unterstützen oder zu helfen, die Organisation nach Abschluss eines Umstrukturierungsprozesses rationaler aussehen zu lassen. Damit ist allerdings auch klar, dass Managementmoden nicht das leisten, was ihnen oftmals zugeschrieben wird – auch wenn ernüchternde Erfahrungen hinsichtlich der letzten Mode Organisationen meist nicht davon abhalten, sich mit der gleichen Hoffnung von der nächsten Welle ein Stück weit mittragen zu lassen.

Welche Bedeutung können nun Organisations- oder Managementtheorien für die Praxis haben? Wo liegt die Relevanz wissenschaftlicher Theorien für die Organisations- und Managementpraxis? Praktische Relevanz wird im Bereich der Organisations- oder Managementwissenschaften als Wirkung oder ›Impact‹ auf Entscheidungen des Managements in Organisationen verstanden. Jenseits gut gemeinter Hinweise, dass sich die Wissenschaft stärker mit der Praxis austauschen und von ihrem Fachjargon ablassen müsse, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass der Begriff von Impact und Relevanz vielschichtig verwendet wird. In der Diskussion um das Verhältnis von Managementpraxis und -wissenschaft haben Nicolai und Seidl (2013) unterschiedliche Formen der Praxisrelevanz beschrieben. Insbesondere zwei Formen scheinen für die Anwendung von Theorien, wie sie in diesem Buch vorgestellt werden, wichtig:

Instrumentelle Relevanz umfasst Systematiken für Entscheidungssituationen, Regeln, Rezepte und Prognosen über die zukünftige Entwicklung.

Konzeptuelle Relevanz umfasst linguistische Konstrukte, die uns eventuell anders über die Welt nachdenken lassen; sie lässt uns Entscheidungssituationen neu wahrnehmen und deckt Kausalbeziehungen oder unbekannte Begleiterscheinungen auf.

Während die instrumentelle Relevanz – wie bei jedem guten Instrument – kein Verständnis für den jeweiligen theoretischen Hintergrund verlangt, erfordert die konzeptuelle Relevanz zumindest ein grundlegendes Verständnis des theoretischen Kontextes. Genügt es für die instrumentelle Relevanz zu wissen, wie man das Wissen einsetzt, verlangt konzeptuelles Wissen danach, die Nutzenden aktiv an der Erweiterung des Wissens zu beteiligen, damit dieses Wissen in den konkreten Erfahrungskontext integriert werden kann. Konzeptuelles Wissen erfordert also von Manager*innen oder Beratenden sich mit der Theorie ein Stück weit vertraut zu machen. Im Ergebnis tritt damit an die Stelle losgelöster Empfehlungen an die Praktiker*innen eine Erweiterung des Verständnisses für die Entscheidungssituation. Genau dazu soll – angesichts der von Praktiker*innen angetroffenen komplexen Problemlagen in der Organisationspraxis – dieses Buch und das zugrunde gelegte Verständnis im Umgang mit den Vordenker*innen anregen. Eine solche Einladung zu einer stärkeren Betonung der konzeptionellen Relevanz impliziert einen beidseitigen Lernprozess und eine Neugierde auf andere, ungewohnte Perspektiven auf die eigene Praxis.

Mögliche Nutzung von Theorien durch die Organisationsberatung und Organisationsentwicklung

Wie kann nun die Nutzung von Organisationstheorien im Rahmen der konkreten Arbeit mit Organisationen aussehen? Wimmer formuliert eine Absage an die oben beschriebene instrumentelle Relevanz, wenn er schreibt:

[Es] hat sich gezeigt, dass eine theoriegeleitete Praxis in der Auseinandersetzung mit schwierigen Organisationsproblemen durchaus einen nachvollziehbaren Nutzen sowohl für die Klienten wie für die Berater und Beraterinnen stiften kann, sobald man sich in seiner professionellen Orientierung von einem rezepthaften Verständnis von Theorie verabschiedet hat. Wissenschaftliche Theorien sind nicht dazu in der Lage, einen Fundus an Wissen zu liefern, aus dem sich direkt eine Anleitung für erfolgreiches Tun in komplexen Organisationszusammenhängen gewinnen lässt.

Wimmer 2011, S. 528

Wie kann eine solche theoriegeleitete Praxis in der Auseinandersetzung mit schwierigen Organisationsproblemen insbesondere im Rahmen der Organisationsberatung aussehen? Was sind Situationen, Aufgabenstellungen oder Phasen in der Organisationsberatung, die von einer solchen theoriegeleiteten Auseinandersetzung profitieren könnten? Die nachfolgenden Hinweise verstehen sich als mögliche Ansatzpunkte oder Fragen an die (eigene) Beratungs- und Managementpraxis und sollen helfen, das Potenzial einer stärker theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit organisationalen Problemen und Fragestellungen weiter auszuschöpfen.

Analyse und Diagnose: Organisationstheorien liefern wertvolle Modelle und Konzepte, um Organisationen besser zu verstehen. Berater*innen können diese Theorien nutzen, um die Strukturen, Prozesse, Kulturen, Strategien, Kommunikation und andere Aspekte einer Organisation zu untersuchen und andere Perspektiven und Verständnisse zu entwickeln. So können Themen und Herausforderungen identifiziert und bei der Entwicklung von Lösungen auf diese eingegangen werden.

Interventionsdesign: Basierend auf den Erkenntnissen unterschiedlicher Organisationstheorien können Berater*innen Interventionen entwerfen, um positive Veränderungen in der Organisation herbeizuführen. Verschiedene Theorien bieten unterschiedliche – oft gegensätzliche – Ansätze, Modelle und Strategien für die Gestaltung von Entwicklungs- und Veränderungsprozessen, um die Leistungsfähigkeit der Organisation zu verbessern.

Veränderungsmanagement: Verschiedene Organisationstheorien geben Einblicke in die Dynamik von Veränderungsprozessen in Organisationen. Berater*innen und Manager*innen können diese Ansätze und abgeleitete Erkenntnisse nutzen, um den Wandel besser zu unterstützen oder zu managen, Widerstände zu antizipieren, Paradoxien zu bearbeiten und gezielte Maßnahmen zur Förderung einer positiven Veränderung zu entwickeln.

Reflexion und Erweiterung des Denkens: Organisationstheorien bieten oft alternative Perspektiven und Denkweisen, die das Verständnis von Berater*innen und Manager*innen bezüglich der Funktionsweise von Organisationen erweitern können. Durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen können die Beteiligten ihre Sichtweise auf Organisationsprobleme erweitern und neue Lösungsansätze entwickeln.

Kritische Reflexion der Praxis: Organisationstheorien ermöglichen es Berater*innen und Manager*innen, ihre eigenen Vorgehensweisen und Interventionen kritisch zu hinterfragen. Damit können sie dazu beitragen, dass Beteiligte ihre Vorgehensweisen, Entscheidungen und Empfehlungen besser begründen und ihre Management- und Beratungsansätze an die spezifischen Bedürfnisse und den jeweiligen organisationalen Kontext anpassen.

Berater*innen-Klient*innen-Beziehung: Mit Hilfe von Organisationstheorien können Berater*innen auf einer theoretisch fundierten Grundlage mit ihren Klient*innen interagieren. Sie können ihre Herangehensweise und Empfehlungen erklären und die Klient*innen in den Beratungsprozess einbeziehen, was das Vertrauen und die Zusammenarbeit stärken kann.

Die skizzierten Ansätze sind nicht erschöpfend. Wichtig scheint es uns aber zu beachten, dass die Nutzung von Organisationstheorien eng mit der Beratungskompetenz und der Erfahrung der Berater*innen verknüpft ist. Theorien allein reichen nicht aus, um komplexe Organisationszusammenhänge und -probleme zu bearbeiten oder zu lösen. An dieser Stelle wollen wir nur auf die Fähigkeit hinweisen, Theorien in der Beratung zu nutzen, sorgfältig zu reflektieren und sie in Bezug auf die spezifische Situation der Organisation relevant zu machen.

Lackmustest für Theorie und Praxis: der VW-Dieselskandal

Die in diesem Buch vorgestellten Vordenker*innen werden in ihrem Wirken und mit ihren Kernbeiträgen zur Organisationsentwicklung präsentiert. Die zugrunde liegenden Originaltexte, die seit 2002 in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung unter der Rubrik Klassiker der Organisationsforschung erschienen sind, wurden dazu aktualisiert. Um den Bezug zu aktuellen Fragen der Organisationsentwicklung zu erleichtern und die konzeptuelle Relevanz zu demonstrieren, laden wir die Vordenker*innen (vertreten durch die Autor*innen) gewissermaßen ein, aus ihrer jeweiligen theoretischen Perspektive einen aktuellen »Fall« zu kommentieren. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung entschlossen, hierfür den VW-Dieselskandal zu nutzen: Dieser ist zum einen weithin bekannt, zum anderen bietet er eine Vielfalt an Aspekten, die von den Autor*innen der hier vorgestellten Klassikerbeiträge dankbar und auf exzellente Art aufgegriffen wurden.

Seit dem Start der Rubrik wurden in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung inzwischen über 50 Klassiker*innen vorgestellt und es kommt in jeder Ausgabe ein*e neue*r Klassiker*in dazu. Zugleich müssen wir in diesem Buch einer Begrenzung der verfügbaren Seiten Rechnung tragen. Deshalb haben wir uns entschieden, insgesamt 25 Beiträge in das Buch aufzunehmen. Diese wurden von der Redaktion hinsichtlich von Kriterien wie Reputation, Bekanntheit, Komplementarität, Originalität und Verwendbarkeit für die Fallstudie ausgewählt. Wie immer bei solchen Entscheidungen: Wir würden es heute sicher schon wieder anders machen.

Die nachfolgende Übersicht über die Vordenker*innen (Kapitel 2) soll einen Überblick über die Vielfalt der Zugänge zu Phänomenen rund um die Organisationsentwicklung geben. Gleichzeitig wird damit deutlich, dass es eine enorme Breite und Unterschiedlichkeit an theoretischen Blickwinkeln und Verständnissen von Phänomenen in und um Organisationen gibt. Gerade diese Vielfalt bietet den Praktiker*innen Unterstützung, um Phänomene, Verhaltensweisen und Merkwürdigkeiten erklären und verstehen zu können.

Noch ein kritischer Blick auf die Gender-Ausgewogenheit der Porträtierten: Die Liste der hier vorgestellten OE-Größen unterstreicht, wie sehr die Organisationsentwicklung bis heute von Männern bestimmt wird. Tatsächlich waren wir als Herausgeber*innen dieses Bandes selbst von der Eindeutigkeit dieser Feststellung überrascht. Als eine Conclusio wollen wir in der Zeitschrift für Organisationsentwicklung künftig ganz bewusst nach herausragenden Beiträgen von Frauen in unserem Feld Ausschau halten. Diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, wird vermutlich gar nicht so einfach: Als ›Klassiker*in‹ werden Personen dann angesehen, wenn sie im Sinne von Vordenker*innen eine gewisse Reputation, Zitierhäufigkeit und Bekanntheit erzielt haben. Historisch betrachtet trifft dies – wie in vielen Themenfeldern – überwiegend auf Männer zu, was sich hoffentlich bald ändert.

Im Anschluss an diese Übersicht wird die Case-Study zum VW-Dieselskandal vorgestellt (Kapitel 3). Sie gibt unter anderem den chronologischen Verlauf und die Entstehung des Falls wieder und beleuchtet wesentliche Aspekte – soweit sie der Öffentlichkeit bekannt sind. Daran anschließend folgen die 25 Vordenkerbeiträge. Diese enthalten jeweils auch einen Abschnitt, in dem auf den VW-Dieselskandal Bezug genommen wird und der der Frage nachgeht »Was könnte der Vordenker*innen zum VW-Dieselskandal gesagt haben?«. Diese Betrachtung ist natürlich immer spekulativ, weil wir eben Luhmann, March oder Schein nicht mehr befragen können (und es bei den noch Lebenden ebenfalls nicht gemacht haben). Gleichzeitig bietet diese Vorgehensweise genau die Form ab, in der wir den Mehrwert der Vordenker*innen für all diejenigen sehen, die deren Potenzial zum Verstehen und Erklären nutzen wollen – ob es in der Führung oder in der Beratung von Organisationen ist.

Zum Abschluss wirft der Epilog noch einmal den Blick zurück (Kapitel 29) und zugleich nach vorne: Er unterstreicht die Notwendigkeit zukünftiger Entwicklung von theoretischem Wissen über Organisationen und hoffentlich neuer Vordenker*innen.

Eine Anmerkung noch: Beim Lesen der einzelnen Beiträge wird es Ihnen vielleicht wie uns Herausgeber*innen gehen. Vieles kommt einem vertraut vor, die eine oder andere Facette – vielleicht weil uns derzeit eine anspruchsvolle Situation in einer Organisation beschäftigt – ist noch einmal neu oder bereichernd. Machen Sie doch einen kleinen Feldversuch: Nehmen Sie sich drei der nachfolgenden Vordenker*innen in Anlehnung an die Idee von Schulz von Thun (2013) als »inneres Team« zur nächsten kniffligen Situation in einer Organisation mit. Laden Sie zu einer kleinen kollegialen Beratung ein und lassen Sie sich überraschen, was z. B. die Kolleg*innen Nils Brunsson, Rosabeth Moss Kanter oder Karl Weick aus der jeweiligen Perspektive an Anregendem beitragen, wie sie einen Unterschied machen oder was sie auch an gesund Erdendem anmerken können.

Ganz zum Schluss: Unser Vorhaben, die vielfältigen Vordenker*innen der Organisationsentwicklung in diesem Buch vorzustellen, kann nicht die Lektüre ihrer originalen Text ersetzen. Vielmehr hoffen wir dazu anzuregen, die Lektüre zu vertiefen und sich intensiver mit den Vordenker*innen der Organisationsentwicklung zu beschäftigen. In diesem Sinne wünschen wir den Leser*innen eine spannende Lektüre, das ein oder andere Wiedererinnern und -entdecken und viel Inspiration im Umgang mit Phänomenen und Abenteuern im eigenen Organisationsalltag.

Literatur und Hinweise zum Weiterlesen

Bateson, G. (1972/1981): Ökologie des Geistes. Suhrkamp.

Kant, I. (1781): Kritik der reinen Vernunft. 1. Auflage, Johann Friedrich Hartknoch.

Kieser, A. (1997): Rhetoric and Myth in Management Fashion. Organization (4), 49-74.

Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Vlg.

Merton, R. K. (1949/2017): Social Theory and Social Structure. Rawat.

Nicolai, A./Seidl, D. (2013): Nichts ist praktischer als eine gute Theorie – wirklich? Die vielfältigen Formen von der Praxisrelevanz in den Managementwissenschaften. In: Schumacher, T. (Hrsg.), Professionalisierung als Passion: Aktualität und Zukunftsperspektiven der systemischen Organisationsberatung. Carl Auer, S. 210-223.

Schulz von Thun, F. (2013): Miteinander reden 3: Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation: Kommunikation, Person, Situation. Rowohlt.

Trebesch, K. (2002): Klassiker der Organisationsforschung (1) James G. March. OrganisationsEntwicklung. 4(22), 58-63.

Weick, K. E. (1985): Der Prozess des Organisierens. Suhrkamp.

Wimmer, R. (2011): Die Steuerung des Unsteuerbaren. In: Pörksen, B. (Hrsg.), Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Springer VS, S. 520-547.

2 Topografie der Pioniere

Versuch einer organisationstheoretischen Verortung

Martin J. Eppler und Heiko Roehl

Zur Einführung

Organisationen sind ein anspruchsvoller Forschungsgegenstand. Sie können aus einer großen Vielfalt von Perspektiven beforscht werden und entziehen sich einfachen Beschreibungen. Genau wie im Gleichnis der Gruppe von Menschen, die mit verbundenen Augen einen Elefanten erkennen sollen, von dem sie immer nur einen Teil mit den Händen ertasten können, sind Organisationen in ihrer Komplexität kaum aus einer einzelnen Forschungsperspektive zu erfassen. Und wie im Gleichnis mit dem Elefanten sind wir beim Blick aus einer einzelnen wissenschaftlichen Perspektive immer wieder gern überzeugt, dass es sich bei dem Bein des Elefanten, das wir umarmen, um einen Baumstamm handelt.

Für die Organisationsentwicklung als Gegenstand der Organisationsforschung gilt das in doppeltem Maße. Auch die Gestaltung von Veränderungen in und von Organisationen kann aus einer großen Bandbreite von Perspektiven betrachtet werden. Obschon sich die Organisationstheorie um die Erklärung und das Verstehen des Entstehens, Bestehens und der Funktionsweise von Organisationen dreht, stellt die Entwicklung von Organisationen als Forschungsgegenstand gewissermaßen einen Sonderfall der Organisationsforschung dar. ›Organisationen‹ zu erklären, ist das eine. ›Organisationen in Veränderung‹ zu erklären, geht darüber hinaus. Es erfordert einen zusätzlichen Fokus auf die Transformationsfrage. Das macht den im Kapitel 1 des vorliegenden Buches angesprochenen, multiperspektivischen Ansatz unabdingbar.

Für die Praxis der Organisationsentwicklung stellt sich die Vielfalt der Perspektiven als hilfreich heraus, weil sie als Praxeologie immer darauf angewiesen ist, im besten Sinne eklektisch sein zu können. Was immer einen Mehrwert in der Deutung und im Verständnis der organisationsentwicklerischen Praxis verspricht, darf und soll in den Erkenntnisprozess einfließen, um eine theoriebasierte und reflexive Praxis zu ermöglichen. Ganz in diesem Sinne ist dieses Buch als eine Inspiration für alle diejenigen zu verstehen, die einerseits die theoretischen Zugänge zur Organisationsentwicklung vertiefen wollen und andererseits ihre Transformationsarbeit auf ein sicheres konzeptuelles Fundament stellen wollen.

Kontexte von Organisationsforschung

Die Auswahlkriterien der in dieser Sammlung von Vordenker*innen portraitierten Forscher*innen und ihrer Konzeptwelten hat uns einiges Kopfzerbrechen bereitet. Zu breit das Suchfeld, zu vielfältig die Ansätze. Wir haben uns deshalb in erster Linie von der Reputation der Porträtierten leiten lassen, also von ihrem wissenschaftlichen, Disziplinen übergreifenden, internationalen Ruf (differenzierter: Kühl 2015) und uns für eine alphabetische Sortierung entschieden. Die Vordenker*innen sind dann ausgewählt worden, wenn sie nachhaltige internationale Bedeutung für die Organisationsforschung haben. Ein zweites Kriterium bei der Auswahl ist die Bedeutung der Vordenker*innen und ihrer Werke für die Praxis der Organisationsentwicklung. Damit ist der Erkenntniswert des jeweiligen Werkes bezeichnet, der für die Praxis organisationaler Gestaltung wesentlich ist.

Autor*innen und Werke sollen das Handeln der Akteur*innen begleiten und ihnen ausreichend Trittsicherheit auf dem Weg oftmals komplex mäandernder Veränderungsprozesse bieten. Findet Veränderungspraxis theorieinformiert statt, so ist das meist ein Gewinn für alle Beteiligten. Schwierigkeiten mit der theoretischen Fundierung tauchen meist aber dann auf, wenn die Theorie zum Dogma wird und das Handeln leitet. So universell die Ansätze auch scheinen, sie haben allesamt ihre blinden Flecken. Denn jede Theorie ist immer ein Produkt ihrer jeweilig spezifischen geografischen, politischen und kulturellen Kontexte. Das ist ebenso trivial wie wichtig für dieses Buch, weil mit den theoretischen Perspektiven eben immer auch kontextspezifische Grundannahmen, Menschen- und Organisationsbilder sowie Werthaltungen verbunden sind.

Ein gutes Beispiel dafür sind die bahnbrechenden Arbeiten von Kurt Lewin (Kapitel 15), die für die Praxis der Organisationsentwicklung von größtem Wert sind. Mit seiner Emigration in die USA Anfang der 1930er-Jahre wandte sich Lewin zunehmend sozialpsychologischen Themen zu. Sein Phasenmodell des Wandels sozialer Gruppen (»Model of Change«) aus dem Jahr 1947 hat Ansätze der Organisationsentwicklung in Theorie und Praxis auf der ganzen Welt geprägt. Die grundlegende Idee hinter diesem Modell ist vor dem Hintergrund seiner früheren Studien zur Lösung sozialer Konflikte zu sehen. Nach seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten untersuchte er die Frage, wie die Kultur in Deutschland nach Kriegsende in Richtung Demokratie verändert werden könnte. In dem Artikel »The Special Case of Germany« (1953) befasste er sich mit dem kulturellen Veränderungsprozess bei Individuen und Nationen (Cultural Changes of Individuals and Nations), der sogenannten Umerziehung (Reeducation), die nach Kriegsende von der amerikanischen Militärverwaltung in Deutschland durchgeführt werden sollte. Das Modell beschreibt die drei Phasen sozialen Wandels anhand der Termini Auflockern (englisch: Unfreezing), Hinüberleiten (englisch: Moving) und Verfestigen (englisch: Freezing). Diese drei Phasen des Modells haben in ihrer Übertragung auf die Organisationsentwicklung jahrzehntelang Geschichte geschrieben. Sie waren und sind Gegenstand des Lehrkanons; Transformationsprogramme auf der ganzen Welt haben sich an ihnen orientiert.

Betrachtet man den Kontext des Modells, dann hat insbesondere die Phase der Verfestigung, des erneuten Einfrierens eines veränderten Status quo, eine besondere Bedeutung im Modell, weil es dabei ursprünglich um die Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen ging. Schaut man heute auf den sich seither stark veränderten Kontext moderner Organisation, so hat diese dritte Phase im Modell an Bedeutung verloren. In Zeiten disruptiven Wandels ist das Wiedereinfrieren transformierter Organisationszustände eher abträglich.

Um zu zeigen, dass mit jeder Theorieperspektive eine spezifische, kontextbezogene Weltsicht einhergeht, haben wir die Beitragenden in diesem Buch um ein Gedankenexperiment gebeten. Wir baten sie – wie in Kapitel 1 schon erwähnt –, die Perspektive der*des Vordenker*in auf einen weithin bekannten Fall der jüngsten Vergangenheit anzuwenden, nämlich den VW-Dieselskandal. Dieser begann 2015 mit dem Bekanntwerden einer illegalen Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung von Dieselfahrzeugen zur Manipulation von Abgaswerten und dauert bis heute mit langwierigen Verhandlungen um Schadensersatz an. Was hätte etwa Machiavelli dazu gesagt? Wie würde Erving Goffman das erklären? Die entstandenen Texte zeigen, wie unterschiedlich, ja widersprüchlich, ein und dasselbe Phänomen konzeptualisiert wird. Auf diese Weise prägen Theorien auch immer eine besondere Art, die (Organisations-)Welt zu sehen.

Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, klassische Autor*innen und Werke in diesem Buch gut zu kontextualisieren. Und doch ist die Auswahl von Porträtierten und Werken durch einen Diskurs informiert, der jahrzehntelang nördlich/westlich, männlich und in vielen anderen Aspekten durch die uns umgebende Kultur geprägt ist. Unsere Auswahl und Kontextualisierung bedeutet deshalb nicht, dass es in anderen Diskursen nicht noch ganz andere Vordenker*innen der Organisationsforschung gäbe. Wenn wir also schon nicht aus unserer Filterblase ausbrechen können, so sollten wir wenigstens versuchen, sie zu benennen.

Versuch einer fachlichen Topografie

Es scheint ein besonderes Merkmal der Organisationsforschung zu sein, dass viele der insbesondere für die Organisationsentwicklung bedeutsamen Autorinnen und Autoren sich nicht einfach disziplinär zuordnen lassen. Sie sind auf besondere Weise Multitalente, oft in den Zwischenräumen und abseits des Hauptstroms der Forschungsdisziplinen zu Hause. Ein wunderbares Beispiel ist der eben erwähnte Kurt Lewin, der einerseits in unterschiedlichen Feldern der Psychologie (Wahrnehmungspsychologie, Sozialpsychologie, Gestaltpsychologie), andererseits aber auch in Führungstheorie, Soziologie oder eben Organisationstheorie verortet werden kann. Oder nehmen wir Niklas Luhmann, der mit seinem Theoriekosmos letzthin immer häufiger auch als Philosoph verstanden wird.

Es war dennoch unsere Absicht, die Vordenker*innen dieses Buches auf einer disziplinären Landkarte zu verordnen. Dabei liegt der Schwerpunkt immer auf denjenigen Aspekten ihrer Werke, die sich mit für die Organisationsentwicklung relevanten Aspekten der Organisationsforschung befassen (s. Abbildung).

Abbildung:

Topografie der Vordenker*innen der Organisationsentwicklung (eigene Darstellung)

Die Übersicht macht deutlich, wie breit das Feld wissenschaftlicher Provenienzen ist, welches die Vordenker*innen abdecken. Das spricht für die transdisziplinäre Natur der Organisationsentwicklung, in der Mensch, Gruppe, Organisation und Gesellschaft als Gegenstände von Forschung untrennbar miteinander verbunden sind. Natürlich ist es aus soziologischer Perspektive klar, dass es nicht reicht, Menschen zu verstehen, wenn man Organisationen verstehen will. Umgekehrt würde sich aus rein psychologischer Perspektive die Soziologie selbstredend allein kaum eignen, bestimmte Verhaltensmuster von Individuen in Organisationen hinreichend zu erklären. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Organisationsentwicklung viele Theorieheimaten hat und gut daran tut, sich überall dort zu Hause zu fühlen, wo Praxis-Phänomene der Gestaltung von Organisationen konzeptuelle Aufklärung erfahren.

Schlüsselkonzepte der Vordenker*innen

Vordenker*innen sind auch darüber definiert, dass man sie erkennt. Die hier aufgeführten Vordenker*innen der Organisationsforschung sind in ihren Werken und Theorien für Transformationsprofis leicht an den Konzepten identifizierbar, die über ihre Herkunftsdomänen hinaus Bekanntheit erlangt haben (s. Tabelle 1). Einige der Begriffe haben es sogar ins Alltagssprachliche geschafft: der Double Bind etwa oder das Eisbergmodell der Kultur.

Vordenker*innen

Schl1üsselkonzepte

Aaron Antonovsky

Salutogenese, Kohärenzgefühl, Stress

Chris Argyris

Defensive Routinen, Doppelschleifenlernen, Organisationales Lernen

Gregory Bateson

Double Bind, Information als Unterscheidung, Systemische Therapie

Peter Berger

Sozialkonstruktivismus, Säkularisierungstheorie, Externalisierung

David Bohm

Dialog, Ganzheit und Fragmentierung

Nils Brunsson

Organisation als System, Entscheidungsfindung in Organisationen, Irrationalität

Michel Crozier

Bürokratisches Versagen, Machtbeziehungen, Prestige

Peter Drucker

Managementtheorie, Management nach Zielen (MBO), Wissensarbeiter*in

Erhard Friedberg

Institutionelle Theorie, Organisationale Felder, Organisiertes Handeln

Anthony Giddens

Strukturationstheorie, Machtmittel, Selbstidentität

Erving Goffman

Skript, Stigma, Rolle

Bruno Latour

Akteur-Netzwerk-Theorie, Immutable Mobile, Sozialkonstruktivismus

Kurt Lewin

Feldtheorie, Führungsstil, Kraftfeldanalyse, Gestalt

Thomas Luckmann

Symbolischer Interaktionismus, Sozialkonstruktivismus

Niklas Luhmann

Soziale Systeme, Strukturelle Kopplung, Autopoiesis

Niccolò Machiavelli

Macht, Machterhaltungs-Maximen, Politischer Realismus

James G. March

Organisationales Lernen, Organisationale Routinen, Mülleimer-Modell der Organisation

Henry Mintzberg

Strategische Planung, Managementrollen, Organisationskonfigurationen

Rosabeth Moss Kanter

Ermächtigung/Empowerment, Organisationsveränderung

Mary Parker Follett

Gruppendynamik, Integrative Konfliktlösung, Macht über/Macht durch

Edgar Schein

Organisationskultur, Dienende Führung, Eisberg-Modell

Martin Seligman

Positive Psychologie, Erlernte Hilflosigkeit, Well-being

Peter Senge

Lernende Organisation, Personal Mastery, System-Archetypen

Herbert Simon

Begrenzte Rationalität, Satisficing

Heinz von Förster

Kybernetischer Imperativ (mehr Optionen schaffen), Selbstorganisation!

Paul Watzlawick

Kommunikationsaxiome, Hekates Lösungen, Systemik

Karl Weick

Heedful Interrelating, Enacted Sensemaking, Kopplung

Tabelle 1: Vordenker*innen der Organisationsforschung und Schlüsselbegriffe ihrer Theorien

Natürlich werden wir den OE-Vordenker*innen und ihren Werken nicht gerecht, wenn wir einzelne Schlüsselbegriffe ohne weitere Erläuterung herausgreifen. Ihre Werke umfassen vieles mehr als das in der Übersichtstabelle Skizzierte. Hinzu kommt, dass wir uns im Wesentlichen auf die Schlüsselthemen beschränkt haben, die für die Organisationsentwicklung bedeutsam sind. Die Übersicht dient deshalb vor allem der Inspiration unserer Leser*innen. Sie soll anregen weiterzublättern. Aber vor allem zeigt sie: Die Organisationsentwicklung steht auf den Schultern von Riesen.

1zwei Tabellen?

Klassik der Zukunft/Zukunft der Klassik

Mit dem vorliegenden Buch legen wir die »Klassiker der Organisationsforschung« der Zeitschrift für Organisationentwicklung in überarbeiteten und erweiterten Fassungen vor. Im Rückblick auf die vergangenen Jahre können wir feststellen, dass sich die Rubrik großer Beliebtheit bei unseren Leser*innen erfreut. Für die Zukunft stellt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Zusammenschau der Vordenker*innen der Organisationsforschung gleichwohl eine Reihe von Fragen für die Rubrik:

Sind die Suchfelder für die Identifikation der »Klassiker*innen« revisionsbedürftig? Mit Blick auf die in der Vergangenheit getroffene Auswahl und deren Kontextspezifika könnte es in Zukunft verstärkt darum gehen, den Korridor – trotz der damit einhergehenden, steigenden Unübersichtlichkeit – auszuweiten, um bewährte Autor*innen anderer Kontexte einzuschließen.

Die disziplinäre Vielfalt könnte weiter erhöht werden. Die angestammten Provenienzen (siehe Topografie in Abbildung) könnten zukünftig Disziplinen wie Informatik, Neurowissenschaften oder andere einschließen, die bereits heute wichtige Beiträge zum Verständnis von Prozessen der Organisationsentwicklung leisten. Die vorliegende Zusammenstellung zeigt uns ja: Die Vielfalt der Perspektiven hat einen ganz eigenen Mehrwert.

Auswahl und Darstellung der Vordenker*innen könnten zukünftig weiter über den bislang im Fokus stehenden Gedanken der Praxisrelevanz in den Darstellungen hinausgehen, denn so bleiben manchmal wichtige, außerhalb der praktischen Relevanz liegende Aspekte der Werke außer Acht. Die Darstellungen dürfen nicht unter dem Joch falsch verstandener Nützlichkeit leiden.

Kurzum: Wir plädieren mit diesem Buch für eine Kultur eines herkunftssensiblen Eklektizismus im Zugriff auf konzeptuelle Grundlagen der Organisationsentwicklung. Möge dieser Band einen kleinen Beitrag dazu liefern.

Literatur und Hinweise zum Weiterlesen

Kühl, S. (2015): Schlüsselwerke der Organisationsforschung. Springer.

Bonazzi, G. (2008): Geschichte des organisatorischen Denkens. Springer.

Gebert, D./von Rosenstiel, L. (2002): Organisationspsychologie. Person und Organisation. Kohlhammer.

3 Der VW-Dieselskandal – eine Zusammenfassung

Miguel Pina e Cunha, Medhanie Gaim, Stewart Clegg und Thomas Schumacher

Die Art und Weise, wie Organisationen oder ihr Management mit Skandalen und Krisen umgehen, wird häufig personalisiert und kurzfristig zugeschrieben. Theorien können dazu beitragen, das Verständnis für das Funktionieren und die Wechselwirkungen in und um Organisationen zu erweitern und damit auch anders zu verstehen.

Der VW-Dieselskandal bietet wie kaum ein anderer Fall in der deutschen Wirtschaftsgeschichte die Möglichkeit, mit einem theoretisch informierten Blick – z. B. auf den externen Kontext der politischen Entwicklung in den USA und die dortigen, sich verschärfenden Emissionsvorschriften, die strategischen Zielsetzungen von VW, die Eigentümerstruktur oder die Führung und Kultur des Unternehmens – zu interessanten und unerwarteten Einsichten und überraschenden Erkenntnissen zu kommen. Die nachfolgende Fallstudie rekonstruiert den Kontext, den Prozess und die Inhalte des Skandals und bietet den anschließend aufgeführten Vordenker*innen der Organisationsforschung einen Referenzpunkt für die Frage:

Was würden die jeweiligen Vordenker*innen aus der spezifischen Theorieperspektive zu dem VW-Fall sagen?

Exkurs: Chronologie und Hintergründe des VW-Dieselskandals

Chronologie und Hintergründe des VW-Dieselskandals

Organisationen verändern sich im Zuge sich wandelnder Umweltbedingungen. Die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, können dabei vielfältig sein: Technologischer Fortschritt, sich ändernde Kundenbedürfnisse, wandelnde Markt-, Wettbewerbs-, Branchen- oder verschärfte Gesetzesbedingungen sorgen dafür, dass Organisationen und ihr Management heute immer in Sichtweite der Grenzen von Wissen und Nicht-Wissen, Steuerbarkeit und Unsteuerbarkeit sowie Machbarkeit oder Unmöglichkeit operieren. Die Art und Weise, wie Organisationen mit solchen Herausforderungen umgehen, welche Handlungsmuster sie entwickeln und welche Eigenlogik sie dabei verfolgen, ist erfolgsentscheidend und kann – wie im VW-Dieselskandal – auch sehr dysfunktional sein.

Der Skandal um die VW-Dieselmotoren wurde im September 2015 öffentlich, als die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) enthüllte (United States Environmental Protection Agency 2015), dass viele von VW in Amerika verkaufte Dieselfahrzeuge ein Gerät in ihren Motoren eingebaut hatten, das Labortests erkennen und Leistungsmessungen entsprechend verändern konnte. Nur mit dieser Vorrichtung war es möglich, die vorgeschriebenen Abgasnormen zu erfüllen – was VW auch zugegeben hat.

Chronologie

Bekannte Wegpunkte

1990

Die amerikanische Environmental Protection Agency (EPA) verschärft den ›Clean Air Act‹ – die gesetzliche Regelung zur Luftreinhaltung.

2007

Bosch liefert Volkswagen eine Abschalt-Software, die nicht für den Fahrbetrieb vorgesehen ist. Trotz der Warnung, dass sie für den freien Verkauf illegal ist, beginnt VW mit dem Einbau. Anfang 2007 wird Winterkorn VW-Chef.

2008

VW beginnt mit dem Verkauf von umweltfreundlichen Clean Diesel in den USA (Golf, Jetta).

2011

Ein Techniker warnt Medienberichten zufolge den Chef der Motorenentwicklung der Marke VW, Heinz-Jakob Neußer, vor möglichen illegalen Praktiken bei Abgasmessungen. Der Techniker wird demnach nicht ernst genommen.

Mai 2014

Forscher der Universität in West Virginia testen Volkswagen-Modelle auf der Straße. Die Autos stoßen bis zu 40 mal mehr gesundheitsschädliche Stickoxide aus, als erlaubt. Volkswagen erklärt die Differenzen mit technischen Problemen. Einige Modelle erhalten »Software-Updates«.

Mai 2015

Die kalifornische Umweltbehörde Carb misst bei Tests erneut erhöhte Werte. Sie informiert Volkswagen sowie die US-Umweltschutzbehörde EPA. Es folgen mehrere »technische Treffen« zwischen Volkswagen und den Behörden.

3. September 2015

Volkswagen gibt gegenüber der Carb und der EPA zu, die Manipulations-Software in Dieselfahrzeugen installiert zu haben.

18. September 2015

Während der Internationalen Automobil-Ausstellung macht die EPA die Manipulation von Abgaswerten öffentlich. Gut 480.000 Autos in den USA sind damit ausgestattet. Volkswagen muss sie zurückrufen.

23. September 2015

Winterkorn tritt zurück, erklärt aber, er sei sich persönlich »keiner Schuld bewusst«. Bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig gehen erste Strafanzeigen gegen VW ein. Auch der Konzern erstattet Anzeige.

25. September 2015

Porsche-Chef Matthias Müller wird Winterkorns Nachfolger. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt sagt vor dem Bundestag, rund 2,8 Millionen Fahrzeuge seien in Deutschland betroffen.

22. April 2016

Der Abgasskandal brockt VW für 2015 mit 1,6 Milliarden Euro den größten Verlust aller Zeiten ein.

20. Dezember 2016

Im Rechtsstreit um Hunderte Zivilklagen verkündet ein US-Richter einen Kompromiss. VW soll Kund*innen, Behörden, Händlern und US-Bundesstaaten über 16 Milliarden Dollar an Entschädigung zahlen.

11. Januar 2017

VW und das US-Justizministerium einigen sich in einem zweiten großen Vergleich zu den strafrechtlichen Fragen auf eine Zahlung von 4,3 Milliarden Dollar.

07. Dezember 2017

Der VW-Manager Oliver Schmidt wird zu sieben Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Ein US-Gericht spricht ihn mitschuldig an der Manipulation von Dieselmotoren.

14. Juni 2018

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig verhängt ein Bußgeld über eine Milliarde Euro gegen VW. Der Konzern teilt mit: »Volkswagen akzeptiert das Bußgeld und bekennt sich damit zu seiner Verantwortung.«

25. Mai 2020

In seinem ersten Urteil zum VW-Abgasskandal stellt der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe fest, dass klagende Käufer*innen ihr Auto zurückgeben und das Geld dafür einfordern können. Auf den Kaufpreis müssen sie sich aber die gefahrenen Kilometer anrechnen lassen.

Juni 2020

Ein US-Berufungsgericht entscheidet in einem Urteil, dass trotz bereits geschlossener Vergleiche zusätzliche Strafen zweier Bezirke der Bundesstaaten Florida und Utah zulässig seien.

9. September 2020

Das Landgericht Braunschweig akzeptiert die Anklage gegen Martin Winterkorn und vier frühere Kollegen wegen bandenmäßigen Betrugs.

Dezember 2020

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erklärt eine umstrittene Software zur Schönung von Abgaswerten bei Zulassungstests von Dieselfahrzeugen für illegal.

2021 – bis heute

Weiterhin beschäftigen sich diverse Gerichte mit der Aufarbeitung des Skandals.

Tabelle 2: Chronologie des VW-Dieselskandals in Stichpunkten (Gaim et al. 2021; Arthur W. Page Society 2016)

Die Chronologie des Skandals

Kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland steht wie VW als Symbol für die technische Leistungsfähigkeit des Landes. Das Ziel von VW war Anfang der 2000er-Jahre, der weltweit führende Automobilhersteller zu werden. VW sollte die zufriedensten Kund*innen und die zufriedensten Mitarbeiter*innen haben und gute Unternehmensergebnisse erzielen, um in die Zukunft investieren zu können und auch zukünftig die besten Autos zu bauen. Das Ziel, bis 2018 der weltweit führende Automobilhersteller zu sein (Volkswagen 2011), ging bereits auf Ferdinand Piëch, den Pionier des Dieselmotors im Pkw, und auf die 1990er-Jahre zurück, als VW auf Wachstum um jeden Preis setzte.

Bei den Bemühungen, den für VW so wichtigen US-Markt zu erobern, um der weltweit führende Automobilhersteller zu werden, setzte VW vor allem auf Dieselfahrzeuge. Trotz der Beliebtheit in Europa waren Dieselfahrzeuge in den USA unüblich. Dieselmotoren sind zwar sparsamer und effizienter als Ottomotoren, stoßen aber aus technischen Gründen größere Mengen an Stickoxiden (NOx) und Ruß aus. Erschwerend für die Verbreitung der Dieseltechnologie im US-Markt kam im Jahr 1990 die Überarbeitung des Clean Air Act hinzu, durch den der US-Kongress bewirkte, dass alle in den USA verkauften Autos wesentlich strengere US-Bundesabgasnormen erfüllen mussten.

Die Herausforderung für VW bestand nun darin, die intern gesetzten Wachstumsziele und die gestiegenen externen Anforderungen in Einklang zu bringen. Die Lösung bestand für die Ingenieur*innen darin, einen Dieselmotor zu entwickeln, der effizient, leistungsstark und sauber war. In Europa war VW bereits führend bei der Einführung des Dieselmotors für Personenkraftwagen und produzierte Motoren mit geringerem Geräusch- und Geruchspegel bei gleichzeitig hervorragender Beschleunigung und niedrigem Kraftstoffverbrauch. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Leistung auf Kosten höherer Emissionen blieb jedoch bestehen, auch wenn der Dieselmotor und die Abgastechnologie als Piëchs persönliches Innovationsideal verstanden wurden.

Bei dem Versuch, den US-Markt zu erobern, baute VW deshalb auf die Idee des sauberen Diesels und warb in den USA 2015 mit Fernsehspots, in denen VW-Dieselfahrzeuge als »saubere Diesel« beworben wurden, die die US-Abgasnormen erfüllen. Die bessere Leistung und die geringeren Emissionen des sauberen Diesels bedeuteten, dass sich die Besitzer*innen sowohl für Subventionen als auch für Steuerbefreiungen qualifizierten.

VW-Mitarbeiter*innen hatten sich schon früh darüber beschwert, dass die Emissionsanforderungen der kalifornischen EPA unrealistisch und für VW fast unmöglich zu erfüllen seien, insbesondere in Verbindung mit den Leistungs- und Effizienzzielen. Für diejenigen, die das paradoxe Versprechen eines »schnellen, billigen und umweltfreundlichen« Dieselfahrzeugs einlösen mussten, erwies sich dies als ein unlösbares technisches Rätsel.

Die Wettbewerber gingen mit dieser Herausforderung unterschiedlich um. Sowohl BMW als auch Mercedes-Benz stellten fest, dass dies ein nahezu unmögliches Ziel war. BMW erfüllte die Emissionsanforderungen durch eine Verringerung der Kraftstoffeffizienz, was letztlich den Preis des Fahrzeugs erhöhte, da zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren, was für Piëchs ideale Lösung nicht akzeptabel war. Um Leistungsdefizite auszugleichen, spritzte Mercedes-Benz zusätzlich Harnstoff ein, um NOx in weniger schädliche Stoffe umzuwandeln, was zu mehr Leistung und geringerem Kraftstoffverbrauch führte, aber einen separaten Tank für den Harnstoff erforderte. Der Tank musste regelmäßig nachgefüllt werden, was zusätzliche Kosten und Unannehmlichkeiten für die Autobesitzer*innen bedeutete, was wiederum für das VW-Ideal, den Dreifacherfolg zu erzielen, nicht akzeptabel war. Ungeachtet dieser Herausforderung drängte VW weiterhin auf einen Dieselmotor, der die Kundenwünsche nach Leistung und Effizienz erfüllt und gleichzeitig die US-Emissionsziele einhielt.

Kontext des Skandals

Ehrgeizige Ziele waren bei VW unter dem früheren Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch und dem CEO Martin Winterkorn die Regel, getreu dem Motto »Geht nicht, gibt‹s nicht«. Piëch war dafür bekannt, Ingenieur*innen mit schwierigen Aufgaben zu betrauen, bei deren Nichtbestehen ihnen die Entlassung drohte. Wenn Ingenieur*innen berichteten, dass sie den Abgastest angesichts der Technologie nicht bestehen konnten, sagte Piëch: »Ihr werdet bestehen, ich verlange es! Oder ich werde jemanden finden, der es schafft« (Lutz 2015). Zwischen 2008 und 2015 verkündete VW öffentlich, das Ziel erreicht zu haben und Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang gebracht zu haben. In der Praxis gelang es den VW-Ingenieur*innen jedoch nicht, dieses Ziel zu erreichen – wie sich 2015 dann herausstellte.

Als VW mit der Entwicklung des umweltfreundlichen Motors begann, wurde bald klar, dass der Motor nicht gleichzeitig die Erwartungen der Kund*innen als auch die neuen, strengeren US-Abgasnormen erfüllen konnte. Anstatt das Versagen einzugestehen, nutzten die VW-Ingenieur*innen eine Software, die erkannte, wann das Auto einem Test unterzogen wurde, und schalteten damit die Emissionskontrollen ein.

Nach Bekanntwerden des Skandals bekannte sich einer der Ingenieure schuldig und gab die Entwicklung einer Software zu, die erkannte, wenn das Fahrzeug einem Test unterzogen wurde, und die Abgasreinigung unter Laborbedingungen automatisch aktivierte. Die Abschalteinrichtung sorgte dafür, dass der saubere Diesel von VW den Anschein erweckte, Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang zu bringen: das TDI-Wunder. Anfangs waren Technolog*innen und Umweltschützer*innen gleichermaßen an der Magie der neuen VW-Technologie interessiert. Skeptische Expert*innen fragten sich jedoch, wie diese Autos so gut sein konnten, und als einige Datenunregelmäßigkeiten auftauchten, wuchs der Argwohn. Eine unabhängige Analyse ergab, dass die Software es den Autos ermöglichte, einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch auf Kosten höherer Stickoxidemissionen zu erreichen, wobei die NOx-Emissionen auf der Straße bis zum 40-Fachen der Norm lagen.

Der Abgasskandal flog am 18. September 2015 auf, und VW gab später zu, dass die Software in 11 Millionen Autos installiert worden war, von denen 8 Millionen in Europa und fast eine halbe Million in den Vereinigten Staaten verkauft worden waren. Obwohl die Abschalteinrichtung – letztlich nur ein paar Zeilen Computercode – in der Entwicklung nur ein paar Tausend Euro kostete, führte sie zu einem gigantischen wirtschaftlichen Schaden.

Der weitere Verlauf des Skandals wurde von mehreren Dementis und verschiedenen Anschuldigungen begleitet. So beschuldigte der US-VW-Vorstandsvorsitzende Michael Horn vor einem Kongressausschuss die Software-Ingenieur*innen und behauptete, der Betrug sei nicht von der Unternehmensspitze ausgegangen. Weitere Untersuchungen ergaben allerdings, dass der Betrug systematisch erfolgte, die Vertuschung auf höchster Unternehmensebene inszeniert und gebilligt wurde, mehr als ein Jahrzehnt dauerte und Dutzende von Ingenieur*innen beteiligt waren.

Verschärfend zu dem, was in der Branche »normal« war, gab es bei VW eine Führungskultur, die von Angst und Einschüchterung geprägt war. Die Führungsstruktur, die durch Familienkontrolle, Staatseigentum und großem Mitarbeitereinfluss gekennzeichnet war, sorgte dafür, dass VW stärker von externen Stimmen und Einflüssen abgeschirmt war. Diese Mischung in Verbindung mit einem Führungsstil, der durch »Führen durch Angst« gekennzeichnet war, könnte erklären, warum diejenigen, die das unmögliche Versprechen einlösen mussten, eher zur Täuschung griffen, als ein Scheitern zuzugeben.

Als Reaktion auf den Skandal und die Regelverstöße betonte der Nachfolger Winterkorns, wie wichtig es sei, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit nach dem Skandal wiederherzustellen. Er versprach verbesserte Betriebsabläufe sowie Berichts- und Kontrollsysteme, um die Verantwortlichkeiten zu klären und ein robusteres System für Hinweisgeber*innen zu gewährleisten.

Vier Jahre nach dem Skandal endet ein Werbespot von VW mit dem Schriftzug »In the darkness, we found the light«, während die Musik »Hello darkness, my old friend« spielt. Damit soll das Engagement des Unternehmens für die Elektromobilität unterstrichen werden, das beschlossen hat, 2 Milliarden Dollar für die Infrastruktur von Elektrofahrzeugen auszugeben, und den Skandal hinter sich lassen will.

Die Auswirkungen

Der VW-Dieselskandal hatte drastische Folgen für Investoren, Händler und Kund*innen und wirkte sich auf die gesamte Automobilbranche aus – u. a. verloren Dieselmotoren massiv an Popularität. Für VW waren die Auswirkungen finanzieller, rufschädigender und rechtlicher Natur. Die finanziellen Auswirkungen waren vielfältig: Geldstrafen und Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise und höhere Kreditkosten. Nach dem Skandal wurden mehrere Klagen und Sammelklagen gegen VW eingereicht. Die Klagen kamen von Aufsichtsbehörden, Verbraucher*innen, Investoren und Händlern. Für das Managementteam war der Skandal mit zahlreichen Klagen, strafrechtlichen Verurteilungen, Rücktritten, Suspendierungen und Untersuchungen verbunden.

Der Betrugsprozess in Deutschland gegen vier ehemalige Volkswagen-Manager vor dem Landgericht kam und kommt nur langsam voran, weil die meisten Zeug*innen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, viele Verhandlungstermine wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurden und der Vorstandsvorsitzende Winterkorn aufgrund eines ärztlichen Gutachtens nicht vor Gericht erscheinen musste.

Seit 2018 läuft zudem ein Gerichtsverfahren, in dem vor allem institutionelle Anleger Ansprüche in Milliardenhöhe geltend machen. Volkswagen soll Informationen über den Abgasskandal lange Zeit geheim gehalten haben, wodurch Anleger einen finanziellen Schaden erlitten hätten.

VW gibt zu, dass sich die Kosten für Rückkäufe, Reparaturen und Rechtsstreitigkeiten bisher auf mehr als 32 Milliarden belaufen – vor allem in Form von Bußgeldern und Schadensersatzzahlungen in Nordamerika. Ein zentrales Thema für Aufsichts- und Umweltbehörden war der Status der Vergünstigungen, die VW für seine angeblichen Umweltinitiativen gewährt wurden. Dabei beging VW Betrug, indem es unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Steuererleichterungen in Anspruch nahm, um den Verkauf vermeintlich schadstoffarmer Autos zu fördern. Ironischerweise wurde VW in den Jahren 2009 und 2010 die Auszeichnung »Umweltfreundlichstes Auto des Jahres« verliehen. Auch wenn die Auszeichnung später zurückgezogen wurde, war sie lange Zeit kostenlose Werbung für das Unternehmen und seine Autos.

Der Skandal führte natürlich zu Umsatzeinbußen sowie zu einem Image- und Reputationsverlust der Marke. Die Werbung für »saubere Dieselfahrzeuge« führte zu einer systematischen Täuschung der Kund*innen. Betroffene Käufer*innen mussten einen geringeren Wiederverkaufswert in Kauf nehmen, da der Name der Marke durch den Skandal in Verruf geraten war.

Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt waren auch für VW immens: In den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals verlor die Aktie rund ein Drittel ihres Wertes und verharrte lange Zeit auf diesem Niveau. Die Anleger beklagten, dass VW den Finanzmärkten Informationen über den Dieselbetrug vorenthalten habe, wofür sie angesichts des durch den Betrug verursachten Wertverlusts eine Entschädigung forderten.

Der Skandal betraf aber auch die Automobilindustrie als Ganzes. Auch andere Automobilhersteller gerieten ins Visier der Aufsichtsbehörden. Händler mussten aufpassen, wie sie mit einem Bestand an schwer verkäuflichen Autos umgehen, und stoppten den Verkauf. Auch Zulieferer von Komponenten für die Dieseltechnologie und andere von VW abhängige Lieferanten waren massiv betroffen. Insgesamt wurde der Ruf der gesamten Branche in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich litten auch die Beschäftigten unter den folgenden Kostensenkungs- und Rationalisierungsprogrammen.

Die Folgen für Umwelt und Gesundheit sind schwer zu beziffern, da die tonnenschwere Luftverschmutzung zu Smog führt und mit einer Zunahme von Asthma- und Atemwegserkrankungen sowie vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht wird.

VW versuchte, den Schaden durch Vergleiche, Entschädigungen, Rückrufe und Behebung der Mängel durch technische Änderungen an den betreffenden Modellen zu beheben. In den meisten Fällen konnten die Fahrzeuge in Europa mit einem einfachen Software-Update und einer kurzen Fahrt zur Werkstatt repariert werden. In schwierigeren Fällen war eine kleinere Hardware-Reparatur erforderlich.

In den USA, insbesondere bei Fahrzeugen der ersten Generation, war die Angelegenheit komplizierter. VW schlug den Geschädigten vor, einen neuen Katalysator in diese Fahrzeuge einzubauen. Der Versuch, die Motoren zu reparieren, um die Abgasnorm zu erfüllen, beeinträchtigte jedoch die Leistung und Effizienz der Fahrzeuge, die im Mittelpunkt des Versprechens von VW standen. Die Kund*innen beschwerten sich daraufhin, dass ihre Fahrzeuge einen höheren Kraftstoffverbrauch und eine geringere Leistung aufwiesen. Bei der Anhörung vor dem US-Kongress räumte der für das US-Geschäft zuständige CEO ein, dass die Leistung der Fahrzeuge leiden könnte, wenn die Abgasnormen eingehalten würden. Auf die Frage einer Kongressabgeordneten, warum VW kein Auto baue, das diese Ziele erfülle, erklärte er: »Ich denke, weil Schummeln billiger ist.« (Volkswagen Congress Hearing 2015)

Verbesserung der Compliance

Aus dem Vergleich mit dem US-Justizministerium (Department of Justice) entstand die Verpflichtung für VW, ein Compliance-Programm zu entwerfen und umzusetzen, das Verstöße gegen Anti-Betrugs- und Umweltgesetze verhindert und aufdeckt. Begleitet wurde diese Entwicklung von einem unabhängigen Compliance-Monitoring, das 2017 begann und 2020 beendet wurde.

Im Rahmen dieses Compliance-Programms überarbeitete Volkswagen seine Strukturen, Prozesse und Systeme in vielen Unternehmensbereichen, u. a. die technische Entwicklung, das Risikomanagement, die Compliance, die Governance und die Rechtsfunktionen.

Organisatorisch wurden ein Whistleblower-System eingeführt, die Prozesse zur Verhütung von Korruption und Kartellrechtsverstößen gestärkt und es wurde ein Due-Diligence-Prozess für Geschäftspartner entwickelt. Darüber hinaus wurden Hierarchien abgeflacht, Entscheidungen dezentralisiert und mehr Verantwortung an die Marken- und Regionalgesellschaften abgegeben, um die Entscheidungskraft der Märkte zu stärken.

Ergebnis der Überarbeitung war die Implementierung von ca. 300 neuen oder überarbeiteten internen Vorschriften und Richtlinien in den relevanten Unternehmensteilen. Diese Vorschriften sollten helfen die Einführung der neuen Prozesse zu beschleunigen. Im Einzelnen enthielten diese

die Einrichtung eines Group-Compliance-Komitees und eines HR-Lenkungsausschusses im Konzern sowie die Schaffung eines neuen Bereichs für Umwelt, Gesundheit und Sicherheit bei der Volkswagen Group of America,

die Einführung eines weltweit einheitlichen Rahmens zur Förderung der Integrität und Compliance bei Volkswagen sowie der Aktivitäten zum Kulturwandel (»Together4­Integrity«),

die Einführung eines konzernweit gültigen einheitlichen Verhaltenskodex (Code of Conduct),

die Erweiterung des Whistleblower-Systems durch Investitionen in Prozesse, Personal und in die IT-Infrastruktur,

die Veröffentlichung einer Mitarbeiterumfrage, die von der Ethik- und Compliance-Initiative durchgeführt wurde.

Ein unabhängiger Compliance-Auditor gab in der Zeit insgesamt drei Prüfungsberichte ab und stellte im letzten Bericht 2020 keine neuen Verstöße fest. Er stellte fest, Volkswagen sei »heute ein besseres Unternehmen als vor drei Jahren«, aber:

[E]s wird ständige Achtsamkeit erfordern, aber die vorhandenen Strukturen und Prozesse sowie die Verpflichtungen auf allen Ebenen des Unternehmens sowie die Kontrolle durch den Aufsichtsrat können Volkswagen zu einem langfristigen und nachhaltigen Erfolg in Bezug auf Ethik, Integrität und Compliance verhelfen.

Volkswagen Group News 2020

Herbert Diess, der inzwischen zurückgetretene Vorstandsvorsitzende von VW resümierte, dass der Prozess Volkswagen zu einem stärkeren Unternehmen gemacht habe, aber dass das Ende des Monitorships nicht das Ende der Reise sei, sondern dass die kontinuierliche weitere Verbesserung des Unternehmens und seiner Kultur von entscheidender Bedeutung sei, um sicherere und intelligentere, emissionsfreie Fahrzeuge zu produzieren (Volkswagen Group News 2020). Hiltrud Werner, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG für Integrität und Recht, unterstrich die Rolle des externen Auditors mit den Worten:

Seine unabhängige, unvoreingenommene Außenansicht auf unser Unternehmen trug dazu bei, die Systeme und Prozesse zu schaffen, die es uns ermöglichten, als Organisation zu wachsen. Die Lehren, die wir aus der Überwindung der Dieselkrise gezogen haben, werden alle unsere Maßnahmen leiten, wenn wir weiterhin eine offene und ehrliche Kultur der Integrität und Compliance fördern.

Volkswagen Group News 2020

Literatur und Hinweise zum Weiterlesen

Arthur W. Page Society (2016): Volkswagen’s Dieselgate: A case study of the Automaker’s ongoing emission crisis. https://de.slideshare.net/RuoyuSun2/volkswagens-dieselgate-case-study.

Borgeest, K. (2021): Manipulation von Abgaswerten. Springer Fachmedien Wiesbaden.

Ewing, J. (2017): Schneller, höher, weiter: The inside story of the Volkswagen scandal. Random House.

Gaim, M./Clegg, S./ Cunha, M. P. (2021): Managing Impressions Rather Than Emissions: Volkswagen und die falsche Beherrschung des Paradoxen. Organization Studies, 42(6): 949-97

Lutz, B. (2015): Ein Mann etablierte die Kultur, die zu VWs Abgasskandal führte: A diesel dictatorship. Road and Track. www.roadandtrack.com/car-culture/a27197/bob-lutz-vw-diesel-fiasco/.

United States Environmental Protection Agency (2015): https://www.epa.gov/sites/default/files/2015-10/documents/vw-nov-caa-09-18-15.pdf.

Volkswagen (2011): Annual Report. https://annualreport2011.volkswagenag.com/managementreport/reportonexpecteddevelopments/strategy/strategy2018.html.

Volkswagen Congress Hearing (2015): Emissions scandal. https://www.congress.gov/114/meeting/house/104046/documents/HHRG-114-IF02-Transcript-20151008.pdf.

Volkswagen Group News (2020): Volkswagen AG schließt unabhängiges Compliance Monitorship im Rahmen der Vereinbarungen mit den US-Behörden erfolgreich ab. https://www.volkswagen-newsroom.com/de/pressemitteilungen/volkswagen-ag-schliesst-unabhaengiges-compliance-monitorship-im-rahmen-der-vereinbarungen-mit-den-us-behoerden-erfolgreich-ab-6382.

4 Aaron Antonovsky

Vom Mut, die richtigen Fragen zu stellen

Julia A. M. Reif, Selina S. Richter und Erika Spieß

Wie entsteht Gesundheit?

»…throughout our lives, we must never stop asking questions; but it is most important now«, schrieb Aaron Antonovsky in einem Brief an seinen jüngeren Bruder Carl (Antonovsky/Sagy 2022, S. 19). Fragen zu stellen war für Aaron Antonovsky ein Weg der Rebellion, ein Widerstand gegen blindes Akzeptieren. Er hatte den Mut, die richtige Frage im wissenschaftlichen Diskurs zu stellen. Diese lautete: Wie entsteht Gesundheit? In einer »persönlichen Odyssee« über Jahrzehnte hinweg, wie er es selbst beschrieb, entwickelte er das salutogenetische Modell der Gesundheit. Er suchte nach Erklärungen für Gesundheit, also z. B. nach einer Erklärung dafür, wie Überlebende aus Konzentrationslagern es geschafft hatten, sich gut zu adaptieren und ihr Leben neu aufzubauen – ein Untersuchungsergebnis, auf das Antonovsky im Zuge einer Untersuchung zur Verarbeitung des Übergangs zur Menopause bei Frauen in den Wechseljahren eher zufällig gestoßen war (Antonovsky 1991).

Über alle Lebensphasen hinweg war Antonovsky mit Erfahrungen von Armut, Krieg, Rassismus und Antisemitismus sowie deren Folgen konfrontiert. Auch seine Forschung war anfangs von Themen wie sozialen Klassen, Diskriminierung, Ungleichheit, Immigration und ethnischen Minoritäten geprägt, aus denen sich die Frage nach der Entstehung von Gesundheit Schritt für Schritt entwickelte (Antonovsky/Sagy 2022; Vinje et al. 2022; Blättner 2007).

Die Kernfrage, die sich Antonovsky stellte, war: Was sind die Ursprünge der Gesundheit? Bewusst stellte er die Frage im Plural (englisch: origins). Er signalisierte damit, dass er viele gesundheitsförderliche Prozesse und Einflussfaktoren annahm. Die Antwort aber lieferte er im Singular: das Kohärenzgefühl. Damit gelang ihm eine gewaltige Komplexitätsreduktion: Die mentale Orientierung »Kohärenzgefühl« ist gemäß Antonovsky das, worauf alle gesundheitsförderlichen Einflussfaktoren hinauslaufen (Mittelmark/Bauer 2022).

Das Kohärenzgefühl und generalisierte Widerstandsressourcen

Das Kohärenzgefühl beschreibt ein dynamisches und beständiges Gefühl des Vertrauens, vergleichbar mit einem überpersönlichen ›Urvertrauen‹. Personen mit hohem Kohärenzgefühl nehmen die Welt als strukturiert und nicht chaotisch wahr und sehen sich in der Lage, Probleme zu bewältigen. Das Kohärenzgefühl äußert sich in Verstehbarkeit (Comprehensibility), Handhabbarkeit (Manageability) und Bedeutsamkeit (Meaningfulness). Das Kohärenzgefühl beeinflusst, wie gut eine Person ›generalisierte Widerstandsressourcen‹ zur Bewältigung von Stressoren nutzen kann. Generalisierte Widerstandsressourcen sind z. B. materielle Voraussetzungen, Intelligenz, Selbstidentität, Selbstwirksamkeitserwartungen, soziale Unterstützung, kulturelle Stabilität und Gesundheitsbewusstsein. Generalisierte Widerstandsressourcen liefern Menschen ein ›Erfahrungsfeedback‹ im Sinne von: »Du bist auf dem richtigen Weg; du kannst damit fertig werden; du bewährst dich« (Antonovsky 1991, S. 125). So wird eine Person mit hohem Kohärenzgefühl

einen Stimulus eher als Nicht-Stressor auffassen,

Stressoren eher als neutral oder heilsam für ihr Leben ansehen,

aus ihrem Vorrat an generalisierten Widerstandsressourcen schöpfen, anstatt rigide bestimmte Bewältigungsmuster anzuwenden,

offen für eine Analyse ihres Verhaltens sein,

bereit sein für Verhaltensänderungen,

sich ständig der Notwendigkeit bewusst sein, sich den Problemen zu stellen, die Stressoren aufwerfen.

Ein hohes Kohärenzerleben hilft also, sich erfolgreich mit Stressoren auseinanderzusetzen, die Gesundheit dadurch aufrechtzuerhalten bzw. zu verbessern und letztlich Salutogenese zu fördern (Antonovsky 1991; Blättner 2007).

Was ist Salutogenese?

[S]alutogenesis is not limited to physical or mental health; it is a philosophy of human existence.

Antonovsky/Sagy 2022, S. 27